Träume - Calin Noell - E-Book

Träume E-Book

Calin Noell

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Beschreibung

Der zweite Band des fünfbändigen Urban-Fantasy-Epos um die Unendlichen Kriege in der Dunkelelben-Welt Sjeldor und die Magie der Gestaltwandlerin Talil. Wird die Dunkelelbin Talil ihrer Bestimmung und ihrem Herzen folgen, um die Unendlichen Kriege zu beenden? Oder wird ihre Rache sie zwischen Menschen- und Elbenwelt selbst zerstören? Gefangen zwischen den Welten ist sie plötzlich dem Tod näher als dem Leben. Verzweifelt gehalten von den Ahnengeistern, die seit Anbeginn ihrer Lebensbahn erfolglos versuchen, sie zu schützen, muss Talil ihr eigenes Schicksal besiegeln. Denn nur sie allein besitzt die Macht zu entscheiden, ob sie leben, oder für immer entschlummern will. Gibt sie ihrer Todessehnsucht nach, oder erkennt sie endlich die tiefe Verbundenheit zu ihrem Seelensplitter, ihrer Wölfin - und zu Kiljan? Die Seelenschwingen-Reihe ist in folgender Reihenfolge erschienen: Rache - Band 1 Träume- Band 2 Unschuld- Band 3 Verrat - Band 4 Fügung- Band 5

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Seitenzahl: 441

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Über die Autorin
Danksagung
Prolog
Grenzen
Die Träume beginnen
Kämpfe
Lerne
Begegnungen
Wahrheit
Vertrauen
Verzweiflung
Geben und Nehmen
Beeinflussung
Wut
Entscheidung
Konsequenzen
Erinnerungen
Veränderungen
Erkenntnis
Hoffnung
Freiheit
Auf ewig mein
Unerwartet
Unschuld
Vereinigung
Beginn
Weitere Bücher dieser Autorin

Calin Noell

Träume

Seelenschwingen Band II

Impressum:

1. Auflage 2017

© Calin Noell – alle Rechte vorbehalten.

Epyllion Verlag

Jochen G. Fuchs

Ludwigstraße 23

76709 Kronau

[email protected]

www.epyllion.de

www.calin-noell.com

Coverdesign: Saskia Lackner

www.saskia-illustration.de

Lektorat: Roland Blümel

www.rolandbluemel.de/lektorat

Über die Autorin

»Um Wunder zu erleben, musst Du an sie glauben.«

Nach diesem Motto lebt die 1977 in Hamburg geborene Schriftstellerin Calin Noell, trägt jedoch ihren Teil dazu bei, damit sie auch wahr werden. Sie glaubt nämlich ebenso daran, dass auch immer sehr viel Eigenarbeit dazugehört, weil Wunder selten von ganz allein geschehen.

Seit 2015 veröffentlicht sie erfolgreich im Selfpublishing. Im Jahr 2019 wurden ihre Taschenbücher vom Epyllion Verlag übernommen. Im April 2021 erschien ihr erster SciFi-Roman im Plan9 Verlag.

Auf den folgenden Seiten gibt es weitere Infos, zu ihren Büchern, aber auch zu ihrer Person:

www.calin-noell.com

www.facebook.com/calin.noell.Autorin

www.instagram.com/calinnoell_autorin

Danksagung

Ich danke ganz besonders meinen fleißigen Testlesern, die nie müde werden, mir ihre Erlebnisse mit meinen Geschichten mitzuteilen und mich auch auf den einen oder anderen Fehler hinweisen.

Ganz besonders möchte ich dieses Mal erwähnen:

Nicole Rubach und Rena Schiffer, ihr seid meine Sonne, wenn es um mich herum mal dunkel wird.

Kerstin, weil Du immer ein Ohr für mich hast.

Manu und Gerd – Wie immer ganz vorne mit dabei.

Saskia Lackner – Du schaffst es immer wieder mich zu überraschen und bringst genau das Cover auf´s Papier, das ich in meinem Kopf sehe. Mit diesem hier hast Du meine Vorstellung jedoch mal wieder übertroffen.

Nicole P. und Sandra - Ihr seht Fehler, die ich selbst abfotografiert übersehe ;-)

Danke für eure unendliche Mühe.

Seelenschwingen

Träume

Band 2

von

Prolog

Wir sind nicht länger die, die wir einst waren. Erhaben und stolz, andersartig im Vergleich zu den Menschen. Ehre bedeutete uns alles, Neid und Machtgier hingegen waren uns fremd. Inzwischen aber sind wir vermenschlicht, kaum noch wir selbst.

Je mehr wir uns ihnen anglichen, je menschlicher wir wurden, weil wir zu viel Zeit unter ihresgleichen verbrachten, umso mehr schmolz unsere Einzigartigkeit. So besiegelten wir unseren eigenen Tod durch Sterblichkeit.

Talil jedoch ist endlich entkommen und damit wächst unsere Hoffnung, dass wir errettet werden. Doch obwohl sie nun frei ist, scheint sie weiterhin gefangen zu sein, in sich selbst, in ihrem Leid und ihrer Qual.

Bald schon wird sie den Weg zu uns finden, dennoch ist ungewiss, ob es ihr gelingt, den Pfad aus Hass und Wut zu durchbrechen.

Wir versagten, waren zu schwach, konnten ihr nur ungenügend Schutz gewähren. Ihre Seele ist zersplittert und diese Lebensbahn für immer verloren. Ein Neubeginn aber ist nicht unerreichbar, sollte sie den Willen in sich tragen, zu leben. Wenn nicht, sind wir verdammt.

Ich schütze sie mit meinem Leben, halte sie zwischen den Welten, solange es mir möglich ist, und bete zu den Ahnen, dass sie stark genug ist, uns alle zu erretten. Denn nur wenn sie lebt, überlebt auch die Hoffnung, dass wir nicht für alle Ewigkeit verloren sind.

Wilton

Grenzen

Talil

Ich schlug einen Pfad in den Wald hinein ein, fort von den bohrenden Blicken, die Wölfe um mich herum und wandelte mich, als ich sicher war, dass sie mich nicht mehr sehen konnten. Unendliche Erleichterung durchflutete mich, während große Schmerzen durch meinen Körper fuhren, weil sie die Qualen meiner vielschichtigen Gefühle betäubten. Ich hieß sie willkommen, versuchte nicht länger, den Schrei zu unterdrücken, denn nun war es mir gleichgültig. Langgezogen heulte ich auf, als sich die Wandlung vollzog und meine Gefährten antworteten mir ebenso erschütternd.

Diesmal dauerte es eine scheinbare Ewigkeit, bis die Schmerzwelle langsam verebbte. Abwartend legten sich die Wölfe schließlich zu mir, winselten hin und wieder leise, taten sonst jedoch nichts.

Ich wusste bereits, dass er kommen würde, noch bevor er losging, doch als er nun zögernd vor uns stehen blieb, kehrte meine Wut mit aller Kraft zurück und verdrängte sogar die Erleichterung, die mir der erlösende Schmerz verschafft hatte. Ich stieß ein warnendes Knurren aus.

Hoffnungslos weinte Kiljan stumme Tränen und ließ sich auf die Knie sinken. »Talil, es tut mir so leid. Ich vertraue dir ja, verdammt. Ich wollte nur verhindern, dass Ean etwas Unbedachtes tut und du versehentlich ...« Er bemerkte seinen Fehler selbst, fuhr sich vollkommen überfordert und leise fluchend durch sein wunderschönes Haar. »Geh nicht, ich bitte dich«, flehte er verzweifelt.

Mühsam erhob ich mich, ignorierte das Zittern meiner Beine, wandte mich ab und ging davon.

»Talil!«, schrie er einen Augenblick später, blieb jedoch, wo er war und mein Herz verkrampfte sich. Erst jetzt spürte ich schmerzhaft, wie auch das letzte bisschen Hoffnung verblasste, weil er nicht einmal den Versuch unternahm, mir in Wolfsgestalt zu folgen. Dass er es nicht tat, mich einfach gehen ließ, brannte wie Feuer in meinem Innern und dieser Schmerz erschien mir plötzlich um ein Vielfaches schlimmer als die erlittenen Qualen durch die Wandlung.

Der schwarze Wolf wies mir den Weg. Gemeinsam trotteten wir hinter ihm her, bis ich ihn schließlich zwang, ein höheres Tempo anzuschlagen. Endlich gelang es mir, alles andere auszublenden.

Wir liefen eine Ewigkeit, wie es mir schien und erst nach einer ganzen Weile wurde die Gruppe langsamer. Voller Verzweiflung stieß ich ein Heulen aus, vernahm selbst, wie geschunden es klang. Nach wenigen Schritten hielten die Wölfe inne, als spürten sie, dass es mir unmöglich war, weiterzugehen. Vollkommen erschöpft ließ ich mich nieder und verlor den Kampf gegen mich selbst. Mir blutete das Herz, ich schien unfähig, meine Gefühle noch länger zu unterdrücken, und ergab mich meinem Kummer.

»Kiljan, wir wollen zurück, komm schon. Wir müssen die Verletzten zum Schloss bringen.« Raouls Stimme klang leise, fast zögernd.

»Ich ließ sie einfach gehen«, flüsterte er verzweifelt, erhob sich aber noch immer nicht.

Ben und Arndt, die mit der letzten Gruppe auf dem heiligen Berg eintrafen und inzwischen von den Geschehnissen wussten, musterten ihn betroffen. »Ean ist sich sicher, dass die Verbindung mit ihrem Seelensplitter ihr hilft, über den Schmerz hinwegzukommen«, sagte Arendt ruhig.

Endlich wandte sich Kiljan ihnen zu und erhob sich. »Ich müsste derjenige sein, der für sie da ist. Ich sollte ebenjener sein, dem sie vertraut. Stattdessen aber habe ich sie verraten und ließ sie dann einfach fortgehen, obwohl ich ihr und mir selbst schwor, genau das niemals wieder zu tun.«

Ohne ein weiteres Wort schritt er an ihnen vorbei. Besorgt zog Ben eine Augenbraue in die Höhe. Nachdenklich blickten sie ihm hinterher und beteten zu den Ahnen, dass sie einen Weg finden würden, der sie wieder miteinander vereinte.

Traurig klopfte Ben Arendt auf die Schulter und gemeinsam gingen sie zurück zu dem Sammelplatz der Gefallenen und Verletzten. Kiljan stand inzwischen bei Mael, der auf einer Trage lag und auf ihn einredete. Ganz offensichtlich stritten sie miteinander.

Arendt seufzte und schüttelte frustriert den Kopf. »Was geschieht jetzt mit den Verstorbenen, die wir nicht zu den Unseren zählen, ist dies bereits entschieden?«, fragte er Davie, als er an ihnen vorbeigehen wollte.

»Ja. Die Menschen verbrennen wir weiter unten auf der Lichtung, ohne Zeremonie, dennoch wird es dauern. Wir überwachen das Feuer in Schichten. Der Wald ist zu dicht und niemand möchte einen unkontrollierbaren Brand verursachen. Es sind zwanzig Menschen. Die sechsundzwanzig Dunkelelben übergeben wir ebenfalls den Flammen. Das einzige Zugeständnis, auf das wir uns einigten, ist ein separates Feuer. Die Verräter, die wir gefangen nahmen, bringen wir zum Schloss. Von uns verloren sechs Dunkelelben hier und im Wald ihre Lebensbahn, und wir nehmen sie mit, um sie mit allen Ehren zu bestatten. Die Verwundeten laden wir ein Stück weiter unten auf die Fuhrwerke.« Schweigend nickten sie und machten sich an die Arbeit.

»Kiljan, du kannst ihr nicht folgen. Du hast doch gehört, was Ean und Jul sagten, was sie selbst sagte. Sie wird wiederkommen. Gib ihr die Zeit. Und vergiss nicht, so schwer es dir auch fallen mag, wir verlassen uns jetzt auf dich. Du bist unser Oberhaupt, auch wenn du niemals darum gebeten hast. Wir haben viel zu tun und die Aufgaben werden dich ablenken.« Kiljan schnaubte. »Hab ein bisschen mehr Vertrauen, Kiljan. In dich und in sie. Sie wird nicht vergessen, was du ihr bedeutest und sie wird begreifen, dass du recht hattest, oder zumindest nicht unrecht. Die Zeit wird auch ihr helfen, zur Ruhe zu kommen und zu erkennen, dass du sie nur beschützen wolltest.«

Vorsichtig drückte Kiljan die Schulter von Mael und ging den Hügel hinauf zum Plateau. Tief seufzte er und wünschte, er könnte sich irgendwo verkriechen, doch er wusste, dass er gebraucht wurde.

Mael hatte recht. Während all dieser Zeit hatte er sich ununterbrochen gefragt, ob er überhaupt ein Oberhaupt sein wollte, nun aber stellte sich diese Frage nicht länger.

Eines jedoch schwor er sich schon sehr früh: Sollte es jemals dazu kommen, würde er ein besserer Anführer sein, als sein Vater es war, und jetzt musste er genau das beweisen. Später gab es noch genügend Zeit, sich selbst zu bemitleiden und sich seinem Kummer hinzugeben.

Talil

Es erschien mir, als ließen mich die Wölfe einige Stunden ausruhen. Je länger ich währenddessen über die Geschehnisse nachdachte, umso klarer wurde mir, dass ich sie alle nicht wiedersehen wollte. Sie hatten ihre Entscheidung getroffen, mir ihr Misstrauen deutlich gezeigt, und ich verspürte nicht das Bedürfnis, das noch einmal zu erleben.

Schließlich durchdrang mich die Unruhe der Wölfe und ich erhob mich. Angeführt vom schwarzen Wolf trabten sie los, und ich folgte ihnen tiefer in den Wald hinein. Schon bald vergrößerte sich ihre Anspannung spürbar, und als wir eine vollkommen versteckte Lichtung erreichten, die wirkte, als wäre sie eine Fata Morgana, hielt ich misstrauisch inne. Sie aber liefen um einen Felsen herum und verschwanden aus meinem Blickfeld. Ich zögerte weiterhin und legte mich nieder, ohne die deutlich sichtbare Grenze zu überschreiten. Ich war nicht sicher, was genau geschehen würde, sollte ich sie überqueren. Ich wusste nur, dass ich das, was auch immer dann begann, nicht wieder aufhalten könnte.

Die Wölfe kehrten nicht zurück. Ich schien eingeschlafen zu sein, denn als ich erwachte, dämmerte es bereits. »Du musst dich entscheiden«, erklang plötzlich eine Stimme in meinem Kopf, und ich schreckte hoch, sackte jedoch mit einem jämmerlich klingenden Laut augenblicklich wieder zusammen. Ein heißer Schmerz schoss von meiner Seite durch meinen gesamten Körper und ich hechelte schwer. Behutsam hob ich den Kopf und begegnete dem Blick eines schwarzen Wolfes, doch es war nicht der, der mir den Weg hierher gewiesen hatte. Es war der Wolf aus meinen Träumen. Geschockt erstarrte ich.

Er wandelte sich, ohne ein einziges Geräusch und ging weiterhin auf mich zu. Gebannt beobachtete ich dieses Schauspiel und fragte mich, ob es auch bei mir jemals so anmutig aussehen würde.

Er war ein wunderschöner Wolf, doch was ich nun erblickte, ließ mir den Atem stocken. Er sah aus wie eine Mischung aus Dunkelelb und einem menschlichen Indianer, besaß gebräuntere Haut, als es bei unserem Volk üblich war und dennoch stammte er unverkennbar von den Dunkelelben ab.

Eine Welle der Enttäuschung schwappte über mich hinweg, als mir plötzlich klar wurde, dass nicht mein Vater mich in meinen Träumen besucht hatte, sondern er.

»Du musst dich wandeln, damit deine Verletzungen heilen können, denn dein wahres Ich ist wesentlich mächtiger.«

Nur zögernd erhob ich mich, ließ ihn aber nicht aus den Augen. Misstrauisch musterte ich ihn, vollzog jedoch schließlich die Wandlung. Ich stieß einen lauten Schrei aus, nicht in der Lage, ihn zu verhindern und bemerkte zu spät, dass ich während der Qualen, die durch meinen Körper rasten, die Grenze überschritt. Sichtbar zufrieden lächelte er. Ich hätte ihn gerne gefragt, was das alles zu bedeuten hatte, doch ich bekam keinen Ton mehr heraus. Ich spürte, wie meine Beine unter meinem Gewicht nachgaben, noch ehe ich auf dem Boden aufschlug, verengte sich mein Blickfeld und alles um mich herum wurde schwarz.

Die Träume beginnen

Er fing sie auf, gerade noch rechtzeitig, bevor ihr erschlaffter Körper zur Seite kippte, und hob sie auf seine Arme. Ihm blutete das Herz, spürte er doch ihre gequälte Seele so deutlich, als würde ihr Körper sie gar nicht umschließen. Er war sich nach wie vor nicht sicher, ob sie Talil retten konnten. Dennoch mussten sie es versuchen, das waren sie ihrem Volk schuldig und ihr ebenfalls.

Die äußerst kraftvolle Verbindung zu ihrem Seelensplitter sollte es eigentlich ermöglichen, sie zur Ruhe kommen zu lassen, sie zu stärken, ehe die Visionen begannen ...

Er trug sie um den Felsen herum, und während er auf die Baumgruppe zuschritt, erklang das Fiepen der Wölfe immer drängender, was er ein wenig überrascht in sich aufnahm. Es erschien erstaunlich, dass sie bereits eine so enge Bindung zueinander besaßen, doch es würde ihr hoffentlich helfen, sich zu erholen, aber vor allem, die Visionen zu überstehen.

Auf einem Bett aus Moos ließ er sie vorsichtig hinunter. Augenblicklich legten sich die Wölfe um sie herum. Nachdenklich betrachtete er erst sie, dann die Wölfe und schließlich seine verschiedenen Kräuter. Ihre Seele war schwer geschunden, nichtsdestotrotz schien sie stärker, als er vermutet hatte. Dennoch trug sie viel zu viel Wut und zerstörende Erinnerungen in sich, die in den Hintergrund rücken mussten, damit sie ihre Aufgabe erfüllen konnte. Vor ihm lag ein harter Weg, dies jedoch war nichts im Vergleich dazu, was dieser Pfad für sie bedeuten sollte. Ihre Seele bedurfte der Heilung und Vorbereitung, um einen Neubeginn zu ermöglichen, doch vorher war es erforderlich, dass sie erkannte, welchen Wert ihre Lebensbahn besaß, trotz allem. Sie benötigte den Entschluss zu leben um ihrer selbst Willen.

Bedachtsam wählte er verschiedene Kräuter, die er miteinander verflocht und dann am Feuer entzündete. Je stärker sich der durchdringende Geruch verbreitete, desto mehr entspannten sich auch die Wölfe. Talils Atemzüge schienen ruhiger, wirkten mit jedem weiteren Zug nicht mehr ganz so angestrengt, bis sie schließlich vollkommen entkrampft entschlummerte.

Er holte tief Atem, schloss seine Augen und sandte ein Gebet zu den Geistern und Ahnen, auf dass sie alle gemeinsam ihre nun freigesetzte Seele erreichen mochten.

Leise stimmte er das Lied der Alten an, inhalierte den Rauch, der den glimmenden Kräutern emporstieg, wiegte sich langsam vor und zurück, bis er ihn vollständig ausfüllte ...

Talil

Ich erwachte in Wolfsgestalt, fühlte mich irgendwie seltsam und sah mich um. Irritiert stellte ich fest, dass ich nicht wusste, wo genau ich mich befand. Ich grübelte darüber nach, was als Letztes geschehen war, als ich ein Geräusch hörte und mich hastig umwandte. Lautlos schlich ich in die Richtung und verharrte abrupt vollkommen reglos.

»He, Kiljan, hier bist du. Sie warten bereits auf dich. Was ist los?«, fragte Mael leise und hockte sich zu ihm, betrachtete ihn besorgt.

»Ich kann diesen Schwur nicht sprechen. Ich sollte da draußen sein und sie suchen«, antwortete Kiljan hörbar verzweifelt. »Ich gab ihr mein Versprechen, und was ist es nun wert? Gar nichts. Ich habe sie schon wieder im Stich gelassen, und dieses Wissen frisst mich auf. Wie kann ich ein guter Anführer sein, wenn ich ständig mein Wort breche?« Aufgebracht riss er ein paar Grashalme aus der Erde. »Ich wollte es immer anders als Arel machen. Aber weißt du was? Ich bin kein bisschen besser als er.« Sichtbar gereizt sprang er auf und fuhr sich durch die Haare.

»Kiljan, beruhige dich. Das ist doch Unsinn und das weißt du. Du hast versucht, ihr zu helfen, sie zu schützen, und das wird sie erkennen.«

Kiljan wandte seinen Blick vom Wald ab und sah Mael an. »Und wenn nicht? Sie glaubt, ich hätte sie verraten. Was ist, wenn sie niemals zurückkehrt, was mache ich dann?« Er ging auf den Steg zu. »Diese Ungewissheit bringt mich um. Wenn ich wenigstens sicher sein könnte, dass sie nicht einfach fortbleibt«, flüsterte er leise und voller Qual.

Mael erhob sich ebenfalls und machte einen zögernden Schritt auf ihn zu, verharrte dann jedoch. »Sie gab Jul ihr Wort, sie wird es halten. Ich sage den anderen Bescheid, dass du gleich nachkommst«, rief er und wandte sich um. Zu spät bemerkte ich, dass er nun genau auf mich zukam und mein Herz hämmerte wild in meiner Brust, doch er schien mich gar nicht zu bemerken. Wortlos ging er einfach an mir vorbei, als wäre ich gar nicht da. Irritiert blickte ich ihm hinterher und sah dann zu Kiljan zurück. Ich konnte seine Verzweiflung beinahe spüren, dennoch saß meine Wut und Enttäuschung tiefer als mein Mitleid, und ich wandte mich ab. Noch ehe ich mir dessen wirklich bewusst war, lief ich bereits in die entgegengesetzte Richtung, lief davon, lief und lief, als wären die Ahnen persönlich hinter mir her. Erst als meine Lungen brannten, verlangsamte ich meinen Lauf und blieb schließlich stehen. Ich wusste, dass ich davonlief, dass ich vor Kiljan floh, und stieß verärgert ein Knurren aus. Ich wollte ihn nicht sehen, wollte nicht wissen, wie es ihm ging. Erneut knurrte ich, weil ich das Bild von ihm, wie er dort voller Verzweiflung auf dem Steg stand, einfach nicht wieder aus dem Kopf bekam.

Abrupt erwachte ich und blickte in unendlich scheinende Augen. »Wer bist du?«, fragte ich misstrauisch, als der indianisch aussehende Dunkelelb mir wortlos eine Schale mit Essen reichte. Stumm betrachtete er mich, aus seinen stechend blauen Augen, die viel zu grell wirkten, in seinem leicht gebräunten Gesicht und die gar nicht zu ihm zu passen schienen.

»Ich heiße Wilton«, entgegnete er mit einer Stimme, die tief in mir ein angenehmes Kribbeln verursachte.

Noch immer hielt er mir die Schale hin. Ich ergriff sie, spürte meinen Hunger nur zu deutlich. »Was geschieht hier?«, fragte ich kauend, als er keine Anstalten machte, irgendetwas Weiteres zu erklären.

»Was meinst du?«, antwortete er.

»Warum bin ich hier? Und wo genau sind wir eigentlich?«

»Du stellst viele Fragen, mehr noch, als du laut aussprichst, doch ich vermag dir die wenigsten zu beantworten«, entgegnete er kryptisch. »Du bist hier, um zu genesen, deine Verletzungen müssen heilen, bevor du dich für einen Weg entscheidest. Alles andere wird sich fügen.« Skeptisch betrachtete ich ihn. Wirklich geantwortet hatte er mir nicht, doch er sagte nichts weiter, reichte mir einen Wasserschlauch und schwieg beharrlich.

Als ich meine Augen öffnete, fluchte ich. Erneut hatte ich nicht gemerkt, dass ich eingeschlafen war. Wo bin ich, fragte ich mich stumm und schien plötzlich kaum noch in der Lage, zu atmen. Keine fünf Schritte von mir entfernt saß Kiljan auf dem Bett in meinem alten Kinderzimmer, die Füße auf dem Boden, die Ellenbogen auf den Knien abgestützt und das Gesicht in seinen Händen vergraben. Ich lag in Wolfsgestalt in einer Ecke und überlegte fieberhaft, wie ich unbemerkt entkommen könnte, als mit einem Mal die Tür aufging und Mael eintrat.

»Ich wusste, dass ich dich hier finde«, sagte er leise, doch Kiljan zeigte keinerlei Reaktion, als hätte er sein Eintreten gar nicht bemerkt. Behutsam legte Mael ihm eine Hand auf den Arm und Kiljan zuckte zusammen. Ruckartig hob er seinen Kopf, und ich erschrak. Nicht nur, dass er älter erschien, nein, er sah furchtbar aus. Das Gesicht verhärmt, abgemagert und irgendwie leblos.

»Ich bin geflohen. Sie lässt mich nicht in Ruhe.« Sein Blick wirkte gequält.

»Kiljan, du weißt, dass du irgendwann damit abschließen musst. Lass sie los. Es macht dich kaputt.«

Vollkommene Verzweiflung ausstrahlend fuhr Kiljan sich übers Gesicht. »Ich kann nicht«, flüsterte er erstickt. »Es ist einfach nicht möglich.«

Ernst betrachtete Mael ihn. Ich sah, spürte fast sein Unbehagen. »Du weißt, dass ich dein Freund bin, dein bester Freund, deswegen muss ich es jetzt aussprechen: Kiljan, es ist nun drei Jahre her, sie kehrt nicht zurück.« Vorsichtige, nicht weniger verzweifelte Worte, Kiljan jedoch sprang wütend auf.

»Woher willst du das wissen? Du selbst sagtest, dass sie es erkennen wird.« Zornig funkelten sie einander an.

»Ja, das stimmt, das habe ich gesagt, und es tut mir unsagbar leid, das weißt du. Doch du solltest aufhören, einem Wunschtraum hinterherzujagen, der sich nicht erfüllt. Der ganze Clan leidet darunter, und sie überlegen bereits, ob du als Oberhaupt eigentlich noch tragbar bist. Du hast dir geschworen, besser zu sein als Arel. Sieh es ein, du verrennst dich, Kiljan. Mir schmerzt die Seele, ebenso wie dir, dennoch musst du es hinter dir lassen, bevor du dich vollkommen zerstörst. Und Shar hat sich geändert, niemand weiß das besser als du selbst. Sie wäre die perfekte Wahl als Gefährtin, und sie begehrt dich.« Kiljan erstarrte während dieser Worte, ich ebenfalls, dann fuhr er ganz langsam zu Mael herum.

»Mal abgesehen davon, dass ich in keiner Weise das Gleiche für sie empfinde, kannst doch ausgerechnet du mir nicht ernsthaft diesen Vorschlag unterbreiten. Bist du von Sinnen? Sie ist schuld an all dem. Es wäre der größte Verrat, den ich Talil gegenüber begehen könnte.«

Aufgebracht erhob Mael sich. »Kiljan, öffne endlich deine Augen. Siehst du sie hier irgendwo? Sie wird nicht zurückkehren, niemals. Begreifst du das nicht? Und wenn es nicht Shar sein soll, bitte, das kann ich ja sogar verstehen. Doch dann schau dich um. Wenn dir dein Versprechen als Anführer wirklich etwas bedeutet, wird es Zeit, dass du entsprechend handelst. Du lässt uns alle im Stich und wirst alles verlieren, was dir je wichtig war. Verdammt, Kiljan, wach endlich auf!«, schrie er nun und die Tür öffnete sich erneut.

Inzwischen war mir klar, dass sie mich nicht sehen konnten, dennoch hämmerte mein Herz dermaßen in der Brust, dass ich sicher war, dass sie es jeden Moment hören würden.

Jul trat ein und stockte, als er Kiljan und Mael erblickte, trat dann jedoch eilig über die Schwelle und verschloss die Tür. Ich schnappte laut nach Luft, und er wandte sich um, mir direkt zu. Ich erstarrte, unsicher, ob er mich wirklich sah.

»Es tut mir leid, ich hörte Geschrei und dachte, dass sich die Kleinen vielleicht hier hereingeschlichen haben.

Mael, Nevan sucht dich, es gibt irgendein Problem mit Ean und er benötigt deine Hilfe. Es geht ihm wieder schlechter«, sprach er die letzten Worte und sah erneut zu mir in die Ecke. Stirnrunzelnd folgte Mael seinem Blick, nickte dann jedoch und verließ das Zimmer. Jul setzte sich neben Kiljan auf das Bett, wandte seinen Oberkörper aber so, dass er immer wieder zu mir hinsehen, mich beobachten konnte. Inzwischen war ich mir sicher, dass er sich meiner Anwesenheit bewusst war und das tatsächlich drei Jahre vergangen sein mussten, denn auch Jul wirkte wesentlich älter als bei unserer letzten Begegnung.

»Willst du mir jetzt ebenfalls erklären, dass ich sie endlich vergessen muss und mein Herz einer anderen schenken soll?«, fragte Kiljan leise, sah ihn jedoch nicht an.

»Nein«, sagte Jul kraftvoll.

Überrascht wandte Kiljan sich ihm zu. »Nein?«, wiederholte er ungläubig und lachte dann kopfschüttelnd. Sanft verwuschelte er Juls Haare und betrachtete ihn.

»Sie versteht noch nicht, wie sehr auch andere leiden, doch das wird sie, hab Vertrauen. Sie ist längst nicht mehr allein auf der Welt. Sie wird es erkennen und zurückkehren.« Mit hochgezogener Augenbraue sah Kiljan zu Jul, der jedoch seinen Blick nicht mehr von mir fortnahm.

»Auch wenn es ihr vielleicht nicht gefallen mag, ist ihr Leben nun erneut unwiderruflich mit unserem verknüpft und jede ihrer Handlungen wirkt sich auf unser Leben aus. Sie wird nicht dafür verantwortlich sein wollen, dass du wegwirfst, wofür wir alle so bitter bezahlen mussten. Auch Ean wird sie nicht in dem Glauben sterben lassen, dass alles seine Schuld ist. Sie mag zu Recht enttäuscht und wütend sein, aber grausam war sie nie. Auch Rian wartet noch immer, denn sie gab ihm ihr Wort, und er vertraut darauf, dass sie es nicht einfach bricht.«

Nicht ein einziges Mal nahm er seinen Blick von mir und eine eisige Gänsehaut überlief meinen Körper.

»Du musst weiterhin daran glauben, Kiljan, doch du darfst dich von deiner Verzweiflung nicht niederdrücken lassen. Du hast gelobt, uns alle zu beschützen, also tu es, tu deine Pflicht, während du weiterhin daran glaubst.«

Nickend erhob er sich, ein leichtes Lächeln im Gesicht. »Du weißt schon, dass du für deine neun Jahre viel zu erwachsen klingst, ja?«

Erst jetzt schien ihm bewusst, dass Jul ihn die ganze Zeit nicht ansah, folgte seinem Blick und starrte nun ebenfalls zu mir in die Ecke.

»Was siehst du?«, fragte er leise, doch Jul schüttelte den Kopf.

»Gib sie nicht auf, ich tue es auch nicht.«

Er öffnete die Tür und Kiljan verschwand aus meinem Blickfeld.

»Du solltest Ean bei den Heilern besuchen«, flüsterte er plötzlich, sah mich jedoch nicht mehr an. »Vielleicht erkennst du dann, dass nicht nur du allein leidest.« Traurig schüttelte er den Kopf. »Ich weiß, du willst nicht, dass irgendjemand Erwartungen an dich stellt, doch so ist das nun einmal, sobald man jemanden in sein Herz geschlossen hat. Und das haben wir, auch wenn nicht immer alles ohne Meinungsverschiedenheiten lief. So ist das Leben und niemand, nicht einmal du selbst, ist unfehlbar.«

Er ging hinaus, zog leise die Tür hinter sich zu und ließ mich allein und vollkommen verstört zurück. Frustriert und bekümmert schloss ich die Augen, verstand noch immer nicht, was hier eigentlich geschah.

Kämpfe

Als ich das nächste Mal meine Augen öffnete, hielt mir Wilton erneut eine Schale mit dampfendem Eintopf hin. Langsam richtete ich mich auf. Noch immer schmerzte mein Körper, doch ich fühlte mich ein wenig besser. Ich nahm ihm das Essen aus der Hand und aß, vollkommen ausgehungert.

»Wie lange habe ich geschlafen?«, fragte ich zwischen zwei Bissen.

»Zwei Mondgänge«, antwortete Wilton gelassen, ich aber verschluckte mich vor Schreck.

»Zwei Tage? Achtundvierzig Stunden?« Fassungslos betrachtete ich ihn.

»Wenn du in Stunden rechnest, sind es sogar noch einige mehr.« Scheinbar gleichgültig zuckte er mit den Schultern.

Misstrauisch besah ich ihn mir genauer, stellte jedoch nichts Ungewöhnliches fest. Also schnupperte ich an dem Essen. »Ist da irgendetwas drin?«, fragte ich vorsichtig und kam mir im gleichen Moment blöd dabei vor. Er würde es mir wohl kaum verraten, selbst wenn es so wäre. Er lächelte wissend, schüttelte aber schließlich den Kopf.

»Du magst stark sein, doch auch du besitzt Grenzen. Aber durch die vielen Wandlungen und deine erlittenen Verletzungen hast du diese überschritten. Hätten die Wölfe den Blutverlust nicht gestoppt, wärst du niemals hierhergelangt. Ob ich dir noch zu helfen vermag, ist nicht gewiss. Deine Seele ist geschunden und verweilt an diesem heiligen Ort. Erst wenn du eine Entscheidung triffst, werden wir die unsere fällen.«

Trotz seiner Worte wurde ich das Gefühl nicht los, dass er dennoch irgendwie nachhalf. »Warum habe ich diese Träume? Es sind doch Träume, oder nicht? Und was wollt ihr entscheiden?«

»Diese Begegnungen dienen dazu, Dinge zu verstehen, solltest du bereit dafür sein. Wenn du dich darauf einlässt, dann helfen sie dir zu begreifen, zu akzeptieren, zu lernen, und letztendlich eine Entscheidung zu treffen. All dies wird dich stärken, für das, was folgen soll.«

»Was für eine Entscheidung? Und was soll folgen?«, fragte ich irritiert, weil ich das Gefühl hatte, nicht mehr ganz folgen zu können und diesmal wirkte sein Blick abgrundtief traurig.

»Als Erstes musst du dich entscheiden, ob du leben oder sterben willst.«

Ich lachte bitter. »O ja, na klar.«

»Du vermagst keine Entscheidung zu treffen, solange du dich dagegen wehrst, die Dinge zu sehen, wie sie sind. All deine Begegnungen ziehen Konsequenzen nach sich, und die wirst du durchleben, immer wieder, bist du die Geschehnisse akzeptierst. Erst dann ist eine Entscheidung möglich.«

Verstohlen betrachtete ich ihn erneut. Er schien zu spüren, dass ich seine Worte nicht wirklich ernst nahm. Aber was wollte er denn tun? Sobald meine Wunden verheilt waren, würde ich gehen und mich mit Sicherheit nicht von ihm aufhalten lassen. Ich hatte keine Lust, mich mit diesen Dingen zu beschäftigen. Natürlich war ich mir im Klaren darüber, dass mein Verhalten nicht immer ganz gerecht war. Kiljan, Jul, Mael und einige andere hatten mich freundlich aufgenommen, waren stets um mich bemüht, doch letztendlich ging es nur um mich selbst. Ich war niemandem mehr Rechenschaft schuldig, und mit ihrer Reaktion nach dem Kampf hatten sie sich diese Suppe selbst eingebrockt. Nun konnten sie sie auch auslöffeln. Außerdem wollte ich mich nicht mit meinem schlechten Gewissen Jul oder Rian gegenüber auseinandersetzen, ebenso wenig wie mit meinen Gefühlen für Kiljan. Ihm schuldete ich nichts, absolut gar nichts.

»Du irrst dich. Und ich hoffe und bete zu den Geistern, dass du es erkennen wirst. Wenn du dich dazu entscheiden solltest, zu leben, könnte sich vieles verändern.« Wilton machte eine wischende Handbewegung in meine Richtung. Ich hörte noch das leise geflüsterte Wort »Schlaf«, dann kam nichts mehr, und ich driftete davon.

Noch bevor ich meine Augen richtig geöffnet hatte, nahm ich als Erstes einen scharfen Geruch wahr und verzog das Gesicht.

»Du bist wirklich gekommen«, hörte ich die leisen, angestrengt wirkenden Worte und sah mich um. Ich befand mich ganz offensichtlich bei unseren Heilern und ging zögernd auf das Bett zu. Überrascht bemerkte ich, dass ich mich diesmal in meiner wahren Gestalt befand. »Du bist es wirklich«, flüsterte Ean leise, und ich tat den letzten Schritt. In mir zog sich alles zusammen, und ich unterdrückte krampfhaft den aufkommenden Schrecken. Vollkommen eingefallen lag er da, die Augen stumpf und tief in den Höhlen schien er nur noch ein Schatten seiner selbst.

Er verzog das Gesicht zu einem Lächeln, doch in seinem abgemagerten Zustand wirkte es eher wie eine Grimasse. »So lange warte ich nun schon auf dich. Nur deinetwegen bin ich noch hier.« Er hustete und hob seine zitternde Hand.

Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, dass mir das nicht nahe ging. Es war furchtbar, so grauenvoll, dass ich sogar meine aufgestaute Wut und meine Enttäuschung vergaß.

Ich ergriff den Becher und half ihm beim Aufrichten. Nur mühsam gelang ihm das Trinken von winzigen Schlucken. Vollkommen erschöpft ließ er sich auf die Kissen zurücksinken und lächelte erneut. »Ich weiß, dass ich kein Recht auf Vergebung habe, doch das ist nicht der Grund, weshalb ich auf dich warte.« Hustend ballte er die Hand zur Faust, sah mich flehend, fast hilfesuchend an. Erst als der Anfall vorüberging und er einige Male zitternd Luft holte, entspannte er sich ein wenig. »Es tut mir leid, so unendlich leid«, flüsterte er, während seine Tränen nun ungehindert seine Wangen hinabliefen, dennoch blickte er mich intensiv an.

»Nur deswegen bin ich noch hier, weil du ein Recht auf diese Worte hattest. Es war mir so unglaublich wichtig und doch erscheint es mir nun erbärmlich, weil es einfach nicht genug ist. Du musst mir glauben, Talil. Es tut mir aufrichtig leid«, wiederholte er eindringlich. Ich nickte stockend. Schwerfällig holte er ein weiteres Mal Atem. Nach meinem Nicken aber entspannte er sich plötzlich, ein leichtes Lächeln auf den Lippen, regte er sich nicht mehr. Die Stille des Todes füllte den Raum.

»Ich fange wirklich an, dich zu hassen«, erklang es unvermittelt hinter mir.

Langsam wandte ich mich um. Ich hatte Jul bereits an der Stimme erkannt, dennoch erschrak ich erneut, als ich ihn ansah.

»Ich sagte dir, dass du zu den Heilern gehen sollst«, fuhr er wütend fort.

Verwirrt erwiderte ich seinen Blick. »Ich bin doch hier«, entgegnete ich.

Jul schnaubte. »Ja, sechs volle Monde später. Ist dir eigentlich klar, wie sehr er gelitten hat, nur um dich noch einmal zu sehen?«

Ich war so irritiert, dass ich nicht mal auf seinen Ton einging. »Sechs Monate?«, fragte ich und sah wieder zu Ean. »Er ist tot«, flüsterte ich erschüttert.

»Nein, er ist endlich erlöst«, antwortete Jul aufgebracht.

»Aber es sind doch nur Träume. Ich habe keinerlei Einfluss darauf, Jul.«

Niedergeschlagen sah er mich an und schüttelte den Kopf. »Natürlich hast du Einfluss darauf, Talil. Es sind deine Träume. Wenn du es gewollt hättest, dann wärst du einfach gekommen. Aber wir sind dir alle vollkommen gleichgültig.« Er trat auf das Bett zu und legte eine Decke über den leblosen Körper.

»Es ist wahr, dass dir furchtbare Dinge angetan wurden, das rechtfertigt jedoch nicht alles. Du verletzt so viele mit deinem Verhalten, so viele, die das gar nicht verdienen. Seit deinem Verschwinden aß Ean kaum noch etwas. Immer wieder ging er in den Wald und suchte nach dir. Kiljan begleitete ihn oft. Mehrere Mondgänge blieben sie verschwunden.« Eindringlich betrachtete er mich, und mich überkam ein Gefühl von Unbehagen. Was geschieht hier nur, fragte ich mich besorgt.

»Niemals darfst du vergessen, dass du bei jedem, der deinen Weg kreuzt, Spuren hinterlässt. Hier aber bist du Zuhause, hast wieder einen Platz gefunden. Du willst nicht begreifen, dass es Dunkelelben gibt, denen du eine Menge bedeutest und denen dein Verhalten verdammt wehtut.« Er wurde immer lauter und je lauter er sprach, desto fassungsloser starrte ich ihn an.

»Sind die Dinge, die geschehen sind, etwa meine Schuld? Glaubst du das wirklich, Jul?«

»Nein, natürlich nicht. Doch selbst wenn man wütend und enttäuscht ist, läuft man nicht einfach weg und kommt nie wieder. Und genau das werfe ich dir vor. Du hättest wiederkommen müssen«, schrie er, wandte sich abrupt um und lief plötzlich davon. Dennoch hatte ich seine Tränen bemerkt, obwohl er krampfhaft versuchte, sie vor mir zu verbergen.

Mit einem letzten Blick auf den verhüllten Körper von Ean verschwand die Szene vor mir und erneut hüllte mich willkommene Schwärze ein.

Ächzend richtete ich mich auf und sah mich um. Ich befand mich wieder in einem Wald, doch ich war allein, niemand sonst war hier, kein Feuer brannte und auch Wilton wartete diesmal nicht mit einer Schale Eintopf auf mich.

Zögernd erhob ich mich, spürte die leichten Schmerzen und fasste an meine Seite. Erneut sah ich mich um und versuchte, das Unbehagen abzuschütteln, das mich inzwischen vollkommen in Besitz nahm. Ich bekam weder die Szenen mit Kiljan noch die mit Ean und Jul aus meinem Kopf.

Hat Ean wirklich so lange Zeit gelitten, nur um mir zu sagen, dass ihm das alles unglaublich leidtat?

Diese Frage ließ mich nicht wieder los. Auch Kiljans bleiches Gesicht, seine von Kummer gezeichneten Züge ... Verärgert über mich selbst, schüttelte ich den Kopf. Was interessierte es mich?

Langsam trat ich aus der Baumgruppe heraus und erstarrte. Das darf doch alles nicht wahr sein. Entnervt sah ich mich um, doch ich war mir sicher, dass ich diesen Ort nicht kannte, noch nie gesehen hatte und ging zögernd auf das geöffnete Tor zu. So allmählich wurde mir klar, dass auch dies ein Traum sein musste.

Mein Unbehagen wuchs und der gewaltige Bau vor mir erschien mir riesiger, unheilvoller, je näher ich gelangte. Dieser Anblick erinnerte mich an die Festung eines schaurigen Psychothrillers, den ich während meiner Zeit bei den Menschen im Fernsehen gesehen hatte.

Hohe dicke Mauern zogen sich, soweit das Auge reichte, und der einzige Zugang schien das riesige, doppelflügelige Tor zu sein. Das Mauerwerk schimmerte dunkel, wirkte regelrecht bedrohlich. Während ich durch das Tor schritt, überzog eine Gänsehaut meinen Körper. Kurz hinter der Schwelle verharrte ich und hielt überrascht den Atem an.

Im Innenhof herrschte reges Treiben, viele Dunkelelben liefen aufgeregt hin und her und schienen im Begriff, aufzubrechen. Obwohl ich mir inzwischen sicher war, dass niemand mich sehen konnte, brach mir dennoch der Schweiß aus, und ich bewegte mich noch immer nicht von der Stelle. Erst nachdem zwei Dunkelelben an mir vorübergingen, ohne mich zu beachten, setzte ich mich zögernd in Bewegung.

Was soll ich hier?

Dann entdeckte ich einen Hüter, an den ich mich aus meiner Kindheit zwar irgendwie erinnerte, den ich jedoch nicht einordnen konnte. Auch sein Name fiel mir nicht wieder ein.

Er wandte mir den Rücken zu und redete auf jemanden ein, schien angespannt und meine Neugierde trieb mich voran. Es war ein beklemmendes Gefühl, in sein Blickfeld zu treten und darauf zu warten, dass er mich ansprach. Als er es nicht tat, weil er mich anscheinend tatsächlich nicht wahrnahm, ging ich noch einen Schritt näher. Ich wollte endlich einen Blick auf seinen Gesprächspartner werfen und erstarrte im selben Moment.

Rian.

Mein Innerstes drehte sich und krampfte sich gleich darauf schmerzhaft zusammen. Er sah schrecklich aus.

Was geht hier nur vor sich?

»Rian, ich bitte dich. Kehr wieder mit uns heim. Du hast es lange genug hier ausgehalten und kannst wirklich stolz auf dich sein, doch es reicht jetzt.«

Rian aber schüttelte vehement den Kopf. »Ich sagte nein! Ich habe ihr geschrieben, dass ich erst zurückkehre, wenn sie das Gute sieht, und bleibe so lange, bis sie dazu bereit ist.«

Verärgert presste er die Lippen aufeinander. »Das ist lächerlich Rian. Sie kehrt nicht zurück, auch du wirst dich damit abfinden müssen. Was soll das also? Bohl hat mir berichtet, wie sehr sie dir hier zusetzen. Sie hat uns allen den Rücken gekehrt. Du bist ihr nichts mehr schuldig, also komm schon.«

»Du verstehst das nicht, Reed. Ich bin hierhergekommen, um meine Schuld ihr gegenüber abzutragen. Ihr alle mögt das lächerlich finden, doch ich schulde es ihr. Verstehst du es denn nicht? Sie hat all das erlitten, weil sie mich nicht wollten, weil mein Onkel sie gegen mich austauschte und ich es nie jemandem erzählte. Ich stehe auf ewig in ihrer Schuld, und zwar so lange, bis sie mir vergibt. Niemand sonst könnte es.«

Schockiert hörte ich die Worte, die Rian voller Überzeugung aussprach. Reed hingegen schüttelte resignierend den Kopf. »Rian, tu das nicht. Opfere dich nicht. Du selbst warst ein Kind, vollkommen unschuldig an den Geschehnissen. Glaubst du, sie würde wollen, dass du dich zerstörst? Zwölf volle Monde überstehst du nicht, sieh dich doch an, verdammt!«

Stur verschränkte Rian die Arme vor der Brust, sein Blick funkelte wütend.

Reed seufzte. »Sie öffnen die Tore noch einmal, wenn der Mond erneut voll am Himmel steht, und ich werde wieder hier sein, gemeinsam mit Mael. Solltest du dennoch bleiben wollen, wirst du zwölf volle Monde hier festsitzen, also überlege dir gut, ob sie all das wirklich wert ist.«

Er wandte sich ab, sichtbar verzweifelt und stapfte davon. Rian aber zog die Schultern hoch und lief in die andere Richtung, auf einen Nebentrakt des größten Gebäudes zu. Zögernd ging ich ihm nach, während sich das bedrückende Gefühl, das mich beschlich, immer mehr verstärkte, je länger ich ihm folgte.

Er durchquerte eine Tür und stieß mit einem Kerl zusammen, der mir vom ersten Moment ein derart beklemmendes Gefühl bescherte, dass sich mir die Nackenhaare aufstellten. »Oh, sieh an, wen haben wir denn hier? Seht mal, Riiienaaa ist wieder da. Was ist geschehen, hat Mami dich nicht abgeholt?« Allgemeines Gelächter erklang, doch Rian ignorierte es, ebenso den Dunkelelb. Wortlos ging er auf sein Feldbett zu. Scheinbar ruhig schnallte er sich einen Gurt um und erst auf den zweiten Blick erkannte ich das Schwert, das daran festgebunden war.

Plötzlich wandte er sich um, und ich erstarrte. Rian lächelte und dieses Lächeln jagte mir einen eisigen Schauder den Rücken hinab. »Du kannst mich nennen wie du willst, Jesse, das kümmert mich nicht. Du schuldest mir noch eine Revanche und die fordere ich jetzt ein. Bohl und die anderen sind damit beschäftigt, die An- und Abreisenden zu versorgen, also warum gehen wir nicht rüber auf den alten Trainingsplatz und klären diese Angelegenheit ein für alle Mal?! Und zwar endgültig.« Herausfordernd sah er die Gruppe an.

»Das ist nicht das Übungsschwert«, antwortete Jesse gepresst und diesmal war es Rian, der selbstgefällig grinste.

Der nächste eisige Schauder erfasste mich, während ich langsam den Kopf schüttelte. »Nein, Rian«, bat ich flüsternd, doch niemand von ihnen reagierte, niemand hörte mich.

»Na, immerhin bist du nicht so dumm, wie du aussiehst«, spottete Rian. »Du wolltest es doch ein für alle Mal klären, also wozu sollten wir dann ein stumpfes Schwert benutzen? Komm schon, oder hast du etwa Angst, Jessiiiieeee?«

Bei dieser Aussprache seines Namens zuckte Jesse zusammen und verzog wütend das Gesicht. »Dir werde ich es zeigen. Wir wissen beide, dass du mich niemals besiegen kannst«, rief er erbost und eilte zu seinem Schlafplatz. Sichtbar aufgebracht schnallte er sich ebenfalls seinen Gürtel um.

»Nicht, Jesse, was soll das? Das ist kein Spaß mehr«, warf einer der anderen ein, jedoch ohne Erfolg. Sowohl Rian als auch Jesse waren bereits auf dem Weg durch eine rückwärtige Tür, am Trubel vorbei, zu dem Übungsplatz.

Ich folgte ihnen und mein unbestimmtes Gefühl lag mir inzwischen wie ein Klumpen Eis im Innern, denn ich ahnte, was er vorhatte, ebenso wie er es vor seinem Aufbruch nach Tari bei mir geahnt hatte.

Der Übungsplatz befand sich am anderen Ende des von der gigantischen Mauer eingeschlossenen Geländes und meine Hoffnung zerstob. Niemand würde die beiden aufhalten, das jedenfalls war sicher. Viel zu abgelegen lag dieser Platz, und wenn ich an die Bezeichnung - alter Trainingsplatz - dachte, waren spätestens jetzt jegliche Hoffnungen dahin. Ganz offensichtlich wurde dieser Ort nicht mehr genutzt.

Sie nahmen gegenüber voneinander Aufstellung und Rian grinste, doch auch Jesse zeigte ein herablassendes Lächeln. »Jetzt zeige ich dir, zu was ein wahrer Hüter in der Lage ist«, rief er verächtlich, Rian jedoch grinste nur noch mehr.

»Du warst einige Zeit fort und solltest dir deiner Sache nicht zu sicher sein.« Sie verneigten sich voreinander und schon stürzte Jesse vor.

Das Klirren, das erklang, als die Stahlschwerter aufeinandertrafen, erschien ohrenbetäubend. Erst jetzt fielen mir die Veränderungen an seiner Körperhaltung auf. Nichts hatte er mehr mit dem zarten jungen Dunkelelben gemein. Seine Züge schienen verändert, wesentlich härter als noch bei unserem letzten Aufeinandertreffen. Doch besonders sein Körper war inzwischen von dem Training geformt. Dennoch sah man die Unterschiede deutlich. Zwar besaß er genügend Kraft, um den gewaltigen Hieben von Jesse standzuhalten, ihm fehlte jedoch die richtige Technik.

Immer öfter gelang es Jesse schließlich, kleinere Schläge auszuteilen, während Rian damit beschäftigt war, das Schwert zu halten.

Fassungslos sah ich dem Kampf zu, konnte kaum glauben, was dort geschah und flehte inständig alle Ahnengeister an, dass jemandem auffallen würde, was die beiden hier trieben. Doch niemand kam.

Erneut prallten die Schwerter aufeinander, Jesse ging einen Schritt vor, drängte Rian nach hinten und dieser fiel rückwärts über Jesses gestellte Bein. Hart prallte er mit dem Rücken auf den Boden.

Jesse genoss dieses Schauspiel nur zu offensichtlich und trat lachend drei Schritte zurück. O ja, er hatte noch lange nicht genug.

»Na, Riiienaaa, war das bereits alles? Für diese jämmerliche Vorstellung hast du aber ganz schon große Töne gespukt. Was hast du die letzten Monde getrieben? Ich meine, außer dass du geheult und in deinen Träumen nach dieser Talil geschrien hast.«

Zornig erhob er sich, doch seine Schmerzen waren nicht zu übersehen, und ich lief auf ihn zu.

»Nicht, Rian, tu das nicht, bitte!«, rief ich verzweifelt, doch noch immer hörte er mich nicht, ging einfach an mir vorbei, als wäre ich gar nicht hier.

Bin ich wohl in Wirklichkeit auch gar nicht, dachte ich frustriert und fluchte.

»Verdammt. Was soll das alles?«, rief ich aufgebracht, wollte das nicht mehr mit ansehen müssen, hatte genug.

»Ich werde dir zeigen, was ich in den vergangenen Monden gelernt habe, komm her du Weichling«, rief Rian voller Wut und forderte ihn mit einer Geste auf, näherzutreten. Jesse ließ sich nicht zwei Mal bitten und stürzte erneut auf ihn zu. Diesmal parierte Rian den Schlag jedoch, wich aus und ritzte Jesse mit der Schwertspitze die Seite auf. Fluchend trat dieser zwei Schritte zurück und besah sich die Wunde. Rian hatte nicht voll getroffen, doch in dem Hemd klaffte ein Riss, und eine feine Blutspur zog sich seinen Oberkörper hinab.

Lächelnd wandte Jesse sich wieder Rian zu und nickte. »In Ordnung. Vorbei mit den Spielchen«, und stürzte sich erneut auf ihn. Diesmal fiel es beiden schwerer, einen Treffer zu landen, doch Rian setzte bei Jesses Rückzug nach und verpasste ihm einen Schnitt auf dem Oberschenkel. Das war unübersehbar der Moment, in dem Jesse die Kontrolle über sich verlor, Rian aber wirkte das erste Mal wirklich zufrieden. Ich erkannte es im gleichen Augenblick wie die anderen Zuschauer und schüttelte fassungslos den Kopf.

Nun war ich mir absolut sicher, dass er es hier und jetzt beenden wollte, war mir sicher, dass er selbst dafür sorgen wollte, dass er verlor – und zwar endgültig.

Erneut prallten die Schwerter laut klirrend aufeinander und mein Innerstes zog sich zusammen. »Tu das nicht. Bitte, Rian«, flüsterte ich erstickt, als Jesse einen direkten Angriff vollzog und Rian plötzlich seine Deckung vollkommen öffnete.

»Nein!«, schrie ich auf und stürzte auf ihn zu, sprang, wollte ihn schützen und stand doch nur einen Wimpernschlag später wieder an genau derselben Stelle wie zuvor.

Fassungslos registrierte ich meine Unfähigkeit einzugreifen, musste mit ansehen, wie Rian sich mit voller Absicht in das Schwert fallen ließ. Es folgte ein Schrei, aber der kam weder von Jesse noch von Rian, doch ich wagte nicht, den Blick abzuwenden.

Das Schwert durchbohrte Rian, drang in den Oberkörper ein, und durchdrang ihn vollständig. Die Spitze lugte so gerade eben aus seiner Rückseite heraus, Jesse und die anderen starrten fassungslos zu Rian, der noch immer lächelnd, einfach reglos vor ihm stand.

»Ist es das, was du wolltest? Wie dämlich kann man eigentlich sein?«, schrie Jesse und verzog angewidert sein Gesicht.

»Der 1. Hüter Bohl«, hörte ich die ängstlich geflüsterten Worte hinter mir, doch noch immer war ich nicht in der Lage, den Blick von Rian zu nehmen.

Er trat einen unsicheren Schritt auf Jesse zu und sein Lächeln verbreiterte sich. »Ja, Jesse, genau das wollte ich. Du hast mich erlöst, ich bekam, was ich ersehnte, seit dem Verschwinden von Talil, doch du bekommst nun, was du verdienst. Du wirst unermessliche Qualen durchleben, so wie du sie mir beschertest.«

Er wandte den Blick ab, durch mich hindurch, grinste nun über das ganze Gesicht, und ich sah mich ebenfalls um. Das musste Bohl sein, der außer sich vor Zorn auf den Platz eilte. Hinter sich mehrere Hüter, wie ich vermutete, gefolgt von einem Anwärter, der vorher als Zuschauer mit Jesse hierhergekommen war und Bohl vermutlich über die Vorgänge hier informiert hatte.

Jesse aber erbleichte, zeitgleich drehten sowohl Rian als auch ich uns wieder zu ihm um. »Das alles war dein Plan?«, flüsterte er entsetzt und wich einen Schritt zurück, von Rian fort.

»Durch dich wurde das Leben hier für mich die reinste Qual, doch das wird nichts sein im Vergleich dazu, was dir nun bevorsteht. Du wirst all deine Ehren verlieren und deine Lebensbahn lang büßen. Ich jedoch bin endlich frei.« Er sackte auf die Knie und erst jetzt bemerkte ich die Blutlache, hörte das gurgelnde Geräusch, als er Atem holte. Ein Rinnsal aus Blut lief aus seinem Mundwinkel, dennoch lächelte er weiterhin.

Plötzlich sah er mich direkt an, strahlte, seine Augen funkelten und erst jetzt wusste ich, was ich die ganze Zeit vermisst hatte. Das Funkeln seiner Augen.

Mit einem röchelnden Laut kippte er zur Seite und regte sich nicht mehr.

»Nein«, schrie ich und schreckte hoch, spürte die unruhigen Wölfe, die sich sofort an mich drückten und leise winselten. Verwirrt fuhr ich mir übers Gesicht und hielt plötzlich ein feuchtes Tuch in Händen. Ich blickte auf und sah in Wiltons durchdringende Augen. Starke Wut erfasste mich, doch ich war kaum in der Lage, ein Bein zu heben und begann am ganzen Körper zu zittern.

»Warte noch einen Moment, es wird gleich besser. Das Fieber hat deinen Leib sehr geschwächt.«

Meine Wut blieb, da ich mich aber so zerschlagen fühlte, ließ ich mich matt zurück auf den Rücken sinken. »Es ist von Vorteil, dass du harten Boden gewöhnt zu sein scheinst. Dass du dich überhaupt bewegen kannst, ohne einen Schmerzenslaut auszustoßen, ist erstaunlich«, fuhr er unbekümmert fort.

»Was soll das alles?«, fragte ich, unendlich müde von diesen Erlebnissen, ausgelaugt von diesem Auf und Ab der Geschehnisse, meiner Gefühle.

»Du bist die letzte lebende Seelenwandlerin vom Volk der Dunkelelben, die den Wolf in sich trägt. Doch darüber hinaus ruht in dir die Macht der Splitterseele, unentdeckt und verkümmert. Die Geister unserer Ahnen zeigen dir, was nur für dich allein bestimmt ist. Ich kenne den Inhalt vorher nicht, denn ich bin nur der einstige Mittler zwischen den Welten. Durch die Macht unserer Ahnengeister ist es mir erlaubt, zeitweise in der Welt der Lebenden zu verweilen. Du musst sehen, lernen und verstehen und darfst nicht vergessen. Du siehst Vergangenes und Zukünftiges. Doch es ist der Blick auf das Bevorstehende, denn dies allein ist letztendlich maßgebend. Die Zukunft zeigt dir, wohin der Weg all derer führt, die dir begegnet sind, auf deren Leben du bewusst oder unbewusst Einfluss genommen hast.

Jede Begegnung hinterlässt ihre Spuren, ob wir wollen oder nicht und auch wenn du nicht verantwortlich für die Geschehnisse bist, so trägst du dennoch deinen Anteil daran. Du bist in der Lage, sie zu verhindern, sie zu ändern, wenn du denn die Entscheidung dazu triffst.«

Nachdenklich betrachtete ich ihn. In meinem Kopf herrschte ein heilloses Durcheinander, und ich bekam meine Gedanken nicht mehr sortiert. Seine Erklärung hallte nur seltsam in mir nach, ohne dass ich in der Lage war, den Sinn zu erfassen.

»Aber warum? Dies wird wohl kaum jeder Dunkelelb erleben, sobald er auf dem falschen Pfad wandelt.«

Er lächelte. »Wandelst du denn auf dem falschen Pfad?«, fragte er herausfordernd.

Wütend funkelte ich ihn an. »Deswegen bin ich doch hier, oder nicht? Weil alle der Meinung sind, ich befände mich auf dem Holzweg. Ich verhalte mich unfair oder was auch immer, aber was ist mit mir? Ja, ich bin geflohen, wenn du so willst, doch ich tat es nicht nur, um mich zu schützen. Ich beschützte auch sie damit. Ich bin innerlich zerbrochen, warum begreift das denn niemand? Und schließlich waren sie es, die mich behandelten, als würde ich jeden Moment durchdrehen und ich weiß nicht, ein Massaker anrichten, was auch immer«, rief ich aufgebracht und fuhr mir durch die Haare.

»Du bist zutiefst verletzt und das in vielen Belangen auch zu Recht. Dennoch musst du begreifen, dass eine Auseinandersetzung in einer Beziehung nun einmal andersartig vonstattengeht. Man streitet sich, aber man versöhnt sich auch wieder. Das ist der Lauf der Dinge, das Leben in einer Familie und in einem Clan, der alle miteinander verbindet. Du jedoch hast die Entscheidung getroffen, allen den Rücken zu kehren, für immer. Und das hat Konsequenzen, weitreichende, wie du selbst bereits erlebtest. Du bist hier, weil du genug gelitten, deinen Frieden verdient hast. Doch den Frieden, den du suchst, wirst du nirgendwo anders finden, als bei deiner Familie und bei deinen Freunden. Wenn du dir etwas anderes einredest, dann belügst du dich selbst und genau das musst du erkennen, bevor du an den Anfang zurückkehrst«, antwortete er, immer aufgebrachter, bis er selbst anfing zu schreien.

»Du kennst mich nicht einmal, weshalb bist du so wütend?«, schrie ich zurück. Seine ganze Art machte mir Angst, nicht, dass ich mich vor ihm fürchtete, doch irgendetwas verbarg er, wirkte so verzweifelt, als würde ich etwas Wichtiges wissen müssen, könnte es aber nicht sehen.

»Was verschweigst du mir?«, fragte ich leise, nicht sicher, ob ich die Antwort überhaupt hören wollte.

»Du wirst die Möglichkeit bekommen, den Zeitenfluss zu verändern, doch du musst dafür bereit sein, mit jeglicher Konsequenz. Nicht alles ist änderbar, Schicksale, die festgeschrieben sind und deren Verlauf du nicht zu korrigieren vermagst. Du musst dich dem stellen und stark sein. Es wird eine Zeit geben, in der du uns verfluchen wirst. Doch der Schlüssel zu deiner Macht sind deine Erinnerungen.« Aufgebracht fuhr er sich durchs Haar. »Dahinten befindet sich ein Fluss, in dem du dich waschen kannst. Dort liegt eine Tasche, in der du alles Nötige findest, was du dazu brauchst. Wenn du fertig bist, kehre hierher zurück, dann essen wir«, entgegnete er nun tonlos und ging davon, ohne mich auch nur ein einziges Mal anzusehen.

Schwerfällig erhob ich mich, griff die Tasche und wandte mich in die Richtung, in die er gezeigt hatte. Schon nach wenigen Minuten hörte ich das leise Plätschern und eine seltsame Ruhe erfasste mich. Mit einem Tuch und Seife in der Hand stieg ich zum Wasser hinunter und entkleidete mich. Ich genoss die vollkommene Stille, die mich auch innerlich ausfüllte. Meine Gedanken kamen endlich zur Ruhe, drehten sich nicht mehr ständig im Kreis und schließlich schien ich in der Lage zu sein, mich auf die Geschehnisse zu konzentrieren. Gleichgültig wie es weitergehen würde, eines wusste ich mit absoluter Gewissheit: Niemals könnte ich Rian diesem Schicksal überlassen. Ich konnte ihn nicht einfach sterben lassen in dem Wissen, dass ich selbst dafür den Ausschlag gab. Alles andere würde sich zeigen.

Nachdem ich mich gewaschen und angezogen hatte, ging ich zurück zu der Baumgruppe, aus der mir bereits ein verführerischer Duft entgegenwehte. Sofort drängte mein Hungergefühl in den Vordergrund, und ich seufzte.

Schwanzwedelnd liefen mir die Wölfe entgegen, ich lächelte bei ihrem Anblick und begrüßte sie ausgiebig. Ich fühlte mich, das erste Mal seit meinem Weggang, einigermaßen gut.

Als ich zwischen den Bäumen hindurchschritt, saß Wilton bereits vor dem Feuer und aß. Mein Hunger überwältigte mich, und ich ergriff hastig die Schale, die er mir hinhielt. »Wie lange habe ich diesmal geschlafen?«, fragte ich und beobachtete ihn verstohlen.

Scheinbar niedergeschlagen fuhr er sich übers Gesicht. »Es tut mir leid, dass ich die Fassung verlor, das hätte ich nicht tun dürfen.« Er wandte mir den Blick zu und betrachtete mich. »Verzeih mir«, sagte er leise und ich nickte. »Etwas weniger als vier Mondgänge. Das Fieber ist hartnäckig, nun jedoch scheint es überstanden zu sein.«