Träume aus Staub - Maja Winter - E-Book

Träume aus Staub E-Book

Maja Winter

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Beschreibung

Nach dem feigen Mord an Großkönig Tizarun regiert die wahnsinnig gewordene Großkönigin unrechtmäßig über Le-Wajun. Niemand im Reich weiß, dass der Attentäter - der ehemalige Knappe Karim - ein unehelicher Sohn des toten Großkönigs und ein Mitglied der Gilde der Wüstendämonen ist, einer Schule gefürchteter Meuchelmörder.
Karims plant, sich selbst zum Herrscher aufzuschwingen. Dass sich Großkönigin Tenira auf einen Krieg gegen das Nachbarland Kanchar einlässt, spielt ihm dabei nur in die Hände. Und auf einen aussichtslosen Krieg obendrein, denn Kanchar verfügt über eine Armee aus magischen Eisentieren ...

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Seitenzahl: 981

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Inhalt

Cover

Über die Autorin

Titel

Impressum

Was zuletzt geschah

Dajanisches Kinderlied

TEIL I: DAS LIED DER WÜSTE

1. Staubwolke

2. In Daja

3. Heimkehrer

4. Der Gastgeber

5. Drinnen

6. Eine Nacht für Guna

7. Der Prinz von Nehess

8. Die Macht schöner Worte

9. In der Höhle des Löwen

10. Das Öffnen einer Truhe

TEIL II: DIE SÖHNE DES KAISERS

11. Aus der Höhe

12. Am Ende des Fluges

13. Das Geheimnis der Königin

14. Dorn

15. Weil die Götter uns lieben

16. Dorthin

17. Gen Osten

18. Die verborgene Wahrheit

19. Was Ihr wollt

20. Der Grund für alles

21. Noch zwei Tage

22. Ein neuer Morgen

23. Durch die Gesichter

TEIL III: ASCHE UND STAUB

24. Hinter der Mauer

25. Ein Angebot

26. In dieser Nacht

27. Die Gnade der Götter

28. Weil du dort bist

29. Was man nicht ungeschehen machen kann

30. Das graue Haus

31. Guna oder nicht

32. Von hier oben

33. Für ihn

34. Dort, am Ziel

35. Fallen die Sterne

Personenverzeichnis

ÜBER DIE AUTORIN

Maja Winter ist das Pseudonym der erfolgreichen Autorin Lena Klassen, unter dem sie epische Fantasygeschichten veröffentlicht. 1971 in Moskau geboren, wuchs sie in Deutschland auf. In Bielefeld studierte sie Literaturwissenschaft, Anglistik und Philosophie. Neben ihren Fantasyromanen hat sie auch zahlreiche Kinder- und Jugendbücher sowie Romane für Erwachsene verfasst. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern im ländlichen Westfalen.

Maja Winter

TRÄUME AUS STAUB

Roman

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Julia Abrahams, KölnKartenillustration: Markus Weber, Guter Punkt, MünchenTitelillustration: © Thinkstock/Iurii Kovalenko; Thinkstock/AndreaWillmore;Thinkstock/Extezy; Thinkstock/Mikhail Dudarev; Thinkstock/Igor ZhuravlovUmschlaggestaltung: Guter Punkt, MünchenSatz: two-up, DüsseldorfE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-3072-4

www.bastei-entertainment.dewww.lesejury.de

Was zuletzt geschah

Sie sagen, dass der Tod sich einst in einen Krieger auf dem Schlachtfeld verliebte. Er schrie nicht und wandte sich nicht vom Tod ab, stattdessen blickte er ihm ins Gesicht. Und statt dem Krieger das Fährgeld in die jenseitigen Lande zu überreichen, folgte der Tod dem Krieger ins Leben. Doch von da an irrten die Seelen verloren umher. Alles Flehen, der Tod möge wieder seine Aufgabe tun, war vergebens, und so wussten die Menschen sich nicht anders zu helfen, als den Krieger nochmals zu töten. Und diesmal schrie der Krieger, sodass der Tod sich die Ohren zuhielt und sich von ihm abwandte. Sie sagen, seitdem ginge alles wieder seinen Gang. Doch niemand weiß, wohin die Toten gehen. Niemand weiß, ob die Todesgöttinnen den Seelen die Hände reichen und sie durch das flammende Tor führen, um im Jenseits mit ihnen zu speisen, zu singen und zu tanzen.

Sie sagen, dass die Sonne von Wajun, das göttliche Herrscherpaar, gesegnet ist und unfehlbar. Stirbt ein Teil der Sonne, so macht der Verbliebene Platz für eine neue Sonne von Wajun. Doch seit Großkönig Tizarun heimtückisch von einem Meuchelmörder, einem Wüstendämon aus dem Nachbarland Kanchar, ermordet wurde, weigert sich Großkönigin Tenira, den Thron für das nächste Herrscherpaar freizumachen. Mit ihrem Sohn Sadi, geboren in der Nacht, als sein Vater starb, hat sie sich zur neuen Sonne erklärt und regiert mit fester Hand Le-Wajun.

Sie sagen, Tenira sei eine Lichtgeborene, die Nachfahrin aus einer Verbindung zwischen Mensch und Gott, eine Fee. Sie sagen, Tenira sei zweifach unfehlbar – Nachfahrin der Götter und als Sonne selbst zur Göttin geworden. Und unbarmherzig wie eine Göttin geht sie ihren Weg. Der Königsfamilie von Anta’jarim, aus dessen Mitte der Auftrag für den Königsmord erging, bot sie Gastfreundschaft. Und ließ sie dann alle – jung wie alt – im Schlaf verbrennen. Rot glühte der Himmel über Wajun in jener Nacht, und Asche färbte den Schnee schwarz. Sie sagen, niemand ist dem Meer aus Flammen entkommen.

Sie sagen, ein Gärtner des Königshofes fand am nächsten Morgen ein junges Mädchen im Schnee, ihr Herz war kaum noch zu hören. Er brachte sie heim zu seiner Frau, beide kümmerten sich rührend um das Kind, das weder seinen Namen wusste noch was ihm geschahen war. Und so nannten sie es Jinan. Doch Kinder ohne Vergangenheit leben gefährlich in Le-Wajun, und so schickte der Gärtner Jinan mit seinem Schwager in die Kolonie nach Daja, weit fort von rachsüchtigen Großköniginnen. Doch Jinan war immer noch krank, sie sprach nicht, sie träumte Träume aus Feuer, und so wollte der Schwager sie bald loswerden und verkaufte das Mädchen an Laimoc, einen Pferdezüchter in der Kolonie. Einst war Laimoc einer der Edlen Acht, ein Gefährte Tizaruns. Für ein Verbrechen, das er nicht begangen hatte, wurde er vor vielen Jahren ins Exil geschickt.

Niemand spricht darüber, was damals in Trica geschah. Damals, während des großen Krieges zwischen Le-Wajun und dem Kaiserreich Kanchar. Sie sagen, es sei besser vergessen. Doch ein junger Mann mit dunklen Augen so tief wie Brunnen kann nicht vergessen. Karim, Ziehsohn des Königs von Daja, Feuerreiter, Wüstendämon, Bastard, geboren aus Verbrechen, gezeugt in Gewalt, Königsmörder, Vatermörder.

Sie sagen, am Grund des tiefsten Brunnens wartet eine andere Welt auf dich, und wenn du springst, bist du zu Hause. Sie sagen, am Grund des tiefsten Brunnens findest du, was du am meisten liebst. Fürst Wihaji, Vetter des Großkönigs und Tizaruns bester Freund, hat alles verloren, was er je liebte. Unwissentlich überreichte er den vergifteten Met und tötete damit seinen Freund und König. Seinen Knappe Karim, den er wie einen Ziehsohn in seinem Haus willkommen hieß, verlor er durch dessen Verrat. Und seine Geliebte Linua, die sanfte Frau, die er heiraten wollte, fristet ein Leben auf Burg Katall, der Festung für Schwerverbrecher. Seine einstigen Gefährten, die Edlen Acht, sind nicht länger eine Gemeinschaft: Tizarun tot, Laimoc verbannt, Kir’yan-doh verschollen. Quinoc und Kann-bai auf der einen Seite im Kampf für Tenira, Sidon und Lan’hai-yia auf der anderen in Rebellion. Und so sucht und findet Fürst Wihaji sein Schicksal am Grund eines Brunnens. Dies war Teniras Wunsch und nicht der seine.

»Die Lichtgeborenen kennen die Türen«, hatte sie zu ihm gesagt. »Sie sind die Kinder der Götter und fremd in dieser Welt, doch sie kennen die Türen zwischen dem Hier und dem Dort. Ich schicke dich ins Drüben, Wihaji, nach Kato. Du sollst Tizarun für mich suchen. Geh zu den Göttern und frag, ob sie ihn haben. Geh ihn suchen und bring mir seine Seele zurück.«

Sie sagen, eiskalte Furcht ergriff Wihaji bei Teniras Worten. Kato. Drüben. Die Stadt der Feen. Das Höllenmeer. All die Schrecken eines Weges, der nicht zu den Göttern führte, sondern von ihnen fort. Sie sagen, dass die toten Seelen, die nicht zu den Göttern gelangen, im Höllenmeer wohnen. Ihre Zahl ist größer als die Zahl der Sterne. Dort im schwarzen Wasser tanzen sie ihren ewigen Tanz in Dunkelheit und Kälte, ein Spielball der ungeheuerlichen Wellen, und wenn ein Schiff vorbeikommt, krallen sie sich in die Planken und lassen sich in den Hafen mitziehen. Nach Kato. Die verlorenen Seelen streben nach Kato, denn sie glauben, dort Frieden zu finden. Doch es gibt keinen Frieden in Kato. »Dann muss ich sterben«, antworte Fürst Wihaji. »Dann schickst du mich ihm nach.« Und Wihaji sprang in den Brunnen und fiel durch die Tür.

Und noch eine andere Tür öffnete sich. Linua stieß die Tür, hinter der sie all ihren Schmerz und ihr Leid aus den Jahren der Gefangenschaft versteckt hatte, weit auf. Und dahinter fand sie ein Lied von Tausend Sternen. Sie fand Kraft und führte die Gefangenen von Burg Katall in eine Rebellion. Und während Linua drinnen den Kampf aufnahm, in der Hoffnung, ihren Geliebten Fürsten draußen zu finden, kämpften die Rebellen um Lan’hai-yia vor den Toren. Auf der Suche nach Fürst Wihaji war Burg Katall ihre letzte Hoffnung. Doch Hoffnungen zerreißen ebenso leicht wie die seidenen Fäden des Schicksals, welche die Götter weben. Und so flohen die letzten Rebellen in die Kolonie. Linua folgte ihnen.

Doch auch in der Kolonie auf Laimocs Hof öffnete sich eine Tür und entließ einen Schrei: Ich bin nicht Jinan! Und irgendwo hielt Mernat, der Gott der schicksalhaften Verknüpfungen, der Fadenspinner, inne. Und während der Augenblick sich dehnte, während die Webstühle des Schicksals innehielten, die Fäden sich verstrickten, rissen, neu geknüpft wurden, träumte eine Prinzessin von einem jungen Mann mit dunklen Augen so tief wie Brunnen. Sie träumte von zärtlichen Stunden, doch nachdem der Junge wieder gegangen war, wandelten sich die Träume. Nun träumte sie von Schmerz und Gewalt und einem lüsternen Herrn voll Wut. Und nachdem die Nacht vorbei war, versank Jinan für immer in Vergessenheit und Prinzessin Anyana von Anta’jarim erwachte mit neuer Macht. Voll Wut über das, was ihr angetan worden war, griff sie nach einem Messer und erstach ihren Peiniger Laimoc. Doch der Albtraum hatte gerade erst begonnen.

Sie sagen, Träume erzählen Geschichten, sie spinnen die Dinge in ein Muster, sie weben die Fäden.

Sie sagen, spring ins Wasser, und du wirst finden, was du dir wünschst.

Dajanisches Kinderlied

Schau, wer kommt,

Schau, wer geht.

Halt nicht still,

Sonst ist’s zu spät.

Einer träumt, einer spricht.

Einer sucht, einer zerbricht.

Einer kämpft falsch

Im rechten Augenblick,

Und einer geht durchs Tor

Und kommt zurück.

Halt nicht still,

Sonst ist’s zu spät.

Schau, wer kommt,

Schau, wer geht.

TEIL IDAS LIED DER WÜSTE

1. Staubwolke

Das Licht färbte die Steppe rot. Während die Sonne hinter die Bäume sank, die ihre dürren Zweige zu einem dornigen Wall verflochten, schien der Himmel zu brennen. Die verdorrten Gräser glühten, und Linua war von der Schönheit des Landstrichs, den sie und ihre Freunde durchquerten, überwältigt. Beinahe hätte sie vergessen können, dass sie sich auf der Flucht befanden.

Fast ihr gesamtes Leben lang hatte Linua in der dajanischen Wüste verbracht, in der geheimen Stadt Jerichar, deren Standort nur die Eingeweihten kannten, und das Lied dieses Landes war ihr vertraut. Die Stürme und der Gesang der Vögel, das Innehalten der Zikaden, der Rhythmus, den die Pferdehufe der Erde diktierten, und die Stille, die eintrat, bevor die Nacht mit ihrem Flüstern kam, mit dem Tappen samtiger Raubtierpfoten, dem Rascheln des Grases, wenn die kleinen Tiere aus ihren Löchern kamen, dem Rauschen dunkler Schwingen. Doch die Jahre in der Gefangenschaft hatten ihr feines Gehör für die Töne der Wildnis gestört. Sie hatte zu viele Schmerzen erlitten und die Qualen in einen Winkel ihres Geistes gesperrt, eine Fähigkeit, die jeder ausgebildete Wüstendämon beherrschte. Es war Linua bewusst, dass sie dabei eine Grenze überschritten hatte. Es war zu viel Schmerz gewesen, und er wohnte immer noch in ihr und dämpfte ihre Sinne. Früher hätte sie sofort gewusst, was die Verfärbung am Horizont zu bedeuten hatte. Im Norden ballten sich graue Wolken zusammen. Linua kniff die Augen zusammen, aber es war nicht zu erkennen, ob Regen nahte oder ein Staubsturm. Es mochte auch eine Reiterschar sein.

»Wir sollten unser Nachtlager aufschlagen«, sagte sie zu ihren Gefährten.

So eben die Steppe auch aussah, es war mörderisch, bei Nacht zu reiten und zu riskieren, dass die Pferde sich die Beine brachen. Nur wer die Wege kannte, die für das wissende Auge genau abgesteckt waren, konnte es wagen, die Dunkelheit zu ignorieren und den Sternen zu vertrauen. Der Gürtel der Tausend Monde würde schon bald sein mattes weißes Licht über das trockene Gras werfen, doch um die Löcher zu erkennen, die von Steppenhunden und Füchsen gegraben wurden, genügte das nicht. Der kleinste Fehler konnte verheerend enden.

»Wir sind noch nicht weit genug gekommen«, sagte Prinz Laikan. »Sie können uns einholen, und hier gibt es weit und breit keine Deckung. In das Dornengestrüpp krieche ich erst, wenn Teniras Armee anrückt.«

Von ihren drei Begleitern war der attraktive schwarzhaarige Prinz aus dem fernen Sultanat Nehess ihr am fremdesten geblieben, obwohl sein Motiv, sich am Aufstand gegen die mörderische Großkönigin zu beteiligen, ihr am einleuchtendsten schien. Seine Schwester war im Feuer gestorben, dem die ganze königliche Familie von Anta’jarim auf Teniras Befehl zum Opfer gefallen war, und deshalb hatte er die besten Jahre seines Lebens damit verbracht, gegen Tenira zu kämpfen. Rache war etwas, das Linua aufgrund ihrer Ausbildung zur Assassine sehr gut verstand.

»Karim und Selas werden bald zurückkommen, dann entscheiden wir, welcher Weg am sichersten ist. Wir müssen uns darauf verlassen, dass sie uns hier finden.« Lan’hai-yia, die Unerschrockene, die Unermüdliche, klang erschöpft.

Linua bewunderte die Gräfin von Guna zutiefst, und nicht nur, weil sie ihre Befreiung aus der Kerkerburg Katall den Rebellen verdankte. Die Frau an der Spitze der gescheiterten Rebellion gegen die unrechtmäßige Großkönigin von Le-Wajun war eine wirkliche Überraschung. Tapfer und stolz auf der einen Seite, doch auch freundlich und ohne Überheblichkeit auf der anderen – die Freundschaft, die Gräfin Lani ihr schenkte, war ohne Falsch.

Linua sprang vom Pferd und überprüfte rasch den Boden, solange das Licht noch ausreichte. Schlangen und Skorpione besetzten häufig verlassene Fuchsgruben oder die Tunnel der Steppenhunde, und auch wenn sie sich nach den Jahren in Le-Wajun noch nicht wieder heimisch fühlte, hatte sie die wichtigsten Regeln nicht vergessen.

»Alles sicher. Wir können hier rasten. Wer übernimmt die erste Wache?«

Herzog Sidon, der Vierte im Bunde, lachte leise. »Manchmal vergesse ich fast, dass du Kancharerin bist. Du kennst dich hier aus, wie man sieht. Wonach hast du eben gesucht?«

»Das wollt Ihr nicht wissen«, sagte Linua vielleicht ein wenig zu schroff. Der Herzog hatte etwas an sich, das sie nervös machte – vielleicht lag es an seinen eisblauen Augen, an dem durchdringenden Blick, der ihr das Gefühl gab, dass er sie durchschaute, möglicherweise auch an seiner Neigung, unpassende Fragen zu stellen und über Dinge zu lachen, die Ernst verlangten. Manchmal meinte sie, einen Schatten an ihm zu sehen, eine Dunkelheit, die über seinem Herzen lag.

»Du musst mich nicht schonen, Mädchen. Ich habe schon so einiges gesehen.« Er goss das mitgebrachte Wasser aus dem Schlauch in den verbeulten Kochtopf und gab seinem Pferd zu trinken. »Schlangen? Käfer?«

»Das auch. Und Füchse. Und Skorpione«, sagte Linua. »Und glaubt mir, auch wenn Steppenhunde niedlich anzusehen sind, Ihr möchtet Euch nicht auf ihren Bau setzen.«

»Im südlichen Lhe’tah gibt es ebenfalls Skorpione.«

»Aber nicht solche. Wenn diese Euch stechen, dürft Ihr miterleben, wie Euer Fleisch sich zersetzt, während Eure Haut unbeschadet bleibt.«

»Oh«, sagte Sidon.

Laikan streckte sich und betrachtete misstrauisch die Dornen, die im letzten Schein der untergehenden Sonne glühten. Gleich darauf nahm das Licht einen fahlen, gelblichen Ton an. Die Wolken im Norden waren dunkler geworden, aber der Wind roch zu Linuas Bedauern nicht nach Regen.

Während Sidon die Pferde versorgte, breitete Lani die Decken aus, ohne sich um ihren Rang und ihre Würde zu scheren, ganz die Soldatin. Nein, sie war nichts mehr von allem, was sie je gewesen war, weder eine Rebellin noch eine Farmerin und auch keine gunaische Prinzessin. Laikan wühlte in den Vorräten, die ihnen die Frau ihres Gastgebers aufgedrängt hatte, bevor sie sie zur Flucht angehalten hatte. Linua war der Überzeugung, dass Estil sie keinen Augenblick länger auf der Farm geduldet hätte. Ihr Leben war ihr wichtiger gewesen als das hohe Kopfgeld, das auf die flüchtigen Rebellen ausgesetzt war.

Linua beteiligte sich nicht am Aufbau des Lagers. Stumm schritt sie in einem Kreis um die anderen herum, beobachtete das Gras und bückte sich gelegentlich, um die Erde zu prüfen. Der kühle Wind wehte die gnadenlose Hitze des Tages in alle Richtungen davon.

Sie horchte in die aufkommende Nacht. Es wurde immer schwieriger, den Klängen der Wildnis zu lauschen, während das Lied in ihrem Inneren mehr und mehr lockte. Zum ersten Mal hatte sie es während ihrer Gefangenschaft vernommen, wild und süß, unwirklich, geradezu überirdisch. Ein Geheimnis, das in ihr ruhte, ein Rätsel, das es zu entschlüsseln galt. Doch jetzt hatte sie keine Zeit, sich damit zu beschäftigen. Sie wusste, der eigentliche Ruf, dem sie folgen musste, war der Ruf ihres Meisters Joaku. Seine Assassinenschule war nicht weit von hier entfernt; schon bald würde sie eine Entscheidung treffen müssen.

Doch wie hätte sie Joaku erklären können, was passiert war, während es ihr selbst schwerfiel, zu begreifen, wie sie hier gelandet war? Ihr Auftrag hatte gelautet, Tizarun, den Großkönig von Le-Wajun, zu töten, falls Karim dabei versagte. Karim, ihr Mitschüler, ihr Konkurrent. Wüstengeschwister nannten sich die Assassinen, und ihre Rivalität war ebenso unerbittlich wie unter echten Geschwistern. Es hatte ihn immens gestört, dass sie die Geliebte von Fürst Wihaji geworden war, dem Vetter und Berater und besten Freund des Großkönigs, während Karim sich als sein Knappe verdungen hatte. Karim hatte seinen Auftrag erfüllt und Tizarun vergiftet, doch sonst war alles schiefgelaufen, was nur schieflaufen konnte. Linua hatte sich in Wihaji verliebt und war nicht rechtzeitig geflohen, obwohl sie ahnte, dass der Fürst zum Schuldigen in dem Mordfall erklärt werden würde; nur aus diesem Grund war sie als Gefangene auf Burg Katall gelandet. Von dort aus hatte sie die Geschehnisse mitverfolgt, ohne eingreifen zu können. Wie Tenira die Königsfamilie von Anta’jarim ausgelöscht und Wihaji zum Tod verurteilt hatte. Wie sich der Widerstand formte und ein jahrelanger Bürgerkrieg ausbrach. Wie die Rebellen letztendlich zerschlagen wurden. Nun war sie mit den in ganz Le-Wajun gesuchten Rädelsführern der Rebellion unterwegs, und obwohl ihre Loyalität ihrem Meister gehörte – gehören musste – war sie noch nicht bereit, Lani und die anderen zu verlassen.

Sie schuldete ihnen etwas, mehr noch, sie betrachtete sie mittlerweile als Freunde. Erst wenn sie in Sicherheit waren, konnte Linua gehen.

Immer wieder wanderte ihr Blick zum Horizont. In der Steppe konnte man sich leicht in Bezug auf die Entfernungen täuschen. Falls es Reiter waren, die den Staub aufwirbelten, würden sie in gut einer Stunde hier sein können.

»Wir sollten etwas essen«, sagte sie. »Aber kein Feuer machen. Ich fürchte, wir bekommen Besuch.«

»Die Mücken werden uns auffressen«, murrte der Herzog.

»Diese Art Besuch meine ich nicht.«

Die Nacht war schnell hereingebrochen. Die Wolken im Norden wurden dichter, schluckten das Licht der Monde und krochen über die Sterne. Zum ersten Mal kam ihr der Verdacht, dass es sich um eine magische Wolke handeln könnte.

»Wir sollten uns beeilen. Haben die Pferde genug getrunken?«

»Von genug kann keine Rede sein. Wir müssen dringend Wasser finden.« Sidon blickte zu den Feldflaschen hinüber, die Laikan aus dem Gepäck gefischt hatte. »Sagtest du nicht, wir wären in der Nähe einer Quelle? Wie lange sollen wir mit der abgestandenen Brühe auskommen?«

»Heute müssen wir das leider noch«, sagte sie.

Obwohl sie weder einen militärischen Rang noch einen Adelstitel besaß, hörten die anderen auf sie und versammelten sich zu ihrer kargen Mahlzeit. Hier in Kanchar hing ihrer aller Überleben von ihr, der Kancharerin ab. Doch glücklich waren sie nicht darüber.

»Karim und Selas haben sich längst aus dem Staub gemacht«, murmelte Laikan verdrossen, während er Stücke eines Fladens verteilte, der so hart war, dass man sich daran die Zähne ausbeißen konnte. Linua beschwerte sich nicht. Je länger man hartes Brot im Mund behielt, umso mehr hatte man davon. Nach der Zeit in Katall war es eine Verschwendung für sie, Essen hinunterzuschlingen, und die Fladen schmeckten süß.

»Das sagt Ihr jedes Mal«, meinte Lani. »Und jedes Mal kommen sie zurück. Die Entfernungen sind groß in diesem Land. Ist Euch nicht klar, wie riesig Kanchar ist? Das Königreich Daja ist nur ein Teil davon.«

Die Abwesenheit ihres Wüstenbruders störte Linua keineswegs. Seit sie die Kolonie vor fünfzehn Tagen verlassen hatten, pflegte Karim des Öfteren zu verschwinden, häufig nahm er dabei seinen leiblichen Halbbruder Selas mit. Auch Karim war ein Kind der Wüste. Wenn die beiden zurückkamen, dann niemals mit leeren Händen. Sie brachten Jagdbeute, Wurzeln oder Beeren, Informationen über einen guten Rastplatz oder ein Dorf, das sie besser weit umgehen sollten. Es ärgerte sie, dass Karim vermutlich längst gewusst hätte, was es mit der Wolke auf sich hatte.

Linua kniete sich hin, legte die Hände zwischen den Grasbüscheln auf die staubige Erde und lauschte. Mit einem Ohr wachte sie, mit dem anderen verfolgte sie das Gespräch ihrer neuen Freunde.

»Karim meinte, wir sollten nicht zum Nebelhafen reiten«, sagte Sidon unvermittelt. »Doch was bleibt uns sonst? Wollen wir so lange durch Kanchar reisen, bis man uns vergessen hat? Wie viele Jahre mag das dauern? Tenira wird uns nie verzeihen.«

Laikan lachte ungläubig. »Ihr würdet ein Schiff nach Kato nehmen, Herzog? Lieber lasse ich mich bei lebendigem Leib verbrennen. Ich bin dafür, dass wir uns irgendwo hier in Daja verstecken. Wenn die Kolonie nicht in Frage kommt, dann in irgendeiner größeren Stadt, wo niemand uns kennt. Und sobald Gras über die Sache gewachsen ist, kehren wir zurück. Nicht um in Le-Wajun zu bleiben – ich will zurück in meine eigene Heimat, zurück nach Nehess. Jeder, der mit mir kommt, wird es nicht bereuen.«

»Was meinst du, Lani?«, fragte Sidon. »Kato oder Nehess?« Nur der Herzog schaffte es, eine so schlichte Frage wie ein Rätsel klingen zu lassen.

»Was denkst du, wohin würde ich besser passen?«

»Du würdest nie nach Nehess gehen«, sagte er leise, »denn dann müsstest du die Hoffnung aufgeben, Kirian jemals wiederzufinden.«

Linua hatte nicht gezählt, wie oft die beiden schon über dieses Thema gestritten hatten. Kirian, Lan’hai-yias jüngerer Bruder, war vor vielen Jahren in Kanchar verschollen, und dass sie nun als Flüchtlinge durchs Land streiften, brachte sie ihm keineswegs näher. Was sie jedoch nicht davon abhielt, auf ein Wiedersehen zu hoffen. Lani war die sturste Person, die Linua je getroffen hatte.

»Was, wie du glaubst, ohnehin unmöglich ist.« Sie klang zornig. »Natürlich glaubst du das. Und du hast recht, es ist unmöglich. Es gibt keinen einzigen Anhaltspunkt. Wie sollte ich meinen Bruder jemals finden? Ich werde zurück nach Guna gehen.«

»Das«, sagte Laikan, »hättet Ihr Euch vielleicht vorher überlegen sollen, bevor Ihr gegen die allmächtige Großkönigin …«

»Still«, zischte Linua, und alle drei hoben gleichzeitig die Köpfe. »Sie kommen.«

Nun gab es anderes zu bedenken als alte Fehler.

»Fliehen oder kämpfen?«, fragte Laikan, doch Sidon sprang auf und fragte: »Wie viele?«

»Es kann niemand sein, der uns seit der Kolonie verfolgt«, sagte Linua. »Diese Reiter kommen von Norden. Sie reiten im Schutz der Staubwolken. Ich würde sagen, es sind zwanzig, vielleicht dreißig, und sie kennen sich hier aus. Das sind keine Händler, sondern Banditen oder Söldner.«

»Sind sie hinter uns her oder kommen sie nur zufällig vorbei?«, fragte die Gräfin rasch. »Dann sollten wir uns lieber schnell verstecken.« Sie wies auf das Dornendickicht hinter ihnen.

Linua konnte das Vibrieren der Erde unter den Hufen der Pferde deuten, doch sie kannte nicht die Gedanken der Reiter. »Gegen zwanzig Männer können wir nicht kämpfen. Wir reiten nach Osten.« Besser, eins der Pferde stürzte und einer von ihnen brach sich das Genick, als dass sie alle in die Hände von Räubern gerieten.

»Die Pferde sind zu müde«, widersprach Sidon. »Wir haben ihnen heute bereits einen Gewaltritt zugemutet.« Er griff nach seinem Bogen und zählte die Pfeile. »Wir bleiben und erwarten sie.«

Linua hielt das für einen Fehler, aber nicht sie hatte hier das Sagen, und die Gräfin hörte nicht auf sie, sondern auf ihren Vetter. »Also gut«, sagte Lani. »Wir treiben die Pferde bis zum Busch zurück, verbergen uns, so gut es geht, und machen uns bereit. Vielleicht sind es ja doch keine Banditen.«

Mit den Dornen im Rücken saß man in der Falle. Doch Linua biss sich auf die Zunge, um nicht weitere Einwände zu erheben. Sie half den anderen, die unwilligen Tiere anzubinden, und suchte sich einen Platz unter einem krummen Baum, der kaum größer war als sie und einen tiefschwarzen Schatten warf. Noch schienen die Monde auf sie herunter, noch hatte die Wolke sie nicht erreicht.

Sie warteten. Erschreckend schnell kamen die Reiter näher und mit ihnen die Erschütterungen, die durch die Erde wanderten, dann das Dröhnen der Hufe und schließlich leise Rufe, die in der Stille der Nacht weit hallten. Unvermittelt verschwand der Mondgürtel und das Sternenlicht erlosch. Alles wurde schwarz. Hastig zog sich Linua ihren Umhang vor Mund und Nase, denn auch der Wind frischte plötzlich auf. Staub wehte ihr ins Gesicht, legte sich überallhin, drang in jede Ritze ein, erschwerte das Atmen. Es war keiner der berüchtigten Sandstürme, der sie mit sich fortgerissen hätte, nur eine Staubwolke, hervorgerufen durch die Reiter auf ihren schweren Pferden. Im Krieg pflegten kancharische Truppen ihre Zahl durch solche verzauberten Wolken zu verbergen; der Staub war nicht magisch, doch die Art, wie er sich verdichtete und die Reiter begleitete, war es durchaus.

Sie ritten auf Eisenpferden, die ungewöhnlich leise waren. Das erreichte man nur, indem man jedes Scharnier einölte, jede Platte sorgsam schmirgelte und mit Tuch bedeckte. Linua konnte die Tiere und ihre Reiter, die sich ebenfalls in Tücher gehüllt hatten, nur erkennen, weil sie so dicht an ihnen vorbeiritten, dass man die Hand nach ihnen hätte ausstrecken können. Die Männer trugen die dajanischen Berlasgewänder, die nur die Augen freiließen und so fein gewebt waren, dass sie keinen Staub durchließen. In den unförmigen Paketen, die auf die Eisenrösser geschnallt waren, verbargen sich Schwerter, Speere und Armbrüste, darauf hätte Linua ihr Leben verwettet. Das waren keine einfachen Banditen, sondern Söldner – unterwegs in die Kolonie oder an die Grenze?

Vielleicht hätten die Reiter die vier Flüchtlinge nicht wahrgenommen und wären an ihnen vorbeigeritten, ohne sie zu beachten, doch dann erblickte Linua einen Mann auf einem Eisenpferd, der anders aussah. Nur ein Tuch schützte Mund und Nase vor dem aufgewirbelten Staub, sein Haar war hell, und sie erkannte ihn an der Kleidung. Die Hände waren vor ihm an den Sattel des Eisenpferdes gefesselt.

»Selas«, flüsterte Lan’hai-yia, und im nächsten Moment ließ Sidon seinen Pfeil fliegen. Offenbar hatten auch ihre Begleiter den Gefangenen erkannt.

Im ersten Moment des Schreckens dachte Linua, dass der Herzog den Gefährten einfach erschießen wollte, um ihm ein Schicksal als Sklave zu ersparen. Doch der Pfeil bohrte sich in die Brust eines Söldners, jemand schrie etwas, und schon warf der nächste Pfeil einen Reiter aus dem Sattel. Im Chaos, das nun losbrach, erledigte Sidon vier weitere Feinde, dann hatten die Söldner erkannt, von wo sie angegriffen wurden, zogen ihre Waffen und stürmten auf das Dornendickicht zu.

Es gab kein Entkommen. Linua sah sich einem Söldner gegenüber, der sein Eisenpferd direkt auf sie zulenkte, und rettete sich mit einem Sprung zur Seite. Doch statt zu fliehen, wie er wohl erwartet hatte, schnellte sie herum und sprang hinter ihm in den Sattel. Sie bohrte den Dolch durch Stoff und Leder, bevor er merkte, was geschah, und warf ihn zu Boden. Das ging zu leicht; dieser Mann mochte alles Mögliche gewesen sein, jedoch kein ausgebildeter Soldat. Das Pferd erbebte, als sie ihm die Hände auf den Hals legte und leise murmelnd ihren Willen in seinen versenkte. Es war, als würde sie ihre Hand in kaltes Wasser tauchen. Seit vielen Jahren hatte sie das nicht mehr gemacht, aber das verlernte man ebenso wenig wie das Reiten echter Pferde. Kurz fühlte es sich seltsam an, es war, als würde ihr Geist an etwas Fremdes rühren, das sich widerspenstig gab. Einen Moment lang schien der fremde Wille zu zappeln und sich zu sträuben, doch es gab keinen echten Kampf. Das Eisenpferd fügte sich rasch, der Anflug von Kälte, den Linua gespürt hatte, verflog.

Schnell schaute sie sich um und suchte in dem Staub nach ihren Mitstreitern, aber er war so dicht und die Nacht schwarz wie Tinte, dass kaum etwas zu erkennen war. Selbst die Geräusche waren gedämpft. Rufe wurden von der Wolke verschluckt, Eisenpferde tauchten aus dem Dunkel auf und verschwanden wieder, doch da, vor ihr, war etwas Helles wie ein Schein – der blonde Selas. Linua trieb das Pferd an, und wie durch ein Wunder hielt niemand sie auf, während um sie herum gekämpft wurde. Zu ihrer Linken erschien Prinz Laikan als schwarzer Umriss im Dunst; er kämpfte gegen einen Kancharer. Zu ihrer Rechten huschte Sidon gerade zwischen zwei großen Schatten hindurch, die zwei Eisenpferden gehören mochten. Doch sie durfte sich nicht ablenken lassen. Linua lenkte ihr Pferd neben das Ross, auf dem der Gefangene saß, und riss ihm das Tuch vom Gesicht. Er trug einen Knebel darunter. Während sie ihn löste, spürte sie die Unruhe des jungen Mannes, und kaum konnte er sprechen, zischte er: »Flieht, ihr Dummköpfe! Flieht, sie wollen euch an Tenira verkaufen!«

»Es sind keine Söldner?«, fragte sie.

»Nur Banditen, aber sie suchen die ganze Steppe nach euch ab, sie wollen euch lebend, und ich war der Köder. Flieht doch endlich!«

Er reichte ihr seine Hände, damit sie die Fesseln lockerte. Doch von einem Augenblick auf den nächsten löste sich die magische Staubwolke auf. Die Luft war wieder klar, eine Wohltat für ihre geschundenen Lungen. Die Tausend Monde spannten einen Bogen von einem Ende der Steppe zum anderen, und unzählige Sterne blitzten auf. Linua atmete tief durch, doch ihre Erleichterung schwand schnell, als sie eine laute Stimme rufen hörte: »Wir haben eure Anführerin. Legt die Waffen nieder.«

»Verschwindet!«, rief Lan’hai-yia. »Sie wollen mich lebend, sie werden nicht …« Ihre Stimme ging in einem schmerzerfüllten Keuchen unter, als der Mann, der sie zu sich aufs Pferd gezogen hatte, ihr eine Klinge an die Kehle hielt.

Linua hatte nur einen Augenblick, um eine Entscheidung zu treffen. Nach dem, was Selas eben berichtet hatte, war Lanis Leben tatsächlich sicher – die Belohnung, auf die die Banditen hofften, würden sie nur bekommen, wenn sie die flüchtigen Rebellen lebend übergaben. Doch die Freunde waren so verdammt edelmütig. Sidon ließ den Bogen fallen, hielt die Hände in die Höhe, und einer der Kancharer trieb Prinz Laikan vor sich her.

Linua war ihnen allen für ihre Rettung aus dem Kerker zu Dank verpflichtet, aber sie zögerte nicht und traf ihre Wahl. Sie ließ Selas los, presste ihre Schenkel gegen den metallischen Leib des Eisenpferdes und preschte davon.

Eisenpferde stolperten nicht so schnell wie echte Pferde. Der Wille ihres Meisters hielt sie aufrecht, ließ sie im Galopp dahinfliegen, über sich der funkelnde Nachthimmel, mit zehntausend Diamantsplittern bestreut, genug Licht, um zu entkommen. Als hätte es sich nach Bewegung gesehnt, streckte sich das eiserne Ross, flog nur so dahin, trotz seines Gewichts leichtfüßig wie eine Steppengazelle. Es wäre stundenlang so gelaufen, ohne je müde zu werden, doch irgendwann überkam Linua die bittere Erkenntnis, dass sie nicht bis ans Ende der Welt reiten konnte. Sie konnte nicht frei sein, bevor sie ihre Freunde aus den Händen der Banditen befreit hatte. So schwierig es sich auch gestalten mochte. Bis zur Grenze nach Le-Wajun, wo die Banditen die Rebellen gegen das Kopfgeld tauschen konnten, war es weit. Das gab ihr ausreichend Zeit, um einen nach dem anderen zu retten. Sie musste das tun, oder sie würde nie wieder das Mädchen sein, das sie sein wollte, das sie in Erinnerung an Wihaji, ihren Geliebten, sein musste. An ihn, den stolzen dunklen Fürsten, der so ernst und streng und pflichtbewusst gewesen war, bis sie gemeinsam das Lachen entdeckt hatten. Bis sie gemeinsam zu leben begonnen hatten. Verwandelt, beide. So war aus der Wüstendämonin Linua ein Mädchen geworden, eine Frau mit einem großen Herzen, eine Linua, die lachen und weinen und lieben konnte.

Sie musste darum kämpfen, diesen neuen Teil von sich nicht wieder zu verlieren, sie musste kämpfen wie eine Wüstendämonin, so widersprüchlich es sich auch anhörte, um mehr zu sein als eine gehorsame Mörderin. Aber vorher musste sie den Schmerz in ihrem Inneren loslassen. Nur weil sie nicht ganz sie selbst gewesen war, hatten die Banditen sich Lan’hai-yia als Geisel nehmen können. Was konnte eine ganze Schar von Räubern gegen einen Wüstendämon ausrichten, der sie des Nachts heimsuchte? Nichts.

Bevor sie ihren Freunden helfen konnte, musste sie sich ihrem inneren Gegner stellen – dem Schmerz, den sie auf Burg Katall gesammelt hatte und der sie immer noch hemmte. Und zugleich musste sie sich den beunruhigenden Wahrheiten in ihrer Seele zuwenden. Sie musste das Lied, das in ihrer Seele wohnte, anhören, ganz gleich, wie sehr sie sich davor fürchtete. Andernfalls würde sie nie wieder den Zugriff zu ihren Fähigkeiten finden.

Mit einem wütenden Seufzer brachte sie das Pferd zum Stehen. Es bebte vor Kraft und wildem Mut, dennoch gehorchte es sofort. Rauch stieg aus seinen Nüstern, es stampfte einmal mit den eisernen Hufen auf, der metallene Schweif, der in einer Kugel mit tödlichen Spitzen endete, zischte durch die Luft. In der Nähe dieser Kreatur musste Linua sich weder um Schlangen noch um Skorpione Sorgen machen; als unermüdliche Wache würde es neben ihr stehen und zertrampeln, was auch immer ihr zu nahe kam. Es würde sich nicht von der Stelle rühren, aber auf alle Gefahren reagieren, die ihr drohten. Solange sie mit sich selbst beschäftigt war, würde weiterhin ein kleiner Teil ihres Willens auf das Pferd einwirken – eine Fertigkeit, die sehr schwer zu erlernen war und die nicht einmal alle Wüstendämonen beherrschten. Aber nicht umsonst gehörte sie zu den Besten.

Linua hatte diese magischen Geschöpfe stets mit Unbehagen betrachtet, und sie empfand Mitleid für sie, denn sie wusste, wie sie hergestellt wurden, aber in dieser Nacht war sie dankbar für die Gesellschaft der fremdartigen Kreatur. Ohne Decke und ohne Schutz legte sie sich auf die nackte Erde, während das Pferd über ihr stand, ein Schatten mit spitzen Ohren und glühenden Augen.

»Weck mich bei Gefahr«, sagte sie, und das Pferd zischte leise.

Linua schloss die Augen und suchte nach der Tür in ihrer Seele. Dort, wo der Schmerz wohnte. Dort, wo das Lied lockte.

Sie musste den Schmerz herauslassen, immer ein klein wenig auf einmal, damit er sie nicht mit seiner Macht vernichtete. Sobald er fort war – wenn sie diese Nacht überlebte –, würde sie sehen können, was dahinter war. Dann würde sie erkennen, wer oder was sie war. Eine Fee, mit Götterblut in den Adern? Das hatte jedenfalls ihre Mitgefangene Usita auf Burg Katall geglaubt. Usita hatte sie kämpfen sehen, wie kein Mensch kämpfen konnte, sie war so weit gesprungen, als könnte sie fliegen. Linua hatte das nicht einmal gemerkt. Zuerst war es ihr völlig abwegig erschienen, dass sie ein Götterkind sein könnte. Erfüllten Feen nicht die Wünsche der Menschen? Linua war eine Wüstendämonin, eine Assassine, und ganz gewiss nicht dazu geeignet, Wünsche zu erfüllen.

Doch dann hatte sie daran gedacht, wie sie in Wihajis Nähe zu der Art von Frau geworden war, die er sich gewünscht hatte. Die er gebraucht hatte. Und ihretwegen war Burg Katall gefallen und alle Gefangenen waren freigekommen.

Vielleicht war sie ja wirklich eine Lichtgeborene.

Ihr wurde bewusst, dass sie, wenn sie nicht die harte Ausbildung der Wüstendämonen durchgemacht hätte, niemals gelernt hätte, so undurchdringliche Mauern um ihr Selbst zu errichten. Diese geheime Nische in ihrem Geist hätte es gar nicht gegeben, und sie hätte längst entdeckt, was sich am Grund ihrer Seele verbarg. Man hatte sie beraubt. Groll stieg in ihr auf und trieb ihr die Tränen in die Augen. Hat Meister Joaku mir das genommen, was ich bin? Schließlich hatte er ihr beigebracht, alles, was kostbar an ihr war, ins Dunkle zu verbannen. Er musste gewusst haben, dass sie sich dadurch den Blick auf das größte Geheimnis verstellte.

Und hätte sie nicht die Qualen der Folter verdrängt, um zu überleben, sie hätte die Tür zu ihrer Seele nie weit genug geöffnet, um das Lied zu hören. Dieses Lied, das nun durch die Tür quoll, so fest sie sie auch schließen mochte.

Das Eisenpferd knarrte leise, während es sein Gewicht auf ein anderes Bein verlagerte.

Sie musste tiefer in sich hineingehen, bis sie nichts anderes mehr spürte als sich selbst. Schaudernd tastete sie nach der Tür und öffnete sie einen Spalt. Dort wartete der Schmerz, eine geballte Masse, fähig, sie zu zerschmettern. Der Schmerz von Kampf und Folter, von Wunden, die tödlich hätten sein sollen.

Wenn ich eine Lichtgeborene wäre, dachte Linua, könnte ich diesen riesigen Brocken auffangen, sobald er aus der Tür herausfliegt, ihn festhalten und verhindern, dass er mich zerschmettert. Wie weit geht das, was eine Fee vermag? Immerhin sind sie die Kinder der Götter. Aber wenn ich die Tür öffne und meine Freundin Usita sich getäuscht hat und mir nur etwas eingeredet hat und ich ein ganz normaler Mensch bin – soweit ein Wüstendämon das überhaupt noch ist –, werde ich sterben.

Gefasst überlegte sie, ob sie ihren Tod in Kauf nehmen sollte. Sie hatte keine Angst davor zu sterben. Wenn dort in ihrem Inneren nichts anderes war als die Dunkelheit, wenn sie wirklich nichts anderes war als eine ausgebildete Mörderin – wozu sollte sie weiterleben? Sie hatte Wihaji verloren. Sie hatte das Mädchen, das seine Geliebte gewesen war, vernichtet, dieses Mädchen, das sich von seinem Herzen hatte finden lassen und verzweifelt versucht hatte, ein freundlicher, gefühlvoller Mensch zu bleiben.

Es gab keinen Ort, an den sie gehen konnte. Zurück zu Joaku, in die Stadt der Assassinen, wo er sie für ihr Scheitern bestrafen und ihr einen neuen Auftrag geben würde? Das wäre wie eine Rückkehr zu einer Person, die sie nicht mehr war. Zu den Göttern schien es nicht ganz so weit zu sein. Nur einen Schritt weit, dort hindurch, durch das flammende Tor der Schmerzen …

Was geschieht mit uns, wenn wir sterben?, wollte sie die Götter fragen, die ihr noch nie geantwortet hatten. Wir werden nicht durchs flammende Tor gehen, an den Händen der dunklen Schwestern Kelta und Kalini, sondern stranden. In Kato, wenn man all den Gerüchten Glauben schenken mag.

Und wenn sie in Kato anlangte, was dann? Würde Wihaji dort auf sie warten? Wir haben gekämpft und Menschen getötet, du und ich …

Wüstendämonen gingen nicht zu den Göttern, wenn sie starben. Sie warfen sich Kelta in die Arme und wurden verschlungen, aber niemals kamen sie dort an, wo all die anderen waren, die Glücklichen, die Gutes getan und den Willen der Götter befolgt hatten, deren Leben wie Frühling und Sommer gewesen war und die in ihrer Kindheit gespielt hatten, statt pflichteifrige Schüler von Dieben und Mördern zu sein.

Vielleicht hätte das flammende Tor jenes Mädchen hindurchgelassen, das Wihajis Geliebte gewesen war, dieses sanfte Mädchen mit dem großen Herzen. Aber nicht sie, Linua, die der Aufseherin eine Nadel in den Hals gestochen hatte, ohne Bedauern zu fühlen, die Stiryan den Flammen überlassen hatte, statt ihm zu vergeben.

»Kalini, sei mir gnädig«, flüsterte sie voller Bedauern, denn nie war ihr so klar gewesen wie in diesem Augenblick, dass dort drüben niemand auf sie wartete und die Arme nach ihr ausstreckte, um sie in Empfang zu nehmen. Bis zu diesem Augenblick war ihr nicht bewusst gewesen, wie sehr sie an die Götter glaubte, an alle. Es war nicht Kalini, die dunkle Göttin des Todes, nach deren Kuss sie sich sehnte. Es war Temmes, der Gott der Lieder, Kerianah, die Göttin der hellgrünen Laubwälder, Wileke, die Göttin der kleinen Kinder, Wor’tan, der mächtige Gott des Sturms. Namen kamen ihr in den Sinn, zehn, zwanzig, hundert, und in diesem Moment betete sie zu allen.

»Ihr Götter«, flüsterte sie, »es tut mir so leid.«

Kurz entschlossen und ohne Mitleid mit sich selbst, riss Linua die Tür weit auf.

Der Schmerz kam wie ein Sandsturm, der über die Ebene hereinbricht und nicht mehr aufzuhalten ist. Sie wich ihm nicht aus. Sie breitete die Arme aus und empfing ihn und seine Macht, mit der er sie niederriss. Der Sturm aus Schmerz breitete sich mit seiner überwältigenden Kraft in ihrem ganzen Körper aus, bis er jeden kleinsten Winkel ihres Leibes erfüllte. Es war zu spät, um ihn jetzt noch herauszuziehen und die glühenden Fäden wieder zusammenzuballen und wegzusperren. Es waren keine Funken der Agonie, die ihr Fleisch versengten, sondern ganze Brände.

Undeutlich fühlte Linua den harten Boden unter sich, fühlte, wie Krämpfe sie schüttelten und wie ihr Hinterkopf auf einen kleinen Stein schlug. Sie lag vor der Tür, durchflutet von glühender Pein, und dahinter gähnte das Dunkle. Mit letzter Kraft wälzte sie sich herum und kroch auf den geheimen Raum zu, in dem sie den Gesang gehört hatte, vor langer, langer Zeit, wie ihr schien. Etwas wird dort sein. Sie klammerte sich an dem Gedanken fest, an dieser Hoffnung, während sie sich durch den Schmerz hindurcharbeitete, bis zu der Schwelle, die so weit weg schien, so unendlich weit weg wie der fernste aller Sterne. Aber da waren sie wieder: überirdische Klänge, süße Töne. Irgendetwas war da. Der Raum in ihrem Geist, der verborgene Raum hinter der Tür, hätte ein Raum für die Leere und die Stille sein sollen, aber als sie hineinblickte, als sie ihre schmerzenden, brennenden Augenlider hob, sah sie ein Universum voller Sterne.

Dort kreisten sie, unendlich viele Lichter, in einem seltsamen, fremdartigen Tanz. Hier wohnte die Musik. Sie war da, mächtig und wild, lieblich und zart. Und es war ihre eigene Stimme, die sie hörte. Für Gesang, für Tanz, für Liebe war kein Platz gewesen in den Jahren ihrer Ausbildung. Die Liebe hatte Wihaji geweckt, aber für Singen und Tanzen war es zu spät gewesen – hatte sie geglaubt. Jetzt aber lauschte sie ihrer Stimme, und Tränen traten ihr in die Augen. Sie richtete sich auf mit der Kraft eines Menschen, der nicht einmal im Sterben aufgeben kann, mit dieser Kraft, die sie derselben Ausbildung verdankte, die ihr alles andere genommen hatte. Sie trat durch die Tür.

Und fiel hinein in das Licht und das Lied. Es war ihr Tanz und ihr Gesang. Hier war alles: Weite, Freiheit und Macht. Es war so viel von allem da, dass sie erschrak, überwältigt von zu viel Freude, und sie lachte und tauchte hinein in das Glück. Es gab hier so viel Macht, dass sie nicht über das nachdachte, was sie tat: Sie ließ das Licht der Sterne in ihren Körper fluten und streichelte mit dem Gesang ihre geschundenen Glieder und berührte ihr zerstörtes Gesicht. Der finstere Schmerz löste sich auf, wie Tau unter der Sonne trocknet.

Einer träumt, einer spricht.

Einer sucht, einer zerbricht.

Einer kämpft falsch

Im rechten Augenblick,

Und einer geht durchs Tor

Und kommt zurück.

Sie kannte die Worte. Sie hatte sie gesungen, bevor sie eine Stimme gehabt hatte, sie waren in ihr gewesen, als sie noch blind und schmerzerfüllt im Gefängnis gesessen hatte, und sie waren schon früher da gewesen, viel früher, viele Jahre zurück, so vertraut wie der Anblick ihres Gesichtes im Spiegel.

Einer, der träumt …

Linua schlug die Augen auf.

Es war immer noch dieselbe dunkle Nacht. Über ihr wachte das Eisenpferd.

2. In Daja

Die Banditen hatten einen Magier dabei.

Sie hatten eine gute Stelle gewählt. Der Hügel, der Schutz vor der Sonne und dem Wind bot, diente ihnen zudem als Ausblick, doch Karim verstand es, sich lautlos und unsichtbar anzuschleichen. Er hatte den Wachposten verschont, der von dort oben die Umgebung im Auge behielt. Es war nicht nötig, ihn bewusstlos zu schlagen oder gar zu töten, im Gegenteil: Es hätte vielleicht unnötige Unruhe verursacht, wäre er plötzlich nicht mehr auf seinem Posten gewesen. Im Schutz der Dornensträucher, die am flachen Hang auf der Ostseite wuchsen, hatte Karim den Hügel halb umrundet und sich mittlerweile so weit vorgearbeitet, dass er das Lager überblicken konnte.

Drei Gefangene. Es schien ihnen gut zu gehen, soweit er das beurteilen konnte – seine Freunde saßen im Schatten, die Hände auf den Rücken gefesselt, und flüsterten miteinander. Die Eisenpferde bildeten einen Kreis, der auch die schönen Zuchtpferde umfasste, die er und die Rebellen von Laimocs Farm mitgenommen hatten. Der Magier ging von einem Eisenpferd zum anderen, tätschelte ihre Flanken und redete ihnen gut zu. Verwunderte Blicke folgten ihm. Die gewöhnlichen Menschen begriffen nicht, wie stark die magischen Tiere auf Zuspruch reagierten. Sie gehorchten dem Herrn, an den sie verkauft wurden, doch wenn sie gestohlen wurden, wie es diesen Kreaturen passiert war, dienten sie dem stärksten Willen, dem mächtigsten Magier.

Karim lächelte leicht. Er würde dafür sorgen, dass er das war. Nicht umsonst war er ein Wüstendämon, und mit diesem von den Banditen gedungenen Kerl würde er mit Leichtigkeit fertigwerden.

Er hatte sich gerade ein Stück zurückgezogen, da rasselte etwas neben seinem linken Knie. Der Wächter oben auf dem Hügel drehte sich um, versuchte, durch das Gestrüpp etwas zu erkennen, fluchte verhalten und bewegte sich dann sehr vorsichtig vom Kamm des Hügels hinunter zum Lager.

Karim rührte sich nicht von der Stelle. Wenn Kalini ihn rief, würde er gehen, doch an einem Schlangenbiss zu sterben war mehr als qualvoll. Langsam, sehr langsam, wandte er den Kopf. Die Dornenschlange hatte die Farbe trockener grauer Erde. Die winzigen Höcker auf ihrem Schädel, denen sie ihren Namen verdankte, sahen spitz und bedrohlich aus, waren jedoch harmlos. Tödlich waren nur die beiden spitzen Zähne vorn in ihrem Maul, an denen ein glänzender Tropfen hing.

»Verschlinge mich, Kalini«, wisperte er, »doch nicht, bevor ich meinen Auftrag erfüllt habe.«

Die Schlange musterte ihn mit einem runden, starren Auge, dann glitt sie lautlos davon.

Er schloss kurz die Augen und murmelte ein »Danke«, das aus vollem Herzen kam.

»Gern geschehen.« Linua kroch neben ihn unter die stacheligen Zweige. Sie sah anders aus als sonst. Nach ihrer Befreiung aus Katall war sie ihm zornig vorgekommen und traurig, doch nun lag eine seltsame Ruhe über ihr, eine Entschlossenheit, die ihn erschreckte. Sie durfte ihm nicht in die Quere kommen, nicht schon wieder.

»Hast du etwa die Schlange geschickt? Wolltest du mich vertreiben oder den Wächter?« Die helle Narbe, die zuvor quer über ihr Gesicht gelaufen war – ein Überbleibsel ihres Aufenthalts auf Burg Katall –, war verschwunden. Jetzt wusste er, warum sie so anders aussah. Wie konnte das sein? Die meisten Wüstendämonen konnten auch ein wenig heilen, aber ihre Haut sah makellos glatt aus.

»Ich bin hier, um Lani und die anderen zu befreien. Und du?«

Natürlich hatte sie ihn und seine Absichten längst durchschaut, schließlich war sie Joakus beste Schülerin.

»Auf dem Weg hierher habe ich die Soldaten gesehen«, flüsterte sie. »Selas versteckt sich mit ihnen hinter den Ausläufern des Buschwaldes. Also ist er letzte Nacht entkommen. Das freut mich für ihn.«

Noch etwas an ihr war anders als noch vor wenigen Tagen. Ein blumiger Duft umgab sie, und ihre wissenden Blicke irritierten ihn.

»Was habt ihr geplant?«, fragte sie. »Gibst du den Soldaten jetzt gleich ein Zeichen, oder wartet ihr auf die Dunkelheit, um eure Befreiungsaktion durchzuführen?«

»Wir warten nur darauf, dass der Magier tot umfällt.« Karim gestattete sich ein kaltes Lächeln, das Linua nicht erwiderte. »Hilfst du mir oder nicht?«

»Sind diese Soldaten Joakus Leute?«

Also hatte sie den Plan doch nicht ganz durchschaut. Aber es sah einem Wüstendämon ähnlich, als Erstes anzunehmen, dass der Meister dahintersteckte. Es hätte zum Herrn der Assassinen gepasst, sich das Vertrauen der wertvollen Flüchtlinge zu sichern, indem er sie erst entführen und dann retten ließ. Doch dieses Verdienst gebührte diesmal einem anderen. König Laon von Daja wollte Lan’hai-yia und ihre Gefährten in seine Obhut nehmen.

»Nein«, antwortete er. »Sie sind aus Daja.«

Sie legte die Stirn in Falten. »Du und Selas, ihr wart zwei Tage lang weg. Statt zu jagen, habt ihr diesen Plan ausgeklügelt. Ihr habt die Verbrecherbande getroffen – oder wusstet ihr, wo ihr sie finden würdet? Natürlich, ihr habt nichts dem Zufall überlassen. Joaku hat euch mit Informationen versorgt.«

Er zuckte nur mit den Achseln.

»Es gab viel zu tun, also habt ihr euch vermutlich getrennt. Du hast die Soldaten durch eine Wasserbotschaft angefordert und sie erwartet, um sie herzuführen«, überlegte sie weiter. »Während Selas den Banditen absichtlich über den Weg gelaufen ist. Er hat sich gefangen nehmen lassen, ein bisschen gebettelt und ihnen dann von seinen wertvollen Freunden erzählt. So hat er sie dazu gebracht, die Wajuner zu überfallen. Lani und die anderen werden sehr dankbar sein, wenn sie nun gerettet werden. Eine gute Geschichte. Unsere Gefährten werden Selas weiterhin vertrauen, weil er selbst gefangen war, doch was ist mit dir? Wirkt es nicht ein wenig unglaubwürdig, wenn du nun zusammen mit Selas und den Soldaten auftauchst? Schließlich warst du einfach verschwunden. Lani ist ein bisschen zu vertrauenswürdig, aber Herzog Sidon könnte erraten, dass das alles bloß Betrug ist.«

»Ich werde mich nicht zeigen«, sagte Karim. »Selas wird den anderen erklären, dass ich nach Daja vorausgeritten bin und er deshalb allein gefangen genommen worden ist. Daher werde ich erst in Daja zu unserer Gruppe stoßen. Ich bin nur hier wegen des Magiers. Er könnte alles verderben.«

»Das sind unsere Freunde, Karim. Du musst sie nicht König Laon überlassen. Wir können sie zu zweit befreien und gehen lassen.«

Sie hatte recht, das hätten sie tun können. Und ganz wohl war ihm nicht dabei, die Menschen, mit denen er die letzten vier Jahre verbracht hatte, mit denen er Seite an Seite gegen Tenira gekämpft hatte, zu verraten – doch hatte er je eine Wahl gehabt? König Laon bestimmte seit jeher über sein Leben.

»Ich führe nur meine Befehle aus. Und selbst wenn ich mich umstimmen ließe, wohin sollen sie denn fliehen? Nach Kato? Das würde ich nicht meinen schlimmsten Feinden wünschen. Wenn sie sich in Daja verkriechen wollen, wird man sie am ersten Tag festnehmen, und dann sind es vielleicht nicht die Leute des Königs, sondern Händler, die sie unter der Hand aus der Stadt schaffen, um sich die Belohnung nicht teilen zu müssen. Man mag über König Laon denken, was man will, aber er wird Lani und Sidon nicht an Tenira ausliefern. Im Gegenteil, er wird sich vor ihr damit brüsten, dass sie seine Gastfreundschaft genießen.«

»Und Laikan?«

»Mit Laikan habe ich selbst noch ein Hühnchen zu rupfen.« Er hatte niemandem je davon erzählt, was der Prinz von Nehess für ein Spiel trieb, und er würde es auch jetzt nicht tun. »Lani ist schon viel länger meine Freundin als deine, und ich kann dir nicht sagen, wie oft Sidon mir das Leben mit einem Pfeil gerettet hat. Ich will unseren Freunden nichts Böses, Linua. Es ist zu ihrem eigenen Besten. Und«, fügte er als Letztes hinzu, »ich muss einen Erfolg vorweisen, damit Joaku nicht allzu enttäuscht ist.«

Sie schien nicht ganz überzeugt, aber sie wusste, was es bedeutete, den Meister vor den Kopf zu stoßen. Darauf baute Karim.

»Also gut«, sagte sie leise. »Mir ist nicht wohl dabei, aber auch ich habe keine Antwort auf die Frage, wo Lan’hai-yia oder Sidon sicher wären. Ich werde den Magier töten. Wenn ich Lani gegenübertrete, will ich ihr wenigstens ohne zu lügen sagen können, dass ich für sie gekämpft habe.«

Er neigte den Kopf zum Zeichen seines Einverständnisses. Jeder Mord, der ihm erspart blieb, war ein Fleck weniger auf seiner Seele.

Ein Gedanke, der eines Assassinen unwürdig war, und dennoch konnte er seine Erleichterung nicht verhehlen. Die Banditen hatten nur getan, was Selas und er von ihnen erwartet hatten; ihnen ein bisschen auf die Sprünge zu helfen, indem man sie wissen ließ, wie kostbar die Reisenden waren, war fast zu einfach gewesen. Die Gier solcher Halunken war immer größer als ihr Verstand.

Am liebsten hätte er sich ganz zurückgezogen, bevor Linua ans Werk ging, doch er musste sichergehen, dass sie ihren Part wirklich einhielt. Zu seiner Überraschung kroch sie den Hügel wieder hinauf.

»Wo willst du hin?«, zischte er. »Ich dachte, du wolltest gegen den Magier kämpfen?«

Linua verdrehte bloß die Augen und antwortete ihm nicht. Zähneknirschend folgte er ihr. Zum Glück war der Wächter nicht an seinen Platz zurückgekehrt. So laut, wie er unten im Lager über die Schlangen schimpfte, war er nicht zu überhören. Leute seines Schlags brauchten immer tausend Entschuldigungen, wenn sie ihre Pflicht nicht erfüllten.

Der Magier hatte sich inzwischen von den Eisenpferden entfernt. Er hockte einen Steinwurf vom Lager weg auf der Erde, die Hände flach auf den Boden gepresst; er schien auf etwas zu lauschen. Karim hatte diese Tätigkeit selbst oft genug ausgeführt, um zu wissen, dass der Mann nach Wasser suchte. Durch die Erde hindurch herannahende Lebewesen zu spüren lernte man in Joakus Schule, doch diese Fähigkeit war unter gewöhnlichen Magiern nicht sehr verbreitet. Zum Glück, sonst hätte er ihn und Linua längst bemerkt, womöglich sogar die Soldaten.

Tut er dir nicht leid, Wüstenschwester?, wollte er fragen. Dabei gab es keinen Grund, den Mann zu bemitleiden. Zauberer, die für Mörder und Strauchdiebe arbeiteten, waren in ganz Kanchar verrufen. Sie galten als Verräter an der Magie, die von den Göttern selbst kam, um damit dem Edlen Kaiser – gesegnet sei Er – und dem Kaiserreich zu dienen.

Da der Magier sich vom Lager entfernt hatte, standen Linua viele Möglichkeiten offen, ihn zu töten. Sie konnte einen Dolch werfen und dem Wind anvertrauen, oder Linua hätte, da sie offenbar den Schlangen befehlen konnte, eine Dornenschlange zu ihm schicken können. Das gehörte normalerweise nicht zu dem, was man in Jerichar lernte, denn der Wille eines Tieres ließ sich nicht so leicht beherrschen. Womöglich war es auch bloß ein Zufall gewesen, und Linua ließ ihn aus reiner Boshaftigkeit in dem Glauben, sie hätte etwas damit zu tun gehabt. Das würde ihr ähnlich sehen. Karim war gespannt, wie Joakus beste Schülerin vorgehen würde. Doch die Methode, die er nun zu sehen bekam, war nichts, wovon er jemals zuvor gehört hatte, weder bei den Wüstendämonen noch bei irgendeiner Gilde.

Magie war Wille. Magie war Wünschen. Wer den göttlichen Funken in sich trug, konnte lernen, ihn anzufachen und den Dingen seinen Willen aufzuzwingen. Ein unbedeutender Magier konnte Glaskugeln zum Glühen bringen und Gegenstände erschaffen, die sich auch dem Willen gewöhnlicher Menschen fügten. Magier mit wenig Talent konnten Gegenstände zu sich rufen oder sie eine Weile schweben lassen, während die größten der Zunft sich mit Eisentieren beschäftigten. Alles hatte mit der Kraft des Wollens zu tun.

Doch Linua sang.

Sie schloss die Augen und summte eine Melodie. Es waren nur wenige, einfache Töne, vielleicht ein Kinderlied. Ihm war, als würde er es kennen und hätte es schon ewig nicht mehr gehört. Hatte seine Mutter es ihm vorgesungen, während sie mit leerem Blick an seinem Bett saß? Damals, als sie schon aufgehört hatte zu sprechen, konnte sie immer noch singen, sogar für das Kind, das sie nicht zu lieben vermochte. Oder war es sein Bruder gewesen, Selas, der ihn wiegte und diese alte Weise in sein Ohr summte? Vielleicht auch Ruma, selbst noch ein Kind, die mit wippenden schwarzen Zöpfen um ihn herumtanzte und sang.

Schau, wer kommt,

schau, wer geht,

halt nicht still,

sonst ist’s zu spät.

So oder so ähnlich ging das Lied: Schau, wer kommt, schau, wer geht, zu spät, zu spät. Das Lied nahm jetzt allen Raum ein. Halt nicht still, sang Ruma und hüpfte um das Kinderbett herum, halt nicht still, und eins, zwei, drei, schau, wer kommt. Er war viel zu jung gewesen, um sich daran zu erinnern, wenn es jemals passiert war, aber nun sah er Ruma vor sich. Sie war vier oder fünf Jahre alt und hatte das ernste Gesicht eines Kindes, das etwas Wichtiges auf die genau richtige Weise vollbringt. Für ein paar Augenblicke war Karim weit fort, an unzähligen Orten, die weiter entfernt waren als die Sterne. Türen öffneten sich und Stimmen flüsterten, und über ein weißes Meer glitt ein graues Schiff mit Segeln aus Rauch.

Dann blinzelte er, es war, als würde er aus einem tiefen Traum erwachen. So etwas hatte Karim noch nie erlebt; er war nicht einmal auf die Idee gekommen, sich gegen den Sog des Liedes zu wehren. Der Magier lag reglos mit dem Gesicht in der Erde.

Was hast du getan?, wollte er rufen, aber er biss sich rechtzeitig auf die Zunge. In diesem einen Moment, da er wieder im Jetzt angekommen war, wirkten die Dinge noch sehr brüchig und gefährdet, als könnten sie jederzeit erneut auf die andere Seite kippen.

»Ruf Selas und dann verschwinde«, sagte Linua im Befehlston. »Ich erledige den Rest.«

Karim tat, wie ihm geheißen. Er war viel zu benommen, um sich über ihren Tonfall zu ärgern. Gebückt stieg er den Hügel auf der vom Lager abgewandten Seite hinunter. Dort wartete ein Eisenpferd, das ihn mit glühenden Augen musterte. Es schien heimlich zu lachen, und Karim hätte sich nicht gewundert, wenn es plötzlich gesprochen hatte. Von einem Herzschlag zum anderen hatte sich die Welt verwandelt, alles schien möglich, und er mochte nicht einmal den Dingen trauen, die wie immer schienen.

Obwohl ihm mulmig zumute war, ignorierte er das Pferd, das sein schartiges Maul zu einem schiefen Grinsen öffnete. Kleine spitze Metallecken glänzten im Licht der heißen Wüstensonne. Oh ja, die Wüste konnte einem gehörig die Sinne verwirren.

»Beiß mich doch«, murmelte er, nutzte den Schatten, den das Pferd bot – kaum der Rede wert, denn die Sonne stand im Zenit –, und goss ein wenig Wasser in die Schale, die er bei sich trug. Als Selas’ Gesicht darin erschien, war er erleichterter, als er sich eingestehen mochte.

Schau, wer kommt, schau, wer geht …

Es ging noch weiter: Und einer geht durchs Tor und kommt zurück.

Wie viele Strophen hatte dieses Lied?

»Der Magier ist tot«, sagte er zu Selas. »Zeit zum Angriff. Linua wird euch unterstützen.« Was seine Wüstenschwester vorhin getan hatte, erwähnte er lieber nicht, denn er wusste nicht mehr, was er über dieses Mädchen denken sollte, das immer Joakus Lieblingsschülerin gewesen war.

Damit ihn der Wachposten nicht bemerkte, hüllte er sich in eine Wolke aus magischem Staub. Wer in seine Richtung blickte, würde nur eine flirrende Luftverzerrung sehen. Auf diese Weise getarnt, durchquerte er die offene Fläche, bis der Busch begann. Zu seiner Linken war die Gruppe der Soldaten versteckt, die sich gemeinsam mit Selas zum Aufbruch bereitmachte, doch er wanderte ein Stück weiter durch die Hügel, die von Dornengestrüpp und verdorrtem Gras bewachsen waren. Erst als er sich sicher war, dass ihn niemand belauschen konnte, rief er leise.

»Dohle? Bist du da?«

Von all seinen vielen Geheimnissen war dieses ihm das liebste. Das Wesen, das er »Dohle« nannte, war der Schlüssel zu einer Reihe seiner erstaunlichen Gaben – zum Beispiel der zu seiner Fähigkeit, überraschend weite Strecken zurückzulegen und an Orten aufzutauchen, an denen man ihn nicht vermutete. Hier irgendwo hatte er ihn zurückgelassen, seinen kostbarsten Besitz, doch die Kreatur beherrschte die Fähigkeit, sich beinahe unsichtbar zu machen und mit der Umgebung zu verschmelzen.

»Dohle?«

Etwas bewegte sich unter seinen Füßen, Sand rieselte. Karim sprang zurück, als glänzende Flügelspitzen über die Steine kratzten. Federn, scharf wie Dolchklingen, sträubten sich. Der Vogel rasselte leise, genauso tödlich wie eine Schlange. Er öffnete den Schnabel, und Funken tanzten auf den spitzen Zähnen. Hitze strahlte von ihm aus, ein feuriger Herzschlag hinter den funkelnden Schuppen, der Brandstein pulsierte, als wollte er jeden Moment zerbersten und alles im weiten Umkreis in Brand setzen. Ein flammendes Auge blickte Karim an.

Über die Steppe zu fliegen gehörte zu den schönsten Dingen in Karims Leben. Blanke Erde, Gestrüpp und Gras, Hügel und Ebenen verschwammen unter ihm zu einer einzigen graubraunen Fläche. Zu Pferd brauchte man von hier aus nach Daja einen ganzen Tag, doch mit einem Eisenvogel war es nur ein Katzensprung. In weniger als einer Stunde konnte er die Wüstenstadt erreichen.

Die Dohle krächzte und flog so tief hinunter, dass sie eine Wolke aus Staub aufwirbelte. Kleine Sandkörner peitschten Karim ins Gesicht, und er zog sich seine Kapuze tiefer über die Augen. Sein kleiner Eisenvogel war für ihn mehr als ein Werkzeug, mehr als ein Gegenstand, der ihn von einem Ort zum anderen trug. Der Schrei, den die Dohle ausstieß, klang wie ein Jubelruf.

Ihre Freude war ansteckend. Karim lachte laut.

Obwohl er sich auf zwei weniger schöne Begegnungen einstellen musste, fühlte er sich frei. Solange sie unterwegs waren, konnte er seine Sorgen vergessen und sich selbst wie ein Vogel fühlen.

Allzu schnell tauchten die hellen Mauern der Stadt Daja am Horizont auf. Die flachen Dächer glänzten im Schein der sinkenden Sonne wie Teiche. Er seufzte. So schön der Anblick auch war, was ihn erwartete erfüllte ihn nicht gerade mit Vorfreude. Daja war seine Heimatstadt, hier lebte seine Familie – die echte und die falsche. Seine Mutter und der Mann, der sich darin gefiel, seinen Vater zu spielen.

Karims Annäherung blieb unbemerkt, da er dicht über dem Erdboden flog und die Mauer erst überquerte, als die Patrouille vorüber war. Dann ließ er die Dohle von Dach zu Dach schwirren, bis sie den Palast erreicht hatten, der sich als ein Gebilde von zahlreichen miteinander verschachtelten Dächern, Terrassen und Dachgärten in der Mitte der Stadt erhob. Das erste der beiden Treffen, das er gerne vermieden hätte, stand ihm nun kurz bevor.