Transformationsprozesse von Bräuchen am Fuß der Karpaten im Postsozialismus - Dorina Descaş - E-Book

Transformationsprozesse von Bräuchen am Fuß der Karpaten im Postsozialismus E-Book

Dorina Descaş

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Beschreibung

"Das Fernsehen ist die Revolution!", ertönt es aus rumänischen Fernsehapparaten, während sich das Land in Aufruhr befindet. Die Radikalität dieser Aussage überrascht nach über zwanzig Jahren immer noch und drängt zum Nachfragen. Welche Rolle spielen Traditionen in einem osteuropäischen Land und welchen Transformationen unterliegen sie nach zwei radikalen politischen Brüchen? Wie werden Bräuche gelebt oder instrumentalisiert? Wie werden sie wahrgenommen und wie verändern sie Gesellschaft? Und welchen Transformationsprozessen unterliegen sie selbst? Am Beispiel Rumäniens untersucht die Autorin die Funktion und die mediale Inszenierung von Bräuchen und Traditionen, insbesondere von musikalischer Folklore, während der Ceauşescu-Diktatur sowie in der aktuellen postsozialistischen Ära.

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Seitenzahl: 413

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Transformationsprozesse von Bräuchen am Fuß der Karpaten im Postsozialismus

Zum Einfluss des Mediums Fernsehen auf die rumänischen Traditionen

© 2017 Dorina Descaş

Verlag und Druck: tredition GmbH, Grindelallee 188, 20144 Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-7439-3979-0

Hardcover:

978-3-7439-3980-6

e-Book:

978-3-7439-3981-3

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Danksagung

Meinen Eltern, meinem Mann Radu, Elsa, Hiltrud und Sigrid, vielen Dank für Eure vielfältige Unterstützung beim Schreiben dieses Buchs.

Für die wertvolle Betreuung danke ich

Prof. Dr. Werner Mezger und Prof. Dr. Stefan Pfänder.

„Tradiţiile sunt cel mai sensibil barometru la schimbările sociale.“

[Die Bräuche sind das empfindlichste Barometer sozialer Veränderungen.]

(Alina Ciobănel, Interview 17, S. 8)

„Tradiţia este azi ceea ce te defineşte ca persoană apartenentă la o aşezare şi la o zonă, ceea ce consideri că nu poate fi ȋnlăturat şi uitat.“

[Die Tradition ist heute das, was dich als Person, deine Zugehörigkeit zu einem Ort und einer Gegend definiert; sie ist das, was deiner Meinung nach nicht verschwinden und vergessen werden darf.]

(Narcisa Ştiucă, Interview 24, S. 8)

„Televiziunile au programe ȋnainte de Paşti, de Crăciun, de marile sărbători, ȋn care doresc să ofere oamenilor ceva frumos. […] Adică să mai lăsăm deoparte politica şi scandalurile şi să punem ceva frumos şi atuncea li se spune (reporterilor): “Mergeţi şi căutaţi obiceiuri cât mai inedite!”

[Die Fernsehsender bieten vor Ostern, und Weihnachten oder anlässlich der großen Feiertage Programme, mit denen sie den Menschen eine Freude machen möchten. Offenbar wollen sie Politik und Skandale beiseitelassen und etwas Schönes zeigen; dann wird den Reportern gesagt: „Geht und sucht möglichst einzigartige Bräuche!“]

(Alexandru Gruian, Interview 1, S. 1 - 2)

Inhaltverzeichnis

I. TRADITIONEN IM ZEITALTER DES FERNSEHENS

1 EINLEITUNG

1.1 DARSTELLUNG DER PROBLEMATIK

1.2 GEGENSTANDUND FRAGESTELLUNG

1.3 AUFBAUUND STRUKTUR

1.4 ZUR DEUTUNGDER BEGRIFFE

1.4.1 Brauch und Tradition
1.4.2 Folklore und Folklorismus
1.4.3 Terminologische Präzisierung

2 RUMÄNIEN - DAS LAND AM FUß DER KARPATEN

2.1 ZUR ROMANIA

2.2 LAND, SPRACHEUND KULTUR

2.2.1 Geografischer Raum
2.2.2 Historische Aspekte
2.2.3 Sprachkontakte des Rumänischen im Laufe der Geschichte
2.2.4 Zur Religion und Tradition der Bevölkerung
2.2.5 Theatralität und Volksschauspiel

2.3 DAS KOMMUNISTISCHE REGIME

2.3.1 Der kommunistische Apparat
2.3.2 Die ersten Unruhen
2.3.3 Licht am Ende des Tunnels

2.4 DAS FERNSEHENALS KATALYSATORDER DEMOKRATIE

2.4.1 Die Route der Freiheit
2.4.2 Modernisierung der Technik
2.4.3 Rückblick und gesellschaftliche Transformationsprozesse

3 DIE KULTUR IM WANDEL

3.1 ZUR BEZIEHUNG GESELLSCHAFT ̶ KULTUR

3.2 MODERNISIERUNGUND GLOBALISIERUNGDER KULTUR

3.3 KULTURIN ZEITENDER MEDIENGESELLSCHAFT

4 DIE WELT DER MEDIEN

4.1 HISTORISCHE ENTWICKLUNGDER MEDIEN

4.1.1 Gegenstandsbereich und Medientypen
4.1.2 Zur Geschichte des Radios und Fernsehens

4.2 THEORETISCHE ASPEKTEDER FERNSEHERFORSCHUNG

4.2.1 Das Medium Fernsehen in den Theorien McLuhans
4.2.2 Herangehensweise an das Medium Fernsehen
4.2.3 Die Determinante des Fernseh-Profils (Paleo- und Neotelevision)
4.2.4 Musik- und Nachrichtensendungen als wichtige Komponenten der Unterhaltungs- beziehungweise Informationsprogramme
4.2.5 Eingrenzung der Problematik

4.3 ZUR MEDIALEN KONSTELLATIONIN RUMÄNIEN

4.3.1 Ein unverhofftes Plus an Sendezeit
4.3.2 Die postsozialistische Entwicklungsperiode des Telejournalismus
4.3.3 Verwertung von Bräuchen im rumänischen Fernsehen

II. EMPIRISCHER TEIL

1 PRÄMISSEN DER FELDFORSCHUNG

1.1 SOZIALE FAKTENUNDDIE ROLLEDERQUALITATIVEN FORSCHUNG

1.2 REICHWEITEUND FORSCHUNGSSTANDPUNKT

1.3 TÄTIGKEITUND RELEVANZDES FORSCHERS

1.4 PLANUNGUND ABLAUFDER FELDFORSCHUNG

1.5 VORSTELLUNGDER INTERVIEWBETEILIGTEN

1.6 ERHEBUNGSVERFAHREN: BEOBACHTUNG, BEFRAGUNGUND GESPRÄCHSANALYSE

1.7 FELDFORSCHUNGSKATEGORIEN

1.8 ANALYSEUND AUSWERTUNGDER DATEN

2 ERGEBNISSE DER FELDFORSCHUNG

2.1 TRANSFORMATIONSPROZESSEDER BRÄUCHEIM SOZIALISMUS

2.1.1 Elemente der Kontinuität
2.1.2 Zum kommunistischen Regime in Rumänien
2.1.3 Die erste Umkontextualisierung der Bräuche
1.4 Zur Unterdrückung und Kollektivierung
2.1.5 Die Religion im Kommunismus
2.1.6 Das Festival „Cântarea României“
2.1.7 „Tezaur Folcloric“ – Kontinuität einer Fernsehsendung

2.2 ZUM WANDELDER BRÄUCHEIM POSTSOZIALISMUS

2.2.1 Veränderungsprozesse in der postrevolutionären Gesellschaft
2.2.2 Gründe für die Transformation und den Verlust von Traditionen
2.2.3 Bewahrungsfaktoren für die Traditionen
2.2.4 Veränderung der Bräuche im Orăştie-Gebirge
2.2.5 Die aktuelle Situation der rumänischen Traditionen und ihre Rolle in der Gesellschaft

2.3 MEDIALISIERUNGDER TRADITIONENIM POSTSOZIALISMUS

2.3.1 Bräuche als Kontrastprogramm zum turbulenten Alltag und zur Politik
2.3.2 Die Inszenierung der Bräuche und Traditionen im Fernsehen
2.3.3 Zur Bedeutung und Qualifikation des Fernsehteams
2.3.4 Akademische und lokale Erhaltungsformen der Traditionen versus kommerzielle Folklore
2.3.5 Die Bildungsfunktion des Fernsehens
2.3.6 Die Sensation als Dominante der Fernsehlandschaft
2.3.7 Die Rolle der Interaktivität und des Fernsehmoderators
2.3.8 Das Fernsehverhalten des Publikums und die Rolle der Wettbewerbe
2.3.9 Die Fernsehwelt und die Traditionen
2.3.10 Die Präsenz des Wissenschaftlers im Fernsehen

III. ZUSAMMENFASSUNG UND KONKLUSIONEN

IV. BIBLIOGRAPHIE

V. ANHANG: ÜBERSICHT DER DURCHGEFÜHRTEN INTERVIEWS

I. Traditionen im Zeitalter des Fernsehens

1 Einleitung

1.1 Darstellung der Problematik

Das ThemaBräuche und Traditionensowie die Vielfalt der damit verbundenen Phänomene wie Globalisierung und Medialisierung war in den letzten Jahrzehnten, insbesondere in Westeuropa und in den USA, Gegenstand zahlreicher Untersuchungen und Studien. Daraus konnten einerseits diverse empirische Ergebnisse gewonnen und Theorien1entwickelt werden, andererseits analysierten die Wissenschaftler verschiedene Evolutions- und Entwicklungsprozesse, die in diesen Weltregionen aus der Interaktion von Bräuchen und Traditionen mit anderen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen festzustellen waren. Zudem gab es vielfältige Bemühungen, diese Problematik interdisziplinär, aus der Perspektive der jeweils involvierten Disziplinen zu betrachten, so dass man heute auf vielfältige Beiträge aus der Ethnologie, Soziologie, Philologie, Musikwissenschaft, Kulturanthropologie und den Rechtswissenschaften zurückgreifen kann, um nur einige zu erwähnen.2

Im Unterschied zur Entwicklung von Bräuchen und Traditionen in den westlichen Demokratien und aufgrund seines besonderen politischen Weges weist der östliche Teil Europas in Bezug auf das Zusammenspiel und den gegenseitigen Einfluss von Traditionen sowie auf die neuen gesellschaftlichen Phänomene der technisch geprägten Welt einen gesonderten Werdegang auf – diese Partikularitäten haben ganz eigene Wandlungs- und Neuerungsvorgänge generiert. In diesem Kontext und aus der gegenwärtigen historischen Perspektive heraus ergibt sich daher die Notwendigkeit einer aktuellen Untersuchung, um den Interaktions- und Transformationsprozessen sowie deren Einfluss auf die Bräuche und Traditionen der jeweiligen Länder auf den Grund zu gehen.

Für eine solche Analyse spielen die analogen und die Druckmedien im Hinblick auf die Entwicklung jeder Gesellschaft eine sehr wichtige Rolle, deren Bedeutsamkeit bisher jedoch vorwiegend in spezifischen Disziplinen wie Medienkulturgeschichte, Medienpolitik, Medienethik, Medienproduktion oder Medienwirtschaft, erforscht und analysiert wurde. Dem Einfluss auf Lebensweise und Alltag der Menschen wurde dabei kaum Rechnung getragen – eine Forschungslücke, die diese Arbeit zu schließen versucht.

Diese Themenstellung ist gerade deshalb besonders relevant, weil das Ende des Jahres 1989 einen Wandel in der politischen Szene Südosteuropas mit sich brachte, darunter auch den lang ersehnten Machtwechsel in Rumänien. Bereits in der sozialistischen Ära hatte die kommunistische Partei die Bedeutung der Medien, speziell des Fernsehens, als politisches Machtinstrument entdeckt und genutzt. Und auch während der Revolution zeichnete sich die signifikante Rolle der Medien, insbesondere des Fernsehens, für den Erfolg des Freiheitskampfes früh ab. Denn schon wenige Tage nach Beginn der Revolution wurde das Rumänische Fernsehen in Bukarest als eine der ersten staatlichen Institutionen erstürmt und befreit. Die Revolutionäre bedienten sich der Plattform des Fernsehens, um ihre Botschaft nach außen zu tragen und die Bevölkerung über den Ablauf des Aufstands zu informieren. Infolgedessen stieg die Glaubwürdigkeit der bis dahin parteitreuen, also stark zensierten und daher meist skeptisch betrachteten rumänischen Medien rasant. Als Träger der neu gewonnenen Meinungsfreiheit bildeten sie nun das Fundament für die neue demokratische Gesellschaftsordnung und erreichten auf diese Weise eine bislang nicht gekannte Dimension. Dabei vermutete in der anfänglichen Euphorie, die mit Sicherheit gerechtfertigt war, kaum jemand das Ausmaß der damit verbundenen Veränderungen und deren Auswirkungen auf alle Bereiche und Ebenen der Gesellschaft. Erst mit der Zeit stellte sich heraus, wie schwierig die gesellschaftliche Wende von einem sozialistischen System zur Demokratie zu gestalten ist.

In den folgenden zwei Jahrzehnten durchlief das Land mehrere Modernisierungsetappen, die politische, ökonomische und soziale Konsequenzen nach sich zogen. Die rumänische Bevölkerung, die bis zu diesem Zeitpunkt mehr reagieren als agieren durfte, wurde innerhalb kürzester Zeit mit dieser neu gestalteten Konstellation und all ihren Neuerungen konfrontiert. Bewusst oder unbewusst mussten sich die Menschen an die demokratischen Verhältnisse anpassen und sich mit der repressionsfreien Realität auseinandersetzen, um deren funktionellen Parameter zu verstehen und Lösungen für die neu entstandenen Situationen zu finden. Dieser Prozess des Umdenkens und Umstrukturierens bildete eine der schwierigsten Herausforderungen für die rumänische Gesellschaft und ist bis heute noch nicht völlig abgeschlossen. Zudem hat die gesellschaftliche Relevanz des Fernsehens in den letzten fünfundzwanzig Jahren als bedeutende Informations- und Unterhaltungsquelle im Zuge der Modernisierung bzw. Globalisierung und als wichtige Plattform für die Inszenierung der Bräuche und Traditionen eine enorme Steigerung erlebt.

1.2 Gegenstand und Fragestellung

Da sowohl der politisch-institutionell gelenkte Umgang mit den Bräuchen im sozialistischen Rumänien als auch die durch Modernisierung und Globalisierung bedingten Wandlungsprozesse im Postsozialismus überwiegend vom Fernsehen transportiert werden, erweist es sich für die vorliegende Arbeit als zwingend notwendig, die Erforschung dieser gesellschaftlichen Erscheinungen anhand des Mediums Fernsehen vorzunehmen.

In meiner empirisch angelegten Studie untersuche ich daher die Wandlungsphänomene im postsozialistischen Rumänien sowie den Einfluss des Mediums Fernsehen auf Bräuche und andere performative Traditionen, die einen identitätsstiftenden Bereich der Populärkultur des Landes darstellen. Dabei ist es notwendig,erstensder Frage nach der Funktion der Bräuche in der sozialistischen Ära nachzugehen sowie der Rolle der politisch initiierten und geförderten medialen Inszenierung der Traditionen für die Bildung des sozialistischen Identitäts- und Nationalitätsgefühls. Im Fokus derzweitenwesentlichen Fragestellung stehen die durch den medialen Einfluss bedingten Transformationsprozesse, denen die Bräuche und Traditionen im postsozialitischen Rumänien unterworfen sind. In einemdrittenSchritt wird die Wirkung der nach der Revolution von 1989 so gut wie bruchlos fortgeführten Präsentation von Bräuchen im Fernsehen, insbesondere von musikalischer Folklore, untersucht und nach dem aktuellen Stellenwert der dortigen Sozialisierungsfunktion von Bräuchen gefragt, nicht zuletzt ange-sichts der zunehmenden Konkurrenz auf dem rumänischen Medienmarkt.

Zwar wäre es sicherlich höchst interessant, eine Inventarisierung der Wandlungsphänomene und des derzeitigen Status' der Bräuche und Traditionen in Gesamtrumänien zu diesem Zeitpunkt vorzunehmen, allerdings wäre dies das Unterfangen eines gewaltigen Forschungsteams und vieler Jahre harter Arbeit. Und auf jeden Fall würde es die Kapazitäten und den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. Aus diesem Grunde wird sich meine Untersuchung auf ein kleineres klar definiertes Feldforschungsgebiet beschränken, nämlich die Gegend Orăştie im Kreis Hunedoara. Eine solche Eingrenzung des Forschungsgebiets ist gerade im Falle Rumäniens zulässig, da die kommunistische Regierung hier – wie auch in den anderen nach dem zweiten Weltkrieg aus dem Boden gestampften sozialistischen Staaten – nach stalinistischen Muster und mithilfe einer zentralistischen Organisationsstruktur bewusst einen bemerkenswerten Nivellierungsprozess der Gesellschaft erreicht haben. So kann der Kreis Hunedoara sowohl hinsichtlich der kommunistischen Zwangsindustrialisierungspolitik als auch in Bezug auf die Reliefformen, die für den Kollektivierungsprozess im Lande relevant sind, als Prototyp dienen. Aber auch in Hinblick auf die historische Bedeutung der Region, die insbesondere in der nationalistischen Phase des Kommunismus eine wichtige Rolle spielte, und nicht zuletzt aus sprachlicher Perspektive, nämlich als Erscheinungsort einer der ersten rumänischen Schriften, der „Palia de la Orăştie“, bietet sich dieser Teil Rumäniens in seiner Beispielhaftigkeit als Feldforschungsgebiet an. Denn aus den oben dargestellten Gründen lassen sich einige wesentliche Aspekte meiner Untersuchung auf den Rest des Landes extrapolieren

Da das Medium Fernsehen, wie schon oben beschrieben, sowohl in der sozialistischen Ära als auch während des Regimewechsels 1989 als politisches Machtinstrument genutzt wurde, liegt die Bedeutung dieses Mediums für die vorliegende Studie auf der Hand. Meine Arbeit wird sich daher mit den Auswirkungen der Medien, vor allem des Mediums Fernsehen, auf die Traditionen und ihre Rolle in diesem Transformationsvorgang beschäftigen und die Maßnahmen zur Förderung und Konservierung der einheimischen Sitten eruieren.

Die empirischen Daten der Studie werden im Rahmen der durchgeführten Feldforschung erhoben. Die transkribierten Interviews dienen als Basis für die anschließende Diskursanalyse, die in Korrelation mit den bisherigen theoretischen Erkenntnissen dargestellt wird.

1.3 Aufbau und Struktur

Die Arbeit gliedert sich in zwei Hauptteile, die einerseits die theoretischen Aspekte, andererseits die empirische Blickrichtung der Untersuchung behandeln. Dererste Teil, der den theoretischen und wissenschaftlichen Hintergrund beleuchtet, bildet dabei das Fundament für den empirischen Teil und die darauf folgende Analyse.

Daserste Kapitelwidmet sich der Einführung in die Thematik und der terminologischen Klärung, was zu einem besseren Gesamtverständnis des untersuchten Gegenstands beitragen soll. Imzweiten Kapitelwird zunächst Rumänien als Untersuchungsgebiet schrittweise von der Makroebene zur Mikroebene aus verschiedenen Perspektiven vorgestellt. Darauf aufbauend thematisiere ich im zweiten Teil des Kapitels die politische Lage und die Konjunktur des Landes. Dabei wird nach der Darstellung des diktatorischen Systems und dessen Intentionen auf die politische Wende vom Dezember 1989 sowie die Rolle der Medien und die Technikentwicklung eingegangen. Anschließend werden unterschiedliche Aspekte der landesspezifischen Brauchkonstellation vorgestellt. Die Kulturproblematik und der Einfluss einiger Modernisierungsphänomene wie die Globalisierung oder die Medien bilden die Themen, die imdritten Kapitelbehandelt werden. Mit der Medienentwicklung und der Analyse des Mediums Fernsehen beschäftigt sich schließlich dasvierteund letzteKapiteldes theoretischen Teils. Basis der Überlegungen sind die Ansätze der Forschungstheorie von T. S. Eliot, George Steiner, Guy Debord, Giles Lipovesky und Marshall McLuhan, die der Untersuchung den nötigen theoretischen Hintergrud verleihen.

Derzweite Teilkonstituiert die empirische Komponente der Arbeit, in der die Forschungsresultate der qualitativen Untersuchung in Bezug auf die Transformationsprozesse der rumänischen Bräuche geschildert werden. Nach der Vorstellung meines Forschungsprozedere, des Feldforschungsablaufs und der Interviewpartner stelle ich die konkreten Ergebnisse der Feldforschung vor, die sich in drei Teile gruppieren lassen. Einleitend wird der Einfluss der sozialistischen Periode auf die Traditionen analysiert, gefolgt von der Wandlung der Bräuche im Postsozialismus. Mit dem Einfluss der Medien und ihrer Rolle bei der Inszenierung der Traditionen beschäftigt sich das letzte Unterkapitel. Die Ergebnisse der empirischen Recherche werden durch eine erneute Inkursion in die theoretischen Ansätze abgerundet, deren Ziel es ist, die Richtigkeit der Arbeitsthesen und der Fragestellung zu überprüfen.

Der letzte Abschnitt befasst sich mit Reflexionen über die gesamten Transformationsprozesse der rumänischen Bräuche, und mit neuen Forschungsimpulsen.

1.4 Zur Deutung der Begriffe

Vor einer detaillierten Schilderung des Rahmens meiner Arbeit und der allgemeinen Situation vor Ort sollen zunächst zum besseren Verständnis einige generelle Fragen zum ThemaBräuche und Traditionengeklärt werden.

1.4.1 Brauch und Tradition

Eine umfangreiche Definition des BegriffsBrauchist wegen der Komplexität des damit assoziierten Sachgebietes in der Volkskunde sehr schwer festzulegen. Aus diesem Grund provozierte dieser Terminus in wissenschaftlichen Kreisen eine intensive Debatte.

Der Duden definiertBrauchals eine „[aus früherer Zeit] überkommene, innerhalb einer Gemeinschaft fest gewordene und in bestimmten Formen ausgebildete Gewohnheit“.3Die Gewohnheiten eines Individuums werden im Deutschen nicht Brauch genannt. Dagegen hat der rumänische Begriffobicei[Brauch] laut dem rumänischen DEX4sowohl die Bedeutung „wiederholtes persönliches Verhalten“ als auch „fest gewordene gemeinsame Gewohnheit […] eines Volkes oder einer Gemeinschaft von Menschen; Sitte, Tradition, Usance, Usus“.5Der rumänische Soziologe Ernest Bernea definiert den Begriff wie folgt: „Brauch bedeutet zuerst Gewohnheit, kollektive Gewohnheit, wiederholtes Handeln, mit dem Zweck, das soziale Leben zu erhalten und zu organisieren.“6

Eine komplexe und für die vorliegende Arbeit geeignete Beschreibung des Brauchbegriffs liefert Andreas Bimmer, der ihn als eine soziale Kategorie betrachtet, die eine präzise gesellschaftliche Aktion beschreibt.7

Ein rigoroser Turnus und eine deutliche Permanenz charakterisieren die Bräuche und ebenso die Relevanz, die der Brauch für die praktizierende Gemeinschaft hat. Weitere Merkmale des PhänomensBrauchkristallisieren sich durch festgelegte Elemente der Handlung wie: Beginn, detaillierter Ablauf und Abschluss heraus. Die ausübende Gruppe kennt die Zeichensprache und die Bedeutung jedes Ritualschrittes sehr gut und nimmt in dieser Weise am gesellschaftlichen Leben teil. Darüber hinaus können die Bräuche als eine Projektion der sozialen Lebensäußerungen der Gemeinde betrachtet werden.8

Ein klassisches Untersuchungsfeld der Volkskunde bildet in diesem Sinne die Festforschung. Die wissenschaftliche Debatte der letzten Jahrzehnte auf diesem Forschungsgebiet zeigt eine offene Haltung der Volkskunde gegenüber anderen Beiträgen aus benachbarten sozialwissenschaftlichen Disziplinen, die sich verstärkt mit Themen wie Alltagsleben, Freizeit und direkte Kommunikation auseinandersetzen. Die detaillierte Dokumentation, die sorgfältige Analyse und Interpretation der Feste spielen weiterhin eine wichtige Rolle. Dabei sollten sich die Forscher keinesfalls auf die Beschreibung des Brauchablaufs beschränken, sondern alle anderen wichtigen Faktoren berücksichtigen, wie z. B. die implizierten sozioökonomischen, historischen und religiösen Aspekte. Auf der kulturellen Ebene ist die Erforschung der Werte- und Normensysteme neben Motivation und Intention der Individuen von großer Bedeutung.9

Die Gemeinde charakterisiert sich mit Hilfe der Bräuche und Traditionen, die eine bestimmte kulturelle und regionale Identität schaffen, als Entität. Die Assoziierung der Bräuche mit einem gewissen Typus von Volksschauspiel ist nicht willkürlich, sondern basiert auf genauen Zusammenhängen, was die Maskierung und die Übernahme einer Rolle angeht.10

Beim Volksschauspiel trifft man auf interessante, im Theater nicht existierende Merkmale, zum Beispiel auf eine fehlende Trennung von Publikum und Schauspielern oder auf die Einbindung von Menschen aller Schichten, Bildungsgrade und Altersstufen. Dabei muss die Bedeutung der Terminbindung an den Festkalender unbedingt berücksichtigt werden, da diese ein wichtiges Einteilungskriterium bildet. 11

Zusammenfassend kann man sagen, dass die Komplexität des Brauchbegriffs und die damit verbundenen erschwerten Definitionsmöglichkeiten in der modernen Forschung eine Strömung generiert haben, die das Brauchphänomen in der Europäischen Ethnologie nicht mehr als zentrales Untersuchungsthema des Faches betrachtet. Trotz unzähliger Debatten bleiben die Bräuche jedoch weiterhin eine Realität, eine wichtige Komponente des sozialen Lebens, und qualifizieren sich somit für die Volkskunde als wesentlichen Forschungsgegenstand.12

Die Volksschauspielforschung und andere benachbarte ethnologische Forschungsthemen vervollständigen in diesem Kontext die Relevanz dieser wissenschaftlichen Gebiete im Rahmen der Volkskunde. Die Grenzen bleiben jedoch offen und interferieren manchmal mit den Forschungsgebieten der Literaturwissenschaft, der Soziologie und der Geschichte, was zu einem besseren Gesamtverständnis des Begriffes beiträgt.

Da Bräuche Ausdruck der Tradition sind, sollte der BegriffTraditionaus einem ähnlichen Blickwinkel analysiert werden. Die einzelnen Facetten des Phänomens bilden auch hier ein Ensemble von Perspektiven, die zu einer komplexeren Sichtweise führen.

So musste beispielsweise die veraltete Meinung, Tradition sei ein Zeichen für Stagnation, revidiert werden. Entsprechend kann man auch nicht von zeitloser Tradition sprechen, weil sie selbst ein geschichtlicher Vorgang ist. In diesem Zusammenhang stellt sich ebenso die Frage, wie lange etwas praktiziert oder festgehalten werden muss, um als Tradition zu gelten. Die Identifizierung und das Verstehen der Bestandteile von Tradition wie traditionelle Handlungsregeln, soziale Kontrolle oder standardisierte Formen des Zusammenlebens und deren Bedeutung sind wichtig, um die Begriffskonstante derTraditionin der Volkskunde erfassen zu können.13

Wie sich diese Faktoren geographisch, historisch, sprachlich und religiös in der rumänischen Brauchtumskonstellation reflektieren, werde ich in den folgenden Kapiteln genauer untersuchen.

1.4.2 Folklore und Folklorismus

Da in verschiedenen Kultur- und Sprachräumen sehr unterschiedliche Semantiken des BegriffsFolkloreanzutreffen sind, sollen an dieser Stelle zur besseren Verständigung zunächst die notwendigen sprachlichen und kulturellen Nuancierungen des Begriffs vorgestellt werden.

Man kann zunächst festhalten, dass die Folklore die erste kreative Phase auf spiritueller Ebene in der Kulturgeschichte der Menschheit oder eines Volkes bildet, weshalb sie eine spezielle Facette der Kunst auszumachen scheint. Dabei ist sie eng mit den wichtigsten Momenten im Leben von Gemeinschaften und Einzelpersonen wie Arbeit, Feste, Geburt, Heirat oder Tod verknüpft.14

Die Forschungspioniere auf dem Gebiet der Folklore berücksichtigten nur den Glauben, Aberglauben, Bräuche und Volksliteratur als Reliquien und Symbole der Vergangenheit, alles Elemente, die dieTraditionbilden. Diese Erscheinungen nannten sieVolksantiquitäten,VolkstraditionenoderVolksliteratur.15

1846 schlug der englische Altertumsforscher William John Thoms eine Zusammenfassung all dieser Begriffe unter den Terminus „folklore“ [engl. „folk“,Volk; und engl. „lore“,Weisheit, Beschreibung,Wissenschaft]. Demnach sei „the lore of the people“ die Wissenschaft über das Volk. Diese generalisierende Ausdrucksweise beinhaltete einerseits die Volkskreation, andererseits die Wissenschaft, die dieses Phänomen behandelt.16

Das rumänische DEX definiertFolkloreals Summe aller künstlerischen Kreationen, Bräuche und Volkstraditionen, eine Darstellung, die verbreitete Anerkennung fand, auch wenn sie in der Folge von den Spezialisten weiter verfeinert und vervollständigt wurde.17

Trotz scheinbarer Vereinfachung der Terminologie sollte unbedingt eine Differenzierung gemacht werden: DieFolklorebeschreibt in Anlehnung an den englischen Begriff die künstlerische Kreation des Volkes, während dieFolkloristikin Rumänien diejenige Wissenschaft ist, die sich mit der Untersuchung dieser Schöpfungen beschäftigt. Außerdem ersetzte in Rumänien der BegriffFolkloreschrittweise Bezeichnungen wie Volkstraditionen, Volksliteratur,Volkslied oder Volkstanz. Im Hinblick auf die Bedeutung des BegriffsFolkloreexistieren unterschiedliche Konzeptionen, die entweder eine Erweiterung oder eine Reduzierung des Begriffsumfangs anstreben. Ein erstes Konzept sieht in derFolklorealle Bereiche der künstlerischen Kreationen des Volkes18wie Literatur, Musik, Tanz, Trachten und Keramikkunst umfasst. Eine andere verbreitete Auffassung betrachtet ausschießlich die spirituelle Volkskultur – damit sind Musik, Literatur, Tanz und Volksschauspiel gemeint –, alsFolklore, während anderen Kreationen wie Trachten, Holzschnitzerei oder Keramikkunst der Ethnographie zugeschrieben werden.19Diese letzte Betrachtungsweise bestätigt die Anmerkung Hermann Bausingers bezüglich der charakteristischen Disziplintrennung im osteuropäischen Raum, nämlich derEthnographiefür die Erforschung der materiellen Kultur einerseits und derFolkloristikfür die Erforschung der Volksdichtung andererseits.20

In diesem Zusammenhang müssen drei wichtige rumänische Beiträge zur Abgrenzung und Definition der Disziplinen erwähnt werden, und zwar die Ideen und Prinzipien, die Ovid Densusianu21in 1909 bei der Eröffnung der Folklore-Vorlesung an der Universität Bukarest präsentiert hat, diejenigen von Romulus Vuia aus dem Jahr 1926 bei der Eröffnung des Ethnographie-Kurses in Cluj und jene, die Mihai Pop und Pavel Ruxǎndoiu im Kapitel "Volkskultur und Folklore. Abgrenzungen" des Kurses "Rumänische Literarische Folklore"22formulieren.23

Da im deutschen Sprachraum der BegriffFolklorenicht einheitlich benutzt wurde, haben die Wissenschaftler hierzulande deutsche Termini wieVolksüberlieferungenfür das Wissen und die Erfahrung der einfachen Leute undVolkskunde24für die Wissenschaft über das Volk bevorzugt, weil sie die landesspezifische Ausrichtung deutlicher und adäquater reflektieren. Bezüglich der BezeichnungFolkloristikweist Hermann Bausinger darauf hin, dass dieser Begriff trotz mangelnder Konsequenz im Gebrauch für die Bezeichnung des Faches bevorzugt worden sei. Prinzipiell lasse sich erkennen, dass bei der Begriffsnutzung generell nicht der Sinngehalt „Wissen über folk“ im Hintergrund gestanden, sondern dass es sich eher um eine Abkürzung für „folclore studies“ gehandelt habe.25

Der Gedanke, die europäischen Völker als ein Ensemble zu betrachten, ist nicht neu und basiert teilweise auf Ähnlichkeiten des Alltagslebens auf dem Kontinent und auf den gemeinsamen historischen Entwicklungsphasen der existierenden Populationen. Zur Unterstützung dieser These kommen auch zahlreiche Analogien der folkloristischen Merkmale zum Einsatz, was generalisierend zu dem Konzept einer europäischen Folkloregemeinschaft führt.

Als Bestandteil dieser folkloristischen Gemeinde wird auch die Folklore des Donau-Karpatenraums angesehen, die sich durch ihre Lebendigkeit und Teilnahme der Bevölkerung an das Brauchphänomen auszeichnet. Allerdings lassen sich auch hier regional geprägte Unterschiede bezüglich der Intensitätsgrade der Bewahrung des Brauchtums und der zeitlichen Veränderungsprozesse feststellen.

Im literarischen Bereich bildeten diverse Formen der Volkskultur eine unendliche Inspirationsquelle für die rumänischen Schriftsteller, Dichter und Künstler, eine Tatsache, die zur Herausbildung einer erstklassigen Literatur führte.26

Das Konzept derVolkskulturselbst war auch in Rumänien, wie fast überall, im Laufe der Zeit ein Grund für viele polemische Diskussionen, die sich an der ursprünglichen Ungenauigkeit des Terminus„, dem breiten Spektrum der phänomenologischen Valenzen und den zahlreichen Assoziationen entzündeten. Zu einer erschwerten Definition des Begriffs trug ebenso die Relativität des EtymonsVolkin der Ethnologie bei.

Darüber hinaus kristallisierten sich einige Tendenzen mancher Autoren heraus, die die BezeichnungVolkskulturdifferenzierter einsetzen wollten, um sie gezielt illustrieren zu können. Daraus resultierten Ausdrücke wiecultură tradiţională orală[traditionelle mündliche Kultur], bei den Repräsentanten der aus Temeswar stammenden Folkloreschule odercultură cărturărească27[Gelehrtenkultur], eine von Mihai Pop und Pavel Ruxăndoiu eingeführte Formulierung mit dem Ziel, die Schöpfungen der Persönlichkeiten darzustellen.

In verschiedenen wissenschaftlichen Studien, die die Problematik der Volkskultur behandelten, ist eine weitere Unterteilung anzutreffen, die zwecks höherer Genauigkeit eine konventionelle und methodologische Unterteilung auf zwei Niveaus befürwortet: die Ebene der spirituellen und die der materiellen Kultur.28

Nicht zuletzt sollte die zentrale Rolle des Synkretismus in der rumänischen29Folklore, die in fast allen folkloristischen Kreationen vorkommt, betont werden. Der Synkretismus ist eine Symbiose zwischen Wort, Musik und Tanz, die als kompakte Einheit dem Inhalt mehr Ausdruckskraft verleiht.30

Die Umgebung von Hunedoara kann neben vielen anderen brauchreichen Regionen Rumäniens als „Denkmal“ althergebrachten Lebens des Donau-Karpaten-Gebietes betrachtet werden.31Trotz häufiger von wichtigen historischen Momenten geprägter Schwankungen, zeigt die Landesbevölkerung immer wieder Interesse an den vom Volk geschaffenen Werten, die als Symbole der Spiritualität gelten können.

Selbst dann, wenn die Aussagen der Dorfbewohner mit den schriftlichen Informationsquellen kombiniert werden, sollte ein kritischer Blick nicht fehlen, da viele Heimatschriftsteller und schreibfreudige Heimatfreunde in ländlichen Bezirken literarischen Folklorismus pflegen. Selbst wenn letztere die Menschen und das Leben vor Ort kennen, ist die Versuchung groß, in ihre literarischen Produktionen viele sentimentale, imaginäre und urzeitlich-mythische Aspekte einfließen zu lassen. Umso schlimmer ist es, wenn diese Bücher von Fachleuten als Quellenmaterial benutzt werden und somit Eingang in die Fachliteratur finden.32Angesichts dieser Sachlage erachte ich an dieser Stelle einen kurzen Überblick zum ThemaFolklorismusals relevant.

Der BegriffFolklorismuswurde 1962 von Hans Moser in die Volkskunde eingeführt. Mit seinen beiden Aufsätzen „Vom Folklorismus in unserer Zeit“ (1962) und „Folklorismus als Forschungsproblem der Volkskunde“ (1964) hat der Autor eine langjährige Fachdiskussion angestoßen. Der Begriff bezieht sich laut dem Volkskundler auf zwei Aspekte:

Auf das mit der zunehmenden zivilisatorischen Nivellierung zugleich wachsende allgemeine Interesse an „Volkstümlichem“ schlechthin und an alle seinen Reservaten, in denen das Leben noch Eigenart und Ursprunglichkeit, Kraft und Farbe hat oder jedenfalls zu haben scheint. Zum zweiten und im besonderen auf die Praxis, dieses Interesse zu befriedigen, zu stärken, gegebenfalls erst zu wecken, indem man „Volkstum“, zumeist in einem Extrakt des folkloristisch Attraktiven, vermittelt. Es gibt viele Möglichkeiten, noch vorhandene echte Traditionsformen in bestimmter Richtung zu kultivieren, aber auch aus ihrer Lebenssphäre herauszulösen und zu verselbstständigen, künstlich oder künstlerisch umzuformen, zu verniedlichen oder zu vergröbern, dann dort, wo es an wirkliche Substanz fehlt, Volkstümliches nachzubilden, ja frei zu erfinden, um schließlich einem heute sehr breiten, aufnahmenbereiten Publikum ein eindrucksvolles Gemisch von Echtem und Gefälschtem zu bieten.33

Kein Wunder, dass Moser unterFolklorimusschließlich „die Vermittlung und Vorführung von Volkskultur aus zweiter Hand“ versteht.34

Diese Auffassung kommentiert Hermann Bausiger folgendermaßen: „[…] im Zentrum seiner [Mosers] Beobachtungen stehen aber Veränderungen von Bräuchen, die im Zeichen des Fremdenverkehrs oder auch aufgrund der Nachfrage von Medien von oft sehr schlichten Formen der Ausführung in demonstrative und farbige Formen der Aufführung übergehen.“35Zudem ist Bausinger der Meinung, der weniger präzise als prägnante BegriffFolklorismussei von Moser nicht genau definiert, sondern eher umrandet worden.36Aus diesem Grund unterlag der Begriff auch häufig der Kritik.

So beanstandet Konrand Köstlin in Mosers Überlegungen zum Beispiel das Vorhandensein einer „Urfunktion“ des Folklorismus, was diesen in Opposition zu dem Echten und Unverfälschten setze. Dementsprechend fühlten sich diejenigen, die bestimmte wiederbelebende Brauchtumsphänomene wie Sprache, Tracht oder Fest bewahren wollten, irgendwie verpflichtet, den Folklorismusverdacht abzuwehren.37

Die Frage, ob Foklorismus und Volkskultur eine therapeutische Funktion für die unter Entfremdung leidenden Menschen in unserer Industriegesellschaft übernehmen können, thematisiert Köstlin unter verschiedenen Aspekten in seinem Aufsatz „Folklorismus als Therapie? Volkskultur als Therapie?“ aus dem Jahr 1982.38Der Autor kritisiert hier die reduzierende Wahrnehmung der Volkskultur, die jahrelang auch in der Volkskunde herrschte und entsprechend nur einen Teil der kulturellen Formen erfasst hat. Seine Beschreibung ist sehr anschaulich:

Volkskultur war der eher demonstrative, extrovertierte Teil der Kultur, war damit auch nur segmentäre Kultur. Es handelt sich um die Kultur, die auf Zuschauer ausgerichtet war, die in einer bestimmten Umgebung verankert war, auf diese wirken sollte, eine Kultur, die ihr Publikum benötigte. Es ist jene extrovertierte Kultur, die mit Tanz, Musik, mit festlichem Brauch den Anteil der Kultur darstellt, der der folkloristischen Verwertung, dem Folklorimus besonders zugänglich ist.39

In Anlehnung an Joseph Roth betont Köstlin, dass „Folkloristisches“ eher typisch für die Besucher als die Darsteller von Volkskulturveranstaltungen sei. Die Stärkung des Selbstverständnisses, des Selbstbewusstseins und des Sicherheitsgefühls könne als eine Art Therapie verstanden werden und somit eine mögliche Strategie des Folklorimus darstellen.40

Ein weiterer Aspekt des Folklorismus sei der ästhetische Umgang mit Elementen der Volkskultur, deren Verbindung mit der Tradition hervorgehoben werde und zur Festigung lokaler Identität dienen solle, selbst wenn diese Bestandteile aus dem Kontext gerissen und in völlig neue Zusammenhänge gesetzt würden. Auf diese Weise würden gewisse Teile der Folklore selektiv erneuert, konserviert und „in die Nähe des Musealen“ gerückt.41Diesbezüglich gelingt Hermann Bausinger eine pointierte Gegenüberstellung von Folklore und Folklorismus:

Folklore ist oder war mehr oder weniger selbstverständlich, weithin ritualisiert – hier wird sie als Wert reflektiert und bewußt inszeniert. […] Folklore ist oder war verbunden mit vorgegebenen, quasi gewachsenen sozialen Strukturen – jetzt bedarf sie der Organisation. In Folklore sind oder waren Glaubensmomente und Ideologeme integriert – jetzt werden sie herausgeholt und als Ziele verkündet.42

Der Begriff Folklorismus mache deutlich, dass ein Verschiebungsphänomen stattgefunden habe, und äußere die Tatsache, dass bestimmte Elemente der früher unauffälligen Folklore heutzutage eine individuelle Betonung erfahren und ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit gesetzt würden. Nichtsdestotrotz dürfe dieser Begriff sowie seine theoretischen Implikationen, so Bausinger, nicht verschlossen werden, weil er einen Hebelarm darstelle, mit deren Hilfe viele Elemente der vergangenen und gegenwärtigen Kultur besser nachvollziehbar seien. Die Folklorismusdebatte habe sich als sehr nützlich erwiesen und neue Perspektiven eröffnet, die für das Verständnis der heutigen Tendenzen sehr hilfreich seien und ältere Resultate neu interpretierbar machten.43Trotz häufiger Kritik empfiehlt Martin Scharfe, den Begriff Folklorismus als eine Art "Kompromissbildung" zu verstehen, die allgemeiner und wertfreier sei.44

Eine ähnliche kritische Folklorismus-Debatte wie die soeben für den deutschsprachigen Raum beschriebene konnte sich im Donau-Karpaten-Raum in Anbetracht der langjährigen angespannten politischen Lage in Rumänien nicht entwickeln, wo immer noch eine unbefangenere Art im Umgang mit dem BegriffFolkloreherrscht. Eine landesspezifische Kritikform hinsichtlich der unterschiedlichen Aspekte des Folklorismus scheint sich jedoch in den letzten Jahren allmählich herauszubilden, insbesondere hinsichtlich der Darstellung von Traditionen im Fernsehen.

1.4.3 Terminologische Präzisierung

Der untersuchte Gegenstand in der vorliegenden Arbeit ist fachübergreifend verortet. Demnach werden verschiedene Begriffe und Zusammensetzungen von Begriffen verwendet, was im Folgenden eine kurze Erläuterung der Termini erforderlich macht.

Bei der Auswahl der Begriffe orientiere ich mich einerseits am Rumänischen als Referenzsprache und berücksichtige andererseits bezüglich der Feldforschungsinterviews selbst die Übertragung des Sinngehalts ins Deutsche. Dieses Vorgehen soll der Verständlichkeit der Arbeit dienen.

Trotz seines verallgemeinernden Charakters bediene ich mich bewusst des Terminus„Folklore, um fachübergreifende Begriffskomposita zu benennen, z.B.Folklore-Fernsehsender[rum.televiziune de folclor], wenn die Rede von kommerziellen Fernsehsendern wie Etno TV oder Hora TV ist, die vorwiegend Volksmusik ausstrahlen. Zudem wurde der BegriffFolklorevon meinen Interviewpartnern häufig benutzt, weil er im Rumänischen eine wertneutrale Bedeutung hat. In wissenschaftlichen Kreisen wird inzwischen präziser und differenzierter über das ThemaFolklorediskutiert und diese allgemeine Bezeichnung wird je nach Anwendungsbereich durch gezielte Syntagmen wiecultură populară tradiţională/actuală45[traditionelle/aktuelle Volkskultur] oderpatrimoniul material şi imaterial46[materielles und immaterielles Erbe] ersetzt. Nichtsdestotrotz erhielt ich von der Ethnologin Otilia Hedeşan, trotz der Komplexität des Begriffs, folgende Erläuterung für den TerminusFolklore: „Die Folklore besteht aus einer Schichtenfolge im Community-Gedächtnis, wobei dem Community-Gedächtnis eine Schicht der Praktiken hinzugefügt wird, die das auf einen neuen Stand bringt, was uns bereits als wertvoll nahegebracht wurde; hinzu kommt eine Schicht der Gemeinschaftspraktiken, die um uns herum stattfinden.“47Aus diesem Grund hat die Folklore für meine Interviewpartnerin eine lebendige und erneuernde Eigenschaft. Trotz differenzierten Einsatzes des Begriffs in Sozial- und Kulturbereichen wird das WortFolklorein Rumänien dennoch von Fachfremden häufig benutzt.

Als Nächstes wähle ich für die rumänische Bezeichnungmuzică popularădas deutsche ÄquivalentVolksmusik. Der Grund für diese Entscheidung beruht einerseits auf der Tatsache, dass der BegriffVolkim Rumänischen ideologisch nicht vorbelastet ist, andererseits ist die naheliegende wörtliche Übersetzungpopuläre Musikals Bezeichnung eines musikalischen Genres nicht deutlich genug und ebenso unpassend, was den transportierten Inhalt betrifft.

Die Bedeutung des Adjektivspopularim Rumänischen beschreibt in erster Linieetwas, was dem Volk gehört, was aus dem Volk kommt, was vom Volk kreiert wurde, was spezifisch für ein Volk oder charakteristisch für seine Kultur ist.48Ein weiteres Beispiel dafür ist die Bezeichnung für die Volkstracht, auf Rumänischcostum popularbzw.costum tradiţionaldie ebenso mit der Tradition verknüpft ist.49

Die oben erwähnten Argumente stehen in Zusammenhang mit der Sinnübertragung des BegriffsVolksmusik, der primär als eine generelle Bezeichnung für diese Musikkategorie zu verstehen ist. Die allgemeine Prägung dieses Ausdrucks werde ich in der vorliegenden Arbeitdurch die Adjektivetraditionellundkommerziellauflösen. Die so erreichte genauere Spezifizierung bewirkt eine Verdeutlichung der Affinität dieser Musikrichtung zur Tradition. Ich spreche also vontraditioneller Volksmusikbzw.kommerzieller Volksmusik. Darüber hinaus berücksichtige ich auch die Überlegungen zur fachübergreifenden Wortzusammensetzung aus Kulturbereich und Medienbranche, denen zufolge eineVolksmusiksendungeine Fernsehsendung ist, die sich mit Volksmusik beschäftigt. Im Rahmen meiner Arbeit habe ich mich daher entschieden, die Begriffetraditionellebzw.kommerzielleVolksmusik zu gebrauchen.

Was die Bezeichnung der in Rumänien ab Ende des zweiten Weltkriegs bis zur Revolution von 1989 herrschenden Ideologie angeht, so benutze ich absichtlich den BegriffKommunismus, um die totalitäre Form desSozialismuszu betonen. Für die Periode nach 1989, in der die Entwicklung in Gesamt-Osteuropa in Richtung Demokratie einheitlicher verlaufen ist, spreche ich wie allgemein üblich vonPostsozialismus.

2 Rumänien - Das Land am Fuß der Karpaten

2.1 Zur Romania

RomaniaundRomânia50, zwei Begriffe, die fast identisch klingen und geschrieben werden, illustrieren und benennen jedoch zwei unterschiedliche Entitäten, die wiederum in einem komplementären Verhältnis zu einander stehen.

Ihre Affinitäten unterliegen nicht dem Zufall, sondern beschreiben einerseits historische und geographische, andererseits sprachliche und kulturelle Verbindungen. Die Art und Weise, in der die zwei Termini verknüpft sind, lässt diese auf zwei verschiedenen Ebenen spielen, dabei gehörtRomaniader Makroebene an, währendRomâniader Mikroebene zugeordnet werden kann. Um nun die Begriffe und ihre Beziehung zu verdeutlichen, werde ich im Folgenden die wissenschaftliche Diskussion umRomaniaversusRomâniagraduell von der Makroebene zur Mikroebene summarisch wiedergeben.

Der BegriffRomaniabezeichnet die Gesamtheit der Gebiete, in denen Latein bzw. eine aus dem Latein hervorgegangene Sprache gesprochen wurde oder wird.51DieAlte Romaniamarkiert die Territorien des damaligen Römischen Reiches und somit den älteren, mittlerweile kleiner gewordenen Teil der Romania, während dieNeue Romaniadie aktuellen Verbreitungsgebiete der romanischen Sprachen umfasst. Zu dieser exponentiellen sprachlichen und geografischen Ausdehnung trug der Kolonialismus wesentlich bei, so dass man heutzutage etwas mehr als 600 Millionen Sprecher romanischer Sprache verzeichnen kann. Des Weiteren sollten auch die Sprecher von Kreolsprachen berücksichtigt werden, die in den Regionen des Indischen Ozeans, der Karibik, Afrikas und Nord- und Südamerikas leben.52

Die Abstammung der romanischen Sprachen, die dem romanischen Zweig der indogermanischen Sprachen zugerechnet wird, lässt sich bis zum Vulgärlatein zurückverfolgen.53

Der italienische Sprachwissenschaftler Carlo Tagliavini gruppiert die romanischen Sprachen derAlten Romaniain vier Kategorien: 1. die balkanromanischen oder dakoromanischen Sprachen: Rumänisch, Aromunisch und bis zum 19. Jahrhundert auch Dalmatisch; 2. die italoromanischen Sprachen: Italienisch, Sardisch und Rätoromanisch; 3. die galloromanischen Sprachen: Französisch, Frankoprovenzalisch, Okzitanisch und 4. die iberoromanischen Sprachen: Katalanisch, Spanisch, Galicisch und Portugiesisch.

Der Vertreter der Areallinguistik Matteo Bartoli geht entsprechend der geografischen Gebiete derAlten Romania– Iberia, Gallia, Italia und Dacia – ebenfalls von einer vierfachen Gliederung aus und unterteilt die romanischen Sprachen konform den Seitenarealnormen inRandromaniaundZentralromania. Dieser Unterteilung zufolge gehören Iberia und Dacia zur Randromania, während Gallia und Italia zur Zentralromania gezählt werden. Diese Charakterisierung stützt sich auf die These, dass die Randareale aus sprachlicher Sicht viel konservativer sind als die Zentralzonen, wo die gemeinromanischen Wortschatzneuerungen rascher aufgenommen wurden.

Der Romanist Walther von Wartburg gruppiert die romanischen Sprachen inOstromania(Mittel- und Süditalien, Rumänien) undWestromania(Spanien, Frankreich, Portugal und Norditalien)54, wobei die Demarkationslinie der beiden Gebiete von La Spezia nach Rimini verläuft. Als wichtige Gliederungskriterien dienen ihm die lautlichen Merkmale sowie das Vorhandensein keltischer Sprachen vor der Romanisierung.

Für Amando Alonso hingegen ist der Spracheinfluss nach dem Romanisierungsprozess für die Analyse der romanischen Sprachen von besonderem Interesse und genau aus dieser Perspektive unterteilt er die Alte Romania inRomania continuaundRomania discontinua. So sind aufgrund des starken Sprachkontaktes und der vielen Partikularitäten das Rumänische und das Französische Teil derRomania discontinua.55

Insgesamt betrachtet gehört die rumänische Sprache somit innerhalb der Romania in erster Linie zurAlten Romania. Folglich ordnet man sie der Gruppe der balkanromanischen Sprachen, derRand-undOstromaniasowie derRomania discontinuazu. Damit diese einleitende Differenzierung in schriftlicher Form mehr Leben und Kontur erhält, wird die bildliche Darstellung dieser Areale am Ende der Arbeit im Anhang Nr. 1 (Die Ostromania und die Westromania) veranschaulicht.

Ausgehend von der Makrostruktur nähern wir uns nun langsam dem konkreten Feldforschungsgebiet an, nämlich der Region am Fuß der Karpaten und den zu untersuchenden Zeiträumen.

2.2 Land, Sprache und Kultur

Der Übergang von der Mündlichkeit der ersten Belege des Rumänischen ab dem 16. Jahrhundert zur heute fixierten Schriftlichkeit bietet die Möglichkeit zu einer äußerst aufschlussreichen wissenschaftlichen Datenerhebung, die die dynamischen Veränderungsprozesse der sprachlichen Phänomene zum Gegenstand hat. Das ost-romanische Sprachgebiet ist ein Gebiet, über das kaum aktuelle soziolinguistische und medienwissenschaftliche Daten vorliegen, die allerdings für die Erzählforschung und den Sprachvergleich innerhalb des romanischen Sprachverbunds von großer Bedeutung sind.

2.2.1 Geografischer Raum

Zu Beginn möchte ich die räumlichen Koordinaten des erforschten Gebiets skizzieren. Dabei beginne ich die geografische Illustrierung der Region mit der Makroebene – dem Land Rumänien – und führe zur Mikroebene – dem Forschungsgebiet dieser Arbeit Orăştie – hin.

Die Region am Fuß der Karpaten, wie Rumänien im Titel dieser Arbeit genannt wird, liegt im südöstlichen Teil Europas und wird aufgrund ihrer geografischen Lage auf dem Kontinent als das „Land zwischen Orient und Okzident“ bezeichnet.

„Sollte es tatsächlich stimmen, dass Siebenbürgen den geographischen und geistigen Mittelpunkt Rumäniens darstellt – wie es der Priester, Professor und Akademiker Ioan Lupaş einst in einem vortrefflichen Buch schreiben ließ –, so stellt die Gegend Hunedoara mit Gewissheit den historischen und ethnischen Mittelpunkt Siebenbürgens dar.“56

Die Stadt Orăştie, die den deutschen NamenBroosund den ungarischen NamenSzaszvarosträgt, liegt in der eben beschriebenen Gegend im Kreis Hunedoara und hat folgende geografische Koordinaten: 45°47'30" nördliche Breite und 23°11'30" östliche Länge.57

Der Ortsname Orăştie wird auch für die umliegende Region verwendet, die sich im Südwesten Transsilvaniens befindet, südlich des Flusses Mureş in einem Talkorridor. Aufgrund der zahlreichen Täler, Hügel und Berge, die sich harmonisch ineinander verflechten, ist das Relief dieser Gegend geografisch abwechslungsreich.

Die umliegenden Siedlungen sind wie folgt positioniert: südlich: Beriu, Căstău, Sibişel, Orăştioara de Sus, Orăştioara de Jos, Sereca, Bucium, Ludeşti, Costeşti, Grădiştea Muncelului; südwestlich: Dâncul Mare, Dâncul Mic, Tămăşasa, Mărtineşti, Jeledinţi, Turmaş, Spini, Râpaş; nördlich: Pricaz, Folt, Cigmău, Boiu, Geoagiu, Geoagiu - Băi, Gelmar und östlich: Aurel Vlaicu, Romos, Romoşel, Vaidei şi Pişchinţi.58

Die in der vorliegenden Studie durchgeführte Feldforschung fand progressiv vom Tal in Richtung der Berge, und zwar in folgenden Ortschaften statt: Orăştie [Bross], Beriu [Bärendorf], Orăştioara de Sus, Costeşti, Grădiştea de Munte, Sub Cununi.

Durch die geographische Lage der Ortschaften in der Nähe der Orăştie Gebirge, wo sich die zentrale Burg der Daker, „Sarmizegetusa Regia“ sowie die späteren römischen Festungen befinden, treffen wir in dieser Region auf historische Spuren der römischen Besatzung, die hier stationiert war. Diese Spuren der Geschichte können am besten verfolgt werden, indem man die historischen Ereignisse unter die Lupe nimmt.

2.2.2 Historische Aspekte

In der Volkskunde kommen viele interdisziplinäre Fachrichtungen zum Einsatz, wenn es darum geht, einen umfassenderen Überblick über ein Phänomen zu gewinnen. In diesem Kontext spielen die historischen Fakten eine sehr relevante Rolle, weil die Gesamtheit der Traditionen sehr eng mit der Geschichte eines Landes verbunden ist. Dabei soll ein auf diese Arbeit ausgerichteter historischer Exkurs helfen, gewisse Details über Land und Volk zu erfahren.

Die historische Entwicklung Rumäniens muss im europäischen Kontext analysiert werden, und dies mit dem entsprechenden Grad an Spezifizität. Die Kelten und die Thraker bildeten die zwei wichtigsten Bevölkerungsgruppen Europas, die sich trotz ihrer Unterschiedlichkeit gegenseitig konfrontiert und beeinflusst haben. Das Territorium des heutigen Rumäniens war ab dem 5. Jh. v. Chr. hauptsächlich von den thrakischen Volksgruppen der Geten und Daker besiedelt. Ihre Vereinigung der Geten und Daker unter Burebista59kann angesichts der Gefahr der römischen Expansion als natürliche Reaktion betrachtet werden. König Burebista bildete das Fundament des neuen dako-getischen Staates und sorgte für enge ökonomische und kulturelle Beziehungen zwischen allen Volksstämmen. Außerdem verlagerte er das Zentrum des Dako-Getischen Staates vom südlichen Teil des Territoriums in Richtung des Orăştie-Gebirges bei Grădişte.

Nach einer Blütezeit, in der die Geto-Daker relativ mächtig waren und sogar Rom Respekt abverlangten, kam es nach dem Tod Burebistas zu einem Machtvakuum, das das römische Imperium bald zu seinen Gunsten ausnutzte.60

So wurde das dako-getische Reich in den Jahren 106/107 n. Chr. erobert und gehörte bis zum Jahr 271 zum Römischen Imperium. Die Romanisierung Dakiens brachte im Vergleich zu den anderen römischen Provinzen einen sehr ausgeprägten und rapiden wirtschaftlichen Aufschwung mit sich.61

Das WortRomaniabeschrieb damals das gesamte Römische Imperium und darüber hinaus den Ruhm, die Macht und die Zivilisation des Imperiums. Am Anfang wurde das als römischeProvinz Dacia bezeichnete Gebiet vonRomanibewohnt, ein Kulturbegriff, der den Latein Sprechenden und den lateinischen Gebieten zugeordnet war.62

Der Abzug der Römer aus Dakien löste unter Historikern viele kontradiktorische Debatten aus, aus denen sich zwei entgegengesetzte Thesen herauskristallisiert haben. Auf der einen Seite stützen sich manche Wissenschaftler auf die überlieferten historischen Quellen und gehen von einem vollständigen Abzug der Römer und einem späteren Einwanderungsprozess aus, so die Vertreter der sogenannten „Rösler-Theorie“63. Auf der anderen Seite orientieren sich manche Experten an der „Kontinuitätstheorie“64, der zufolge eine große Zahl der romanisierten Bevölkerung auch nach der Räumung Dakiens weiterhin im Land verblieben sei, während ein permanenter Kontakt mit den südlichen Donaugebieten des Reiches einen fortlaufenden Romanisierungsprozess der Einwohner gefördert habe.65

Zusammenfassend kann man bei der Romanisierung Dakiens von zwei wichtigen Etappen ausgehen: der ersten Romanisierung durch die römische Okkupation und einer Romanisierungsphase durch spätere intensive Kommunikation und Interaktion mit den anderen römischen Gebieten südlich der Donau.

Die nachrömische Zeit lässt sich aufgrund der diversen Bevölkerungsgruppen, die das Land durchquerten und sich teilweise hier niederließen, als Periode der Völkerwanderungen und als Vervollständigungsperiode kennzeichnen. Die Archäologie liefert entsprechende Beweise, die auf eine Vermischung der Migrationsvölker mit den romanisierten Einheimischen Dakiens hinweist.

Aber auch Populationen wie die der Hunnen, Gepiden, Avaren und später der Slawen hinterließen wichtige Spuren, die sich in der späteren rumänischen Sprache und in der Herausbildung des Volkes widerspiegeln. Daher betrachten Historiker das 9. Jahrhundert, als die höchstmögliche Ausdehnungstendenz auf dem alten dakischen Territorium stattfand, als Endphase der Ethnogenesis des rumänischen66Volkes.67

Da die Beschreibung der weiteren historischen Epochen aus Gründen der Relevanz im Rahmen dieser Arbeit nicht behandelt werden kann, ergibt sich an dieser Stelle die Notwendigkeit eines historischen Sprungs.

Die rumänische Geschichte weist verschiedene Elemente und Einflüsse auf, die als Folge einer abwechslungsreichen, historischen und kulturellen Entwicklung zu verstehen sind. Diese Vielfalt kam zustande durch die unterschiedlichen historischen Wege, die die Fürstentümer Rumäniens bis zur Vereinigung prägten.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand das Königreich Rumänien, das sich aus drei Regionen zusammensetzte: der Walachei (Ţara Românească) im Süden, der Moldau (Moldova) im Osten und der Dobrudscha (Dobrogea) im Süd-Osten, am Schwarzen Meer. Später kamen noch die Gebiete: Bessarabien (Basarabia), Transsilvanien (Transilvania), die Bukowina (Bucovina) und das Banat hinzu. Die Regionen Crişana im Westen und Maramureş im Norden sind als Teile von Transsilvanien zu betrachten.68Die rumänischen Provinzen pflegten über die Jahre ständige wirtschaftliche und kulturelle Kontakte und die Bevölkerung der Fürstentümer mischte sich permanent, was zu einer gewissen ethnischen Homogenität führte.69

1859 vereinigten sich die beiden Donaufürstentümer Moldau und Walachei unter der BezeichnungRomânia, und fünfzig Jahre später kam Transsilvanien als Fürstentum dazu. Mit diesem Ereignis wurden auch die Provinzbezeichnungen abgeschafft.70

Auf diesen historischen Überblick folgt nun eine kurze sprachliche Analyse, die für die mündliche Überlieferung der Traditionen relevant ist und die Einflüsse in der Sprache reflektieren soll.

2.2.3 Sprachkontakte des Rumänischen im Laufe der Geschichte

Die ersten Überlieferungen der rumänischen Sprache gehen ins 16. Jahrhundert zurück. Rumänisch ist wie jede andere Sprache durch einen Mischprozess entstanden.

Zunächst muss darauf hingewiesen werden, dass die Problematik der Sprache aufgrund der geringen linguistischen Information aus der vorrömischen Zeit eine gewisse Komplexität aufweist. Informationen liefern den Linguisten die archäologischen Funden auf dem Boden Dakiens, Schmuckobjekte, Gebrauchsgegenstände und Waffen, die östliche (kimmerischskythische), südliche (griechische, thrakische) und westliche (italische, illyrische, keltische) Spuren aufweisen.

So verwundert es nicht, dass 20 % der rumänischen Wörter unbekannter Herkunft sind. Man spricht dabei von einem Substrat der rumänischen Sprache, das in der vorrömischen und römischen Zeit im Donau- und Karpatenraum erkennbar ist. Diese Wörter gelten jetzt als eine Partikularität der Sprache, als ein autochthones Element. In der römischen Zeit wurde Latein als offizielle Sprache benutzt, als Kultur-, Amts- und Verkehrssprache.71Dabei wurde im Westen die Latinität durch die Institution der Kirche, im Osten durch die romanische Sprachgemeinschaft erhalten.

„Die Vorfahren der Rumänen, die geographisch zerstreut und politisch oft getrennt waren, die durch den Einfall der Wandervölker ihre Siedlungen immer wieder aufgeben mussten, um überleben zu können, haben von dem Ruhm des Imperiums nur die Sprache bewahrt“72, befindet der Rumänist Paul Miron treffend. Die romanisierten Thraker und Daker hatten auch nach dem Rückzug des Romanischen Reichs nie aufgehört, Romanisch zu sprechen. Latein war für die Bevölkerung Dakiens eine Möglichkeit, weiter an die schwebende Entität Rom zu denken.73

Ende des 16. Jahrhunderts wird in Orăştie eine der ersten rumänischen Schriften, „Palia de la Orăştie“, gedruckt und das folgende Jahrhundert markierte für die rumänische Sprache einen wichtigen Durchbruch: die Herauslösung der rumänischen Schriftsprache aus dem Altslawischen. Bis zu diesem Zeitpunkt waren alle kirchlichen Bücher und Dokumente in der altslawischen Sprache geschrieben, was das Rumänische wesentlich beeinflusst hat. Dieses bedeutende Ereignis hat in allen Lebensbereichen (literar-wissenschaftlich, politisch, kirchlich usw.) eine wichtige Rolle gespielt und das Romanitätsbewusstsein der Rumänen stark geprägt.74Die historischen Berührungen und Interferenzen mit anderen Völkern spiegeln sich jedoch auch in den Sprachbereichen wieder, wo slawische, griechische, germanisch-deutsche, ungarische, türkische u.a Einflüsse auf das Rumänische deutlich werden.

Die rumänische Sprache wird linguistisch in vier Dialekte bzw. Sprachvarietäten unterteilt: das Dakorumänische, das Aromunische oder Mazedorumänische, das Meglenitische und das Istrorumänische. Das Dakorumänische seinerseits lässt sich allgemein in fünf Subdialekte unterteilen, die sich mit den geographischen Zonen des Landes decken: Moldau, Muntenien, Banat, Krischana und Maramuresch. Man spricht in diesem Zusammenhang von räumlichdialektalen Varietäten.75

Andere Autoren, darunter auch H. Tiktin76, plädieren für eine Gliederung in vier Subdialekte: das Walachische im Süden, das Moldauische im Nordosten, das Banatische im Westen und das Siebenbürgisch-Ungarische im Norden und im Zentrum. Die Regionen Krischana und Maramuresch werden hier als Gebiete von Transsilvanien betrachtet. Diese Dialektalität des Rumänischen spielt für das regionale Brauchtum, dessen Partikularität es mitgestaltet, eine wichtige Rolle.

2.2.4 Zur Religion und Tradition der Bevölkerung

So wie die Latinität ein wesentliches Charakteristikum der rumänischen Sprache bildet, so beschreibt sie auch die spirituellen und kulturellen Eigenschaften des Volkes, ohne die eine Betrachtung der Bräuche und Traditionen undenkbar wäre. Die Romanisierung der dakischen Bevölkerung war auch eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung des Christentums. Die Verbreitung der neuen Religion fand nicht plötzlich statt, sondern wurde erst allmählich

akzeptiert. Die Ideen und Thesen dieser Religion passten in vielen Punkten zur Mentalität der dakischen Bevölkerung. Das Christentum drückte am besten die Gefühlslage der damaligen Gesellschaft aus, die gegen die Sklaverei war, und es hat die Idee vom Ende der Welt für ungültig erklärt. Außerdem nahmen die dakischen Provinzen an allen ökonomischen, sozialen und kulturellen Aspekten des römischen Lebens teil, was zu einer schnelleren Übernahme der Religion führte.77

Das Ende des zweiten Jahrhunderts und die Mitte des dritten Jahrhunderts, n. Ch. können als Beginn des Christentums in Dakien betrachtet werden. Das Römische Imperium benutzte das Christentum anfangs auch als Instrument gegen die Barbaren. Mit der Zeit wandte sich die Kirche mehr und mehr der Gewinnung neuer Gläubigen zu und versuchte, durch das Missionieren eine größere Einflusszone zu erschließen. Die Kirche war schon damals sehr gut organisiert, die Bischöfe hatten enge Beziehungen untereinander, die Sprache war einheitlich Latein und all diese Fakten führten zu einer großen Verbreitung der Glaubenslehre. Nach dem Rückzug des Römischen Imperiums aus Dakien blieb das Christentum erhalten, und es zeigte sogar eine starke Kontinuität, vorwiegend in den Groß- und Handelsstädten, wie sich anhand von verschiedenen kirchlichen Objekten wie z. B. kirchliche Gefäße, Kerzenständer, kleine Löffel, Ringe, Tongefäße usw. unschwer überprüfen lässt.

Offensichtlich gab es trotz des Rückzugs der Römer permanente Kontakte und Beziehungen zwischen den christlichen Zentren und den dakischen Provinzen.78Die Nachfrage nach christlichen Objekten war in den dakischen Provinzen sehr groß. Infolgedessen wurden von den Priestern oder der Bevölkerung verschiedene Gegenstände nach dem Brennen im Ofen mit einem Kreuz markiert. Der Prozess diente der spirituellen Reinigung der Gegenstände. Es gab jedoch auch bestimmte Objekte, die schon vor dem Brennen mit dem Kreuz versehen wurden, da sie als christliche Objekte dienen sollten. Andere Symbole auf christlichen Gegenständen waren der Hirte, der Lebensbaum, der Fisch, die Taube, der Strauß, das Huhn usw.79

So war es neben dem Element der Romanisierung auch das Element des Christentums, das das Überleben der rumänischen Sprache und Ethnie trotz politischer und sozialer Unruhen ermöglichte. Der Historiker Radu Vulpe drückt diese Symbiose folgendermaßen aus: „Wir sind Rumänen, weil wir Christen sind, und Christen, weil wir Rumänen sind“80. Daher steht die Kontinuität der rumänischen Traditionen größtenteils mit dem alten sowie dem christlichen Glauben der Bevölkerung in Verbindung. Die bis weit ins 20. Jahrhundert hineinreichende Form der Agrargesellschaft unterstützte ebenfalls diesen Erhaltungsprozess; so dass trotz jahrzehntelanger atheistischer Indoktrinierung durch das kommunistische Regime den Menschen die Religion heute noch sehr viel bedeutet.