Verwirrte Seelen - Franz Ruppert - E-Book

Verwirrte Seelen E-Book

Franz Ruppert

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Beschreibung

Psychische Störungen systemisch betrachtet

Die sonderbaren Entgleisungen des Fühlens, Denkens und Handelns, die als Psychosen bezeichnet werden, stellen für die Psychotherapie und die Psychiatrie ein ungelöstes Rätsel dar. Ebenso jene dauerhaften Wesensveränderungen, die als schizophrene Erkrankungen diagnostiziert werden.
Für Franz Ruppert sind Psychosen und Schizophrenien Folgen seelischer Verwirrungen in familiären Bindungssystemen. Diese Verwirrung entsteht durch traumatische Ereignisse, die
das familiäre Gewissen in eine ausweglose Lage bringen. Eine auf diesen Annahmen gestützte Arbeit mit Patienten eröffnet neue Perspektiven, den Ursachen psychotischen Verhaltens näher zu kommen. Sie bietet die Möglichkeit einer ursachenorientierten und langfristig wirksamen Psychotherapie nach dem Motto: Wahrheit und Klarheit heilen den Wahn.

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Franz Ruppert

Der verborgene Sinn von Psychosen

Grundzüge einer systemischen Psychotraumatologie

Kösel

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

 

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Anschrift des Autors:

Prof. Dr. Franz Ruppert

Englmannstr. 2

81673 München

Professor für Psychologie an der Katholischen Stiftungsfachhochschule München und approbierter Psychologischer Psychotherapeut

www.franz-ruppert.de

[email protected]

2. Auflage 2004© 2002 by Kösel-Verlag GmbH & Co., München, in derVerlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlag: Kaselow Design, MünchenISBN 978-3-641-24887-1V001

Inhalt

Überblick

Danke

1Verwirrung, Wahnsinn und Verrücktheit

Ein altes Rätsel der Menschheit

Erscheinungsformen der Verwirrung

Verwirrung aus Sicht der Psychiatrie

Thesen zum seelischen Ursprung der Verwirrung

2Grundannahmen und zentrale Begriffe

Die soziale Natur des Menschen

Das Bedürfnis nach Sinn

Leib und Seele

Bewusst und unbewusst

Systemebenen der Beschreibung und Erklärung

3Seele und Bindung

Das Verbindende und Abgrenzende

Formen der seelischen Bindung

Bindungsgefühle

Seelische Bindungssysteme

Verwirrende Bindungen

Das Gewissen

Formen der Verwirrung

Geistige und emotionale Verwirrung

Sexualität als Quelle von emotionaler Verwirrung

Verwirrung durch Täuschung und Lügen

Psychotische Verwirrung

4Seelisches Trauma

Die (Wieder)Entdeckung des Traumabegriffs

Traumasituationen und Arten von Traumen

Das Erleben eines Traumas

Traumafolgen für Seele und Psyche

Traumafolgen in seelischen Bindungssystemen

5Symptombilder seelischer Traumatisierung

Ansätze einer systemischen Psychotraumatologie

Seelische Identität

Depressionen

Symptombilder bei Bindungstraumen

Neurodermitis und Eifersuchtsdynamik

Die seelischen Hintergründe der Magersucht

Seelische Haltlosigkeit

Süchte

Multiple Persönlichkeitsstörung

6Familiäre Bindungssystemtraumen: Geheimnisse, die verwirren

Tode, die seelisch verwirren

Verwirrung der Familienseele durch Sexualität und Liebe

Familiengeheimnisse als Folge

Die kurz- und langfristigen Folgen dunkler Familiengeheimnisse

Der Blick hinter die verbotene Türe

Geheimnisse und das verrückte Spiel in der Familie

Familiengeheimnisse und Wahn

7Aufstellungen und Einstellungen

Was sind Aufstellungen?

Therapeutische Haltungen

8Fallbeispiele

Die zurückgelassene Schwester des Vaters (1)

»Mich hat keiner gefragt, wie es wirklich war!« (2)

»Kreisende Gedanken« (3)

Wer hat den Bruder ertrinken lassen und »den Juden« erschossen? (4)

Angstpsychose (5)

Das Kuckucksei (6)

»Ich suchte mich in den Dingen« (7)

»Lieber bin ich schlecht und böse als du« (8)

Nebel (9)

Das Geheimnis hinter der Sexsucht (10)

»Ein stärkeres Geschlecht wird die Schwachen verjagen« (11)

Adolf Hitlers Erblast für Täter und Opfer

Der Politiker Adolf Hitler

Hitler aus psychiatrischer Perspektive

Psychoanalytische und familientherapeutische Deutungsversuche der Person Hitlers

Hitlers Lebenskampf aus Sicht einer systemischen Psychotraumatologie

9Lösungen aus seelischen Verwirrungen finden

Therapeutisches Arbeiten auf der Basis einer systemischen Psychotraumatologie

Bindungstraumen: Der Kontakt mit dem traumatisierten Kind

Bindungssystemtraumen: Die Wahrheit heilt den Wahn

10Fazit und Ausblick

Glossar

Literatur

Überblick

Wieso fühlt sich jemand grundlos verfolgt und überwacht? Was verleitet ihn aus heiterem Himmel zu manischen Ausbrüchen? Warum versinkt er ohne äußeren Anlass in tiefste Depressionen oder hat panische Ängste? Die bizarren Erscheinungsformen von Psychosen und Schizophrenien stellen für die Psychiatrie wie für die Psychotherapie bis heute ungelöste Rätsel dar.

Dieses Buch versucht, eine Antwort auf die Frage zu geben, worin Verwirrung und Wahnsinn ihre Ursache haben. Die theoretische Basis der Antwort bilden zwei Begriffe: seelische Bindung und seelisches Trauma.

Die Kernthese dieses Buches lautet: Psychosen und Schizophrenien sind die Folge einer seelischen Verwirrung familiärer Bindungssysteme und stellen ein Bindungssystemtrauma dar. Eine traumatisierende Verwirrung in einer Familie entsteht durch Ereignisse, die das familiäre Gewissen in eine ausweglose Lage bringen. Solche Ereignisse sind in erster Linie ungeklärte Todesfälle und Morde innerhalb der Familie, verheimlichter Inzest und das Verschweigen der wahren Abstammung eines Kindes. Um das familiäre Bindungssystem vor seinem Zerfall zu bewahren, werden Geschehnisse dieser Art innerhalb der Familie verleugnet und tabuisiert. Auf diesem Wege entstehen Geheimnisse, die verdeckt in einem Familiensystem fortwirken und über Generationen seelische Verwirrung erzeugen.

Diese seelische Verwirrung in einer Familie manifestiert sich in einem Symptomträger. Der Schizophrene bringt durch seine Wahnvorstellungen, Halluzinationen und verrückten Verhaltensweisen in einer verschlüsselten und symbolisierten Form zum Ausdruck, dass etwas nicht stimmt und es ein Geheimnis in seiner Familie gibt. Seine psychotischen Erlebnisse sind der vergebliche Versuch seiner Seele, das Trauma in seiner Herkunftsfamilie, das meist zwei oder drei Generationen zurückliegt, zu erlösen.

Eine auf diese Erkenntnisse gestützte Arbeit mit seelisch verwirrten Patienten eröffnet neue Perspektiven einer ursachenorientierten und langfristig wirksamen Psychotherapie. Die entsprechende Vorgehensweise wird theoretisch sowie anhand zahlreicher Fallbeispiele erläutert.

Die Theorie des seelischen Traumas erweist sich auch für solche Symptome als weiterführend, die psychiatrisch als »Borderline-Persönlichkeitsstörung« diagnostiziert werden. Die Aufspaltung seelischer Prozesse bei den betroffenen Menschen wird in diesem Buch auf der Basis des Konzepts der Bindungstraumen erklärt.

Da bei den Themen »Schizophrenie« und »Psychose« derzeit das medizinische Krankheits- und Behandlungsmodell dominiert, findet in diesem Buch auch eine kritische Auseinandersetzung mit der biologisch orientierten Psychiatrie statt. Diese ist zu sehr auf das Vorurteil einer körperlich verursachten und in der genetischen Ausstattung der Betroffenen angelegten »Krankheit« festgelegt. Die als Standardbehandlung von Patienten geltende Gabe von Neuroleptika und Antidepressiva schadet den Patienten auf Dauer aber mehr, als dass sie ihnen nutzt.

Insgesamt stellt dieses Buch einen Versuch dar, die oft rätselhaften Erscheinungsformen psychischer Störungen im Rahmen einer »systemischen Psychotraumatologie« zu klassifizieren und ihren Ursachen auf den Grund zu gehen. Dadurch wachsen die Möglichkeiten, den betroffenen Menschen ursachenbezogene und nicht nur symptomorientierte psychotherapeutische Behandlungen anzubieten. Es wird dabei insbesondere auf die positiven Erfahrungen mit Familienaufstellungen in der therapeutischen Arbeit hingewiesen, welche einerseits die generationsübergreifenden seelischen Zusammenhänge sichtbar machen und andererseits wirkungsvolle therapeutische Interventionen ermöglichen.

Danke

Für das Lesen des Manuskriptes und die zahlreichen Rückmeldungen und Anregungen bedanke ich mich bei meinen Kollegen Heiner Gabriel und Walter Schild, bei meiner Kollegin Tilly Miller sowie bei Cornelia Kaufmann, Barbara Eder und Petra Huber. Meiner Frau Juliane danke ich für die Unterstützung und die hilfreichen Diskussionen während der vielen Monate, in denen dieser Text entstanden ist. Meinen Patientinnen und Patienten danke ich für die Erlaubnis, aus ihren Therapien zu berichten.

1

 

Verwirrung, Wahnsinn und Verrücktheit

Wer über gewissen Dingen nicht den Verstand verliert,der hat wohl keinen zu verlieren.

G. E. Lessing

Ein altes Rätsel der Menschheit

Eine tiefe Ahnung ... – Warum werden Menschen verrückt und wahnsinnig? Warum Nero, warum Ludwig II., warum Friedrich Hölderlin, warum Vincent van Gogh, warum Camille Claudel*, warum Adolf Hitler und warum der ehemals nette und fröhliche Junge und die beruflich erfolgreiche Frau von nebenan? Diese Frage bewegt die Menschheit und seit langem hat sie eine tiefe Ahnung davon, was die menschliche Seele verträgt und woran sie zerbricht.

Die Verfasser der griechischen Tragödien bringen ein Wissen zur Anschauung, wie durch Kindsweggabe, Inzest, Mutter-, Vater- und Brudermord das Schicksal ihrer tragischen Helden bestimmt wird und wie unentrinnbare Schuldgefühle sie in den Wahnsinn, die geistige Umnachtung und in den Tod treiben. Die Werke eines Aischylos, Euripides, Homer oder Sophokles zeigen auch, wie Kinder und Enkelkinder über Generationen hinweg für die Schuld ihrer Vorfahren blind sühnen (siehe »Sühnen für die Schuld anderer« in Kap. 6).

In Faust I sitzt Margarethe in geistiger Umnachtung im Kerker. Sie, die Tugendhafte und Reine, war den Verführungskünsten des mit dem Teufel verbündeten Doktor Faustus erlegen. Ihre Mutter hat sie vergiftet, ihr Bruder wurde von Faust im Duell getötet, das Kind von ihrem Heinrich hat sie umgebracht. Die Gretchentragödie hat Goethe vermutlich unter dem Eindruck eines Gerichtsprozesses einer jungen Kindsmörderin verfasst. Es handelte sich um die Frankfurter Gasthofsmagd Susanne Margarethe Brandt, »die ein Fremder verführt hatte und die nun, Anfang 1772, auf offenem Markt hingerichtet ward.« (Goethe, Werkausgabe 1970, S. 570)

Die Dichter aller Epochen haben es facettenreich dargestellt, wie sexuelle Gier und blinde Liebe, Scham, Schuld und das Wirken eines grausamen Schicksals Menschen in den Wahnsinn und die Raserei treiben.

... in wissenschaftlicher Abflachung. – Demgegenüber mutet das, was die moderne Wissenschaft zu diesem Thema zu sagen hat, nüchtern und trocken an. Glaubt man der medizinischen Psychiatrie, so soll ein gestörter Gehirnstoffwechsel die Ursache dafür sein, dass ein Mensch psychotisch, paranoid oder manisch wird. »Genetisch prädisponiert« und »für Belastungen und Stress übersensibel« seien diejenigen, die psychisch krank sind. Die moderne Medizin ersetzt die philosophischen und religiösen Kategorien der persönlichen Schuld, der schicksalhaften Verstrickung und der moralischen Sühne durch »Faktoren« wie Gene und Stress. Selbst Mörder können heutzutage damit rechnen, von Psychiatern für schuldunfähig erklärt zu werden, weil sie schizophren sind.

Für ihre Bemühungen, die Phänomene des Wahnsinns aus der Sphäre der Moral und des Geisterglaubens herauszuführen, bekamen im 20. Jahrhundert Psychiater Nobelpreise und den gesellschaftlichen Auftrag, verwirrte Menschen wie Kranke zu behandeln: in Krankenhäusern und mit medizinischen Behandlungsmethoden – physikalisch, chemisch und chirurgisch.

Psychiatrie…–Dass damit ein menschliches Problem nur an die Medizin wegdelegiert, nicht aber gelöst wird, zeigen die dauerhaften Misserfolge der psychiatrischen Behandlungen. Verwirrte Menschen werden zeit ihres Lebens nicht mehr gesund, bleiben Dauerinsassen psychiatrischer Kliniken oder landen schließlich als »dauerhaft seelisch Behinderte« in den Einrichtungen der Sozialen Arbeit. Durch psychiatrische Behandlungen werden ihre seelischen Probleme häufig durch neurologische Schädigungen ergänzt. »Wir verwandeln den seelisch leidenden vorübergehend in einen hirnorganisch kranken Menschen, bei der EKT (Elektrokrampftherapie) nur globaler, dafür kürzer als bei der Pharmako-Therapie« (Dörner und Plog 1992, S. 545). Dass die durch psychiatrische Behandlungen verursachten körperlichen Krankheiten an Patienten nicht vorübergehen, sondern oft bleiben und nicht mehr rückgängig zu machen sind, ist eine Tatsache, die Psychiater verständlicherweise gerne herunterspielen und leugnen (Lehmann 2001).

... und Antipsychiatrie – Angesichts der Flachheit der medizinischen Theorien auf dem Gebiet der »endogenen Psychosen«, welche keinerlei kausalen Zusammenhänge nachweisen können, und der offenkundigen Hilflosigkeit der Medizin im Umgang mit verwirrten Menschen fällt es nicht schwer, antipsychiatrisch zu argumentieren. Die Kritik an der medizinisch dominierten Psychiatrie in den vergangenen 50 Jahren ist international und fundiert, und es fehlt nicht an Forderungen, das gesamte medizinisch psychiatrische Versorgungssystem grundlegend zu verändern (Laing 1964; Basaglia 1971; Foudraine 1971; Szasz 1974; Keupp und Rerrich 1982; Keupp 1987; Breggin 1996; Wollschläger 2001).

Dennoch hat es momentan den Anschein, als würden sich selbst die modernen demokratischen Gesellschaften mit der Situation abfinden, dass man »psychisch Kranke« zwar ruhig stellen und verwahren, im Grunde aber nicht heilen kann. Die Hoffnungen werden weiterhin einzig auf die Neurobiologie, Gentechnik und Pharmaforschung gesetzt. Man hat sich daran gewöhnt, Schizophrenie als eine rätselhafte Geißel der Menschheit zu betrachten, die man medizinisch zwar unterdrücken, nicht aber heilen kann. »Schizophrene Psychosen sind entgegen einem verbreiteten Vorurteil gut behandelbar (Finzen 1993), auch wenn die Therapie, ähnlich wie bei der Zuckerkrankheit, nicht eigentlich heilend ist.« (Rahn und Mahnkopf 2000, S. 274)

Die Dominanz medizinischen Denkens und praktischen Handelns auf dem Gebiet seelischen Leidens hat vielfältige geschichtliche, gesellschaftliche und ideologische Gründe. Sie wird m.E. zu einem gewissen Teil auch dadurch ermöglicht, dass es den Geistes- und Sozialwissenschaften bis heute nicht gelungen ist, schlüssige Theorien über die Entstehung von verrücktem und wahnsinnigem Verhalten und Erleben zu formulieren und sie insbesondere nicht nachweisen konnten, dass sie die verwirrten Menschen besser heilen können als die Medizin. Viele antipsychiatrischen Reformprojekte sind daran gescheitert, dass sie trotz ihrer gutmeinenden Parteinahme für die seelisch Leidenden und dem Versuch, sie vor gesellschaftlichen Abwertungen und Ausgrenzungen zu schützen, diesen Menschen ihren Wahn nicht nehmen konnten. »Abweichendes Verhalten«, »Benachteiligung« oder »Stress« sind keine adäquaten Begrifflichkeiten, um die Entstehungsgründe von Verfolgungswahn und Manie wirklich zu begreifen.

Ebenso wenig können die psychodynamischen Erklärungsmodelle für Psychosen das Rätsel des Wahnsinns theoretisch befriedigend lösen. Sie arbeiten mit differenzierten Begriffssystemen wie »Ich-Defizit«, »gestörter Symbiose« oder »Auflösung von Ich-Grenzen« (Ammon 1975; Ciompi 1982; Mentzos 2000) und scheitern letztlich doch daran, dass sie nicht plausibel machen können, warum z.B. ein Jugendlicher aus scheinbar wohl behütetem Hause von einem Tag auf den anderen in Verfolgungswahnsysteme abgleitet oder eine junge Frau plötzlich ihr Kind in ein Kellerabteil sperrt und die Wohnung in Brand steckt.

Daher greifen auch antipsychiatrische Reformprojekte, welche die medikamentöse Ruhigstellung von Verwirrten durch die Gestaltung eines freundlichen sozialen Milieus und psychotherapeutische Begleitung ersetzen wollten (sog. Soteria-Projekte, vgl. Wollschläger 2001, S. 491 ff.), notfalls doch wieder auf Psychopharmaka zurück.

Selbst die intensive Beteiligung der Betroffenen an der Aufklärung ihrer rätselhaften Verwirrungen in einem »Trialog« zwischen Psychose-Erfahrenen, ihren Angehörigen und den Experten hat zwar die Kritik an der psychiatrischen Sichtweise weiter geschärft und gefördert, bislang aber noch keine Klarheit über den Ursprung von Verwirrtheit und Wahnsinn gebracht (Bock und Weigand 1992; Stark, Bremer und Esterer 1997; Brill 1998; Kroll 1998). Warumkommt es zu dem, was von Psychose-Erfahrenen eine »existenzielle und umfassende Erfahrung, eine Erschütterung des Selbst, der sozialen, psychischen und körperlichen Gesamtsituation« genannt wird (Jiko 2001, S. 363)? Weil diese Frage ungeklärt ist, bleiben auch die Ratschläge für eine humane Form der Psychosen-Therapie zwar wohlmeinend, im Ernstfall aber wirkungslos.

Ungelöste Rätsel. – Das eigentlich Rätselhafte sind m.E. nicht die Fälle von Wahnsinn, bei denen Menschen durch eigene Schuld oder unerbittliche Schicksalsschläge den Verstand verlieren. Erklärungsbedürftig sind gerade die Fälle, bei denen ein Wahn bei einem Menschen plötzlich und unvermittelt auftritt, der zuvor unauffällig lebte und keinerlei Schuld auf sich geladen hat. Warum fehlen dort auf den ersten Blick äußere Anlässe? Weshalb gibt es in einer Verwandtschaft manchmal über mehrere Generationen hinweg betroffene Familienangehörige? Warum werden in einer Familie nicht alle Kinder gleichermaßen verrückt? Warum trifft es in einer Familie nur die Männer, in einer anderen nur die Frauen? Wieso gelingt manchen, die verrückt geworden sind, dann doch ohne Hilfe wieder die Rückkehr zur Normalität, während andere ihr Leben lang dem Wahn verfallen bleiben? Kann jeder verrückt werden? Jeder sich verfolgt fühlen? Rasen? In eine Bewegungsstarre verfallen?

Den Theorien der biologisch orientierten Psychiater, der Anti- und Sozialpsychiater, der Psychoanalytiker wie der Betroffenen ist gemeinsam, dass sie den verwirrten Menschen ins Zentrum ihrer Überlegungen rücken. Auf irgendeine Weise ist in allen Theorien und Reflexionen immer er das Subjekt und die Ursache seines Wahnsinns bzw. abweichenden Verhaltens. Dabei ist bekannt, dass die Betroffenen ihre Psychose als etwas erleben, worüber sie keine Kontrolle mehr haben, dass etwas sie gegen ihren bewussten Willen dazu zwingt, so merkwürdig zu handeln. Und dass sich ihr »Ich« keinesfalls völlig auflöst und sie parallel zu ihrer Psychose logisch denken und adäquat fühlen können.

Was also, wenn die Betroffenen gar nicht wirklich das Subjekt ihrer wahnhaften Empfindungen und Ideen sind? Wenn sie nur das Medium sind, in und an dem sich ein Geschehen vollzieht, das sich aus anderen Quellen, d.h. anderen Personen und früheren Situationen speist? Damit kein Missverständnis entsteht: Der alten Vorstellung, verwirrte Menschen seien von bösen Geistern oder gar vom Teufel besessen, will ich damit nicht das Wort reden. Wie meine Erklärungen zur Entstehung von wahnhafter Verwirrung aber noch deutlich machen werden, sind psychische Zustände nicht von vorneherein individuelle Merkmale. Sie können von anderen Menschen übernommen worden sein, und es kann deshalb etwas Vergangenes in das gegenwärtige Erleben hineinwirken, ohne dass es der Betroffene merkt.

»Nichts ist praktischer als eine richtige Theorie.« Dies hat der englische Philosoph und Mathematiker Bertrand Russell (1872–1970) einmal gesagt. Meines Erachtens bleibt in diesem Sinne jeder Reformversuch der Psychiatrie und jeder therapeutische Versuch, verwirrten Menschen zu helfen, vergeblich, solange es keine zutreffende Theorie über die Entstehung von Verfolgungswahn, Manie und wahnhafter Depression gibt.

Erscheinungsformen der Verwirrung

»Ich will dir die Gräber beschreiben,für die musst du sorgen gleich morgen.«

J.W. Goethe, Faust I

Verwirrte und verrückte Menschen benehmen sich nicht nur ein wenig eigenartig oder fallen bloß aus dem üblichen gesellschaftlich-kulturellen Rahmen heraus. Was sie sagen und tun ist mehr als nur abweichendes Verhalten. Man kann das feststellen, ohne einen verwirrten Menschen gleich zu verurteilen.

»Ich bin Gott.« – Menschen, die offenbar in einem Zustand der Verwirrung sind, begegnen uns manchmal zufällig in der Öffentlichkeit. Mir z.B. in einem Studenten, der kurz vor den Weihnachtsferien ein Flugblatt an der Hochschule auslegt. Voller Freude und Überschwang feiert er in diesem Text seine Erlösung aus quälenden Selbstzweifeln. Er verkündet seinen Mitmenschen seine frohe Weihnachtsbotschaft: Ich bin Gott!

Abb. 1: »Ich bin Gott«

Verwirrte Patienten. – In einer psychotherapeutischen Praxis findet die Begegnung mit verwirrten Menschen natürlich häufiger als im Alltag statt:

Da gibt es den pubertierenden Sohn, der von einer Ferienfreizeit zurückkommt und sich immer seltsamer verhält: Er zerstört die Wohnung der Eltern, indem er Gardinen herabreißt und Fensterscheiben einschlägt. Er terrorisiert seine Eltern und legt sich demonstrativ zwischen Vater und Mutter ins Ehebett. Er beschimpft seinen Vater als sozialen Versager. Er hält sein Zimmer nicht mehr in Ordnung. Er trägt Windeln, weil er meint, nach Urin zu riechen. Vormals Klassenbester fallen seine schulischen Leistungen nun zunehmend schlechter aus, und er schafft das Klassenziel nicht mehr. Bis er schließlich in der Jugendpsychiatrie landet. Dort spricht er mit niemandem mehr. Er tastet mit den Händen und Füßen die Wände ab. Er durchlebt innerlich Kämpfe mit dem Teufel und macht mehrere Selbstmordversuche (vgl. Fallbeispiel 1).

Da gibt es die 30-jährige Frau, die in meine Praxis kommt und mich bittet, ich möge ihr durch ein Gutachten bestätigen, dass sie normal sei. Das Jugendamt habe ihr das Kind weggenommen. Zu Unrecht wie sie meint. Da ich ihrem Wunsch nicht nachkomme, mutmaßt sie, dass auch ich »mit all den anderen« unter einer Decke stecke und mein Telefon abgehört werde. Sie erzählt, dass sie nur noch abgepackte Nahrungsmittel kaufe, aus Angst vergiftet zu werden. Obwohl sie da auch nicht sicher sein könne. Sie holt aus ihrer Tasche eine mit Aluminium verschweißte Lebensmittelpackung hervor und zeigt mir, dass sie auf dem Deckel kleine Einstichlöcher entdeckt habe. Sie vermutet, man habe hier mit einer Spritze Gift in das Essen getan, um sie zu töten.

Da ist die Patientin, die in einer Therapiesitzung plötzlich zu weinen beginnt, unruhig wird, einen wirren Blick bekommt und meint, sie müsse jetzt gleich verrückt werden. Sie wird panisch, bekommt kaum noch Luft und möchte wegrennen. Obwohl wir ansonsten ein gutes Arbeitsverhältnis haben, hat sie jetzt Angst und glaubt, ich würde sie sofort in die Psychiatrie einweisen (vgl. Fallbeispiel 8).

Selbstbeschreibungen von Betroffenen. – Manche Betroffene haben selbst ihre Erfahrungen in den verwirrten Phasen und Zuständen ihres Lebens schriftlich dargelegt (u.a. Green 1993; Kessler 1997; Bock, Deranders und Esterer 2000). Sie gewähren uns Einblick in ihre Innenwelt hinter den Verhaltensweisen, die für Außenstehende sinnlos und unverständlich erscheinen.

»Das mit dem Verfolgungswahn ging über Jahre immer periodisch. Dann eines Nachts wachte ich aus einem positiven Traum auf, in dem sich alle Weltprobleme nach und nach gelöst hatten. Ich blieb bei dieser Traumwelt. ... Der Verfolgungswahn spielte in meiner positiven Psychose immer noch eine Rolle insofern, als dass ich immer noch glaubte, ein Beobachtungsding der Polizei zu sein. Ich meinte aber, dass die positiven Polizisten sich nun meiner angenommen hatten und sich sogar einer in mich verliebt hatte. Ich war der Meinung, jetzt ginge es um die Bereinigung der Missstände, der Sozialismus war eingeläutet. Ich war auch der Meinung, ich hätte zwei Kinder, die aus Vergewaltigungen hervorgegangen waren und bei Pflegeeltern lebten. Ich habe mir im Cafe zwei ausgesucht, zu dem Älteren habe ich auch Kontakt aufgenommen. Der hat auch mitgespielt.« (Barbara B. 2000, S. 39)

»Ich bin verändert. Meine Sinne sind überempfindlich, ich fühle mich in nie gekannter Weise überaktiv. Ich bin ein Bündel voller Ideen und denke mit einer Präzision, die völlig neu für mich ist, mich begeistert. Alles berauscht mich und erscheint mir in glänzendem Licht. Jede Information und jeder Außenreiz lösen eine Assoziationskette aus, die mein Denken beflügelt und meine Energien hochpowert. Ich taumle von einer beglückenden Situation in die nächste und finde keine Ruhe mehr. Ich esse und schlafe nicht, euphorisch getrieben nehme ich wochenlang jede Begegnung gierig in mich auf. Überall erkenne ich eine eigene Ästhetik, sei es in Geschäften, im Straßenbild oder zu Hause. ... Ich bin total von mir überzeugt, sehe die Welt in rosaroten Farben, es gibt für mich nur noch Glückseligkeit.« (Termeer 1997, S. 91)

»Yr hatte sich gegen sie versammelt, als sie auf die Station zurückkam. Sie saß auf einem harten Stuhl und hörte die Schreie und das Röhren der tieferen Ebenen in Yrs Reichen. Höre, Vogelwesen; höre Wildpferd-Wesen; du bist nicht eine von ihnen! Die Yr-Worte befahlen ihr dröhnend, sich in alle Ewigkeit zurückzuziehen. Schau mich an! Anterrabae fiel und sagte: Du spielst für immer mit der Hölle, du gehst um deine eigene Zerstörung herum und stocherst hier und dort mit dem kleinen Finger darin. Du wirst den Siegel brechen. Du wirst zugrunde gehen. Und dann im Hintergrund: Du bist nicht eine von uns, aus dem grausamen Rachen des Chorus. Anterrabae sagte: Du hast niemals zu ihnen gehört, niemals. Du bist völlig anders. Es lag ein anhaltender, tiefer Trost in dem, was er sagt. Ruhig und glücklich machte sich Deborah daran, sich selbst und den anderen zu beweisen, wie tief der Abgrund zwischen ihnen gähnte. Sie hatte den Deckel einer Blechdose auf einem ihrer Spaziergänge gefunden und aufgehoben. ... Sie zog das Metall an der Innenseite ihres Oberarmes hinunter und beobachtete, wie das Blut langsam heraustrat.« (Green 1993, S. 53 f.)

Das Leid und die Verzweiflung der Angehörigen. – Verwirrung und Wahn erzeugen nicht nur bei den Betroffenen Chaos. Auch in den Familien bricht die Welt zusammen, wenn eines der Familienmitglieder sich verrückt verhält. Entweder verstehen Eltern ihre Partner oder Kinder nicht mehr oder die Kinder sind voller Verzweiflung wegen ihrer verrückt gewordenen Eltern. Die Angehörigen eines verwirrten Menschen stehen dessen Verhalten ohnmächtig und ratlos gegenüber.

»Ich verstehe meine Mutter nicht mehr!«

Die folgende E-Mail-Anfrage richtete eine verzweifelte Tochter jüngst an mich:

»Mein Name ist C. und es geht um meine Mutter. Es fing vor fast drei Jahren an. Meine Mutter hatte einen kleinen Autounfall (es war nur ein Blechschaden). Damit ging es los. Mein Vater erzählte mir, dass sie zu Hause die Rollos heruntergezogen hatte und der Meinung war, die Presse steht unten vor der Tür und holt sie ab. Meine Mutter war der Meinung, wir hätten eine Million Mark Schulden. Daraufhin schmiss sie einen Zettel in den Briefkasten der Autowerkstatt, wo das Auto zur Reparatur stand. Auf dem Zettel stand: ›Bitte repariert das Auto nicht, wir können das nicht bezahlen, wir sind pleite‹. Aber meine Eltern hatten nie Geldprobleme.

Mein Vater rief den Arzt an und der wies sie gleich in die Psychiatrie ein. Sie verbrachte dort ein halbes Jahr. Danach ging es ihr wieder gut und der Vorfall schien vergessen. Durch die Tabletten, die meine Mutter nehmen musste, hatte sie sehr stark an Gewicht zugenommen. Sie fühlte sich zu dick und setzte wahrscheinlich die Tabletten ab. Sie redete wieder blödes Zeug, dass sie zu nichts zu gebrauchen wäre, alles falsch machen würde bei der Arbeit. Sie könnte sich nichts mehr merken. Sogar mich erkannte sie nicht mehr.

Mein Vater rief wieder den Arzt an, der sie erneut in die Psychiatrie einwies. Dort verbrachte sie wieder einige Monate. Als sie wieder daheim war, schien alles vergessen. Sie ging ihrer Arbeit nach und alles war wieder in Ordnung.

Vor ein paar Tagen rief mich mein Vater an und meinte, dass der Arzt gerade da gewesen ist und meiner Mutter eine Beruhigungsspritze gegeben hat. Sie war wieder total abwesend und meinte wieder, sie würde alles falsch machen bei der Arbeit. Es muss irgendetwas vorgefallen sein. Danach sprach sie kein Wort mehr und war total abwesend. Am nächsten Tag ließ mein Vater sie abholen und nun liegt sie wieder in der Psychiatrie.

Heute rief die Klinik bei meinem Vater an, er möchte doch mal bitte kommen, meine Mutter will nach Hause. Er telefonierte dann noch mit ihr eine Dreiviertelstunde. Sie erzählte ihm, sie hätte ihre Kinder umgebracht, dass sie einen Haufen Schulden hätte und schon wieder einen Autounfall hatte.

Was soll das, wie kommt sie darauf? Die Ärzte meinten, sie hätte einen depressiven Absturz. Wie kann ich ihr helfen, wenn sie wieder zu Hause ist? Haben die Aussagen von meiner Mutter wirklich eine Bedeutung oder sind das nur Wahnvorstellungen? Das Schlimme ist ja, sie kann sich an nichts erinnern, wenn sie wieder gesund ist. Früher war sie ein lebenslustiger und offener Mensch. Sie redete über Probleme und sagte immer ihre Meinung. Dies tut sie heute nicht mehr, sie ist total sensibel geworden.

Das ist jetzt schon das dritte Mal, dass sie in der Klinik liegt. Wird sie je wieder richtig gesund werden? Was kann ich dagegen tun, dass dies nicht noch mal passiert? Oder muss ich mich damit abfinden, dass sie immer wieder einen Rückfall bekommt? Ist es angebracht, meine Mutter nach dem Klinikaufenthalt weiterhin in eine Therapie zu schicken?

Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll! Das Schlimmste für mich ist, dass sie selbstmordgefährdet ist. Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn sie sich etwas antut und ich weiß, ich hätte ihr helfen können. Was ist das für eine Depression, ich möchte es verstehen und mich mehr darüber informieren. Kann man hier von einer Psychose sprechen? Bitte geben Sie mir ein paar Ratschläge.«

Der normale Wahnsinn. – »Du bist ja verrückt!«, »Der spinnt!«, »Das ist Wahnsinn!«, »Völlig durchgeknallt!«, »Abgedreht!«, »Durch den Wind!« – solche Sätze und Floskeln sind schnell dahingesagt. Oft drücken sie nur Missbehagen und Abwehr gegen Unbekanntes und Ungewohntes aus. Oder jemand möchte andere Menschen und ihr Verhalten nicht verstehen.

Es gibt auch die Spielarten des Wahnhaften, die versteckt in gesellschaftlichen Nischen blühen oder nur deswegen nicht auffallen, weil sich alle daran beteiligen: Ein Künstler arbeitet wie besessen an seiner Vorstellung eines Gesamtkunstwerks. Ein Wissenschaftler verfolgt seine Idee, ohne auf Kritik zu hören. Ein kühl kalkulierender Geschäftsmann verlässt sich auf sein Horoskop. Ein Politiker hat Pläne von der Eroberung der Welt. Ein gläubiger Mensch ist davon überzeugt, er handle auch im Auftrag Gottes, wenn er andere in die Luft sprengt.

Nur die wenigsten Menschen mit fixen Ideen oder wahnhaften Vorstellungen kommen in Kontakt mit der Polizei, mit Psychiatrie und Psychotherapie. Manche werden mitleidig belächelt, andere heimlich bewundert und wieder andere können sich der Verehrung vieler sicher sein.

Wie das Beispiel Adolf Hitler zeigt, kann ein Mensch seinen Größenwahn so ausleben, dass Millionen ihn unterstützen oder gewähren lassen. Erst nach verlorenen Kriegen dämmert es vielen Menschen, in welchen Wahnsinn sie sich hineingesteigert haben und zu welchen grausamen Taten er sie befähigte. Der Wahnsinn von Krieg, Völkermord oder Terror fällt leider erst auf, wenn die Täter wie benommen vor den Ergebnissen ihrer Raserei stehen: den Leichen, den verwüsteten Städten und Landstrichen, dem Verlust ihrer Ehre und Selbstachtung.

Die irreale Welt des Traumes. – Zu den normalen und alltäglichen Formen der Verwirrung gehört bei uns Menschen auch der Traum. In Träumen können wir fliegen, verwandeln wir Menschen uns in Tiere oder Pflanzen, fließen Wasser aufwärts. Wir durchleben große Ängste und Verfolgungen und es realisieren sich Wünsche und Begierden. Jede Nacht findet dieses Schauspiel in der Seele eines jeden Menschen statt. Die Schlafforschung stellt fest: Wer nicht träumt, wird auf Dauer seelisch krank. Brauchen wir diesen Wahnsinn in der Nacht, um bei Tag normal zu bleiben?

Normal oder irr? – Ist es wirklich so ungewöhnlich, Stimmen zu hören? Oder im Wachzustand starke bildhafte Vorstellungen zu haben? Oder an Selbstmord zu denken? Oder daran, anderen Menschen etwas anzutun? Unser Gehirn ist unablässig auf verschiedenen Ebenen aktiv, die getrennt und zeitlich parallel Informationen aufnehmen und verwerten. Wenn wir in uns hineinhorchen, wenn wir die Augen schließen, wie viele Bilder und Worte tauchen da auf! Wie viele Gedanken sind da, die wir keinem anderen mitteilen würden!

Wo liegt also der Unterschied zwischen dem gewöhnlichen Stimmenhören, den normalen Bildern im Wachzustand und den Stimmen und Halluzinationen, die als eindeutige Symptome für eine Psychose oder Schizophrenie gelten? Welcher Mensch könnte mit Sicherheit behaupten, dass er niemals und unter keinen Umständen sich oder anderen etwas antut? Wo liegen die Grenzen zwischen »normal« und »verrückt«?

Verwirrung aus Sicht der Psychiatrie

Zuerst verwirren sich die Worte,dann die Begriffe, dann die Sachen.

Konfuzius

Die psychiatrische Klassifikation im DSM und ICD. – Im Rahmen der medizinischen Psychiatrie spricht man von einem »schizophrenen Formenkreis«, unter den dann Krankheitsbilder wie Schizophrenie, schizoaffective Störung oder endogene Depression fallen (Bäuml 1994). Zur Unterstützung einer psychiatrischen Diagnostik psychischer Erkrankungen gibt es weltweit zwei Manuale, in denen Symptome klassifiziert und die zu Diagnosezwecken in der Praxis herangezogen werden. Das eine ist die Internationale Klassifikation psychischer Erkrankungen (ICD), eine Systematik, die im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation von Experten erarbeitet wurde. Dieses Buch liegt derzeit in seiner zehnten Version vor (ICD 10) und wurde von Dilling, Mombour und Schmidt (1993) ins Deutsche übertragen. Das andere, wesentlich umfangreichere Werk ist das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen (DSM). Es wird von der American Psychiatric Association erstellt und liegt mittlerweile in einer vierten Version vor. Ins Deutsche wurde es von Saß, Wittchen und Zaudig (1998) übersetzt.

Da sich ICD 10 und DSM IV in den grundsätzlichen Begriffen und Merkmalsbeschreibungen gleichen, beziehe ich mich bei der Darstellung der Klassifikation der Schizophrenie und psychotischer Störungen im Folgenden vor allem auf das ICD 10 und ziehe ergänzend das DSM IV heran. Für den Leser, der mit den psychiatrischen Begrifflichkeiten wenig vertraut ist, finden sich zu den griechischen und lateinischen Wörtern kurze Erläuterungen in einem Glossar am Ende dieses Buches.

Schizophrenie. – Im ICD 10 werden im Wesentlichen unterschieden (S. 103 ff.):

Formen der Schizophrenie (paranoid, hebephren, kataton, simplex)

Wahnhafte Störung (anhaltend, akut, vorübergehend)

Schizoaffektive Störungen (manisch, depressiv, gemischt)

Als diagnostische Leitmerkmale der Schizophrenie werden angeführt (S. 104 f.):

1.Gedankenlautwerden, Gedankeneingebung oder Gedankenentzug, Gedankenausbreitung;

2.Kontrollwahn, Beeinflussungswahn, Gefühl des Gemachten, deutlich bezogen auf Körper- oder Gliederbewegungen oder bestimmte Gedanken, Tätigkeiten oder Empfindungen, Wahnwahrnehmungen;

3.kommentierende oder dialogische Stimmen, die über den Patienten und sein Verhalten sprechen, oder andere Stimmen, die aus einem Teil des Körpers kommen;

4.anhaltender, kulturell unangemessener oder völlig unrealistischer (bizarrer) Wahn, wie der, eine religiöse oder politische Person zu sein, übermenschliche Kräfte und Fähigkeiten zu besitzen (z.B. das Wetter kontrollieren zu können oder im Kontakt mit Außerirdischen zu sein);

5.anhaltende Halluzinationen jeder Sinnesmodalität, begleitet entweder von flüchtigen oder undeutlich ausgebildeten Wahngedanken ohne deutliche affektive Beteiligung oder begleitet von anhaltenden überwertigen Ideen, täglich über Wochen oder Monate auftretend;

6.Gedankenabreißen oder Einschiebungen in den Gedankenfluss, was zu Zerfahrenheit, Danebenreden oder Neologismen führt;

7.katatone Symptome wie Erregung, Haltungsstereotypien oder wächserne Biegsamkeit (Flexibilitas cerea), Negativismus, Mutismus und Stupor;

8.»negative« Symptome wie auffällige Apathie, Sprachverarmung, verflachte oder inadäquate Affekte, zumeist mit sozialem Rückzug und verminderter sozialer Leistungsfähigkeit. Diese Symptome dürfen nicht durch eine Depression oder eine neuroleptische Medikation verursacht sein;

9.eine eindeutige und durchgängige Veränderung bestimmter umfassender Aspekte des Verhaltens der betreffenden Person, die sich in Ziellosigkeit, Trägheit, einer in sich selbst verlorenen Haltung und sozialem Rückzug manifestiert.

Für die Diagnose Schizophrenie ist mindestens ein eindeutiges Symptom der Gruppen 1–4 oder es sind mindestens zwei Symptome der Gruppen 5–8 erforderlich. Die Symptome müssen fast ständig während eines Monats oder über einen längeren Zeitraum vorhanden sein. Das Kriterium der Gruppe 9 bezieht sich auf die Diagnose Schizophrenia simplex, als Zeitkriterium wird hier eine Dauer von mindestens einem Jahr gefordert.

Bei der paranoiden Schizophrenie werden folgende wahnhaften und halluzinatorischen Symptome als Kriterien für die Diagnosestellung herangezogen:

1.Verfolgungswahn, Beziehungswahn, Abstammungswahn, Sendungswahn, Eifersuchtswahn oder coenästhetischer Wahn;

2.Stimmen, die den Betroffenen bedrohen oder ihm Befehle geben, Pfeifen, Brummen oder Lachen;

3.Geruchs- und Geschmackshalluzinationen, sexuelle oder andere Körperhalluzinationen.

Bei der hebephrenen Schizophrenie stehen affektive Veränderungen im Vordergrund, oft begleitet von Kichern oder selbstversunkenem Lächeln, Grimassieren, Manierismen, Faxen, hypochondrischen Klagen und immer wiederholten Äußerungen. Das Denken ist ungeordnet, die Sprache weitschweifig und zerfahren mit Vorliebe für Religion, Philosophie und abstrakte Themen. Der Kranke neigt dazu, sich zu isolieren. Er verliert seine früheren Zielsetzungen und wird ziel- und planlos. Der Beginn der Erkrankung liegt zwischen dem 15. und 25. Lebensjahr.

Bei der katatonen Form der Schizophrenie sind das diagnostische Kriterium motorische Phänomene, die zwischen extremer Erregung und Verminderung der Reaktionen auf die Umgebung und Verminderung spontaner Bewegungen und Aktivitäten (Stupor) oder Befehlsautomatismus und Befehlsverweigerung (Negativismus, Rigidität) hin und her schwanken können. Bizarre Zwangshaltungen und Zwangsstellungen können lange Zeit beibehalten werden. Katatone Symptome alleine können die Schizophreniediagnose allerdings nicht rechtfertigen.

Wahnhafte Störung. – Eine wahnhafte Störung soll gemäß ICD 10 dann diagnostiziert werden, wenn nur einzelne Wahnideen ausgeprägt vorhanden sind (Verfolgungswahn, hypochondrischer Wahn, Größenwahn, Querulantenwahn, Eifersuchtswahn, Wahn, dass der Körper deformiert sei oder man schlecht rieche, etc.), nicht jedoch akustische Halluzinationen (Stimmen hören) vorliegen und auch der Gefühlsausdruck, die Sprache und das Verhalten ansonsten normal erscheinen, solange sie sich nicht direkt auf das Wahnsystem beziehen. Die Wahnstörung kann manchmal lebenslang bestehen, sie kann aber auch nur vorübergehend vorhanden und mit akuten Belastungen verbunden sein (z.B. Schwangerschaftspsychose).

Das DSM IV stellt an dieser Stelle die unterschiedlichen Wahnformen wesentlich ausführlicher dar:

»Typus mit Liebeswahn: Dieser Subtypus gilt, wenn das zentrale Wahnthema darin besteht, dass eine andere Person den Betroffenen liebt. Der Wahn bezieht sich meist eher auf eine idealisierte romantische Liebe und seelische Verbundenheit als auf sexuelle Anziehung. ... Bemühungen, mit dem Wahnobjekt in Kontakt zu kommen (durch Telefonanrufe, Briefe, Geschenke, Besuche oder gar durch Überwachung und Nachschleichen), sind häufig, obwohl die Person gelegentlich ihren Wahn geheim hält. ...

Typus mit Größenwahn: Dieser Subtypus gilt, wenn das zentrale Wahnthema in der Überzeugung besteht, über ein großes (aber unerkanntes) Talent oder eine Einsicht zu verfügen oder eine bedeutsame Entdeckung gemacht zu haben. Weniger häufig haben Betroffene den Wahn, zu einer prominenten Person in einer besonderen Beziehung zu stehen (z.B. Ratgeber des Präsidenten zu sein) oder selbst eine prominente Person zu sein (in diesem Fall würde die reale Person als Schwindler angesehen). Größenwahn kann einen religiösen Inhalt haben (z.B. die Person glaubt, dass sie eine besondere Botschaft einer Gottheit erhalten hat).

Typus mit Eifersuchtswahn: Dieser Subtypus gilt, wenn das zentrale Wahnthema einer Person darin besteht, dass ihr (Ehe-)Partner untreu ist. Dieser Glaube entwickelt sich ohne ausreichenden Grund und basiert auf falschen Schlussfolgerungen sowie kleinsten ›Beweisen‹, ... die gesammelt werden. ...

Typus mit Verfolgungswahn: Dieser Subtypus gilt, wenn sich das zentrale Wahnthema einer Person auf die Überzeugung bezieht, man habe sich gegen sie verschworen, sie werde betrogen, ausspioniert, verfolgt, vergiftet oder unter Drogen gesetzt, bösartig verleumdet, belästigt oder am Erreichen langfristiger Ziele gehindert. Ein geringfügiger Affront kann übersteigert und zum Mittelpunkt eines Wahnsystems gemacht werden. Der Mittelpunkt des Wahns ist oft eine Ungerechtigkeit, die durch gerichtliche Maßnahmen behoben werden muss (›querulatorische Paranoia‹), und die betroffene Person kann sich in wiederholte Versuche verstricken, durch die Einschaltung von Gerichten und anderen Regierungsstellen Wiedergutmachung zu erhalten. Personen mit Verfolgungswahn sind oft nachtragend und wütend und können Gewalt gegen diejenigen anwenden, von denen sie sich geschädigt fühlen.

Typus mit körperbezogenem Wahn: Dieser Subtypus gilt, wenn das zentrale Wahnthema sich auf körperliche Funktionen und Empfindungen bezieht. Körperbezogener Wahn kommt in verschiedenen Erscheinungsformen vor. Am häufigsten sind die Personen überzeugt, dass sie aus der Haut, dem Mund, dem Rektum oder der Vagina einen üblen Geruch ausströmen, dass auf oder in der Haut ein Insektenbefall ist, dass es innerlich einen Parasiten gibt, dass bestimmte Körperteile mit Sicherheit (trotz aller Gegenbeweise) verunstaltet oder hässlich sind oder Teile des Körpers (z.B. der Dickdarm) nicht arbeiten.« (Saß, Wittchen und Zaudig 1998, S. 354 f.)

Die aufgelisteten Wahnformen können auch gemischt vorkommen (z.B. Größenwahn und körperbezogener Wahn).

Schizoaffektive Störung. – Die Diagnose »schizoaffektive Störung« soll laut ICD 10 vergeben werden, wenn bei einem Menschen »sowohl affektive als auch schizophrene Symptome in derselben Krankheitsphase auftreten« (Dilling, Mombour und Schmidt 1993, S. 123). Unter einer affektiven Störung versteht man wiederum »Veränderungen der Stimmung oder der Affektivität, meist zur Depression hin, mit oder ohne begleitende Angst, oder zur gehobenen Stimmung« (a.a.O., S. 131).

Die Leitsymptome einer Depression sind dabei:

1.verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit

2.vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen

3.Schuldgefühle und Gefühle der Wertlosigkeit

4.negative und pessimistische Zukunftsperspektiven

5.Suizidgedanken, erfolgte Selbstverletzungen und Suizidhandlungen

6.Schlafstörungen

7.verminderter Appetit

Schizophrenia simplex. – Die Schizophrenie-Diagnose (»Schizophrenia simplex«) kann in der Psychiatrie auch vergeben werden, wenn weder Wahnvorstellungen noch Halluzinationen auftreten: »Ein seltenes Zustandsbild mit schleichender Progredienz von merkwürdigem Verhalten, der Unmöglichkeit, soziale Anforderungen zu erfüllen, und mit Verschlechterung der allgemeinen Leistungsfähigkeit. Wahnvorstellungen und Halluzinationen treten nicht in Erscheinung. Die Störung ist weniger offensichtlich psychotisch als die hebephrene, paranoide und katatone Unterform der Schizophrenie.« (a.a.O., S. 112)

Manie. – Als Leitsymptome der Manie werden beschrieben: »Die Stimmung ist situationsinadäquat gehoben und kann zwischen sorgloser Heiterkeit und fast unkontrollierbarer Erregung schwanken. Die gehobene Stimmung ist mit vermehrtem Antrieb verbunden und führt zu Überaktivität, Rededrang und vermindertem Schlafbedürfnis. Übliche soziale Hemmungen gehen verloren, die Aufmerksamkeit kann nicht mehr aufrecht erhalten werden, stattdessen kommt es oft zu starker Ablenkbarkeit. Die Selbsteinschätzung ist überhöht, Größenideen oder maßloser Optimismus werden frei geäußert.

Wahrnehmungsstörungen, wie etwa die Einschätzung von Farben als besonders lebhaft und meist schön, können vorkommen, ferner eine Beschäftigung mit feinen Einzelheiten von Oberflächenstrukturen oder Geweben und eine subjektive Hyperakusis. Die betreffende Person kann überspannte und undurchführbare Projekte beginnen, leichtsinnig Geld ausgeben oder bei völlig unpassender Gelegenheit aggressiv, verliebt oder scherzhaft werden. In einigen manischen Episoden ist die Stimmung eher gereizt und misstrauisch als gehoben.« (a.a.O., S. 133)

Psychose. – Der Begriff Psychose auch wird im ICD 10 in einem beschreibenden Sinne verwendet: »Dieser Terminus soll ... das Vorkommen von Halluzinationen, wahnhaften Störungen und bestimmten Formen schweren abnormen Verhaltens anzeigen. Dazu gehören schwere Erregungszustände und Überaktivität, ausgeprägte psychomotorische Hemmung und katatone Störungen.« (a.a.O., S. 21)

Ähnlich wird der Begriff Psychose im DSM IV definiert: »Die engste Definition von psychotisch beschränkt sich auf Wahnphänomene oder auf ausgeprägte Halluzinationen, wobei die Halluzinationen ohne Einsicht in ihre pathologische Natur auftreten. Eine etwas weniger enge Definition würde auch solche ausgeprägten Halluzinationen mit einbeziehen, die der Betroffene als halluzinatorisches Erleben erkennt. Eine noch weitere Definition schließt auch andere positive Schizophreniesymptome ein (z.B. desorganisierte Sprachäußerungen, grob desorganisiertes oder katatones Verhalten).« (Saß, Wittchen, Zaudig 1998, S. 861)

Endogen, exogen. – Differenzialdiagnostisch werden von den genannten Formen der Schizophrenie unterschieden: schizophrenieähnliche Bilder bei Epilepsie, aufgrund von Drogenkonsum oder -entzug, eindeutiger Gehirnerkrankung oder Vergiftung.

Mit dem Begriffspaar »exogen« und »endogen« trifft die psychiatrische Lehrmeinung eine Unterscheidung zwischen den Formen der Verwirrung, die sie auf körperliche Ursachen und äußere Einflüsse (exogen) zurückführen kann (z.B. bei Alzheimer Erkrankung oder Alkoholvergiftung), und solchen, bei denen dies nicht der Fall ist (endogen). Mit dem Begriff »endogen« wird behauptet, die Ursachen der Verwirrung lägen – wie auch immer – im Inneren des Organismus.

Mit dem Hinweis, dass Schizophrenien weltweit mit einer Häufigkeit von etwa 1% in der Bevölkerung vorkämen, meint die Psychiatrie ein Argument für die Umweltunabhängigkeit dieser »Krankheit« zu haben. Eine statistische Zahl – sofern sie angesichts des schillernden Phänomens »Psychosen« überhaupt verlässlich ist – beweist aber überhaupt nichts. Sie sagt nur, dass etwas mehr oder weniger häufig vorkommt.

Thesen zum seelischen Ursprung der Verwirrung

Der erste Gegner der Erkenntnis ist die Angst.

Carlos Castaneda, Die Lehren des Don Juan

Angst und Faszination. – Die Phänomene der Verwirrung und des Verrücktseins sind rätselhaft und machen Angst. Sie

wecken das Bedürfnis nach Abgrenzung (»Ich bin normal!«),

erzeugen Fantasien über ihre Entstehung (»Genie und Wahnsinn«),

begründen Vorurteile (»Verrückte sind gemeingefährlich«) und

verstärken den Wunsch nach Distanz (»wegsperren« und »ruhig stellen«).

Diese Einstellungen und Haltungen bezeugen das Faszinierende wie Unheimliche, das extreme menschliche Seelenzustände auslösen können. Sie belegen das theoretische Unverständnis wie die praktische Hilflosigkeit, mit Menschen, die verwirrt sind, angemessen umzugehen.

Unwissen ... – Das Phänomen Wahnsinn weist darauf hin: Unser Wissen über uns Menschen ist sehr lückenhaft. Wir können zum Mond oder Mars fliegen, die menschliche Seele aber ist noch immer wie ein fremder, dunkler Kontinent. Es gibt viel Nichtwissen und jede Menge Halbwissen. Die Schlichtheit mancher Theorien über den Menschen und sein Seelenleben steht bei genauerer Betrachtung in einem grotesken Missverhältnis zur Exaktheit, Genauigkeit, Differenziertheit, kurzum: der Fülle und dem Reichtum psychischer und seelischer Prozesse.

... und es nicht wissen wollen. – Es gibt auch viel Abwehr, wirklich wissen zu wollen, was jenseits des Offensichtlichen wirkt. Wir Menschen können und – wie es scheint – wollen und dürfen uns selbst oft nicht verstehen. Die Angst vor dem Einblick in das eigene Seelenleben und in die eigenen Abgründe von Angst, Scham, Schuld und Hass ist sehr groß und weit verbreitet. Das trifft auf die Allgemeinbevölkerung genauso zu wie auf viele Fachleute und Experten. Körperlich krank zu sein gilt in den meisten Gesellschaften nicht als ehrenrührig. Seelische Probleme zu haben erscheint hingegen als Zeichen von Schwäche und Unfähigkeit.

Wie sich noch zeigen wird, hat diese Abwehrhaltung, die wahren Ursachen bei den schweren Formen seelischer Verwirrung nicht wissen zu dürfen und zu wollen, ihren Grund. Sie ist daher nicht leicht zu überwinden – weder bei den Betroffenen und ihren Angehörigen noch bei den Psychiatern, Psychologen und Sozialarbeitern.

Die Wiederentdeckung der »Seele«. – Es war für meine Theoriebildung wie für meine praktische therapeutische Tätigkeit entscheidend, den Begriff der Seele neu zu entdecken. Die Seele ist für mich zu einem zentralen Begriff geworden, auf den ich meine Beobachtungen und Erklärungen beziehe. Dieser Begriff ist alt, er hat in der Philosophie und Religion große Bedeutung. Was ich selbst unter Seele verstehe, werde ich später ausführlich erläutern.

Die moderne Medizin und die psychologische Wissenschaft haben den Begriff »Seele« aus ihrem Theoriebestand gestrichen, weil er für sie Vorstellungen wachruft, die sie als metaphysisch oder esoterisch empfinden. Wie mir aber scheint, führt gerade das Ausklammern des Begriffs dazu, dass trotz umfangreicher Forschungen und zahlreicher neuer Erkenntnisse auf vielen Gebieten bis heute weder die Psychiatrie noch die etablierten psychologischen Schulen (Psychoanalyse, Verhaltenstheorie) die Entstehung von Verwirrung und Wahn erklären können. Auch bei vielen anderen Formen seelischen Leidens wie z.B. panischen Ängsten, Zwängen oder Süchten, haben Schulmedizin und wissenschaftliche Psychologie kein wirkliches Verständnis von den Entstehungsgründen solcher Symptome. In vielen Fällen können daher weder die Medizin noch die Psychologie seelisch leidenden und verwirrten Menschen wirklich helfen. Es wird zwar viel therapiert, im Grunde aber oft ohne Nutzen und Erfolg, weil nur am Symptom orientiert.

Der Sinn des Wahns. – Die Aussagen in diesem Buch beruhen auf meinen Erfahrungen als Psychotherapeut mit Patientinnen und Patienten, die psychotische Symptome zeigen und die von Psychiatern oder Psychotherapeuten als »schizophren«, »manisch«, »schizoaffektiv« oder »Borderline« diagnostiziert werden. Diese Patienten haben zum Teil auch Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken erlebt. Diese Arbeit mit verwirrten und verrückten Patienten brachte mich zu der Überzeugung, dass auch die scheinbar unsinnigsten Gefühle, Gedanken oder Handlungen eine Bedeutung haben. Es hängt bei jedem einzelnen Menschen nur davon ab, wie viel Mühe man sich gibt und wie viel Geduld jemand aufbringt, um den Wahn-Sinn zu verstehen.

Der familiäre Hintergrund des Wahns. – Nachdem ich damit begonnen hatte, die Formen des Wahnsinns bei einzelnen Menschen zu studieren, bin ich ausnahmslos auf deren familiäre Herkunftssysteme als Ursache gestoßen. Oft lagen die Entstehungsursachen der Verwirrung in der Elterngeneration, manchmal reichten sie auch drei oder vier Generationen in der Familie zurück. Es zeigte sich auch, wie die gesellschaftlichen Umstände in das Leben dieser Familiensysteme hineinwirken und ihre Schicksale mitbestimmen.

Die Kernfrage, der ich in diesem Buch folglich nachgehe, lautet daher: Was erzeugt Verwirrung in familiären Bindungssystemen? Unter welchen besonderen Voraussetzungen wird jemand in solchen Familien seelisch verwirrt, wahnsinnig und verrückt (gemacht)?

Die Psychose als Symptom. – Auf diesem Wege komme ich zu der These, dass Psychosen das sichtbare Symptom für die ansonsten im Verborgenen wirkenden Verwirrungen eines – in der Regel familiären – seelischen Bindungssystems sind. Verwirrt und widersprüchlich sind in erster Linie die seelischen Bindungen innerhalb einer Familie. Der Verwirrte ist nur der Symptomträger in einer solchen Familie. Bei ihm schlägt sich die durch bestimmte Ereignisse erzeugte Verwirrung in seinem familiären Bindungssystem in seinem Fühlen, Denken und Handeln als persönliche Verwirrtheit nieder.

Eine Psychose ist in meinen Augen nur ein Symptom und nicht die Ursache. Ebenso wie Fieber nicht die eigentliche Krankheit, sondern der Hinweis auf eine Krankheit ist und das Fieber selbst eine wichtige Hinweis- und Schutzfunktion für den Gesamtorganismus hat. Und wie durch die Unterdrückung von Fieber keine Infektionserkrankung geheilt werden kann, so kann m.E. durch die Unterdrückung psychotischer Symptome auch die seelische Verwirrung nicht aufgelöst werden.

Ich würde diese Parallele sogar noch weiter führen: Wie das Fieber als ein Selbstheilungsversuch des körperlichen Immunsystems zu verstehen ist, so ist auch eine Psychose der Versuch des seelischen Immunsystems, wieder mit sich ins Reine zu kommen. Da sich der Begriff »Seele« dabei nicht nur auf eine einzelne Person bezieht, kann auch die »Heilung« einer Psychose nicht nur in Hinblick auf die betroffenen Symptomträger gesehen werden. Sie schließt ein familiäres Bindungssystem als Ganzes ein. Dies sollte aus meinen Ausführungen, die ich in diesem Buch darlege, am Ende deutlich werden.

Praktische Folgen? – Es wurde schon oft versprochen, man hätte das Geheimnis des Wahnsinns nun endlich gelüftet. Konsequent umgesetzt würde dieses Wissen zu einer Hilfe für die Betroffenen und die Gesellschaft werden. Alle Versuche sind bislang aber gescheitert. Der Wahnsinn existiert in jeder Gesellschaft fort.

Ich weiß einerseits, dass ich schon vielen Patientinnen und Patienten damit geholfen habe, ihren Wahnsinn als Symptom einer Verwirrung in ihrer Familienseele zu begreifen. Ich sehe aber auch, dass es Grenzen gibt, Menschen psychotherapeutisch zu erreichen. Mitunter sind die Kräfte zu groß, die einer Öffnung der Seele Widerstand leisten. Dies gilt insbesondere bei denen, die schwere Schuld auf sich geladen haben und sich weigern, die Verantwortung dafür selbst zu übernehmen.

Ich ahne daher, warum wir Menschen uns so schwer tun, Psychosen zu verstehen, und warum sie, statt als etwas zutiefst Menschliches, wie eine mysteriöse »Krankheit« oder »eine Geißel Gottes« erscheinen. Und ich verstehe inzwischen auch, warum viel gesellschaftlicher Aufwand betrieben wird, den seelischen Abgrund, der sich bei Psychosen auftut, zuzudecken.

Ich bin mir daher der Begrenztheit praktischer Handlungsmöglichkeiten bei diesen schweren Formen seelischer Verwirrung bewusst. Die weiter reichenden Veränderungen auf diesem Gebiet können durch zutreffende Erkenntnisse und Theorien nur vorbereitet werden. Sie werden in einem größeren Umfange erst passieren, wenn sich das Menschenbild in einer Gesellschaft grundlegender verändert hat.

Grundzüge einer systemischen Psychotraumatologie. – Die ursprüngliche Absicht, dieses Buch zu schreiben, war es, meine Erkenntnisse über die Ursachen von Psychosen zu veröffentlichen. Allmählich hat es sich jedoch zu einem Projekt ausgeweitet, das die klassischen psychiatrischen Krankheitsbilder vor dem Hintergrund einer umfassenderen Theorie erklären will. Dieses theoretische Konzept fußt auf zwei wesentlichen Begriffen: Bindung und Trauma. Aus ihm lassen sich m.E. auch Phänomene wie panische Ängste, Depressionen, Süchte oder psychosomatische Symptome schlüssig ableiten. Daher kommen im Rahmen dieses Buches auch seelische Konflikte zur Sprache, für die im Rahmen der psychiatrischen Terminologie in jüngster Zeit immer häufiger die Diagnose »Borderline-Persönlichkeitsstörung« gestellt wird (Kernberg, Dulz und Sachsse 2000).

Meines Erachtens ist der Unterschied zwischen Psychosen und Borderline-Persönlichkeitsstörung nicht nur gradueller Natur, wie der vage Begriff »Borderline«, d.h. Grenzlinie, nahe legt. Wie ich zeigen werde, sind die Folgen eines Bindungssystem- und Bindungstraumas völlig unterschiedlich, auch wenn sie sich in den konkreten Einzelfällen bei Patientinnen und Patienten überlagern können.

Klarheit, ohne zu verurteilen. – Die Inspiration, die Kraft und den Mut für die Thesen in diesem Buch ziehe ich aus meinem eigenen Lebensschicksal, meiner Verstrickung in meine Herkunftsfamilie und der Auseinandersetzung mit meinem persönlichen seelischen Trauma. Gerade weil der von mir vertretene Erklärungsansatz die Frage nach der persönlichen Schuld nicht ausklammert und auch die Familie und ihre einzelnen Mitglieder als Verursacher von seelischer Verwirrung nicht pauschal entschuldigt und in Schutz nimmt, ist mir bewusst, dass man bei all diesen Phänomen klar sein muss in der Benennung von Tatsachen und nachsichtig im Urteil über Menschen. Das deutliche Benennen von Schuld schließt nicht automatisch die Verurteilung des Schuldigen mit ein. Lösungen aus psychotischen Verwirrungen finden sich nur jenseits von Schuld und Unschuld. Und Traumen werden letztlich nur durch Liebe geheilt.

* Camille Claudel (1864–1943), Bildhauerin und Geliebte Auguste Rodins, zerstörte 1906 ihre eigenen Kunstwerke, litt unter Verfolgungswahn und verbrachte die letzten 30 Jahre ihres Lebens in psychiatrischen Anstalten.

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Grundannahmen und zentrale Begriffe

Um klarer zu sehen,genügt oft ein Wechsel der Blickrichtung.

Antoine de Saint-Exupéry

Die soziale Natur des Menschen

Menschen sind soziale Wesen ... – Menschen sind soziale Wesen und auf ihre Bezugsgruppen hin ausgerichtet. Menschen leben und überleben in Gruppen. Körper, Geist und Gefühlsleben eines Menschen sind auf Austausch und Kommunikation mit anderen Menschen angelegt. Alle körperlichen und psychischen Funktionen stehen im Dienste der Gattung Mensch, ihrer Vermehrung und ihres Selbsterhaltes. »Bisher hielt man es für selbstverständlich, dass der Mensch sein großes Gehirn zum Denken besitzt. Neueste Forschungsergebnisse haben jedoch deutlich gemacht, dass der Bau und die Funktion des menschlichen Gehirns in besonderer Weise für Aufgaben optimiert ist, die wir unter dem Begriff psychosoziale Kompetenz‹ zusammenfassen. Unser Gehirn ist demnach weniger ein Denk- als vielmehr ein Sozialorgan.« (Hüther und Bonney 2002, S. 25)

Möglicherweise stehen wir Menschen auch noch im Dienste eines höheren Prinzips und sind eingebunden in etwas wesentlich Größeres. Darüber möchte ich an dieser Stelle jedoch nicht spekulieren.

Nicht Körperkraft, Körpergröße, Ausdauer, Aggressivität oder eine besondere Wahrnehmungsfähigkeit haben die Menschen allen anderen Lebewesen überlegen gemacht. Es ist vor allem die Fähigkeit, große soziale Verbände zu bilden und die eigenen Fähigkeiten in der Auseinandersetzung mit anderen Menschen zu entwickeln und zu schärfen, die den großen Vorteil ausmacht. Die Möglichkeiten der Verständigung durch Sprache ist dabei eine treibende Kraft für die Entwicklung des menschlichen Denkens und der menschlichen Intelligenz.

... mit großen Unterschieden im Einzelnen. – Die Einheit der Gattung Mensch realisiert sich in der Unterschiedlichkeit ihrer Gattungsträger, die Individuen sind, und die im Laufe ihrer persönlichen Entwicklung immer mehr zu Subjekten werden können. So ist die körperliche, geistige und emotionale Verfasstheit von Mann und Frau in vielem extrem unterschiedlich und in manchen Punkten sogar gegensätzlich. Die männlichen wie weiblichen »Exemplare« der Menschheit weisen innerhalb ihres Geschlechts wiederum eine immense Unterschiedlichkeit von Fähigkeiten auf allen Ebenen auf.

Diese große Bandbreite des Menschseins ist m.E. das »Erfolgsrezept« dafür, dass Menschen sich bis in die letzten Erdenwinkel hinein verbreiten und an nahezu alle natürlichen Gegebenheiten anpassen konnten. Sie ist die Grundlage für die kulturelle Vielfalt und die menschliche Individualität. Auf psychologischem Gebiet kann man dieser Vielfalt und Einzigartigkeit mit statistischen Methoden nur schwer gerecht werden. Jeder Einzelfall »Mensch« verdient seine besondere Beachtung und Würdigung.

Das Bedürfnis nach Sinn

Menschen suchen nach Sinn und Bedeutung ... – Unsere soziale Natur bringt es mit sich, dass wir in den Verhaltensweisen anderer und in den Geschehnissen der Natur nach Sinn und Bedeutung suchen. Wir müssen verstehen, was die anderen Menschen, mit denen wir zusammenleben, tun oder beabsichtigen.

... im Wahrnehmen, ... – Das Kind muss die Verhaltensweisen seiner Mutter unmittelbar sinnlich mit seinen Augen, Ohren, mit seinem Mund, mit seiner Nase – im Grunde mit seinem gesamten Körper wahrnehmen. Es muss diese Verhaltensweisen auch in einen Bedeutungszusammenhang einordnen können. Die Bedeutung von wahrgenommenen Verhaltensweisen zu verstehen heißt, Angst zu bewältigen und Sicherheit zu gewinnen.

Unsere psychischen Funktionen sind daher auf das Verstehen von Bedeutung und Sinn angelegt. Es gibt keine Wahrnehmung im Sinne einer bloßen Reizaufnahme oder -verarbeitung. Die Wahrnehmungspsychologie belegt eindrücklich, dass wir Menschen jeder Wahrnehmung eine Bedeutung beimessen und selbst dort Sinn in Wahrnehmungsmaterial hineindeuten, wo Experimentatoren bewusst den Zufall ins Werk setzen. Ein »leuchtendes« Beispiel hierfür ist die Astrologie: Schon immer waren Menschen davon fasziniert, in den Lichtpunkten am Sternenhimmel einen Sinnzusammenhang zu erblicken. Es werden daher nicht nur vereinzelte Sterne zu größeren Einheiten zusammengefasst und mit einem Namen belegt (»großer Wagen«, »Orion« ...), es wird den auf diese Weise sinnhaft erlebten Gebilden auch ein Einfluss auf das Leben jedes einzelnen Menschen zugeschrieben. Menschen scheinen gar nicht anders als in Sinnbezügen wahrnehmen zu können.

... im Wort, ... – Als Kinder lernen wir als Erstes Mimik und Gestik sowie die unterschiedlichen Körperhaltungen unserer engsten Bezugspersonen zu verstehen. Es ist ein bildhaftes und vorsprachliches Begreifen der Welt. Später steigern sich unsere Einblicke in die Gesetzmäßigkeiten sozialen Geschehens durch den Erwerb von Sprache. Jedes Wort enträtselt einen sozialen Sachverhalt und gibt ihm einen Namen. Unsere soziale Umwelt wird dadurch besser durchschaubar. Wir lernen, sie als sinnvolles Gefüge aufeinander abgestimmter Verhaltenssequenzen zu interpretieren. Wir entwickeln auf dieser Basis Verhaltenserwartungen an andere und wissen, dass sich unser eigenes Verhalten in gewissen Bahnen bewegen darf und bewegen muss.

... im Denken, Fühlen und Handeln. – Denken, Fühlen und Handeln ist ebenso auf Sinn und Bedeutung hin ausgerichtet. Es gibt im Grunde für uns Menschen keine inhaltsleeren Gedanken, kein sinnloses Gefühl oder bloße Affekte. Jedes Gefühl hat eine spezifische Bedeutung im Kontakt eines Menschen mit einem anderen Menschen oder mit einem Sachverhalt. Wenn Gefühle inhaltsleer erscheinen, so sind sie das nicht ursprünglich. Sie erscheinen nur inhaltsleer, weil ihre ursprünglichen Inhalte nicht mehr erinnert werden können oder aufgrund von seelischen Schutzmechanismen nicht mehr erinnert werden dürfen. Manche Verhaltensweisen ergeben ohne den Bezug zur ursprünglichen Situation, in der sie angemessen waren, keinen eindeutigen Sinn. In den Kontext der ursprünglichen Situation gestellt, sind sie begründet und nachvollziehbar.

Schmerz und Erleichterung zugleich

Die Patientin, Frau N., verlor mit zwölf Jahren ihre Mutter, die bei einem Krankenhausaufenthalt unerwartet starb. Verständlicherweise stand sie als Kind durch das Ereignis unter Schock und konnte nicht wirklich trauern. Bei der Aufarbeitung dieses Ereignisses in der Therapie tauchten neben den Gefühlen der Angst und des Schmerzes über den Tod der Mutter überraschend auch Gefühle der Erleichterung auf, deren Existenz die Patientin verwirrte und verunsicherte.

Es stellte sich jedoch im Wiedererinnern der damaligen Situation heraus, dass sie von ihrer Mutter, als diese noch lebte, unter einen großen Leistungsdruck gesetzt wurde, um besonders gut in der Schule zu sein. Sie fühlte sich dadurch oft überfordert. Durch den Tod der Mutter fiel dieser Leistungsdruck weg. Aufgrund der Widersprüchlichkeit dieser beiden Gefühle, der Gefühle des Schmerzes und der Erleichterung, konnte sie als Kind keine eindeutige Gefühlslage zur verstorbenen Mutter herstellen. Sie meinte, in Bezug auf die Mutter und deren Tod eigentlich nichts gefühlt zu haben. Sie konnte zum damaligen Zeitpunkt weder ihre Trauer noch ihre Erleichterung über den Tod der Mutter anderen gegenüber zum Ausdruck bringen.

Erst als in der Psychotherapie beiden Gefühlen ihre Berechtigung zuerkannt wurde, konnte sie in eine heilsame Trauer um ihre früh verstorbene Mutter kommen und sich aus ihrer depressiven und ängstlichen Grundstimmung lösen, in der sie sich oft hilflos und überfordert fühlte.

Leib und Seele

Strukturen und Kräfte. – Menschliches Erleben und Verhalten bezieht nach meinem Verständnis seine Energie aus drei großen Kraftquellen:

den Triebkräften des Leibes,

den Bindungskräften der Seele,

den Willenskräften des Verstandes.

Dieser Unterscheidung entspricht in einer gewissen Annäherung der Aufbau des menschlichen Nervensystems und des Gehirns. Im vegetativen Nervensystem und im zentralen Nervensystem bis hin zur Stammhirnebene werden alle körperlichen Erfordernisse im Wesentlichen ohne bewusste Wahrnehmung und Steuerung geregelt. Im Zwischenhirnbereich finden sich die Verarbeitungsorgane für das emotionale Geschehen und im Bereich der Großhirnrinde die Areale des bewussten Wahrnehmens und Denkens.

Das vegetative und zentrale Nervensystem und das Gehirn als zentrales Organ sind allerdings noch wesentlich differenzierter, als es diese modellhafte Einteilung in drei große Bereiche beschreibt. Es gibt noch viele weitere Funktionseinheiten, die als Strukturen und Kräfte menschliches Verhalten und Erleben beeinflussen. Zum Beispiel beginnt man erst allmählich, die Beteiligung der »Kerne«, das sind die Verdichtungen von Nervenzellen im Zwischen- und Stammhirnbereich, bei Traumatisierungsprozessen besser zu verstehen.

Materie und Energie. – Durch die Erkenntnisse der Quantenforschung ist das mechanische Weltbild der Physik ins Wanken geraten. Die Gesetze, die im makrokosmischen Bereich gelten, scheinen im Mikrokosmos nicht auf gleiche Weise zu wirken. Es ist z.B. fraglich geworden, ob die Lichtgeschwindigkeit die Maximalgeschwindigkeit darstellt, mit der Informationen von A nach B transportiert werden können (Gallo 2000, S. 39 ff.). Der Austausch von Energie und Information scheint noch auf anderen, bislang völlig ungeklärten Gesetzen zu beruhen.

Ebenso ist die mechanische Vorstellung der Biologie äußerst fragwürdig, dass sich z.B. aus Genbausteinen die Entwicklung eines Lebewesens und seiner spezifischen Eigenschaften herleiten ließe. »Die Aufstellung von Aminosäuresequenzen und die Ergebnisse immunologischer und elektrophoretischer Untersuchungen ... zeigen alle, dass die Polypeptide des Menschen im Mittel zu mehr als 99% mit denen des Schimpansen übereinstimmen.« (Sheldrake 1998, S. 34) Und weiter schreibt Rupert Sheldrake: »Gewöhnlich wird jedoch die mechanistische Theorie des Lebens nicht als eine streng definierte, widerlegbare Theorie angesehen; sie dient vielmehr der Rechtfertigung für die konservative Arbeitsmethode innerhalb der etablierten, durch die Physik und die Chemie gestützten Denkschemata.« (a.a.O., S. 40) Auch wenn also das Argument »genetisch bedingt« in der Psychiatrie als letzte Ursache für Schizophrenien nach wie vor hoch im Kurs steht, so entbehrt es jeglicher ernst zu nehmender wissenschaftlicher Begründung.

Das, was wir als Materie bezeichnen, scheint etwas anderes zu sein als das, was wir Energie oder Information nennen. Während wir den menschlichen Körper in vielerlei Hinsicht als etwas Materielles begreifen können, fällt es außerordentlich schwer, das Paradigma der Materie auch auf Phänomene wie Wahrnehmen, Fühlen, Denken anzuwenden, auf Bewusstsein und Unbewusstes. Die Regeln, die hier wirken, passen nicht mehr in die Raum- und Zeitstrukturen, die für feste Körper gelten. Die bei Familienaufstellungen (Hellinger 2001a) auftretenden Phänomene der Übertragung von Informationen auf Stellvertreter weisen eindeutig in diese Richtung. Für das Verständnis von der Entstehung psychischer Phänomene und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten für die Behandlung seelischer Probleme hat diese Einsicht weitreichende Konsequenzen. Die Seele ist kein Körper, den man mechanisch bearbeiten kann.

Vernunft, Seele, Trieb. – Für ein begriffliches Grundverständnis möchte ich mich im Folgenden auf eine relativ einfache Struktur mit den drei Hauptdimensionen »Vernunft«, »Seele« und »Trieb« beschränken. Das Denken in dieser Dreiheit hat eine lange philosophische Tradition und warum sollte man die damit verbundene menschliche Erfahrung, welche durch die modernen wissenschaftlichen Untersuchungsergebnisse eher bestätigt als widerlegt wird, ignorieren?

Alle drei Ebenen gehorchen ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten. Sie sind aufeinander bezogen und voneinander abhängig. Zu den Trieb-Kräften, welche für den Selbsterhalt eines Menschen und den Arterhalt der Gattung sorgen, zählen als die herausragendsten Kräfte die Sexualität und die Aggressivität. Die Kräfte der Vernunft, des Verstandes und des bewussten Willens kann man auch als »psychische Funktionen« bezeichnen. Ich werde das, was ich unter »Seele« verstehe, weiter unten näher definieren. Die menschliche Art wäre ohne das Zusammenwirken dieser drei Ebenen nicht zu dem geworden, was sie auszeichnet.

Abb. 2.1: Unterschiedliche Lebenskräfte und Energien im menschlichen Leib und in der Person

Wie Abb. 2.1 veranschaulichen soll, findet daher zwischen diesen drei Hauptdimensionen menschlicher Existenz ein fortlaufender Austausch von Energie und Informationen statt. Der Austausch findet auf diesen Ebenen dann auch zwischen Menschen statt.

Der Leib. – Anstelle des Begriffs »Körper« verwende ich hier den Begriff des Leibes, um zu verdeutlichen, dass es sich um einen lebendigen Körper handelt in dem Sinne, wie es z.B. Rainer Adamaszek vorschlägt: »Den ›Leib‹ vom ›Körper‹ zu unterscheiden, dient dazu, den lebendigen Organismus vor Verwechslungen mit einem Leichnam zu bewahren. Der Leib ist grundsätzlich der lebende Organismus: der ›beseelte Körper‹, die ›bekörperte Seele‹, der ›Körper‹, der der Seele seine Form schenkt, zugleich die ›Seele‹, die den Körper mit Inhalt füllt.« (Adamaszek 2001, S. 12)

Den menschlichen Körper gibt es, solange er lebt, nicht ohne eine damit verbundene Person und diese Person nicht ohne ihren Leib. Jeder lebende Mensch ist in diesem Sinne leibhaftig. Und leibhaftig ist er verbunden mit der Welt. Es kann daher auch keinen bloßen Stoffwechsel geben, der nur aus physikalischen und chemischen Größen besteht. Jeder Stoffwechsel im menschlichen Leib ist beseelt. Ein Mensch hat daher nicht nur einen Stoffwechsel, er ist Stoffwechsel. Er hat gegebenenfalls nicht eine Krankheit, sondern er ist diese Krankheit. Dies gilt erst recht für seelische Konflikte. Ein Mensch verkörpert seinen seelischen Konflikt und der Leib ist durch den seelischen Konflikt geprägt. Da es den Stoffwechsel nicht ohne Seele geben kann, hat daher auch jede körperliche Krankheit eine seelische Dimension und jedes seelische Leiden hat immer auch körperliche Aspekte.

Getrennt oder verbunden. – Jeder Mensch ist in diesem Sinne eine Einheit von Materie und Energie. Die zu Analysezwecken vorgenommene Unterscheidung von Leib, Seele und Geist führt also auf einen Holzweg, wenn man sich diese drei Aspekte, die jeden Menschen kennzeichnen, als etwas Getrenntes und unabhängig vom jeweils anderen vorstellt. Erst dadurch entsteht das Problem, wie das Getrennte wieder zusammenkommt. In der Philosophie wird diese Frage z.B. als das Leib-Seele-Problem diskutiert oder als die Frage, wie aus wahrgenommenen Reizen bedeutungsvolle Informationen werden und wie aus dem Gehirn Bewusstsein entstehen kann. Es gibt das lebendige Gehirn aber gar nicht, ohne dass es mit Gedanken, Gefühlen und Wahrnehmungen verbunden ist. Sich die Umwelt als Reize vorzustellen, die erst im Gehirn in eine bewusste Wahrnehmung umgewandelt werden müssten, führt zu einer unlösbaren Aufgabe.