Tribunal - Ulf Kartte - E-Book

Tribunal E-Book

Ulf Kartte

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Beschreibung

Für den Autor Ulf Kartte ist sein Roman "Tribunal" mehr als nur eine Geschichte. Das erzählt er zur Entstehung seines Buches: "Am 29. November 2017 beging der kroatische General Slobodan Praljak vor laufenden Kameras bei der Verkündung des Urteils vor dem UN-Tribunal Selbstmord. Seine letzten Worte waren: 'Slobodan Praljak ist kein Kriegsverbrecher. Mit Verachtung weise ich Ihr Urteil zurück.' Ich saß fassungslos vor dem Fernseher und fragte mich: Wie kann dieser Mann, der der Vertreibung und Ermordung unzähliger Menschen im Bosnienkrieg überführt worden war, behaupten, unschuldig zu sein? Ich begann mich mit diesem heute fast vergessenen Krieg mitten im Herzen Europas, der mehr als 100.000 Menschen das Leben gekostet hat, zu beschäftigen. Und mit den mehreren hunderttausend von Praljak vertriebenen bosnischen Muslimen, von denen viele nach Deutschland flohen. Und genau hier beginnt mein Roman: Der Bonner Kommissar Philipp Antoniou und seine Kollegin Azra Kaya ermitteln nach zwei Morden im Umfeld der bosnischen Gemeinde in Bonn gegen eine Neonazi-Gruppe. Und werden über den spektakulären Freitod Slobodan Praljaks mit den Folgen des Bosnienkrieges konfrontiert. Um mehr über die Ereignisse während des Krieges herauszufinden, reist Philipp nach Mostar. Dort muss er sich auch den Dämonen seiner eigenen Vergangenheit stellen... Ich wünsche Ihnen spannende Unterhaltung!"

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Ulf Kartte

Tribunal

Roman

Für Margret

Prolog

Er: »Ich will einen Mord melden.«

Sie: »Einen Mord? Wer ist denn umgebracht worden?«

Er: »Bisher niemand.«

Sie: »Was wollen Sie dann melden?«

Er: »Er wird noch ermordet.«

Sie: »Wer?«

Er: »Dario.«

Sie: »Dario?«

Er: »Dario Kovac. Vielleicht schon morgen. Sie müssen etwas tun!«

Halt! Stopp! Playback! Sie kam sich vor wie in einem abgedroschenen amerikanischen Film. Nur dass es kein Film war. Und dass der Mann wirklich vor ihr stand. Und sie völlig durcheinander war. Dabei sah der Fremde, der am Samstag kurz nach sechzehn Uhr die Polizeiwache Bad Godesberg in der Zeppelinstraße betreten hatte, nicht wie ein Spinner aus. Er hatte ein offenes Gesicht, dunkles, schon ein wenig schütteres Haar und einen ernsten Zug um den Mund. Er trug einen zu engen Anzug, der seine gedrungene Statur betonte. Seine Gesichtszüge deuteten auf eine slawische Abstammung hin. Sie schätzte ihn auf Mitte vierzig.

Als wachhabende Beamtin nahm sie Namen und Adresse auf. Sie fragte nach den Umständen der »Tat«. Wer denn der »Mörder« sei? Und warum er diesen Dario umbringen wolle? Und woher er das wisse? Der Mann sah sie an. Seine Mundwinkel zuckten. »Gott weiß es. Und ich weiß es auch. Bitte, Sie müssen etwas tun!«

Polizeimeisterin Hanna Rose hatte genug. Bestimmt erlaubte sich der Besucher einen Scherz mit ihr. Sollte sich doch ihr Chef mit diesem Verrückten auseinandersetzen!

Als sie mit Polizeiobermeister Arnd Zeitler zurück zum Empfang kam, war der Besucher verschwunden.

»Was hatte der denn?«, fragte ihr Chef.

»Keine Ahnung. Wahrscheinlich wieder so ein Irrer, der sich wichtigmachen wollte«, sagte sie, während sie bereits an ihre Tochter dachte, die sie gleich zu einer Geburtstagsfeier nach Beuel auf die andere Rheinseite bringen musste.

1

»Rot wie der Tod«, sagte Philipp Antoniou. Er stand vor der Leiche und sah ins Leere. Einen einzigen Blick hatte er auf den Toten geworfen. Dann wandte er sich ab und sah auf den Rhein. Eigentlich blickte er darüber hinweg, als könnte er am Horizont, über dem eine blutrote Sonne aufging, etwas erkennen, was nur für ihn sichtbar war. Azra Kaya kannte das. In den acht Monaten, in denen sie zusammenarbeiteten, hatte sie häufiger das Gefühl gehabt, dass ihr Chef neben sich stand. Nein, korrigierte sie sich, eher über den Dingen. Als setzte er im Kopf Teile eines unsichtbaren Puzzles zusammen. Das kam wohl von seinem früheren Beruf.

Azra kniete neben dem Toten nieder, der ein Stück abseits des Rheinuferweges zwischen zwei Bäumen auf dem Boden lag. Unter seiner offenen Jacke trug er ein beigefarbenes Hemd. »Sieht nach einer Stichwunde aus«, sagte sie und deutete auf auf den ausgefransten Blutfleck auf Höhe der Brust, der ein bizarres Muster auf dem Hemd bildete.

Ohne sich umzudrehen, fragte Philipp: »Wo bleibt die Spurensicherung?«

Sie zuckte mit den Schultern und sah nach oben. In den roten Himmel hatten sich große schwarz-graue Wolken geschoben. Die Spusi musste sich beeilen. Es würde Regen geben.

»Montag, neunter April, sieben Uhr. Rheinufer Mehlem, etwa einhundertfünfzig Meter südlich des Anlegers der Königswinterer Fähre«, diktierte sie in ihr kleines Aufnahmegerät, das sie immer bei sich trug. Am vorletzten Wochenende hatte sie mit einer Freundin eine Fahrradtour am Rhein gemacht. Mit der Fähre waren sie übergesetzt und auf der anderen Seite mit der Zahnradbahn auf den nahen Drachenfels gefahren. Nun stand sie fast an der gleichen Stelle – vor einem Toten. Sie sah ihn an. »Größe etwa ein Meter siebzig, kurze graue Haare, circa sechzig Jahre alt, vermutlich Südosteuropäer«, diktierte sie weiter. Sie blickte sich um. Um sie he­rum säumten Büsche die Wiese. Wenige Meter neben ihr führte ein schmaler Fußgängerweg zu den hinter Bäumen liegenden Häusern in der Rüdigerstraße. Auf der anderen Seite des Weges lag das abgezäunte Gelände eines Seniorenwohnheims.

Sie zog Handschuhe über und griff in die Taschen des Opfers. Schließlich holte sie aus der linken Hosentasche ein gefaltetes Papier heraus. Vorsichtig glättete sie das Blatt, auf dem untereinander handgeschriebene Wörter standen.

»Und?«, fragte Philipp.

»Das kann ich nicht lesen«, meinte sie enttäuscht.

Sie hielt ihm den Zettel hin. Auf einmal wirkte er konzentriert. Sie sah ihn fragend an.

»Scheint eine serbokroatische Sprache zu sein. Ich verstehe nicht alles. Sieht aus wie eine Einkaufsliste.«

Er drehte sich wieder zum Wasser hin. »Verfluchter Balkan!«, schrie er so laut, dass die Möwe, die ein Stück neben ihnen auf einer Bank saß, erschreckt aufflog.

***

Zur Lagebesprechung, die kurz nach elf Uhr im Sitzungsraum »Beethoven« des Polizeipräsidiums Bonn begann, hatten sich Polizeidirektor Peter Rodenstock, Kriminalhauptkommissar Lars Manke, Kriminalkommissar Sven Heugel sowie Azra Kaya im Rang einer Kriminalkommissarin eingefunden. Azras direkter Vorgesetzter, Kriminalhauptkommissar Philipp Antoniou, fehlte.

Während sie warteten und Rodenstock alle paar Sekunden auf die Uhr sah, rekapitulierte Azra für sich, was sie wussten. Laut vorläufigem Befund des Rechtsmediziners Cornelius Meezen war das Opfer zwischen fünf und sechs Uhr morgens durch einen Messerstich getötet worden. Der Angriff musste überraschend erfolgt sein, denn es gab keine Abwehrspuren. Die Wunde, ein etwa drei Zentimeter langer, glattrandiger Schlitz, lag im Brustbereich. Der Täter hatte mit einem einzigen Stich vermutlich direkt das Herz getroffen. Die Tatwaffe hatte die Spurensicherung nicht gefunden, dafür aber unter einem anderen Gebüsch die Ausweispapiere des Opfers in einem ansonsten leeren Portemonnaie. Der Tote hieß Dario Kovac und war dreiundsechzig Jahre alt. Er hatte einen bosnischen Pass bei sich. Sonst gab es bisher keine brauchbaren Spuren, weder an der Leiche noch am Tatort. Ein Spaziergänger hatte den Toten gefunden, genauer gesagt sein Hund, der sich losgerissen hatte und vom Rheinuferweg weg zu den beiden Bäumen gelaufen war.

Mittlerweile hatte die Unruhe im Raum beträchtlich zugenommen. Heugel rutschte auf dem Sitz herum, Manke spielte mit seinem Smartphone und räusperte sich fortwährend. Rodenstock sah Azra mit einem Blick an, der wohl tödlich wirken sollte. »Kommt er, oder kommt er nicht?«, fragte er verärgert. Sie seufzte, schaltete ihr Tablet ein und fasste die Lage zusammen.

Philipp Antoniou saß währenddessen im Garten und streichelte seine Schildkröten. Er liebte die Annettenstraße im Bonner Süden mit ihren kleinen Spielzeughäuschen, zu deren Ensemble seine Drei-Zimmer-Mietwohnung mit Garten gehörte. Und er schätzte die Lage im Bad Godesberger Ortsteil Plittersdorf, fast direkt am Rhein, wenige Meter von der früheren apostolischen Nuntiatur entfernt. Auf dem weiträumigen Anwesen hatte zu Bonner Hauptstadtzeiten die diplomatische Vertretung des Heiligen Stuhls in Deutschland ihren Sitz gehabt.

»Guten Morgen, Achilles«, sagte er zärtlich, nachdem er sich vergewissert hatte, dass es auch seinen sechs Artgenossen gut ging. Achilles war ein Prachtexemplar einer griechischen Landschildkröte. Mit knapp sechzig Jahren war sie beinahe doppelt so alt wie er. Die Tiere lebten in einem abgezäunten Freigehege, das fast den ganzen Garten einnahm. Er begnügte sich mit der kleinen Veranda, auf die man vom Wohnzimmer aus gelangte und auf der ein alter Holztisch mit vier klapprigen Stühlen stand. Nicht dass er häufig Besuch bekam. Meistens reichten zwei Sitzgelegenheiten aus, wenn sein Freund Jannis, Halbgrieche wie er, abends auf ein Bier vorbeikam. Dann diskutierten sie über Politik und sprachen über die griechische Heimat, die beide, da sie in Deutschland geboren und aufgewachsen waren, kaum kannten.

Philipp saß auf dem Boden und streichelte Achilles’ Kopf. Er hatte ihn wie Agamemnon und Hektor vor sechs Jahren von seinem Bruder übernommen. Erst vor wenigen Tagen hatten sie, zusammen mit ihren Artgenossen, ihre Winter­ruhe beendet.

Er dachte an seinen Bruder. Mit einem Mal überfielen ihn die Erinnerungen. Da waren sie wieder, die Bilder im Kopf, die er nicht loswurde, und die ihn bis in seine Träume verfolgten. Der plötzliche Knall, der ihn meterweit weggeschleudert hatte. Der Moment, in dem er zu sich kam. Der dichte Rauch, der ihn blind machte. Und dann, als er wieder sehen konnte, die Körperteile, die um ihn herum lagen.

Es fing an zu regnen. Philipp stand auf. Er musste sich mit den Lebenden befassen.

***

Der Raum in dem alten Gebäude in der Zagreber Innenstadt hätte mit seiner nichtssagenden Einrichtung auch ins Polizeipräsidium Bonn gepasst: ein großer weißer Besprechungstisch mit zerkratzter Tischplatte, sechs leicht lädierte Büro­stühle, ein weißes Sideboard mit einem fünfundvierzig Zoll-LCD-Fernseher darauf, eine Fernbedienung und ein Konferenztelefon auf dem Tisch. Die Zeiger der Funkwanduhr standen exakt auf dreizehn Uhr. Welten trennten ­allerdings die Bilder an den Wänden: Während den Besprechungsraum »Beethoven« im Polizeipräsidium Bonn ein Schwarzweiß-Druck des Komponisten zierte, hing in Zagreb ein Schlachtengemälde mit goldenem Rahmen. »Den Helden der Schlacht von Vukovar«, stand darunter. Nach der Niederlage Kroatiens gegen die jugoslawische Armee und serbische Truppen war die Stadt am 18. November 1991 nach monatelanger Belagerung dem Erdboden gleichgemacht worden.

»Za dom spremni, General«, grüßte Mirko ehrerbietig.

»Für die Heimat – bereit«, gab der Ältere der beiden, der am Tisch sitzend gewartet hatte, den Gruß der faschistischen Ustascha-Bewegung zurück, bevor er ihm bedeutete, Platz zu nehmen. Er war sichtlich geschmeichelt von der Anrede mit seinem Ehrentitel. Beide Männer trugen Zivil. Mit ihren Jacketts und weißen Hemden sahen sie aus wie Geschäftsleute, was sie nach außen hin auch waren. »Asseto South Eastern Europe« stand auf dem goldenen Schild neben der Eingangstür. Das wohlsituierte internationale Handelsunternehmen in bester Innenstadtlage hatte sogar einige fest angestellte Mitarbeiter.

Mirko wartete darauf, dass der Ältere das Gespräch begann, doch der General schwieg. Unter der Jacke, die er über seinem massigen Oberkörper trug, zeichnete sich die Wölbung eines Schulterholsters ab.

»Wie steht unsere Sache?«, fragte er endlich.

»Der Auftrag hielt mich länger auf als erwartet«, antwortete Mirko. »Dafür ist alles zu unserer Zufriedenheit verlaufen.«

»Das will ich hoffen«, sagte der General frostig. »Was ist mit dem Geld?«

»Ich habe es noch nicht«, antwortete Mirko.

»Warum erfahre ich das erst jetzt? Du hattest die Anweisung, dich so schnell wie möglich zu melden. Stattdessen bist du untergetaucht. Als ob du dich vor uns verstecken könntest.«

»Nach Ihrer Nachricht heute Morgen habe ich die nächste Maschine genommen«, entgegnete Mirko.

Der General schnitt ihm das Wort ab: »Schweig, ich will nichts hören.«

Er wandte sich ab und blickte auf das Schlachtengemälde an der Wand. Nachdem er sich sattgesehen hatte, stand er auf und ging im Raum umher.

»Die Zeiten haben sich geändert«, sagte er. »Das Land hat sich verändert. Ohne prahlen zu wollen, behaupte ich, dass unsere Organisation einen großen Anteil daran hat.« Er deutete auf das Bild: »Die Schlacht von Vukovar haben wir verloren. Aber das Erbe der Ustascha trägt Früchte. Die Bewegung von 1941 ist heute weitgehend rehabilitiert. Kaum jemand redet noch davon, dass damals in Kroatien Serben, Juden und Roma verfolgt wurden. Nein, der Blick richtet sich auf die große Tat der Gründung eines unabhängigen kroatischen Staates durch die Ustascha. Und auch das Eingreifen in Bosnien in den Neunzigerjahren wird heute als das gesehen, was es war: unser legitimes Recht, den kroatischen Staat zu verteidigen. Erstmals gibt es einen breiten gesellschaftlichen Konsens: Die Politik, der Präsident, die Kirche und die treuen Veteranen – sie alle stehen zusammen. Ja, Kroatien ist dank unserer Hilfe auf dem richtigen Weg.«

Er blieb neben Mirko stehen und beugte sich zu ihm herab: »Aber nun ist Stjepan Novak, Freund und tapferer Kämpfer für unsere Sache, tot. Vor dem verbrecherischen Tribunal in Den Haag, das vorgibt, wegen angeblicher Gräueltaten in Bosnien über uns richten zu können, hat er Gift genommen. Sein Märtyrertod wendete das Blatt endgültig zu unseren Gunsten. Trotzdem müssen wir vorsichtig sein. Jede unüberlegte Tat könnte unübersehbare Folgen haben und unsere Glaubwürdigkeit gefährden.«

Er sah Mirko an: »Dennoch muss ich dich noch einmal um etwas bitten. Nach dem Tod Novaks soll jetzt sein Stellvertreter, unser persönlicher Freund General Milan Pzov, vor das Tribunal in Den Haag gezerrt werden.«

»Hat er denn etwas zu befürchten?«, fragte Mirko.

»Du weißt, dass es Zeugen gibt. Mitwisser, die bisher geschwiegen haben, weil sie mit Novak wenig zu tun hatten, dafür aber mit Pzov. Und die dabei waren, als er seinerzeit in Mostar für Ordnung gesorgt hat.«

Der General sah erneut auf das Gemälde, bevor er fortfuhr: »Den wichtigsten Zeugen haben wir bereits beseitigt. Aber Pzov will sichergehen. Deswegen musst du einen weiteren Auftrag übernehmen.«

»Damit bringe ich die Organisation unnötig in Gefahr«, wandte Mirko ein.

Der General sah ihn scharf an: »Du hast doch keine Skrupel deswegen?«

Mirko lachte: »Keine Sorge. Alles wird professionell ablaufen.«

Der ältere Mann musterte Mirko mit stechenden Augen und nickte dann ernst. An der Tür rief er ihn zurück: »Es muss schnell gehen. Und denk an das Geld. Pzov hat viel zu lange darauf gewartet. Jetzt will er es zurückhaben.«

Erst nachdem Mirko das Gebäude verlassen hatte, wurde ihm bewusst, dass er schwitzte. Er öffnete die Knöpfe seines Jacketts und sah sich um. Vorsichtig nahm er die Pistole aus dem Hosengürtel und übergab sie einem jungen Mann, der halb verborgen unter einer Arkade gewartet hatte. In diesem Land kann man niemandem mehr trauen, dachte er und sah zu den Fenstern im zweiten Stock hoch, hinter denen er eben noch mit dem General gesessen hatte. Kurz darauf stieg er in ein Taxi, das ihn zum internationalen Flughafen von Zagreb brachte.

2

Gegen eins machten sie sich auf den Weg zu Fatima Kovac, der Witwe des Opfers. Philipp saß schweigend am Steuer. Was hätte er Azra, die neben ihm saß und die ganze Zeit aus dem Fenster sah, sagen sollen? Dass es ihm leidtat, dass er nicht zur Besprechung gekommen war? Oder vielleicht sogar, dass ihn die Erinnerung an seinen Bruder manchmal so mitnahm, dass er nicht in der Lage war, mit irgendjemandem zu kommunizieren? Eigentlich wäre das nur fair. Er mochte Azra und ihre offene, ungezwungene Art. Und er arbeitete gern mit ihr zusammen. Sie mit ihm wahrscheinlich nicht mehr, denn er hatte sie nicht zum ersten Mal hängen gelassen.

»Weißt du, wie wir von den Kollegen genannt werden?«, fragte sie unvermittelt.

Erstaunt sah er sie an. »Nein.«

»Die Kanaken-Truppe«, sagte sie. «Das hat mir Manke neulich im Bierhaus Machold gesteckt. Da war er schon blau. Außerdem meinte er, ich sollte ein bisschen zugänglicher sein. Schließlich seien wir im Rheinland.«

»Und du hast ihm keine runtergehauen? Oder es Rodenstock gesagt?«

»Lohnt sich nicht«, schnaubte sie verächtlich. »Außerdem hat er mir erklärt, dass das keine Beleidigung sein soll.«

»Und das glaubst du?«

»Vielleicht kommt seine Ablehnung daher, dass er glaubt, er hätte die Beförderung verdient«, meinte Azra. »Stattdessen wird die Truppe in diesem Mordfall jetzt von einer halben Türkin und einem halben Griechen angeführt.«

»Das ›halb‹ kannst du weglassen. Das macht für ihn keinen Unterschied.«

Das silbergraue Saab-Cabrio kämpfte sich durch die ewige Baustelle im Godesberger Tunnel. Kurz vor der Eisenbahnbrücke bogen sie von der B9 rechts in die Mallwitzstraße ab. Der Ortsteil Pennenfeld im Bonner Süden war eine wenig attraktive Mischung aus Gewerbe- und Wohngebiet. Hier hatten sich die großen Supermärkte und Discounter angesiedelt, die den kleinen Läden in den angrenzenden Ortsteilen das Leben schwermachten. Während es im benachbarten Lannesdorf noch einen lebendigen Ortskern gab, wo man alles kaufen konnte, was man für den täglichen Bedarf brauchte, hatten in dem angrenzenden Dörfchen Muffendorf nur die Friseure überlebt.

Hinter dem Sportpark Pennenfeld bogen Philipp und Azra in die Paracelsusstraße ein. Es goss in Strömen, und die Scheibenwischer liefen im Schnellgang. Philipp parkte den Saab vor einer Reihe vierstöckiger Mehrfamilienhäuser mit langen Garagenfronten daneben. »Bevor wir mit Kovacs Witwe sprechen: Hast du was Neues?«

Sie schüttelte den Kopf: »Du hättest heute Morgen Rodenstocks Blick sehen sollen, als ich anfing zu reden. Er denkt wahrscheinlich, eine Frau wäre nicht in der Lage, einen komplexeren Sachverhalt darzustellen. Immerhin habe ich ihm das Gegenteil bewiesen.« Sie sah ihn an: »War trotzdem scheiße, dass du nicht da warst.«

Philipp sah sie an, sagte aber nichts.

»Warum hat Kovac eigentlich einen bosnischen Pass? Wie lange lebt er schon hier?«, fragte er stattdessen.

»1993 ist er während des Bosnienkrieges nach Deutschland geflüchtet. Nach dem Krieg ist er als Härtefall anerkannt worden. Seitdem hat er eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis.«

Philipp nickte. »Haben wir denn irgendwelche Hinweise auf den Mörder?«, fragte er.

»Nein, wir haben weder Spuren an Kovacs Kleidung gefunden noch auf dem Boden. Möglicherweise hat sich der Täter hinter einem Gebüsch versteckt.«

»Kovacs Portemonnaie war leer. Es könnte ein Raubmord gewesen sein.«

»Möglich. Aber ich glaube nicht daran.«

»Hatte er ein Handy bei sich?«, fragte Philipp.

»Nein. Zumindest haben wir keins gefunden.«

»Was ist mit der Tatwaffe?«

»Unser Medizinguru Cornelius Meezen sagt, es handele sich um ein kompaktes Jagdmesser mit einer etwa zehn Zentimeter langen Klinge. Der Stich habe genau ins Herz getroffen. Kovac muss unmittelbar verblutet sein.«

»Der Mörder wusste, wohin er stechen musste«, sagte Philipp. »Bei einem Überraschungsangriff ist es gar nicht so leicht, das Messer so anzusetzen, dass der Stich genau an der richtigen Stelle sitzt.«

***

Fatima Kovac war Mitte fünfzig, klein und rundlich. Sie trug ein weites schwarzes Kleid und ein beigefarbenes Kopftuch. Nervös ließ sie eine Gebetskette durch die Finger gleiten. Azra zeigte ihren Ausweis und fragte, ob sie reinkommen dürften. Eine junge schlanke Frau, die neben ihr an der Tür stand, bat sie in die Wohnung. Sie stellte sich als Fatimas Tochter Aisa vor. Nachdem die Polizisten ihre Schuhe ausgezogen hatten, gingen sie ins Wohnzimmer. Philipp sah sich um. Der Raum war einfach, aber gemütlich eingerichtet. Statt eines Bildes hing ein großer handgeknüpfter Teppich an der Wand. Sie setzten sich an den runden Esstisch. Azra erklärte, was passiert war und drückte ihr Beileid aus. Fatima rang sichtlich um Fassung, während ihre Tochter, wie Azra fand, erstaunlich gefasst wirkte.

Aisa, die ebenfalls ein helles Kopftuch und ein dunkles Kleid trug, stand auf und ging in die Küche. Kurz darauf servierte sie Mokka in kleinen Tassen aus einer Kupferkanne mit einem langen Stiel, wie ihn Azra aus der Türkei kannte. Sie tranken schweigend. Azra lobte den Kaffee. Dann wandte sie sich an Fatima: »Wann hat ihr Mann heute Morgen das Haus verlassen?«

Fatima, die den Blick die ganze Zeit nach unten gerichtet hielt, als hätte die Mokkatasse in ihren Händen eine tiefere, verborgene Bedeutung, sah auf: »Kurz vor fünf. Er wollte zum Laden.«

Azra sah sie fragend an.

»Meine Eltern haben einen kleinen Obst- und Gemüseladen, fünfhundert Meter von hier entfernt«, sprang Aisa ihrer Mutter bei.

»Warum ist er so früh aufgebrochen?«, hakte Azra nach.

»Er fährt montags immer zum großen Markt nach Köln …«

»Es heißt Großmarkt, Mutter«, unterbrach Aisa sie. »Vorher wollte er noch das Auto beim Geschäft holen.«

»Können Sie sich vorstellen, was ihr Mann zwischen fünf und sechs Uhr an der Königswinterer Fähre wollte?«

»Er macht morgens oft noch einen Spaziergang am Rhein. Er sagte, um diese Zeit wäre die Luft noch frisch und man könnte am besten nachdenken.« Fatima sprach langsam und suchte immer wieder die passenden Wörter.

»Wissen Sie, ob er heute auch vorhatte, an den Rhein zu gehen?«, hakte Azra nach.

Fatima schüttelte den Kopf: »Er hat nichts gesagt.«

»Und Sie haben sich keine Sorgen gemacht, dass er so lange weggeblieben ist?«

»Doch. Als ich um zehn zum Laden gegangen bin, um ihm zu helfen, war noch abgeschlossen. Das Auto stand vor der Tür, aber er war nicht da.«

»Und Sie haben nicht die Polizei verständigt?«

»Ich dachte, dass ihn vielleicht ein Bekannter mitgenommen hat.« Sie stockte und sagte zu Aisa etwas auf Serbo­kroatisch. »Oder dass er aufgehalten wurde«, ergänzte ihre Tochter.

»Ich habe Aisa angerufen. Sie ist sofort gekommen, und wir haben überall gefragt. Aber niemand weiß etwas.«

»Was machen Sie beruflich?«, fragte Azra die Tochter.

»Ich arbeite als Erzieherin in einer Kindertagesstätte in der Südstadt.«

»Wir sind aus Bosnien-Herzogowina«, fuhr Fatima fort. »Während des Krieges kam Dario nach Deutschland. Hier haben wir uns kennengelernt. Und zusammen den Laden aufgemacht.« Während sie redete, sah sie immer wieder zur Tür, als erwartete sie, dass ihr Mann im nächsten Moment den Raum betreten würde.

Die Tränen stiegen ihr in die Augen: »Jetzt ist Dario tot. Wer hat ihn nur umgebracht?«, fragte sie schluchzend.

»Noch kennen wir den Mörder nicht«, antwortete Azra. »Aber wir tun alles, um ihn zu finden. Wissen Sie, wie viel Geld er dabeihatte?«

»Wenn er zum Großmarkt fährt, hat er oft fünfhundert Euro dabei.« Erschrocken sah sie Azra an. »Sie denken, Dario musste wegen dem Geld sterben?«

Azra schüttelte den Kopf. »Es ist zu früh, um darüber zu spekulieren. Hatte er ein Handy mit?«

Fatima nickte. »Ich habe ihn angerufen, ganz oft. Aber es kommt immer die Mobilbox.«

Azra schwieg einen Moment und sah Philipp an. Doch der machte keine Anstalten, sich an der Befragung zu beteiligen. Azra fuhr fort: »Können Sie uns etwas über Ihren Mann erzählen? War er in letzter Zeit anders als sonst? Hatte er Probleme oder mit irgendjemandem Streit?«

Als Fatima nicht antwortete, ergriff Aisa das Wort.

»Warum stellen Sie solche Fragen?« Sie hob ihre Stimme: »Mein Vater war überall beliebt und ein angesehenes Mitglied unserer Gemeinde.«

»Welcher Gemeinde?«, ergriff Philipp zum ersten Mal das Wort.

»Wir gehören der islamischen Gemeinschaft der Bosniaken in Deutschland an«, erklärte sie. »In der Drachenburg­straße, direkt um die Ecke, haben wir eine kleine Moschee und einen Versammlungsraum.«

Philipp blickte sie erstaunt an: »Eine Moschee ist mir dort noch nie aufgefallen.«

»Sie dürfen sich das nicht wie ein kirchliches Gebäude mit einem Minarett vorstellen«, sagte sie. »Es ist eher ein Kulturzentrum in einem normalen Wohnhaus mit einem Gebetsraum. In der Wohnung im oberen Stockwerk wohnt der Imam.« Sie erzählte von der kleinen Gemeinde, vom Freitagsgebet und dem gemeinsamen Teetrinken mit Freunden. Azra fragte sich, ob Aisa so viel redete, damit Fatima nicht zu Wort kam.

Zwanzig Minuten später verabschiedeten sie sich. Fatima hatte ihnen erlaubt, den Laptop ihres Mannes mitzunehmen.

»Vielleicht finden wir ja darauf einen Hinweis, der uns bei der Suche nach dem Mörder weiterbringt«, erklärte Azra.

Aisa hatte nicht widersprochen, und so gingen Philipp und Azra zur Wohnungstür und zogen ihre nassen Schuhe an.

»Dario war in den letzten Tagen anders als sonst«, sagte Fatima, als sie schon an der Treppe standen.

»Wie meinen Sie das? Bedrückte ihn etwas?«, fragte Azra.

»Es war wegen des Antrags. Und weil er deswegen Streit mit Andrej hatte.«

»Was für ein Antrag?«

Aisa stellte sich zwischen Fatima und die Beamten. »Mutter, was redest du? Das gehört doch nicht zur Sache«, sagte sie tadelnd.

Fatima ließ sich nicht beirren: »Andrej ist unser Nachbar. Er wohnt ein paar Häuser weiter zusammen mit seinem Bruder. Ivan ist gemeinsam mit meinem Mann nach Deutschland gekommen. Jetzt hat Andrej Aisa einen Heiratsantrag gemacht. Aber Dario hat abgelehnt.«

»Ist Aisa nicht alt genug, um selbst zu entscheiden?«

»Woher kommen Sie?«, fragte Fatima.

»Ich bin in Deutschland geboren«, erklärte Azra.

»Das meinte ich nicht.«

»Meine Eltern stammen aus der Türkei.«

Fatima nickte.

»Dann wissen Sie, dass der Mann bei diesen Dingen das letzte Wort hat.«

»Aber wieso war er gegen die Hochzeit?«

»Er hielt Andrej für einen …« Sie stockte: »Mein Mann sagte, Andrej sei ein Taugenichts, der hinter jedem Rock herläuft.«

»Und deswegen gab es Streit?«

»Ja. Andrej kam zu uns. Er stellte Dario zur Rede. Dann brüllten sie sich gegenseitig an. Am Ende ist Andrej wütend gegangen.«

»Wann war das?«

»Am Mittwoch. Da machen wir den Laden früher zu.«

»Wo ist Andrej? Wir müssen mit ihm sprechen.«

»Das geht nicht. Er ist bis morgen weg – wegen seiner Arbeit.«

»Wann ist er gefahren?«, fragte Azra.

»Am gleichen Tag – nachdem sie gestritten haben.«

***

»Mir gefällt die Sache mit Andrej nicht«, sagte Azra im Auto. »Wenn Dario den Heiratsantrag abgelehnt hat, hat er seine Ehre verletzt.«

»Oder es ging um das Geld, das Dario dabeihatte.«

»Damit wären wir wieder beim Raubmord. Ich glaube nicht daran. Außerdem sind fünfhundert Euro nicht viel Geld, um dafür einen Mord zu begehen.«

»Das ist Ansichtssache«, widersprach Philipp. »Ich frage mich, ob er wirklich am Rhein spazieren gegangen ist.«

»Vielleicht hat sich der Mörder dort mit ihm verabredet«, überlegte Azra. »Deswegen hat er auch Kovacs Handy mitgenommen. Weil sein Anruf darauf gespeichert ist.«

»So oder so können wir davon ausgehen, dass er wusste, dass Dario Kovac montags früh zum Großmarkt fährt«, fuhr Philipp fort. »Außerdem wäre Kovac kaum bereit gewesen, sich mit einem Unbekannten um diese Zeit am Rhein zu treffen.«

»Wir müssen mehr über ihn und sein Umfeld wissen.« Azra sah Philipp an: »Du hättest bei den Kovacs auch mal was sagen können. Immer lässt du mich die Arbeit machen.«

»Warum denn?«, protestierte Philipp. »Du hast genau die richtigen Fragen gestellt. So konnte ich besser beobachten.«

»Und was hast du gesehen?«

»Als Andrejs Name fiel, hat Aisa das Gesicht verzogen.«

»Will sie ihn nicht?«

»Ich hatte den Eindruck, sie liebt ihn.«

Der Regen hatte aufgehört. Als Philipp losfuhr, fiel ihm an der Ecke das Straßenschild auf: »Drachenburgstraße«, las er laut. »Hier muss das Kulturzentrum sein, von dem Aisa gesprochen hat.«

»Lass uns hinfahren«, meinte Azra. »Dort erfahren wir sicher was über die bosniakische Gemeinde.«

»Später«, sagte Philipp. »Erst muss ich was essen. Im Godesburger gegenüber vom Kinopolis gibt es gute Burger.«

Das Restaurant wirkte mit der durchgehenden Fensterfront zum Moltkeplatz hell und freundlich. Sie setzten sich an einen freien Tisch gegenüber der großen holzgetäfelten Theke. Nachdem sie bestellt hatten, fragte Azra: »Welchen Eindruck hast du von den Frauen?«

»Aisa macht einen wachen Eindruck auf mich. Aber ich hatte die ganze Zeit über das Gefühl, dass sie uns etwas verschweigen will.«

»Die Sache mit Andrej?«

»Nein, nicht das. Vielleicht hat sie ja etwas mitbekommen, das uns einen Hinweis geben könnte, warum ihr Vater sterben musste.«

Sie hatten angefangen, ihre Burger zu essen, als Azras Handy klingelte.

»Damla ist heute Nacht wieder weggelaufen«, sagte ihr Vater.

Azra merkte, wie sie sich verkrampfte.

»Sie war im Nachthemd. Eine Stunde lang haben wir sie gesucht. Ein Glück, dass nichts passiert ist.«

Azra schwieg.

»So kann es nicht weitergehen«, sagte er. »Es tut mir leid, aber deine Mutter muss in ein Heim.«

»Leid tut dir überhaupt nichts«, brach es aus ihr heraus.

»Azra, das ist ungerecht. Wir haben versucht, sie zuhause zu betreuen. Aber deine Tante schafft es nicht mehr allein. Du hast ja keine Zeit.«

Sie drückte das Gespräch weg.

Philipp sah sie an. »Probleme?«, fragte er.

»Nichts Wichtiges«, sagte sie knapp.

***

Azra stand dreißig Meter vom Tatort entfernt und beobachtete Philipp, wie er tanzte: rück, vor, Schritt, hoch, Schritt, tap, rück, vor …

Das Band, mit dem die Polizisten das Gelände weiträumig abgesperrt hatten, war weg. Bis zum Mittag hatte hier die Spurensicherung jeden Zentimeter abgegrast und nach Spuren untersucht. Ebenfalls verschwunden waren die Neugierigen, die trotz der Absperrung versucht hatten, möglichst nah an den Tatort heranzukommen.

Philipp sah auf. Sie ging zu ihm.

»Brillant, wie du den Tathergang nachstellst. Das sollte Manke sehen«, spottete sie.

»Das nächste Mal fordere ich dich zum Tanz auf«, grinste er. Philipp sah sich um. »Der Tatort ist ideal für einen Überfall, weil er etwas versteckt und abseits des Rheinuferwegs liegt.«

Azra nickte: »Möglicherweise hat sich der Täter ja hier mit ihm verabredet. Oder Dario Kovac wollte über den kleinen Pfad, der hier aufs Rheinufer trifft, zurückgehen.«

»So oder so: Der Mörder konnte sich völlig unbemerkt nähern und damit rechnen, dass ihn hier niemand stören würde. Der Täter passt den Zeitpunkt ab, an dem Kovac an diese Stelle kommt, und greift ihn von vorne an. Völlig überraschend sticht er zu.«

Philipp beugte sich nach vorn, ein imaginäres Messer in der Hand. Er bückte sich tiefer und ging mit den Händen nach unten: »Kovac geht zu Boden. Der Täter durchsucht ihn, nimmt das Geld aus dem Portemonnaie und wirft es zusammen mit den Papieren weg.« Er sah auf: »Einwände?«

Azra nickte: »Woher wissen wir, dass der Mord hier passiert ist?«

Philipp sah sie zweifelnd an: »Hätte der Täter sein Opfer woanders umgebracht und dann hierher transportiert, wären Abdrücke oder Schleifspuren entstanden.«

»Wieso nimmt er das Geld mit, nicht aber die Papiere, um die Identifizierung des Opfers zu erschweren?«, insistierte Azra weiter.

»Vielleicht wurde er gestört. Oder jemand anderes hat den Toten vor uns gefunden und sich bedient. Zum Beispiel der Spaziergänger, der das Opfer entdeckt hat. Möglicherweise hat er etwas mit dem Mord zu tun.«

Azra schüttelte den Kopf: »Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass er Kovac kannte. Außerdem: Wenn ein Gelegenheitsdieb das Geld genommen hat, hätte er wahrscheinlich Spuren hinterlassen. Wir haben aber weder fremde DNA noch Fasern oder Fußspuren gefunden.«

Philipp nickte: »Das deutet auf einen Profi hin.« Er überlegte kurz. »Vielleicht wollte er ja sogar, dass wir den Toten rasch identifizieren.«

»Aber warum?«

»Um seinen Bossen eine Nachricht zu geben – Auftrag ausgeführt.«

»Wieso sollte ein Profikiller einen Bosnienflüchtling umbringen, einen frommen Muslim, der hier mit Familie und einem kleinen Laden ein unauffälliges Leben führt?«

»Das könnte etwas mit dem Krieg zu tun haben.«

Azra schüttelte zweifelnd den Kopf: »Das ist mehr als zwanzig Jahre her.«

Philipp klatschte in die Hände: »Das Auto«, sagte er.

Azra sah ihn verständnislos an.

»Profis sind effizient. Wenn es einer war, wusste er, dass Kovac hier vorbeikommen würde. Dann ist er nicht weit gelaufen, sondern hat seinen Wagen in der Nähe geparkt.«

Azra deutete auf den Fußgängerweg. »Da kommt nur die Rüdigerstraße in Frage«, sagte sie.

»Ruf Heugel an und sag ihm, er soll bei den Anwohnern nachfragen, ob ihnen früh morgens ein unbekanntes Auto in ihrer Straße aufgefallen ist.«

»Aber das haben die Kollegen doch schon getan«, protestierte Azra.

»Falsch. Sie haben gefragt, ob jemand etwas Ungewöhn­liches bemerkt hat. Da kann man nicht viel erwarten. Aber du wirst dich wundern, wie vielen Deutschen innerhalb von Minuten auffällt, wenn ein unbekanntes Auto vor ihrer Tür steht.«

»Okay«, sagte Azra und griff zum Handy.

Der Anruf im Präsidium dauerte länger als erwartet.

Philipp sah sie fragend an.

»Heugel meint, wir bräuchten uns keine Mühe mehr zu geben.«

»Wie soll ich das verstehen?«, fragte Philipp.

»Er behauptet, sie wüssten, wer der Mörder ist. Er hat die Tat auf der Wache in Bad Godesberg gemeldet.«

Als Philipp nichts sagte, fuhr sie fort: »Merkwürdig ist,

dass er den Mord angezeigt hat, bevor er passiert ist.«

***

Im Präsidium hörten sie die ganze Geschichte.

»Polizeimeisterin Hanna Rose hat das erst für einen schlechten Scherz gehalten«, sagte Manke. »Trotzdem musste sie immer wieder daran denken. Weil der Mann so ernst aussah, überhaupt nicht wie ein Witzbold. Leider hat sie den gesamten Sonntag und halben Montag nachgedacht, bevor sie sich bei uns gemeldet hat.«

»Hat dieser ernste Witzbold einen Namen?«, fragte Philipp.

»Ivan Persic«, sagte Heugel, der zeigen wollte, dass er auch zum Team gehörte. »Wir wissen, dass er in der gleichen Straße wie der Ermordete wohnt.«

»Ivan Persic?«, fragte Philipp erstaunt. »Dann ist er der Bruder von Andrej.«

»Was hat das damit zu tun?«, wollte Sven Heugel wissen.

Philipp und Azra sahen sich an.

»Ihr braucht überhaupt nicht so wichtig zu tun«, riss ­Manke das Wort an sich. »Schließlich haben wir den Mörder gefunden.«

»Woher wisst ihr, dass er der Mörder ist?«, wollte Azra wissen.

»Das liegt doch auf der Hand. Wie hätte er sonst die Tat voraussagen können?«

»Dann war es aber nicht clever, den Mord selbst zu melden. Und das auch noch, bevor er ihn begangen hat.«

»Vielleicht hat er gehofft, dass wir ihn davon abhalten.«

»Hört sich nicht überzeugend an. Wo ist Persic jetzt?«

Manke sah triumphierend auf die Uhr. »Gleich hier. Wir lassen ihn gerade vorführen.«

3

Zeugenvernehmung (Auszug).

Beginn der Vernehmung: 16.00 Uhr.

Anwesend: Kriminalhauptkommissar Philipp Antoniou. Es erscheint Herr Ivan Persic, um im Rahmen des Mord­ermittlungsverfahrens Dario Kovac als Zeuge gehört zu werden.

Antoniou: »Wo waren Sie heute früh zwischen fünf und sieben Uhr?«

Persic: »Auf der Baustelle. Ich bin Maurer. Diese Woche habe ich Frühschicht.«

Antoniou: »Dafür wird es sicher Zeugen geben.«

Persic: »Ja. Wir sind zu fünft auf der Schicht.«

Antoniou: »Mit welcher Absicht sind Sie am Freitag auf die Polizeiwache in Bad Godesberg gegangen?«

Persic: »Ich wollte einen Mord melden.«

Antoniou: »Einen Mord kann man nur anzeigen, wenn jemand ermordet wurde. Zu dieser Zeit gab es aber keinen Toten.«

Persic: »Warum haben Sie nicht auf mich gehört? Dann würde Dario jetzt noch leben.«

Antoniou: »Woher wussten Sie, dass Kovac ermordet werden sollte?«

Persic: »Jemand hat gedroht, ihn umzubringen.«

Antoniou: »Wer war das?«

Persic: »Das kann ich nicht sagen.«

Antoniou: »Weil Sie Ihren Bruder schützen wollen?«

Persic: »Lassen Sie Andrej aus dem Spiel. Er hat damit nichts zu tun.«

Antoniou: »Wir wissen, dass Andrej Dario Kovacs Tochter Aisa heiraten wollte. Und dass der den Antrag abgelehnt hat.«

Persic: »Sie glauben, dass mein Bruder Dario getötet hat? Einen der Menschen, der ihm am nächsten steht? Andrej weiß, dass Dario mich damals im Krieg gerettet und mit nach Deutschland genommen hat. Das verbindet. Später hat er Andrej geholfen, sich hier eine Existenz aufzubauen.«

Antoniou: »Erklären Sie mir das mit dem Krieg genauer.«