Trauma, Angst und Liebe - Franz Ruppert - E-Book

Trauma, Angst und Liebe E-Book

Franz Ruppert

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  • Herausgeber: Kösel
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2012
Beschreibung

Die Folgen von Traumata sind vielfältig. Oft entstehen psychische Aufspaltungen, aus denen der Betroffene nicht mehr aus eigener Kraft herausfindet. Dann wird Psychotherapie notwendig, die in Richtung Traumaheilung wirkt.

Franz Ruppert hat mittels der Aufstellungsmethode ein Verfahren entwickelt, das traumabedingte Spaltungen sichtbar macht und die psychische Reintegration fördert.

Zahlreiche Fallbeispiele illustrieren seine Arbeit.

  • Trauma verstehen
  • Ein neuer Ansatz in der Traumatherapie
  • Die innere Dynamik seelischer Spaltungen verstehen

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Seitenzahl: 491

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Franz Ruppert

Trauma, Angst und Liebe

Unterwegs zu gesunder Eigenständigkeit: Wie Aufstellungen dabei helfen

Kösel

Alle Fallbeispiele in diesem Buch beruhen auf realen Begebenheiten. Um die Betroffenen zu schützen, wurden Namen und ggfs. persönliche Details verändert, die Rückschlüsse auf die Identität zulassen würden.

Copyright © 2012 Kösel-Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlag: Oliver Weiss

ISBN 978-3-641-09450-8

www.koesel.de

Vorwort

Für die anstehende fünfte Auflage meines Buches Verwirrte Seelen hatte mir der Verlag freundlicherweise das Angebot gemacht, den Text grundlegend zu überarbeiten. Dieses Vorhaben erwies sich jedoch nach mehreren Anläufen als nicht machbar. Zu viel hatte sich in den über zehn Jahren, die seit dem Erscheinen dieses Buches im Jahr 2002 vergangen waren, in meinem wissenschaftlichen Denken und in meiner praktischen therapeutischen Arbeit verändert.

Es war daher naheliegend, die Verwirrten Seelen nicht durch Zusätze und Korrekturen aufbessern zu wollen, sondern diesem Buch seinen historischen Stellenwert in der Gesamtentwicklung meiner Arbeit zu belassen. Die Verwirrten Seelen sind der Ausdruck meiner Erkenntnisse wie Irrtümer zwischen den Jahren 1994 und 2002. Dieses Buch hat seinen Nutzen weiterhin darin, darauf hinzuweisen, dass sogar schwerste psychische Erkrankungen, die mit Diagnosen wie »Psychose« und »Schizophrenie« belegt werden, mit dem Konzept der mehrgenerationalen Psychotraumatologie stimmig zu erklären und therapeutisch wirkungsvoll zu behandeln sind. Die mehrgenerationale Psychotraumatologie ist eine alternative Erklärungstheorie und eine neue psychotherapeutische Behandlungsmöglichkeit für sogenannte psychische Erkrankungen. Sie bezieht eindeutig Stellung gegen rein medikamentöse Therapien im psychiatrischen Feld.

Das vorliegende Buch schließt daher an viele Erkenntnisse an, die ich erstmals in den Verwirrten Seelen publiziert habe. Es verdichtet sie, korrigiert sie aber auch, wo es notwendig ist. Es stellt den aktuellen Stand meiner Erfahrungen und Erkenntnisse dar. Ich gehe nach wie vor davon aus, dass Traumata die Hauptursache für psychische und körperliche Gesundheitsprobleme von uns Menschen sind. Ebenso kann ich in meiner praktischen Arbeit weiterhin deutlich sehen, wie Traumaenergien und -inhalte über den Weg der Mutter-Kind-Bindung über Generationen weitergereicht werden. Die Traumata der Vorgenerationen werden von der Psyche von Kindern geradezu aufgesaugt.

Das theoretische Konzept, das diesen Sachverhalt auf den Begriff zu bringen versucht, ist das »Symbiosetrauma«. Aus dem Symbiosetrauma heraus erwachsen die verschiedenen Formen von »symbiotischen Verstrickungen«, die wiederum die ganze Palette psychischer Auffälligkeiten und »Krankheiten« nach sich ziehen.

Ich bin mittlerweile dazu übergegangen, den Begriff »Seele«, der wegen seiner religiös-spirituellen Konnotationen vor allem im englischsprachigen Bereich Irritationen auslöst, durch eine eindeutigere Definition »psychischer Prozesse« abzulösen. Das hier vertretene Konzept der Psyche ist auch hilfreich, um den Begriff Psychotrauma präziser fassen zu können. Traumata sind Ereignisse, die die Psyche dazu veranlassen, nicht aushaltbare Realitäten aus dem Bewusstsein auszublenden, statt den Zugang zur Realität herzustellen. Weiterhin stelle ich inzwischen bei der Definition des Traumakonzeptes das Phänomen der Spaltung in drei unterschiedliche Persönlichkeitsanteile eindeutig in den Mittelpunkt.

Mit der Theorie des Symbiosetraumas berührt die mehrgenerationale Psychotraumatologie ein tief verankertes gesellschaftliches Tabu. Die Traumata von Müttern werden als eine Hauptursache für psychische Störungen ihrer Kinder benannt. Damit bekommt die therapeutische Arbeit mit Patienten und Klienten eine eindeutige Ausrichtung: Es geht nicht um die Auflösung von Verstrickungen in einer Familie oder die Aussöhnung mit den Eltern, sondern um die praktische wie psychische Ablösung von traumatisierten Eltern und den Ausstieg aus symbiotischen Verstrickungen in einem Familiensystem. Es geht um die Integration der eigenen Persönlichkeitsanteile, die bei einem Symbiosetrauma und allen anderen damit verbundenen Traumata abgespalten worden sind. Das generelle Ziel der Therapie ist die Förderung der gesunden Anteile eines Menschen und seiner Fähigkeiten zu einer autonomen und selbstverantwortlichen Lebensführung. Dazu ist der Ausstieg aus der Welt der symbiotischen Illusionen und all der anderen Überlebensstrategien erforderlich. Diese verhindern den Kontakt mit der traumatisierenden Realität, überlagern den Zugang zum Mitgefühl mit sich selbst und blockieren somit den Kontakt eines Menschen mit sich und seiner Umwelt. Es geht darum, weder im Außen noch im eigenen Inneren Opfer oder Täter zu sein, sondern in das Fahrwasser einer gesunden psychischen Entwicklung zu kommen.

Das neue Verständnis von Psyche und Trauma ermöglicht auch ein verändertes therapeutisches Handeln. Ich habe auf dieser Grundlage nicht nur eine neue Methode, sondern ein eigenes psychotherapeutisches Konzept entwickelt, mittels menschlicher Stellvertreter psychische Innenräume im Außen sichtbar zu machen und Veränderungsprozesse sinnvoll in Gang zu setzen: das Aufstellen des Anliegens.

Bei der Methode »Aufstellen des Anliegens« wird konsequent mit den jeweils aktuellen Anliegen der Klienten gearbeitet. Das verhindert zum einen nutzloses therapeutisches Bemühen, wenn ein Patient überhaupt kein Anliegen für Veränderungsschritte vorbringen kann bzw. will. Es beugt andererseits auch der Gefahr vor, den Klienten in der therapeutischen Arbeit zu überfordern und Retraumatisierungen hervorzurufen.

Wenn wir aus unseren Verstrickungen herausfinden, unsere abgespaltenen Anteile integrieren, können unsere Gefühle wieder mit dem Strom des Lebens frei fließen, dann sind wir als Menschen ganz lebendig, nah an der Realität und nah bei uns selbst. Wir können auch nah bei anderen Menschen sein, wenn wir uns dafür entscheiden, und für uns alleine sein, wenn wir Ruhe und Abstand brauchen. Dann sind wir symbiotisch konstruktiv verbunden und zugleich autonom.

1 Wo liegen die Wurzeln psychischer Probleme?

Anlässe für Psychotherapie

Ich bin Hochschullehrer und praktizierender Psychotherapeut. Warum kommen Menschen zu mir und suchen psychotherapeutische Hilfe? Nach meinen Erfahrungen sind es vor allem die folgenden Anlässe:

◆ Partnerschaftliche Beziehungen gehen schief,

◆ in den Beziehungen mit den eigenen Kindern häufen sich die Belastungen,

◆ manche Menschen fühlen sich allein, sind ohne Partner und sehnen sich nach einer festen Beziehung,

◆ andere fühlen sich in Gruppen und Gemeinschaften isoliert,

◆ viele leiden unter Ängsten und Depressionen, einige zuweilen unter Psychosen,

◆ manche laborieren an lästigen körperlichen Symptomen, einige an schweren chronischen Erkrankungen oder sogar Krebs

◆ und zuweilen sind es Konflikte im Arbeitsleben, mit denen Menschen nicht mehr alleine klarkommen.

Psychische Probleme, »Störungen« oder gar »Krankheiten« äußern sich am häufigsten in konflikthaften zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie finden ihren Ausdruck auch in auffälligen psychischen oder körperlichen Leidenssymptomen.

Psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen, ist meines Erachtens kein Zeichen von Schwäche, sondern Ausdruck von Selbstbewusstsein. Darin kommt der Wunsch zum Tragen, sich aus Abhängigkeiten zu lösen und in die eigene Kraft zu kommen. Zu etwa 80 Prozent sind es Frauen, die sich in einer Einzeltherapie oder in einer Gruppe durch einen Blick auf ihr Innenleben eine Verbesserung ihrer Lebenssituation erhoffen. Sie wollen sich selbst besser verstehen und persönlich wachsen. Frauen scheinen mit ihren Gefühlen und Beziehungsthemen offener umzugehen als Männer. Sie wollen vermehrt Verantwortung für ihr Leben übernehmen und die Beziehungen zu ihren Partnern und Kindern verbessern.

Wenn Männer um therapeutische Unterstützung nachsuchen, ist oft der aktuelle Anlass, dass sie von einer Partnerin/Ehefrau verlassen wurden oder dass es Konflikte am Arbeitsplatz oder Karrierebrüche gibt. Ich freue mich, wenn Männer keinen Bogen um ihre psychischen Probleme machen und sich psychotherapeutische Hilfe holen, um die psychologischen Ursachen ihrer Beziehungs- und Lebensprobleme zu ergründen.

Die folgende Anfrage kam z. B. von einem Mann: »Ich hätte gern eine Einzeltherapie bei Ihnen. In Stresssituationen verliere ich die Kontrolle über mich: Mein Herz klopft, meine Atmung geht schwer, ich kann nicht richtig denken und teilweise werde ich auch aggressiv, sodass ich den anderen beleidige und Dinge zu ihm sage, die mir hinterher leidtun. Das macht mir zunehmend zu schaffen. Die Ursache liegt sicher bei meinem Vater. Er war Alkoholiker und war äußerst jähzornig, sodass ich als Kind oft Todesangst hatte. Diese Angst kommt unter Druck heute noch durch. Intellektuell habe ich das begriffen, aber ich bin dem dann ausgeliefert. Ich wünsche mir, dass Sie ein wenig Zeit für mich haben und mir helfen, diese Blockade aufzulösen, damit mein Leben wieder gut fließen kann!«

Diese offene und sich selbst reflektierende Anfrage stellt eine reife psychische Leistung dar. In der Arbeit mit diesem Klienten kam der kleine Junge in ihm zum Vorschein, den er innerlich in sich abgespalten hatte und zu dem er nun emotionalen Zugang fand. Dieser kleine Junge war dann nicht länger »eine Blockade« für ihn, sondern eine Quelle von Lebensfreude und -energie.

Nach 25 Jahren psychotherapeutischer Tätigkeit bin ich davon überzeugt, dass jeder Mensch, ob Mann oder Frau, psychische Gesundung erfahren kann, wenn er sich auf den Weg macht und dieses Ziel verfolgt. Es ist nur eine Frage der Zeit, der Geduld, des eigenen Mutes und der Bereitschaft, die inneren Widerstände zu überwinden, die einer Heilung psychischer Verletzungen im Wege stehen.

Die Erfahrungen, die ich als Psychotherapeut seit nunmehr über 20 Jahren mache, zeigen mir mit großer Regelmäßigkeit: Aktuelle Probleme, die wir Menschen haben und die wir nicht von alleine lösen können, verweisen uns zurück auf ungelöste psychische Konflikte in unserer Vergangenheit. Sie machen uns darauf aufmerksam, dass alte Konflikte in unserem Innenleben noch nicht vorbei sind. Nicht selten gelangen wir dann bis an den Anfang unserer Kindheit, unserer Geburt oder vielleicht sogar unserer Zeugung.

Fallbeispiel 1 Einen Mann finden, der zu mir passt (Laura)

Laura hat sich in einem Gruppenseminar neben mich gesetzt, um eine Aufstellung zu machen. Sie ist eine Frau mittleren Alters, sie wirkt sympathisch und nett und sieht, wie ich finde, sehr gut aus. Sie erzählt, dass sie seit ihrer Scheidung vor zwölf Jahren keine feste Beziehung zu einem Mann mehr hatte. Wenn sie kurzfristige Liebschaften eingehe, dann seien dies entweder Fernbeziehungen oder Beziehungen zu verheirateten Männern. Sie gibt sich selbst eine Erklärung dafür: »Ich denke, ich habe Angst, verlassen zu werden. Und verheiratete Männer haben mich ja bereits verlassen.«

Ich frage Laura nach ihrer Kindheitsgeschichte. Sie erzählt, dass sie als 16 Monate altes Baby zu ihrer Tante kam, weil ihre Mutter für längere Zeit ins Krankenhaus musste. Nach einem Jahr sei sie dann wieder zu ihrer Mutter zurückgekommen. Das Verhältnis zu ihrer Mutter sei für sie immer sehr schwierig gewesen.

Ich frage Laura weiter nach der Lebensgeschichte ihrer Mutter. Diese sei das fünfte von acht Geschwistern. Vor der Geburt ihrer Mutter sei ein Bruder früh gestorben. Dann fällt Laura ein, dass es auch vor ihrer eigenen Geburt ein Mädchen gab, das noch im neunten Monat im Mutterleib gestorben und dann tot auf die Welt gekommen sei. Für mich sind das zunächst genügend Informationen und ich frage Laura nach dem Anliegen für ihre Aufstellung.

Laura meint, ihr Anliegen für die Aufstellung sei es zu sehen, wie sie wieder zu einer dauerhaften Partnerschaft »mit einem Mann, der zu mir passt«, kommen könnte. Ich schlage ihr vor, sich jemand aus der Gruppe für dieses Anliegen auszusuchen und im Raum aufzustellen. Sie selbst solle dann gleich dabeibleiben.

Die ausgewählte Stellvertreterin für Lauras Anliegen ist ganz wohlwollend zu ihr und findet ihr Anliegen gut und in Ordnung. Sie bemerkt dann in Lauras Augen eine Traurigkeit. Laura selbst fühlt jetzt Aufregung in sich hochsteigen. Sie möchte am liebsten davonlaufen (Abbildung 1).

Ich empfehle Laura, für den Anteil in ihr, der weglaufen möchte, eine weitere Stellvertreterin aufzustellen. Sie tut dies. Die Stellvertreterin für diesen Anteil spürt jedoch keinen Impuls wegzulaufen. Im Gegenteil, sie fühle sich ganz ruhig und möchte gerne dableiben. Laura und die Stellvertreterin für ihr Anliegen, die bislang von Angesicht zu Angesicht zueinander standen, wenden sich nun zu dieser anderen Stellvertreterin hin und stehen nebeneinander. Laura fühlt jetzt keine Aufregung mehr in sich und ist innerlich ruhiger (Abbildung 2). Die Stellvertreterin für den Anteil des Weglaufens möchte gern näherkommen. Laura will das zunächst nicht. Sie kann sich aber nach einiger Zeit doch dazu entschließen, zwei kleine Schritte der Annäherung in ihre Richtung zuzulassen.

Jetzt empfehle ich Laura, zwei weitere Stellvertreterinnen auszuwählen: eine für ihre Mutter und eine für sich als Baby mit 16 Monaten. Sie macht dies, und die Stellvertreterin der Mutter und die Stellvertreterin für das Baby umarmen sich sofort. Das Baby weint und legt seinen Kopf auf die Schulter seiner Mutter (Abbildung 3). Die Mutter sagt merkwürdigerweise, dass sie Laura liebt, aber nicht für sie da sein kann.

Ich bitte Laura dann, das Kind, das vor ihr tot zur Welt kam, ebenfalls aufzustellen. Nachdem sie das gemacht hat, wird die Stellvertreterin für ihre Mutter immer unruhiger. Sie sagt: »Das geht einfach nicht!« Sie wendet sich schließlich von dem Baby an ihrer Schulter ab und läuft weg. Die Stellvertreterin für das Baby verliert dadurch ihren Halt und sinkt zu Boden. Sie krümmt sich dort zusammen, geht in eine embryonale Haltung und beginnt heftig zu weinen. Das Baby schreit nach seiner Mama. Diese kommt aber nicht mehr zurück (Abbildung 4).

Laura ist sehr berührt von der Verzweiflung, welche die Stellvertreterin für ihr inneres Baby zum Ausdruck bringt. Nach einer Weile geht sie zusammen mit ihrem Anliegen zu ihr hin. Sie fängt an, sie zu streicheln, zu trösten und zu umarmen. Das Baby ruft weiter nach seiner Mama und Laura versucht ihm zu erklären, dass die Mama weg ist, sie (Laura) aber nun als erwachsener Anteil da sei. Das Baby kann das nicht verstehen. Es weint weiter und Laura versucht vergeblich, es zu trösten (Abbildung 5).

Nach einer Weile sagt die Stellvertreterin für das Baby zu Laura: »Du musst mir sagen, dass wir zusammengehören!« Als Laura dies tut, bricht auch sie in Tränen aus und beide liegen nun flach am Boden und umarmen sich. Dabei ist es für Laura wichtig, dass ihr Anliegen hinter ihr ist und sie berührt. Nach einer Weile macht das Baby den Vorschlag aufzustehen. Laura und ihr Anliegen helfen ihm dabei, auf seine Beine zu kommen. Es ist, als ob dieses Baby nun versucht, auf seinen eigenen, noch sehr wackeligen Beinen zu stehen und seine ersten Gehversuche zu machen. Mit Hilfe von Laura und der Stellvertreterin für ihr Anliegen gelingt ihm das und es ist darüber froh und stolz. Bald beginnt es, herzhaft zu lachen, und diese Heiterkeit erfasst nun auch Laura. Sie ist ganz vergnügt im Kontakt mit der Stellvertreterin für das Baby.

Zu dritt stehen jetzt Laura, ihr Anliegen und das Baby nebeneinander. Die Stellvertreterin für den Impuls wegzulaufen tritt vor sie hin. Sie fragt Laura, ob sie noch einen weiteren Schritt näherkommen dürfe. Laura gesteht ihr das zu, will aber nicht, dass sie ganz zu ihr herkommt. Lauras Mutter betrachtet das Geschehen mittlerweile wohlwollend aus der Distanz und sagt, sie ist jetzt ganz stolz auf Laura. Wir beenden mit diesem Bild die Aufstellung (Abbildung 6).

Zwei Tage nach dem Seminar schreibt mir Laura: »Das Seminarwochenende war für mich ganz schön anstrengend, aber trotzdem total gut und auch schön. Es geht mir richtig gut und ich fühle mich glücklich.«

Wie kann diese Aufstellung, ihr Ausgangsanliegen, der Entwicklungsprozess und ihr Ergebnis gedeutet werden?

◆ Das Anliegen von Laura scheint einerseits klar und drückt ein nachvollziehbares Bedürfnis nach einer stabilen Partnerschaft mit einem Mann aus. Andererseits bringt Laura bereits im Vorgespräch ihre Ambivalenz zum Ausdruck: Ihr ist bewusst, dass sie sich gezielt Männer sucht, mit denen eine dauerhafte Beziehung von vorneherein ausgeschlossen ist (verheiratete Männer und Männer, die weit weg von ihr wohnen). Der Ausdruck »ein Mann, der zu mir passt« ist deshalb merkwürdig unklar: Liegt es an den Männern oder liegt es an Laura, dass sie den passenden Partner für sich nicht findet? Sie wünscht sich intensive Nähe und zugleich hat sie Angst davor und weicht der Nähe aus. Es war also wichtig, dass in ihrer Aufstellung deutlicher wird, was die Ursache dieser Unklarheit ist.

◆ Aus dem Aufstellungsprozess lässt sich erschließen, dass es einen Anteil von Laura gibt, der Nähe nur schwer aushält. Als Ursache dafür scheint die Trennung von ihrer Mutter, als sie noch ein kleines Baby war, fortzuwirken. Als sie erst 16 Monate alt war, war ihre Mutter plötzlich über mehr als ein Jahr verschwunden. Dies kann ein Baby nicht verstehen und deshalb weint es und schreit nach seiner Mama. Wenn ein Baby dies eine Zeit lang macht, dann droht es, all seine Energie dafür zu verbrauchen. Es bringt sich damit selbst in einen lebensbedrohlichen Zustand. Daher muss ein psychischer Schutzmechanismus einsetzen, um trotzdem weiterzuleben, auch wenn die Mama nicht mehr da ist. Der Anteil, der unablässig die Mama sucht, muss innerlich unterdrückt werden und einem Anteil weichen, der bereit ist, sich auf die neue Situation und eine Ersatzmutter einzustellen. Es findet also eine psychische Spaltung in dem Baby statt. In Lauras Fall wurde ihr Bindungsproblem dadurch weiter verstärkt, dass sie nach einem Jahr, als sich dieser andere Anteil, der von nun an für Lauras Überleben zuständig war, an die Tante als Ersatzmutter gewöhnt hatte, wieder von ihrer Mutter zurückgeholt wurde.

◆ Der vordergründige Anlass, warum Lauras Mutter sie solange alleine ließ, liegt in einer körperlichen Erkrankung, weswegen sie sich längere Zeit in medizinische Behandlung begeben hatte. Der tiefere Grund scheint der Aufstellung zufolge jedoch im Trauma der Mutter zu liegen, die vor Laura ein Kind tot geboren hatte. Dies muss für Lauras Mutter so schrecklich gewesen sein, dass sie diese schmerzhafte Erfahrung nur verdrängen und abspalten konnte und den Kontakt mit dem neuen Kind zu vermeiden versuchte, indem sie krank wurde.

◆ Als sich Laura in ihrer Aufstellung ihrem in sich abgespaltenen und daher immer noch vorhandenen Babyanteil emotional zuwandte, konnte sie ihm helfen, sich aus seinem Zustand zu lösen, autonomer zu werden und wieder Anschluss an seine ursprünglich vorgesehene Entwicklung zu finden.

◆ Damit konnte sie sich selbst näherkommen. Ihr ursprünglicher Überlebensmechanismus, vor ihrer inneren Unruhe wegzulaufen, wenn es zu einer engeren Beziehung kommt (sie imitiert hier auch den Überlebensmechanismus ihrer Mutter), verlor seine Dringlichkeit. Sie konnte es am Ende gut aushalten, sich selbst ein gutes Stück näherzukommen. Ihre Verlassenheitsängste führten bei einem nahen Kontakt nicht mehr automatisch zu einer inneren Flucht und psychischen Spaltung. Sie konnte sich jetzt abgrenzen und bewusst stopp sagen, wenn es ihr doch zu nahe wurde.

◆ Solange Laura den Kontakt mit sich selbst vermeidet, kann es niemanden geben, der für sie passt bzw. es passen dann genau diese Partner, die für eine stabile Beziehung nicht infrage kommen. Laura wird also dann einen geeigneten Mann finden können, wenn sie sich selbst wiedergefunden hat. Dazu muss sie das traumatisierte und deshalb in ihr abgespaltene Baby von damals wieder in ihre Psyche integrieren.

Man kann das Ergebnis dieser Aufstellung allgemein so zusammenfassen: Wenn wir aufgrund von traumatischen Erfahrungen in unserer Kindheit eine psychische Abspaltung in uns haben, dann können wir keine gute Beziehung zu uns selbst herstellen. Wir reinszenieren das ursprüngliche Problem – hier das Bindungsproblem zwischen Laura und ihrer Mutter – immer wieder in unseren aktuellen Beziehungen. Weil wir kein Vertrauen in uns selbst haben und mit unseren Ängsten – auch unserer Wut und unserem Schmerz – nicht gut umgehen können, entwickeln wir kein Vertrauen zu Menschen, die uns nahe sind oder nahe sein könnten. Der gute Bezug zu uns selbst ist die Grundlage für gute Beziehungen mit anderen. Dazu müssen wir aus unserer inneren Spaltung herausfinden und bereits automatisierte Reaktions- und Verhaltensmuster wieder rückgängig machen, die anachronistisch sind und jetzt nicht mehr zum aktuellen Stand unserer psychischen Entwicklung passen.

Das »Aufstellen des Anliegens«

Das therapeutische Verfahren, mit dem ich überwiegend arbeite und das in dem oben zitierten Beispiel zur Anwendung kam, nennt sich »Aufstellung des Anliegens«. Ich habe diese Methode aufgrund meiner Auseinandersetzung mit dem »Familienstellen« Schritt für Schritt entwickelt. 1994 kam ich zum ersten Male über den Besuch von Seminaren Bert Hellingers mit »Familienaufstellungen« in Kontakt. Ich habe Familienaufstellungen danach selbst für mich ausprobiert und intensiv in meiner therapeutischen Praxis angewendet. Dadurch wurden mir die Vor- und Nachteile dieser Vorgehensweise immer klarer. Das, was ich heute mache, hat mit der ursprünglichen Philosophie und Methode des »Familienstellens« nichts mehr zu tun. Ich spreche bei meiner Art, mit der Methode des Aufstellens zu arbeiten, daher von »Traumaaufstellungen«.

Von der Aufstellungsmethode als solcher, also dem Phänomen der »stellvertretenden Repräsentation«, bin ich nach wie vor fasziniert. Wie ist es möglich, dass Menschen, die als Stellvertreter in eine Aufstellung gewählt werden, offensichtlich intuitiv das Innenleben eines anderen Menschen erfassen können, selbst wenn sie diesen zuvor noch nie gesehen haben? Aufgrund meiner Erfahrungen von nunmehr fast 20 Jahren traue ich mir zu sagen, dass diese Methode in hohem Maße valide sein kann, wenn man sie mit Bedacht anwendet. Ich erlebe es regelmäßig, dass sich die Patienten durch die Stellvertreter in einer Aufstellung in ihrem Innersten richtig erkannt und widergespiegelt fühlen. Wenn es einmal nicht der Fall sein sollte, sagen sie es für gewöhnlich und es findet sich dafür eine Ursache. Oft finden sich nach einer Aufstellung verblüffende Bestätigungen für Tatsachen, die während einer Aufstellung ans Licht kamen und von denen keiner der Stellvertreter zuvor etwas wissen konnte.

Das spezielle Format von Aufstellungen, mit dem ich seit 2010 therapeutisch arbeite, nenne ich »Aufstellen des Anliegens«. Es basiert auf meiner Theorie der mehrgenerationalen Psychotraumatologie und ist also nicht nur eine Technik, sondern die methodische Umsetzung eines psychotherapeutischen Konzepts (Ruppert 2002, 2005, 2007, 2010). Ich werde in diesem Buch anhand zahlreicher Fallbeispiele zeigen, wie diese Methode sinnvoll eingesetzt werden kann.

Manche Fragen zur Aufstellungsmethode, die vor Jahren noch brennend aktuell waren, sind für mich mittlerweile beantwortet, und viele Unklarheiten sind überwunden. Dennoch fühle ich, dass auch nach Jahren intensiver Therapiearbeit die Entdeckungsreise noch nicht an ihrem Ende angelangt ist. Die gemachten Erfahrungen suchen weiter nach Systematisierung und Präzisierung. Bindungsforschung, Traumatheorie und Gehirnforschung öffnen in raschem Tempo viele neue Einblicke und wollen in das Gesamtkonzept integriert werden.

Die Frage nach den wirkungsvollen Schritten, in denen sich heilsame psychische Veränderungsprozesse vollziehen, kann zudem nur in der täglichen therapeutischen Praxis beantwortet werden. Oft kommen Menschen zu mir, die schon vieles ausprobiert haben, was man ihnen als Hilfen angeboten hat. Manches hat ihnen geholfen, manche ihrer Probleme blieben völlig unberührt. Ich sehe das als Beleg, dass sich die Psychotherapie insgesamt noch weiterentwickeln muss. Vieles verstehen wir noch immer nicht oder erst allmählich und in kleinen Portionen. Wenn wir unsere menschliche Psyche nicht in ihrer ganzen Breite und Tiefe begreifen, bleiben viele unserer Bemühungen um psychische Gesundung fruchtlos oder auf halbem Wege stecken. Sie können mitunter sogar mehr Schaden anrichten, als dass sie nützen.

Es geht mir in diesem Buch als Fortsetzung zu meinen früheren Büchern in erster Linie um folgende Fragen:

◆ Wie lässt sich der Bezugspunkt der Psychotherapie, die menschliche »Psyche«, noch klarer definieren?

◆ Was bedeutet von daher »psychische Gesundheit«?

◆ Welcher Logik folgen die einzelnen Schritte, die zur Gesundung einer menschlichen Psyche notwendig sind?

◆ Wie können sie mit Hilfe der Aufstellungsmethode optimal umgesetzt werden?

◆ Was macht Aufstellungen zu einem validen psychotherapeutischen Verfahren?

◆ Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus solchen Erkenntnissen ableiten, um dem Entstehen von psychischen Erkrankungen vorzubeugen?

◆ An welchen Stellen könnte gesellschaftlich Vorsorge getroffen werden, um psychische Gesundheit allgemein zu fördern?

2 Was ist die »Psyche«?

Körper und Psyche

Jeder Mensch ist ein Körper und besteht aus Materie. Dadurch haben wir Menschen Anteil an der Vielfalt der Eigenschaften des Materiellen und Stofflichen. Materie ist sowohl Festpartikel wie elektromagnetische Welle, das ist eine in der modernen Physik anerkannte Tatsache. Deshalb bestehen Menschen aus fester Substanz und sind zugleich Energiesysteme in unterschiedlichen Formen.

Das Wort »Psyche« kommt aus dem Griechischen und meint »Lufthauch«. Es wird mitunter mit »Lebensodem« oder »Lebenskraft« übersetzt. Dies bedeutet, dass für die Menschen der frühen Hochkulturen das menschliche Innenleben noch nicht konkret begreifbar war. Sie malten sich in ihren Fantasien alles Mögliche aus, was dieses rätselhafte Etwas in ihnen sein könnte. Die nicht rein stofflich verstehbare Seite ihrer Existenz blieb selbst den klügsten Menschen bis in die Neuzeit hinein ein großes Mysterium.

Bei den alten Griechen waren es neben den Philosophen die Dichter, welche Geschichten über das Leben der Menschen, über Liebe und Tod, Leidenschaft und Schicksal wortgewaltig erzählten. In einer ihrer Dramen gibt es eine Frau mit dem Namen »Psyche«, die zur Geliebten von Amor, dem Gott der Liebe wird. Es müssen zahllose Abenteuer bestanden werden, ehe Amor und Psyche endlich als Liebespaar zueinanderfinden. In solchen Dramen und Verwicklungen projizierten die Menschen der Antike ihre eigenen Lebenserfahrungen in den Götterhimmel am Olymp.

Weil »die Psyche«, also das Wahrnehmen, Fühlen und Denken vom menschlichen Verstand nur schwer als etwas Materielles begreifbar ist, wird es häufig als etwas Immaterielles, von der Materie gänzlich Losgelöstes aufgefasst. »Psyche« erscheint dann wie etwas, was sich dem Körper eines Menschen von außen hinzufügt. Das führt zu der Vorstellung, als wären Psyche und Körper etwas voneinander Unabhängiges. Diese dualistische Sichtweise, die Körper und »Psyche« bzw. »Seele« als etwas prinzipiell Getrenntes ansieht, gibt es in allen menschlichen Kulturen.

Aus meiner Sicht ist die »Psyche« (ich bleibe bei diesem Begriff, der sich im wissenschaftlichen Kontext eingebürgert hat, seit es die Psychologie als universitäres Fach gibt) ein Zusammenwirken von Materie, Energie und Information, so wie auch der Körper ein Zusammenspiel materieller, energetischer und informatorischer Qualitäten ist. Wie könnte man sich ein lebendiges Herz sonst vorstellen, wenn es nicht durch Energien in Schwung gehalten und durch Informationen gesteuert wird, wie intensiv und wie oft es schlagen soll?

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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