Träume in New Harbor - Ava Jordan - E-Book

Träume in New Harbor E-Book

Ava Jordan

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Beschreibung

Hannah hat ihr Leben im Griff und ist durch nichts aus der Ruhe zu bringen - weder durch ihren stressigen Job als Nachtschwester, noch durch ihre chaotischen Mitbewohner Morg und Boobie oder ihre schwierige Familie. Aber dann wird Hannah schwanger und auf einmal steht ihr Leben Kopf. Kurzerhand kündigt Hannah ihren Job und ihr WG-Zimmer und kehrt zurück an den Ort ihrer Kindheit: New Harbor. Doch der Neuanfang ist schwieriger als gedacht. Die Pflege des alten und griesgrämigen Charlies, der mit seiner toten Frau redet und sich in keinster Weise helfen lassen will, wird für Hannah zur Herausforderung. Und was soll sie mit dem Vater ihres ungeborenen Kindes machen? Und warum überhaupt konnte nicht alles so bleiben, wie es war ...

Der Titel erschien erstmals 2016 unter "Ein Regenbogen im Winter".

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Über das Buch

Hannah hat ihr Leben im Griff und ist durch nichts aus der Ruhe zu bringen – weder durch ihren stressigen Job als Nachtschwester, noch durch ihre chaotischen Mitbewohner Morg und Boobie oder ihre schwierige Familie. Aber dann wird Hannah schwanger und auf einmal steht ihr Leben Kopf. Kurzerhand kündigt Hannah ihren Job und ihr WG-Zimmer und kehrt zurück an den Ort ihrer Kindheit: New Harbor.

Doch der Neuanfang ist schwieriger als gedacht. Die Pflege des alten und griesgrämigen Charlies, der mit seiner toten Frau redet und sich in keinster Weise helfen lassen will, wird für Hannah zur Herausforderung. Und was soll sie mit dem Vater ihres ungeborenen Kindes machen? Und warum überhaupt konnte nicht alles so bleiben, wie es war?

Über Eva Jordan

Eva Jordan wuchs in Westfalen auf. Nach einigen Jahren im Rheinland kehrte sie in die Heimat zurück und bewohnt dort nun mit ihrem Mann und unzähligen Büchern ein kleines Häuschen. Sie schreibt und übersetzt schon sehr lange und kann sich ein Leben ohne das Schreiben einfach nicht vorstellen.

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Eva Jordan

Träume in New Harbor

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

Epilog

Impressum

1. Kapitel

Jeder Mensch hält nur ein bestimmtes Maß an Scheiße aus.

Davon war Hannah überzeugt. Und für sie war das Maß nun endgültig voll.

Sie liebte das Leben in dem weitläufigen, baufälligen Haus in einem Vorort von Boston. Es störte sie nicht, dass ihre Mitbewohner nächtelang Partys feierten, wenn sie eigentlich Schlaf tanken wollte, weil der nächste anstrengende Dienst im Krankenhaus schon auf sie wartete. Es störte sie auch nicht, wenn Morg und Boobie ständig kifften und sich nicht um den Haushalt kümmerten. Das, was zu tun war, bekam sie auch alleine hin. Sie lebte nicht erst seit gestern in dieser etwas merkwürdigen Wohngemeinschaft mit den beiden Rockmusikern, sondern bereits seit anderthalb Jahren. Und bisher hatte alles prima zusammengepasst.

Aber jetzt hatten sie Moody getötet.

Ausgerechnet Moody, ihre liebste und zickigste Orchidee. Die sie seit Jahren hegte und pflegte, die sie immer wieder zum Blühen brachte. Moody ließ in Hinsicht Pflege nicht mit sich diskutieren. Bekam sie nicht genug Dünger oder gar zu viel Wasser, strafte sie Hannah mit Todesverachtung und warf die Blätter scharenweise ab. Sie schien sogar bereit, ein vorzeitiges Ableben in Kauf zu nehmen, wenn nicht schleunigst etwas an ihrer Pflege geändert wurde. Was Hannah dann auch sofort tat, denn sie liebte diese Orchidee. Divenhaft, ja, und mit allzu viel Charakter – und damit so vollkommen anders als Hannah selbst.

Moody stand in Hannahs Zimmer auf einem Mosaiktischchen am Fenster. Und ihr Zimmer war für die Jungs tabu. Herrgott, wie oft hatte sie den beiden schon gesagt, sie könnten überall im Haus tun und lassen, was sie wollten, aber nicht in ihrem Zimmer. Und warum? Weil sie sich genau diesen Anblick hatte ersparen wollen.

Wobei sie nie im Leben mit so etwas gerechnet hätte.

»Was ist denn hier los?«, fragte Hannah entgeistert. Sie war nur zwei Stunden weg gewesen, um ein paar Einkäufe zu machen. Genügten etwa zwei Stunden, um das Haus in eine Opiumhöhle zu verwandeln und statt Opium eine Orchidee zu rauchen?

Morg und Boobie schafften das.

Die beiden Jungs – von Männern konnte hier trotz ihres Alters von knapp dreißig Jahren keine Rede sein! – lagen völlig stoned auf Hannahs Bett. Mit Schuhen, denen man ansah, dass sie damit noch vor Kurzem draußen durch Dreck und Schneematsch gestiefelt waren. Vermutlich, weil sie nach etwas Rauchbarem gesucht hatten. So waren Morg und Boobie – wenn sie sich in ihrem Rausch befanden, gingen sie über Stock und Stein und manchmal auch über Leichen.

Arme, wunderschöne Moody!

Der Übertopf stand auf dem Boden vor ihrem Bett. Die dreckigen Schuhe hatten auf dem hellen, ausgewaschenen Quilt, der auf ihrem Bett ausgebreitet lag, ihre Spuren hinterlassen – zusammen mit der Erde aus dem Blumentopf. Von Moody selbst war nichts mehr übrig außer das Gerippe des Stängels und die Wurzeln, die halb aus dem Übertopf hingen. Die waren ihnen wohl zu erdig, um sie in ihren Joint zu stopfen.

»Scheiße, Morg!«, brüllte Hannah, weil er die Augen wenigstens noch einen Spaltbreit geöffnet hatte. Bei Boobie war vermutlich schon alles verloren. Der riesige Joint zwischen seinen Fingern näherte sich jedenfalls gefährlich der Bettdecke.

»Mach dich mal flockig, Hannah«, murmelte Morg. »Wir haben das im Griff, ehrlich.«

»Im Griff? Im Griff!?«

Hannah war nicht hysterisch. Sie war das Gegenteil von hysterisch. Mit ihren Ringelstrümpfen, den raspelkurzen braunen Haaren und den wachen Haselnussaugen war sie eine bodenständige, wenn auch etwas verrückte junge Frau, der man ihre fünfundzwanzig Jahre nicht ansah. Zumindest behauptete das jeder, der sie kennenlernte. Und im Spirituosengeschäft musste sie regelmäßig ihren Führerschein vorzeigen. Inzwischen fand sie selbst das nicht mehr besonders witzig.

In diesem Moment war sie überzeugt, um ein paar graue Haare reicher zu werden. Und zum ersten Mal verstand sie, was Hysterie war. Eine völlig neue Erfahrung, aber mussten die Jungs dafür Moody umbringen?

»Ihr habt Moody getötet!«, schrie sie jetzt. »Verdammt, was habt ihr überhaupt in meinem Zimmer zu suchen? Mein Zimmer! Tabu! Schon vergessen?«

Es war ihr schrecklich peinlich, aber sie fühlte sich den Tränen nahe.

Dabei war heute so ein wichtiger Tag …

Boobie war von ihrem Gekreische aus seinem seligen Rausch aufgeschreckt. Er richtete sich auf, aschte dabei großzügig auf ihre Tagesdecke, ehe er Morg den Joint reichte und versuchte, zur Bettkante zu krabbeln, wobei seine dreckigen Schuhe weitere Spuren verursachten. »Alles im Griff, Tabu-Hannah«, meinte er.

»Ihr habt ja einen totalen Knall. Ihr Idioten!« Sie spürte die Tränen in ihren Augen, heiß und brennend. Nein, nein, nein. Sie würde jetzt nicht losheulen, weil diese Blödmänner ihr Thanksgiving versauten und ihre Lieblingsorchidee in Asche und Rausch verwandelt hatten. Das kam überhaupt nicht infrage!

»Ihr räumt hier jetzt auf! Alles. Ich will nachher nichts mehr von dieser … dieser Verwüstung sehen. Wenn ich heute Abend in mein Zimmer komme, ist meine Decke sauber, die Blumenerde ist verschwunden und ihr gefälligst auch! Und …« Sie holte tief Luft. Verdammt! Jetzt liefen die Tränen doch über ihre Wangen. Sie stapfte zum Bett, riss die kümmerlichen Reste von Moody aus dem Topf und drückte sie an ihre karierte Bluse. »Die nehme ich mit. Ihr habt doch nicht mehr alle Kugeln am Christbaum.«

Sie stapfte aus dem Zimmer und rief noch über die Schulter: »Und lüften! Lüftet gefälligst, damit ich morgen früh nicht völlig bekifft aufwache.«

Verdammt! Mit einer wütenden Bewegung wischte sie die Tränen weg.

Es ist doch nur eine Pflanze …

Aber Moody hatte sie die letzten Jahre begleitet. Seit sie zu Hause ausgezogen war, stand Moody unerschütterlich auf der Fensterbank oder dem Tischchen mit der bunter Mosaikplatte. Die Orchidee hatte sie bei drei Umzügen begleitet, und als sie vor anderthalb Jahren mit Morg und Boobie zusammenzog, hatte sie wirklich geglaubt, sie sei angekommen. Und sie hatte auch geglaubt, die Orchidee werde sie ewig begleiten.

Sie blieb im Flur stehen und lehnte sich einen kurzen Moment an die Wand. Die Wut und die Trauer schwappten über sie hinweg. Aber die Tränen versiegten so schnell, wie sie gekommen waren, und wichen einer Welle aus Erschöpfung, die alles andere dämpfte. Sie schnaufte einmal tief durch und ging in die Küche, um ihre Einkäufe wegzuräumen.

Sie hatte nur noch ein paar Kleinigkeiten aus dem Supermarkt holen wollen. Womit sie nicht gerechnet hatte, waren die Massen anderer Leute, die ausgerechnet heute auf dieselbe Idee kamen.

Es war Thanksgiving. Sie hätte damit rechnen müssen.

Alles hatte länger gedauert. In den Gängen des Supermarkts drängten sich die Menschen, hielten Schwätzchen und schienen es nicht eilig zu haben. Auch an der Kasse hatten sie alle Zeit der Welt. Obwohl alle Kassen geöffnet waren, stand man ewig an. Hannah übte sich in Geduld. Sie hatte eigentlich keine Zeit, denn das Essen sollte heute Abend perfekt und pünktlich auf dem Tisch stehen. Aber wenn es jetzt länger dauerte, musste sie damit klarkommen.

Auf dem Parkplatz traf sie auch noch eine alte Highschool-Freundin. Tess war damals die Schönste gewesen – die Ballkönigin beim Abschlussball, die mit dem Quarterback ging, dem sogar ein Stipendium an der Ohio State angeboten worden war. Sie erzählte Hannah betrübt, wie er sich im zweiten Jahr die Kniescheibe gebrochen hatte. Vorbei war’s mit seiner Footballkarriere. Inzwischen waren sie zurück in Boston, und er arbeitete bei einer kleinen Bank im Vorort. Sie hatten ein Haus gekauft, das sie bis an ihr Lebensende würden abbezahlen müssen, und kurz nach Hauskauf und Hochzeit waren die zwei kleinen Söhne gekommen. Das alles erzählte sie so freimütig, als wollte sie mit Hannah konkurrieren, wer wohl das traurigere Leben führte. Sie sah abgekämpft aus, übermüdet und ein kleines bisschen abwesend. Es schien sie immens zu irritieren, dass Hannah nicht in diesen Wettstreit einstieg, wer sich trotz aller widrigen Umstände besser hielt, sondern sich nur erfreut darüber zeigte, dass Tess offenbar damit zufrieden war, wie es war.

Denn das musste sie doch sein, oder? Sonst würde sie nicht diese »mein Mann, mein Haus, meine Kinder«-Leier vom Stapel lassen. Oder wollte sie Mitleid, weil sie damals auf Hank gesetzt hatte? Das falsche Pferd auf dem Weg nach oben; der Sportler, der für das harte Leben als Profi nicht die richtigen Knochen hatte.

»Und, wie geht’s bei dir? Gibt es einen Mann in deinem Leben?«, versuchte Tess schließlich, Hannah wenigstens ein Detail zu entlocken. »Früher bist du immer mit den Nerds vom Computerclub abgehangen. Ich habe gedacht, du findest nie einen Freund.«

Das stimmte nicht ganz. Schon damals hatte Hannah ihre vielfältigen Interessen gepflegt. Sie schrieb für die Schülerzeitung, machte eine Ersthelfer-Ausbildung und war Patin für zwei Schülerinnen in der untersten Klassenstufe und gab ihnen Nachhilfe. Tess hatte währenddessen als Cheerleader (natürlich, was sonst?) wild hüpfend die Sportmannschaften angefeuert und wurde an den Wochenenden zu jeder Party eingeladen. Manchmal bekam Hannah auch diese Einladungen, doch die interessierten sie nur selten. Sie blieb lieber zu Hause.

Komischerweise waren Tess und sie trotzdem Freundinnen geworden. Beste Freundinnen sogar, die sich alles erzählten. Durch Tess hätte Hannah an all den Partys teilnehmen können, zu denen sie letztlich aber nie ging. Sie wusste über alle Intrigen und Katastrophen bestens Bescheid, die sich an den Wochenenden zutrugen. Ohne dass sie sich je dafür interessierte oder einen Vorteil daraus zog. Doch wie es so oft war, hatten sie sich nach der Highschool allen anderslautenden Versprechen zum Trotz aus den Augen verloren.

Wie das Leben manchmal so spielte.

Hannah hatte auf die Frage nach einem Mann in ihrem Leben nur gelächelt. »Vielleicht«, sagte sie ausweichend und dachte doch an etwas völlig anderes.

Ihre Antwort hatte Tess nicht besonders befriedigt. Aber Hannah war ihr keine Rechenschaft schuldig. Sie waren keine Freundinnen mehr, und dass Tess sich verhielt, als wäre die Freundschaft noch immer intakt, fand Hannah höchstens irritierend und beinahe belustigend.

Im Grunde waren sie Fremde und lebten völlig verschiedene Leben. Es war, als hätte Tess die Tür zu einer geheimen Welt aufgestoßen, zu der Hannah nicht gehören wollte. Wie damals in der Highschool, wenn Tess jeden Sonntag nach der Party schon morgens zu Hannah nach Hause kam und ihr bei Blaubeerpancakes und Kaffee all die saftigen Details der letzten Nacht erzählte – wer mit wem, warum und wie.

Während sie sich unterhielten, flitzte Tess’ Zweijähriger über den Parkplatz, während der Kleine in der Babyschale selig schlummerte und sich vom wilden Kreischen des Älteren genauso wenig aus der Ruhe bringen ließ wie von der eisigen Kälte. Die Wangen waren das Einzige, was man rosig aus dem Schneeanzug blitzen sah. »Devlin, komm her!«, rief Tess zunehmend verzweifelt. Devlin hängte sich an den Einkaufswagen, während sie sich in aller Ausführlichkeit über den Windelinhalt von Zweijährigen und Säuglingen ausließ. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte Hannah an Ort und Stelle ein paar Beispiele gezeigt.

Und mit dieser geheimnisvollen anderen Welt, in die Tess sich nach der Hochzeit und der Geburt von zwei Kindern zurückgezogen hatte, schien eine andere Tür für immer verschlossen. Die zu Hannah.

Darüber dachte Hannah nach, während sie sich an die Zubereitung der Füllung für den Truthahn machte. Sie würde ihn nach einem Rezept ihrer Familie machen, mit Sellerie, Äpfeln, Zwiebeln und Weißbrot. Das Rezept stand in dem Kochbuch, das ihre Mutter ihr vor acht Jahren geschenkt hatte, als sie von zu Hause ausgezogen war. Sie hatte es damals von Hand aus ihrer eigenen Rezeptsammlung abgeschrieben und mit hübschen Zeichnungen verziert. Der karierte Ordner stand auf dem obersten Regalbrett neben dem Herd in der Küche, und die Seiten waren von der häufigen Benutzung schon ganz speckig und fleckig. Aber das musste bei einem Kochbuch so sein, fand Hannah.

Sie hörte einen Knall im Flur, kümmerte sich aber nicht darum, sondern warf einen kurzen Blick auf die Uhr, während sie die Rezeptliste überflog. Halb zwölf. Genug Zeit, um bis zum Abend einen Truthahn mit jeder Menge köstlicher Beilagen für acht Personen auf den Tisch zu bringen.

Boobie kam in die Küche geschlichen und verschwand in der Vorratskammer. Sie hörte ihn im Putzschrank wühlen.

»Wo ist Morg?«, fragte sie.

Boobie hielt inne. »Er … äh … ist weg.«

»Und wann kommt er wieder?«

Boobie sagte lange nichts. Schließlich kam er mit dem Staubsauger aus der Kammer. »Keine Ahnung. Er … ich glaube, er will Ersatz finden. Für deine Orchidee.«

Hannah seufzte. »Das müsst ihr nicht.«

Boobie stand wie ein begossener Pudel vor ihr. Meine Güte, wie alt war er? Vier Jahre älter als sie. Man sollte doch meinen, dass ein Mann von 29 Jahren wenigstens ansatzweise erwachsen sein konnte. Stattdessen hatte sie heute das Gefühl, mit zwei Kleinkindern zusammenzuleben, die sie ständig erziehen musste.

»Boobie …« Sie legte den Rezeptordner auf den Küchentisch neben die Zutaten, holte für ihn eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und drückte sie ihm in die Hand. »Wirklich? Er versucht, jetzt noch eine neue Orchidee zu besorgen?«

»Wenn du sie doch so magst …«

Sie schenkte sich selbst ein Glas Wasser ein und prostete ihm zu. »Ich mag aber diese Orchidee. Nicht irgendeine.« Sie wusste selbst, wie unfair das klang. Aber heute war Thanksgiving. Sie hatte seit Tagen alles dafür vorbereitet und geplant. Nichts mussten Morg und Boobie machen. Außer halbwegs bei Verstand zu sein, wenn der Besuch zum Essen kam. Halbwegs aufnahmefähig, wenn Hannah ihnen erzählte, was sie schon seit Wochen so sehr bewegte.

»Tut mir leid. Soll ich Morg anrufen, dass er keine Orchidee zu kaufen braucht?«

»Nein, lass nur. Mach in meinem Zimmer sauber. Danach kannst du mir beim Kochen helfen.«

»Okay, Ma’am!« Er salutierte mit der Bierflasche und zog den Staubsauger am Schlauch hinter sich her durch die Küche. Er sah aus wie ein General, der gleich sein Staubsaugerpony besteigt und in die Schlacht reitet. Sie musste lachen.

»Du bist albern, Robert Fletcher!«, rief sie hinter ihm her. »Werd endlich mal erwachsen!«

»Keine Zeit! Ich muss staubsaugen!«, rief er zurück.

Eine Minute später lärmte der Staubsauger in ihrem Zimmer los, und sie konnte sich in Ruhe wieder dem Truthahn widmen.

Zum Glück hatte sie jetzt alle Zutaten beisammen, und einem Küchenmassaker stand nichts mehr im Weg.

Die nächsten zwei Stunden konnte sie in aller Ruhe in der Küche werkeln. Boobie schlich manchmal an ihr vorbei und holte weiteres Putzzeug. Offensichtlich hatte sie mit ihrer Standpauke bei ihm etwas losgetreten, denn während sie die Füllung zubereitete, den Truthahn stopfte und in den Ofen schob, hörte sie ihn nicht nur in ihrem Zimmer rumoren, sondern auch in seinem eigenen. Nach einer Stunde kam Morg zurück, und die beiden tuschelten im Flur. Folie raschelte, als sie die neue Orchidee auspackten. Danach putzten sie weiter. Dass Hannah das ganze Haus schon in den letzten Tagen auf Vordermann gebracht hatte, schien ihren Eifer nicht zu bremsen.

Sie rührte gerade die karamellisierten Zwiebeln für die Speckküchlein um, als Morg sich endlich auch wieder in die Küche traute.

»Das mit deiner Orchidee tut mir leid«, sagte er.

»Ist schon in Ordnung, Morg. Aber ihr müsst auch einfach mal Rücksicht auf eure Mitmenschen nehmen.«

Sie kam sich blöd vor, weil sie offenbar zwei erwachsene Männer zu Rücksichtnahme erziehen sollte. Das war nicht ihr Job.

»Mhm«, machte er und scharrte nervös mit den Füßen.

»Wenn du mir helfen möchtest, kannst du den Tisch decken.«

»Das riecht aber schon lecker. Ach so … also … Ist das okay, dass mein Bruder heute Abend auch kommt? Er hat mich vorhin angerufen. Offensichtlich ist er gerade in der Stadt.«

Hannah hielt mitten in der Bewegung inne. Sie schloss für einen Moment die Augen, sammelte sich. Am liebsten hätte sie jetzt auch mit dem Fuß aufgestampft und ihrer Wut freien Lauf gelassen, denn dass Morgs Bruder heute Abend kam, passte ihr gar nicht in den Kram. Dann holte sie tief Luft und sagte: »Ja, klar ist das in Ordnung.«

Also waren sie an diesem Abend zu neunt. Morg und Boobie, ihre Freundinnen Stella und Clara (bei den vieren wusste man nie so genau, wer mit wem zusammen war), dazu kamen Hannahs Vater Trevor und ihr Onkel Finn, die seit einiger Zeit zusammenwohnten, sowie die etwas schrullige Nachbarin Minnie.

Und Morgs Bruder Paul. Ausgerechnet Paul.

»Dann deck den Tisch für neun. Nimm das gute Geschirr aus dem Wohnzimmerschrank«, rief sie Morg nach. Hoffentlich ging das gut. Aber er war mit dem Auto ins nächste Gartencenter gefahren, da würde er es auch schaffen, ein paar Teller auf den Tisch zu stellen.

Sobald er die Küchentür hinter sich zuzog, ließ Hannah den Löffel sinken, mit dem sie so eifrig im Topf gerührt hatte. Sie schnaufte. Was für ein Tag!

Und dann auch noch Paul.

Seinen letzten Besuch in Boston hatte sie noch in allzu lebhafter Erinnerung. Aber davon wusste Morg nichts, und das sollte auch so bleiben. Ihn würde es vermutlich ziemlich nerven, wenn sie ihm erzählte, dass Paul und sie nach dem Abend, den sie zu sechst in einer Karaoke-Bar verbracht hatten, erst auf der Couch und dann in ihrem Bett gelandet waren.

»Zu viel Tequila«, murmelte sie. »Das wird noch mal mein Untergang.«

Paul war am nächsten Morgen schnell verschwunden. So weit erst mal kein Problem, denn sie hatte bestimmt kein Interesse daran, diesen One-Night-Stand im Nachhinein zu einem Drama zu machen. Sie hatten ihren Spaß gehabt. Es war nicht ihre Art, sich mit einem Mann so Hals über Kopf in ein wildes Abenteuer zu stürzen, aber da es nun mal passiert war, gab es auch keinen Grund, sich im Nachhinein zu kasteien.

Und damit wäre das Thema für sie abgehakt gewesen, wenn nicht … tja.

Sie legte die Hand auf ihren Bauch. Oh, früher hatte sie die Frauen immer total albern gefunden, die verzückt die Hand auf den flachen Bauch legten und dabei lächelten, als wären sie völlig entrückt.

Aber inzwischen verstand sie, warum Frauen das machten. Sie verstand es, und sie konnte nicht anders. Dieses Gefühl war einmalig, und sie hatte keinen Moment darüber nachdenken müssen, ob sie ein Kind wollte, als sich vor einigen Wochen der zweite Streifen des Schwangerschaftstests in nur wenigen Sekunden hellblau verfärbte.

Schwanger! Völlig unerwartet, aber da war es Hellblau auf Weiß zu sehen. Kein Zweifel. Und damit erklärten sich plötzlich auch ihre bleierne Müdigkeit und ihre Abneigung gegen den morgendlichen Kaffee, den sie sonst aus einem riesigen Becher mit der Skyline von San Francisco konsumierte.

Heute wollte sie es der Familie sagen. Oder den Menschen, die für sie einer Familie am nächsten kamen. Bis auf ihre Mutter kamen alle, und der hatte sie schon vor Wochen über WhatsApp ein Ultraschallfoto geschickt, weil sie es nicht mehr aushielt, mit niemandem darüber reden zu können.

Die Reaktion ihrer Mutter war typisch.

Kennst du den Vater? Taugt er?

Und weil Hannah keine Lust hatte, über den Vater ihres Babys zu reden, ignorierte sie die Nachricht. Zumal sie kaum etwas über Paul wusste, außer dass er am anderen Ende des Landes lebte und Morgs älterer Bruder war. Zwei Tage später schrieb ihre Mutter noch einmal: Egal. Ich freue mich für dich. Das bekommen wir jetzt auch noch groß. Wunderbar!

Sie tat so, als wäre das Baby nicht nur ein Unfall (okay, das war es schon, streng genommen), sondern auch das größte Glück auf Erden – und das war es, was Hannah die letzten Wochen leichter gemacht hatte. Die Zweifel waren im selben Moment über sie hereingebrochen wie die Freude über das Baby. Wie sollte sie das alleine schaffen? Würde eine WG mit zwei Rockmusikern und einem Baby überhaupt funktionieren?

Wollte sie das Baby?

Die letzte Frage hatte sie mit einem entschiedenen Ja beantwortet, jedem Anflug von Angst trotzend.

Ihre Mutter war für sie da, wenn sie Fragen hatte – obwohl sie gar nicht so viele Fragen hatte. Sie war ausgebildete Krankenschwester und hatte während ihrer Ausbildung auch einige Monate auf einer Wöchnerinnenstation gearbeitet. Sie kannte sich aus, und sobald sie erfahren hatte, dass sie ein Kind bekam, war sie mit sich und ihrem Körper auch wieder im Reinen gewesen. Alles ist gut – das wurde zu ihrem Mantra.

Aber erst musste sie den heutigen Abend überstehen. Sie hatte sich insgeheim darauf gefreut, ihren Freunden und der Familie von der Schwangerschaft zu erzählen.

Wenn Paul dabei war, änderte das vermutlich einiges.

Das Thanksgiving-Dinner wurde ein voller Erfolg. Sie schlemmten mit Begeisterung den Truthahn, das Süßkartoffelpüree, die Bohnen und die vielen zusätzlichen Beilagen, die Hannah gezaubert hatte. Sie lobte Boobie und Morg, die ihr trotz des kleinen Marihuanarauschs auf den letzten Metern geholfen hatten. Beide brüsteten sich vor Stella und Clara mit ihren Kochkünsten.

Hannah saß am Kopfende des Tischs und ließ den Blick über die Anwesenden gleiten. Sie war satt und zufrieden, und die anderen hatten schon ein bisschen Rotwein intus. Bald konnte sie ihnen die frohe Nachricht verkünden.

Ein bisschen Angst hatte sie ja doch vor den Reaktionen.

Heute saß Stella neben Boobie und Clara neben Morg. Sonst war es meist umgekehrt.

Vielleicht wussten die beiden Jungs selbst nicht, wer von den beiden wer war. Stella und Clara sahen sich sehr ähnlich. Beide hatten die sportliche Figur von Turnerinnen – die sie an der Highschool auch gewesen waren – und dazu blonde Lockenmähnen und helle Augen. Die ebenmäßigen Gesichtszüge sahen aus, als habe derselbe New Yorker Schönheitschirurg sich daran versucht, wobei er Claras Mund etwas breiter und Stellas Kinn etwas spitzer gemacht hatte, damit sie überhaupt etwas unterschied.

Am anderen Tischende saßen ihr Vater Trevor und ihr Onkel Finn. Beide waren in ein angeregtes Gespräch mit Paul vertieft. Sie schienen ihn zu mögen, und darüber war Hannah irgendwie froh. Vielleicht würde ihr Dad ihn dann nicht sofort lynchen, wenn er spitzbekam, dass Paul der Vater von Hannahs Kind war.

Sie räusperte sich und stand auf. Mit dem Messer schlug sie gegen ihr leeres Weinglas.

»Hm, also … hallo. Ich möchte gerne noch etwas sagen …«

Alle Köpfe fuhren zu ihr herum. Minnie, die nach dem Essen eingenickt war (sie war schon knapp achtzig, da war das wohl erlaubt), schrak hoch und musterte sie streng.

»O nein, Hannah! Nicht schon wieder die Dankbarkeitsscheiße!«, stöhnte Morg.

»Jedes Jahr versaust du uns damit die schöne Thanksgiving-Stimmung«, fügte Boobie hinzu.

Sie sah die beiden streng an. »Ihr habt hier gar nichts zu melden. Stichwort Dankbarkeit: Von der Liste habe ich euch dieses Jahr gestrichen. Mörder.«

»Wir haben uns doch entschuldigt! Sollte man an Thanksgiving nicht auch verzeihen?«

Sie funkelte Boobie an. »Still«, zischte sie, und er zog sofort den Kopf ein. Manchmal wusste selbst er, wann er lieber den Mund hielt.

Sie spürte, dass Paul sie von der anderen Tischseite belustigt beobachtete. Es würde ihr für immer ein Rätsel bleiben, wie Morg und Paul aus derselben Familie stammen konnten. Morg war die personifizierte Katastrophe, er richtete überall nur Chaos an, und wenn man länger nichts von ihm hörte, musste man sich ernsthaft Sorgen um ihn machen. Dagegen war Paul ruhig und ernst.

Rein optisch war die Familienähnlichkeit bei den beiden allerdings nicht zu übersehen. Morgs Haare waren etwas dunkler und viel zu lang. Die von Paul waren rötlich braun und kurz geschnitten. Er trug außerdem einen Dreitagebart, der sich unter ihren Fingern so angenehm angefühlt hatte, als sie sein Gesicht gestreichelt hatte. Bei Morg war das eher ein Zweiwochenbart. Und die Augen … Es gab kein intensiveres Blau. Vor allem nicht, wenn er ein hellblaues Hemd und darüber einen dunkelbraunen Kaschmirpullover trug. Zumindest nahm Hannah an, dass es Kaschmir war. Alles andere wäre bei diesem erfolgreichen Geschäftsmann vermutlich völlig deplatziert.

»Also, ich …«

Verdammt. Wenn Paul sie so ansah, konnte sie unmöglich mit der Wahrheit herausrücken. Würde er nicht sofort eins und eins zusammenzählen? Er war ja nicht doof.

Und dann? Sie hatte eigentlich nicht vor, ihn an ihrem Leben zu beteiligen. Oder an dem ihres Kindes. Zumindest wollte sie nichts von ihm verlangen. Wenn er dennoch Teil ihres Lebens sein wollte, mussten sie sich zusammensetzen und darüber reden.

Wie zwei erwachsene Menschen. Das waren sie schließlich.

»Na los, erzähl schon! Wofür bist du dieses Jahr dankbar?«

Das kam von ihrem Dad Trevor. Er war ein wunderbarer Dad. Sie hatte nach der Trennung ihrer Eltern nie das Gefühl gehabt, dass ihr etwas fehlte. Hatte es ihr geschadet, ohne ihn aufzuwachsen? Denn sie hatten sich erst wieder einander angenähert, als Hannah schon erwachsen gewesen war. Vorher hatte er sich aus ihrem Leben herausgehalten.

»Für alles«, fing sie an. Das klang ziemlich lahm. »Für … Also, ich habe im Moment einen echt tollen Job, den ich für den Rest meines Lebens machen könnte.« So langsam bekam sie ein Gefühl dafür, was sie sagen wollte. Gut. »Ich bin dankbar, dass wir nie hungern müssen und unser Haus so schön groß ist. Dass … also, Morg und Boobie, das ist jetzt auch für euch wichtig, sperrt die Ohren auf.«

Beide salutierten so zackig und simultan, dass alle am Tisch lachten. Hannah schien nicht die Einzige zu sein, die etwas nervös war.

»Ich bin dafür dankbar, dass ich Geld verdiene und ein Dach über dem Kopf habe und nicht allein lebe. Und ich bin dankbar, weil ich nächstes Jahr im Mai Mutter werde.«

Peng.

Einen Moment lang herrschte am Tisch atemlose Stille. Hannah setzte sich wieder auf ihren Stuhl. Sie blickte beklommen zu ihrem Dad, der sie musterte, als wüsste er nicht, ob er sie beglückwünschen oder ihr Vorhaltungen machen sollte.

Stella fand als Erste die Sprache wieder, dicht gefolgt von Clara. Sie sprangen auf, umrundeten den Tisch und umarmten Hannah. »Ich freu mich so für dich!«, rief Stella.

Claras Freude war nicht ganz so überschwänglich. »Toll«, sagte sie leise, und ihre Umarmung war so flüchtig wie der Flügelschlag eines Schmetterlings.

Minnies Freude war etwas anders gelagert. »Dann kann ich für den kleinen Pupsi ganz viele Jäckchen und Mützchen häkeln!«, rief sie begeistert.

Um Himmels willen! Hannah sah ihr Baby schon in drei Lagen schrillbunter Polyesterhäkelware eingehen. Sie kannte Minnies Geschmack. Am liebsten strickte und häkelte sie mit Garnen, die an Kunstfell denken ließen. Oder an gerupfte Hühner. Auf jeden Fall war das nichts, was sie einem Baby anziehen würde.

»Danke, Minnie.« Sie lächelte tapfer. Jetzt bloß keine Schwäche zeigen.

Die nächsten Gratulanten waren Morg und Boobie.

Beide umarmten Hannah fest, sagten aber nichts. Erst nachdem Stella Boobie einen Rippenstoß versetzte, fragte er: »Müssen wir jetzt ausziehen?«

Hannah lachte erleichtert auf. »Meine Güte, nicht doch! Wir können doch auch mit einem Baby hier zusammenleben.«

Obwohl sie nach der Sache mit Moody nicht mehr so sicher war …

»Super. Wir können dich unterstützen! Babysitten und so, wenn du arbeiten gehst.«

Oder ihr sucht euch anständige Jobs und hangelt euch nicht länger mit irgendwelchen Hilfsarbeiten durch, dachte Hannah. Aber sie hatte sich fest vorgenommen, diese Diskussion nicht heute Abend anzufachen.

Ihr Dad und ihr Onkel gratulierten zuletzt.

»Himmel, Hannah«, murmelte Trevor. »Was sagt deine Mom?«

»Sie freut sich wie verrückt.«

Er umarmte sie. »Du machst mich zum Großvater. Das ist …«

»… höchste Zeit«, vollendete Finn seinen Satz. »Es war klar, dass du dich an Hannah halten musst, wenn du Enkelkinder willst. Sie ist dein einziges Kind.«

»Schon. Aber ich habe nicht gedacht, dass sie so früh …«

Hannah löste sich aus seiner Umarmung. Finn drückte sie an sich. »Ich bin stolz auf dich«, flüsterte er ihr zu. »Ehrlich. Du wirst das schaffen. Und wenn du was brauchst, bin ich da.«

Hannah atmete tief durch. »Danke«, wisperte sie.

»Wer ist eigentlich der Vater?«

Die Frage kam ausgerechnet von Morg. Hannah atmete tief durch. Sie blickte flüchtig in Pauls Richtung, doch der schien sich eher für seine Fingernägel zu interessieren als für die Frage, ob er demnächst Vater wurde.

War er so doof? Oder ging er wie selbstverständlich davon aus, dass sie jeden Abend mit einem anderen Mann eine Flasche Tequila killte und mit ihm in der Kiste landete?

»Das … keine Ahnung«, stotterte sie.

Natürlich hatte sie sich auf die Frage vorbereitet. Und würde Paul nicht mit ihnen am Tisch sitzen, hätte sie gesagt, dass es keine Rolle spielte, wer der Vater war. Dass sie das Kind allein großziehen wollte, wie es auch ihre Mutter getan hatte, und dass ihr das ganz hervorragend gelingen würde.

Aber jetzt blickte er auf. Seine blauen Augen musterten sie fragend. Forschend. Na, Hannah? Mit wie vielen Männern warst du im fraglichen Zeitraum im Bett? Was für eine Schlampe bist du? Eine große oder eine kleine? Und wo ziehen wir da die Grenze?

Es war nur diese eine Nacht mit dir!, wollte sie ihm zurufen. Im ganzen letzten Jahr hatte es doch nur ihn gegeben und diese eine Nacht, in der sie zu betrunken waren, um sich über die Konsequenzen Gedanken zu machen.

Aber kein Wort kam über ihre Lippen. Inzwischen schauten alle sie an.

Und natürlich verstanden alle ihr Schweigen falsch.

»Du sagst also, es gibt mehrere Männer, die als Vater infrage kommen?«, hakte Finn nach. Sie warf ihm einen bösen Blick zu. Er klang nicht wertend, aber seine Frage fühlte sich trotzdem an wie eine Ohrfeige.

Ihr Vater sackte auf einen freien Stuhl und griff nach dem nächstbesten Weinglas, das er in wenigen Zügen leerte. Er stierte einen Moment ins Leere, ehe er murmelte: »Das ist mein Mädchen. Lässt nichts anbrennen.«

Paul stand abrupt auf und verließ das Esszimmer. Minnie beugte sich zu Hannah herüber und legte ihr tröstend die Hand auf den Arm. »Keine Sorge«, sagte sie beruhigend. »Es wird nicht mit zwei Köpfen oder so geboren, nur weil du mit zwei Männern zusammen warst.« An alle gewandt erklärte sie: »Das hat mir meine Mutter damals gesagt, als ich nicht nur mit meinem Johnny geliebäugelt, sondern auch den dunklen Aaron geküsst habe. Ich hatte schreckliche Angst, dass ich eine Missgeburt bekomme.«

Hannah starrte hinter Paul her. Er stand im Flur und schlüpfte in seinen Mantel. Dann verließ er ohne einen Gruß das Haus.

Sie sank auf ihren Stuhl. Verdammt! Sie hatte gehofft, nach der ersten Aufregung in Ruhe mit ihm reden zu können. Er sollte doch wissen, dass er sich wegen des Babys keine Sorgen machen musste. Sie wollte nichts von ihm, kein Geld und auch keine halbherzigen Versuche, sich als Vater zu profilieren. Das alles wollte sie ihm sagen, doch jetzt schnatterten die anderen aufgeregt, und Finn musste noch zwei Flaschen Wein holen, damit sie auf das Glück der zukünftigen Mutter anstoßen konnten.

Nur Hannah durfte nicht mit anstoßen. Das verstand sich ja wohl von selbst.

2. Kapitel

Er hatte ja an diesem Abend mit vielem gerechnet. Damit, dass es irgendwie komisch oder peinlich wurde, wenn er Hannah nach knapp drei Monaten wiedersah. Oder dass sie merkwürdig reagierte und ihm die kalte Schulter zeigte, weil er sich nach der gemeinsamen Nacht nicht mehr bei ihr gemeldet hatte. In Gedanken hatte er sich sogar schon einige Sätze zurechtgelegt, die er ihr sagen wollte:

Tut mir leid, dass ich damals verschwunden bin. Ich war verwirrt. Völlig durch den Wind. Du … bist so schön und perfekt, und als ich morgens neben dir aufgewacht bin, wollte ich diesen Moment für alle Ewigkeit konservieren. Ich wollte, dass wir bis ans Ende unseres Lebens jeden Morgen nebeneinander aufwachen. Aber das geht nicht, weil …

Weiter war er nicht gekommen. So sehr er sich auch anstrengte, aber er konnte ihr nicht alles erzählen. Und weil er an diesem Punkt nicht weiterkam, hatte er es schließlich aufgegeben, sich auf diesen Abend vorzubereiten.

Sein Besuch in Boston war kein spontaner Entschluss gewesen, wie Morg es Hannah gegenüber vermutlich verkauft hatte.

Für seinen kleinen Bruder musste es so aussehen, als wäre Paul eher zufällig in der Stadt. Ausgerechnet an Thanksgiving. Ausgerechnet an einem dieser Familienfesttage, an denen Morg immer so traurig wurde, weil er die Familie vermisste, die sie nie gewesen waren. Als Paul anrief und beiläufig meinte, er sei in der Stadt, konnte Morg natürlich nicht zulassen, dass Paul an so einem Abend allein blieb.

Er rief vom Flughafen an und flunkerte etwas von einem dringenden Geschäftstermin vor, der ihn in die Stadt gespült hatte. Einen Rückflug hatte er wegen des Feiertags erst für den nächsten Morgen bekommen.

»Komm vorbei«, hatte Morg ohne Zögern gesagt. Er klang irgendwie müde, fast ein wenig teilnahmslos. Vermutlich hatte er sich wieder zugedröhnt.

Aber das war nicht Pauls Problem. Wenn Morg sich die Zukunft verbauen wollte, indem er in den Tag hineinlebte und sein Geld in Drogen investierte, musste er das tun. Nicht jeder war so zielstrebig wie Paul und besaß mit 32 Jahren ein Multimillionen-Unternehmen.

Morg schien jedenfalls mit Hannah die richtige Mitbewohnerin für diesen Lebenswandel gefunden zu haben. Ihr Zögern sagte doch schon alles! So hatte er sie eigentlich nicht eingeschätzt. Er war nicht nur wegen Morg über Thanksgiving in die Stadt gekommen. Diese quirlige junge Frau war ihm in den vergangenen Wochen und Monaten nicht aus dem Kopf gegangen. Dabei hatte er es wirklich versucht. Er hatte sich mit Arbeit abgelenkt, aber sobald er mal ein paar Stunden Leerlauf hatte, wünschte er sich, wieder bei ihr zu sein. In ihrem Bett zu liegen und zu beobachten, wie sie schlief. Wie ruhig ihr Atem ging. Er mochte so vieles an ihr. Wie unaufgeregt sie am nächsten Morgen war. Ein bisschen so, als käme es häufiger vor, dass sie neben einem fremden Mann aufwachte.

Er war so dumm! Hatte er sich wirklich in den vergangenen Wochen eingeredet, dass sie vielleicht mehr für ihn sein könnte als ein One-Night-Stand?

Der Tequila am Abend, die Knutscherei auf der Couch und danach die gemeinsame Nacht … Das fühlte sich jetzt, mit dem Wissen um ihre Schwangerschaft, an, als wäre es für sie nichts Besonderes gewesen.

Und wenn er doch der Vater war? Wenn sie gar nicht so viele Männer in ihr Bett ließ oder seine Spermien eben die schnellsten waren neben Gott weiß wie vielen anderen?

Paul beschleunigte seine Schritte. Dieses baufällige, zugige Haus in der miesen Gegend im Norden von Boston war wohl kaum der richtige Ort, um ein Kind großzuziehen. Hannah hatte damit offenbar keine Probleme. Auch für Morg und seinen Kumpel Boobie war es völlig in Ordnung, so wie er die beiden kannte. Niemand störte sich daran – außer er selbst.

Aber da es sich offenbar nicht um sein Kind handelte – denn das konnte es doch unmöglich sein, oder? –, ging ihn das auch nichts an.

Er erreichte die Hauptstraße des Viertels und entdeckte in einiger Entfernung ein Spirituosengeschäft. Das steuerte er an. Zum Glück hatte der Laden noch offen, und es herrschte auch reger Betrieb. Der Thanksgiving-Abend, kurz nach dem Essen. Da gab es genug Leute, die ihren Frust über die traute Familie runterspülen mussten.

Paul kaufte nach kurzem Überlegen eine Flasche Tequila (warum auch nicht? Der war schon einmal sein Untergang gewesen) und zwei Flaschen Wein und stapfte durch den Schnee wieder zurück. Der erste Wintereinbruch war in diesem Jahr früh gekommen. Doch der Schnee war matschig und würde vermutlich nicht lange liegen bleiben.

Als er das Haus wieder betrat, herrschte eine geradezu gespenstische Stille. Paul ging ins Esszimmer, doch dort saß nur die steinalte Nachbarin Minnie mit Hannahs Onkel Finn und erzählte ihm flüsternd irgendwas über ihre zahllosen Liebschaften von vor sechzig Jahren. Finn wirkte etwas gequält.

Paul stellte die Papiertüte mit Tequila und Wein auf den Tisch und ließ sich auf einen Stuhl fallen.

»Wo sind die anderen?«, fragte er, als Minnie gerade eine Pause machte.

»Keine Ahnung. Dein Bruder wollte mit seiner Freundin noch weg. Boobie und die andere sind wohl mitgegangen.« Er nickte zu der Papiertüte. »Teilst du die oder …«

»Oh, klar.« Paul stand auf und holte aus der antiken Anrichte zwei Gläser. Minnies Kinn war auf die Brust gesunken, und in der Stille des großen Raums hörte man ein leises Schnorcheln. Offensichtlich hielt sie im Sitzen ein kleines Schläfchen.

Irgendwo im Haus hörte er gedämpfte Stimmen. Dann ein helles Lachen. Hannah.

»Geht’s ihr gut?«, fragte Paul.

»Besser als einigen anderen jedenfalls.«

Paul schenkte einen Fingerbreit Tequila in die beiden Gläser. Finn kippte seinen, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Das habe ich jetzt gebraucht. Danke.«

»Ich auch.« Paul prostete ihm zu und schenkte nach.

Sie tranken einen zweiten und schwiegen. Schließlich ergriff Paul das Wort. »Eins würde mich interessieren«, sagte er. »Du und Trevor – wie kam es dazu? Ich meine … Du bist der Bruder von Hannahs Mom, oder?«

Finn grinste. »Der kleine Bruder, um genau zu sein. Und nebenbei das schwarze Schaf der Familie mit meinem lockeren Lebenswandel. Obwohl ich glaube, unsere Hannah holt gerade mächtig auf. Ihr Vater hat sie ins Gebet genommen. Ich glaube, er will jetzt doch ganz gerne wissen, wer der Vater ist.«

Das hätte Paul auch interessiert, doch das behielt er lieber für sich.

»Das mit Trevor und mir fing vor fünf Jahren an«, begann Finn. »Als er wiederaufgetaucht ist.«

»Er war verschwunden?«

Finn nickte. »Ziemlich lange sogar. Hat irgendwann Frau und Kind sitzen lassen und ist von heute auf morgen verschwunden. In seiner Familie ist er übrigens das schwarze Schaf, aber das kümmert ihn nicht. Was ich an ihm bewundere. Jedenfalls lernte ich ihn kennen, als er eines Tages vor der Tür stand. Mann, das war ein Schock für alle. Vor allem für Hannah.«

»Dann hast du ihn nicht kennengelernt, als er mit Hannahs Mutter zusammen war?«

Finn schüttelte den Kopf. Über den Tisch griff er nach der Platte mit dem Truthahn und nahm sich noch ein Stück. »Ich war vor 25 Jahren im Ausland stationiert. Irak«, fügte er hinzu. »Und als ich wiederkam, war schon alles gelaufen. Hannahs Eltern hatten sich kennengelernt, geheiratet, Hannah kam zur Welt – und zwei Wochen später war er weg.«

»Mhm«, machte Paul. Das erklärte vielleicht, dass Hannah glaubte, sie bräuchte für ihr Kind keinen Vater. »Und dann bist du mit Trevor …«

»Du meine Güte, nein!« Finn lachte dröhnend. Minnie schreckte auf, murmelte etwas und sank wieder in sich zusammen. »Wir sind doch nicht schwul. Wir wohnen nur im selben Haus. Eine richtige Junggesellenbude. Lebst du allein?«

Paul überging die Frage.

»Warum wohnt ihr dann zusammen?«

Finn zuckte mit den Schultern. »Ergab sich. Ich wohnte damals vorübergehend bei meiner Schwester, und er kam aus Kalifornien und brauchte auch eine Bude. War erst als Übergangslösung gedacht, hat sich dann aber eingespielt.«

Bei Hannahs Familie war also einiges nicht normal. Das passte Paul nicht. Er konnte nicht so genau sagen, was ihn daran störte, aber wenn das Kind von ihm war, wollte er, dass es in einer intakten Familie aufwuchs.

Und dann dachte er an seine eigene Situation und musste schlucken.

Intakte Familie. Als könntest du ihr das bieten.

Aber vielleicht wollte sie das gar nicht.

»So langsam mache ich mir Sorgen um die beiden. Wollen wir nach ihnen schauen?«

Ehe Paul wusste, wie ihm geschah, stand Finn auf, schnappte sich die Tequila-Flasche und ging aus dem Esszimmer.

Paul zögerte. Er konnte die alte Dame kaum allein lassen, oder? Und warum hatte Morg sich ausgerechnet heute verkrümelt, wenn man ihn mal brauchte?

Die alte Dame schnarchte leise vor sich hin, und weil Paul sich nicht verpflichtet fühlte, auf sie aufzupassen, folgte er Finn in den Flur. Der Weg zu Hannahs Zimmer war ihm vertraut, auch wenn er bisher nur einmal dort gewesen war.

Finn stand mit der Flasche in der Hand in der offenen Tür. Paul schob sich an ihm vorbei ins Zimmer. Die Nachttischlampe brannte und verbreitete ein warmes Licht. Auf dem Bett hockte Hannah im Schneidersitz, während ihr Vater vor ihr auf einem umgedrehten Stuhl saß und eindringlich auf sie einredete. Als Hannah die Bewegung an der Tür bemerkte, blickte sie hoch. Sie lächelte Paul verhalten zu, dann widmete sie wieder ihre ganze Konzentration ihrem Vater.

»Du musst das verstehen, Hannah«, sagte er leise. »Du hast doch selbst erlebt, wie es für uns war, als ich nach zwanzig Jahren wiederaufgetaucht bin. Wie lange wir gebraucht haben, bis wir keine Fremden mehr waren. Lass nicht zu, dass sich dieser Fehler wiederholt.«

»Paul!« Hannah sprang plötzlich auf, als hätte sie ihn jetzt erst entdeckt, und lief auf ihn zu. Sie hakte sich bei ihm unter. »Du wolltest mir doch noch mit meinem Computer helfen.«

»Äh, ja. Natürlich.«

Er hatte keine Ahnung, wovon sie redete. Aber Hannah war vermutlich auf die Schnelle nichts Besseres eingefallen, um sich der Standpauke ihres Vaters zu entziehen. Sie ließen Trevor und Finn allein. Nach kurzem Zögern führte Hannah ihn in die Küche. Sie schob ihm ihr Notebook zu, das auf dem Küchentisch stand. »Tu mir einen Gefallen«, sagte sie hastig. »Spiel mit, ja? Tu so, als wäre mein Computer irgendwie kaputt, und du könntest ihn reparieren. Und das ist sehr, sehr anstrengend und …«

»Ist das Baby von mir?«, unterbrach er sie.

Hannah erstarrte mitten in der Bewegung. Sie zog das Notebook zu sich und klappte es auf. »Das blöde Ding fährt einfach nicht mehr hoch«, murmelte sie.

»Hannah. Sieh mich an.«

Sie ignorierte ihn.

Paul seufzte. »Okay, wenn du nicht mit mir reden willst, dann sage ich eben etwas dazu. Wir haben uns vor knapp drei Monaten das letzte Mal gesehen, und heute hast du uns erzählt, du erwartest ein Kind im Mai. Ich kann rechnen, Hannah. Und wenn du nicht gerade jeden Abend mit einem anderen Kerl ins Bett hüpfst, ist die Wahrscheinlichkeit doch recht hoch, dass ich als Vater in Betracht komme.«

Er verstummte. So viel hatte er nicht sagen wollen. Doch weil Hannah verbissen schwieg, fuhr er nach einer kurzen Pause fort.

»Und wenn das so ist … Ich freue mich, Hannah. Das solltest du wissen. Ein Kind ist ein Geschenk. Ich würde gern Teil deines Lebens sein. Für das Baby da sein, wenn es so weit ist.«

Er hatte mit vielem gerechnet: Tränen zum Beispiel, vielleicht hatte er insgeheim sogar darauf gehofft, dass sie ihm in die Arme fiel und sich bei ihm bedankte. Oder dass sie ihm erklärte, das Kind sei ja nicht von ihm, es gebe noch einen anderen Mann. Aber es sei wunderbar, dass er bereit sei, die Vaterrolle zu übernehmen, selbst wenn er nicht als Vater infrage kam.

Doch womit er im Leben nicht gerechnet hätte, war die unbändige Wut, die in ihren dunklen Augen aufblitzte, als Hannah den Kopf hob.

»Du …«

Mehr sagte sie nicht. Ihr Blick bohrte sich in seinen. Es war, als hätte sich ein Vorhang gehoben und würde ihm nun ihr wahres Gesicht zeigen. Er machte unwillkürlich einen halben Schritt nach hinten.

»Hannah, entschuldige«, stotterte er.

Sie schüttelte den Kopf. Fast sah es so aus, als wollte sie es dabei belassen. Doch dann gab sie sich einen Ruck.

»Du hast kein Recht, so mit mir zu reden«, sagte sie. »Niemand hat das Recht, mich zu behandeln, als wäre ich noch ein unreifes Kind, das nicht weiß, worauf es sich einlässt. Ich bin 25, ich habe einen Job und ein Dach über dem Kopf. Du kennst mich nicht. Es war …« Sie fuhr sich mit beiden Händen durch die kurzen Haare und atmete tief durch. »Selbst wenn du der Vater wärst, hätte ich keinen Bock auf einen Kerl, der sich hinstellt und große Reden schwingt.«

Er schwieg betroffen.

»Hilfst du mir jetzt?« Sie drehte das Notebook in seine Richtung. Er zog es mit einem Seufzen zu sich heran und startete es, obwohl er ahnte, dass dem Gerät nichts fehlte.

»Es tut mir leid«, murmelte er. »Ich dachte, du könntest Unterstützung brauchen.«

»Ich bin nicht allein. Ich komme prima zurecht.«

»Ja, du hast zwei Mitbewohner, die sich wie Idioten benehmen«, sagte Paul und ließ den Blick nicht vom Bildschirm. »Oder willst du, dass sie auf dein Baby aufpassen? Onkel Morg und Onkel Boobie als Babysitter, wenn du wieder arbeiten gehst?«

»Sei still!«, fuhr sie ihn an. Sie setzte sich auf einen Stuhl.

Paul ließ sich ebenfalls nieder und wartete. Sie legte die Hände in den Schoß und schien nachzudenken.

»Meine Mom hat mich alleine großgezogen«, fing sie an. »Ich hatte kein so schlechtes Leben. Im Gegenteil.« Jetzt lächelte sie. »Wir hatten nie viel Geld, mussten oft umziehen und haben sogar ein Jahr lang in einer Wohnwagensiedlung gelebt. Da war ich vierzehn, und ich dachte, schöner und wilder kann ein Leben nicht sein. Und das hier«, sie schloss in einer weit ausholenden Geste die Küche und vermutlich das ganze Haus ein, »gefällt mir.«

»Das verstehe ich nicht«, gab er zu. »Das Haus ist eine Bruchbude.«

»Es ist kein schlechtes Leben. Dein Bruder ist ein feiner Kerl, wenn er die Finger vom Dope lassen kann.«

»Dass er das irgendwann schafft, bezweifle ich ja.« Paul lachte verlegen. Sein Bruder war für ihn ein heikles Thema, denn er hatte ständig das Gefühl, er hätte besser auf ihn aufpassen müssen, als sie noch jünger gewesen waren, bevor Morg abrutschte und sich seitdem einem Leben hingab, das aus Gelegenheitsjobs, Alkohol und Gras bestand.

»Die Mädels werden schon dafür sorgen. Aber das ist eine andere Geschichte.« Wieder schwieg sie lange, und Paul drängte sie nicht. Er hatte sie als eine lebenslustige, offene Frau kennengelernt, die ihre Gedanken aussprach, bevor sie ihr die Seele abschnürten. Zumindest war das seine Erinnerung an jene denkwürdige Nacht. Aber vielleicht vernebelte der Tequila ja seine Erinnerung.

»Ich bin nicht so eine«, sagte sie. »Ich meine, Stella und Clara … Für sie ist das in Ordnung, sie haben mit Morg und Boobie eine Art Viererbande gebildet. Das ist auch ein Standpunkt, das kann ich respektieren. Sie sind mit beiden glücklich. Aber so war ich nie, so werde ich nicht sein. Es gab da keinen anderen Mann. In den letzten drei Monaten nicht. Eigentlich das ganze Jahr nicht.«

Da waren sie, die erlösenden Worte.

»Oh.« Mehr fiel ihm nicht dazu ein.

Sie schaute hoch, musterte ihn mit ihren dunkelbraunen Augen.

»Das ist schön.« Er wollte nach ihrer Hand greifen, doch sie entzog sich ihm.

»Nicht«, sagte sie. »Das war rein informativ. Ich will nichts von dir. Kein Geld, keine Unterstützung, gar nichts.«

»Aber es ist auch mein Kind«, protestierte er.

Sie stand auf und verließ einfach die Küche. Paul lief ihr nach. Sie ging in ihr Zimmer, wo Finn und Trevor auf dem Boden hockten und die Tequila-Flasche hin und her gehen ließen.

»Raus«, sagte sie nur.

Beide Männer standen gehorsam auf. Sie schwankten leicht, als sie an Hannah vorbei gingen.

Sie wandte sich an Paul. »Du auch.«

Er trat einen Schritt zurück, und sie warf die Tür vor seiner Nase zu.

»Aber … ich würde so gerne …« Er ließ den Kopf hängen.

»Mach dir nichts draus.« Finn legte ihm den Arm um die Schultern. »Komm, der Tequila wärmt so schön.« Er wollte ihn wieder Richtung Wohnzimmer führen.

Trevor war noch nicht ganz so betrunken wie sein Schwager. Er musterte Paul scharf. »Hast du mir was zu sagen, Junge?«, fragte er mit grollender Stimme.

Paul starrte Hannahs Dad an. Er war eine imposante Erscheinung. Fast eins neunzig groß, mit schlohweißen Haaren, die er sich in der letzten Stunde mehr als einmal gerauft hatte, denn sie standen in alle Richtungen ab. Die dunklen Augen hatte Hannah von ihm geerbt. Er hatte die Figur eines Footballspielers und sah nicht so aus, als würde er es einfach so hinnehmen, wenn ein Mann seine Tochter schwängerte.

»Entschuldigen Sie, Mr. Whitaker …«

Trevor legte den Kopf in den Nacken und lachte grölend. »Meine Güte, entspann dich mal, Paul. Kein Grund, so förmlich zu werden.«

Paul entspannte sich und grinste verlegen.

Trevor kam näher. Er fuchtelte mit dem Zeigefinger vor Pauls Nase herum. »Aber wenn du meiner Tochter noch mal ein Blag machst und dich dann für drei Monate verpisst, kriegst du’s mit mir zu tun.«

Paul verging das Grinsen. Er bekam eine ungefähre Ahnung davon, was er sich mit dieser einen Nacht mit zu viel Tequila eingebrockt hatte.

Hannahs raue Schale schien in diesem Augenblick noch das geringste Problem zu sein.

Hannah stand hinter der Tür und hörte ihren Vater, der Paul ins Gebet nahm. Irgendwie war dieses Thanksgiving völlig aus dem Ruder gelaufen.

In der Küche stapelte sich das dreckige Geschirr, und normalerweise ertrug sie es nicht, wenn irgendwo in den gemeinschaftlich genutzten Räumen noch Chaos herrschte, bevor sie abends ins Bett ging. Und es war ihren Gästen gegenüber unhöflich, sich so früh zurückzuziehen.

Aber sie war einfach nur erschöpft von den Reaktionen ihrer Familie.

Sie hatte ja damit gerechnet. Aber die Diskussion mit ihrem Vater hatte sie sehr angestrengt – zumal Paul offensichtlich gerade auf der anderen Seite der Zimmertür verriet, was sie unter allen Umständen hatte für sich behalten wollen.

Sie wusste selbst nicht so genau, warum sie ihm die Wahrheit gesagt hatte. Vermutlich waren diese blöden Hormone daran schuld, die sie total unberechenbar machten.

Sie warf sich aufs Bett. Ihr Smartphone blinkte.