Vogelfrei - Ulf Kartte - E-Book

Vogelfrei E-Book

Ulf Kartte

4,9

Beschreibung

In Köln werden zwei junge Sarden tot aufgefunden. Zunächst deuten alles auf einen Mafia-Mord hin, doch Kommissar Brokat zweifelt an der Theorie. Die Suche nach dem Mörder führt ihn in die Barbagia, eine unwegsame Berggegend im Herzen Sardiniens, wo er erkennen muss, dass das Gesetz der Blutrache auch heute noch gilt. Nach und nach wird ihm klar, dass ihn die Lösung des Falls mehr betrifft, als ihm lieb ist.

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Seitenzahl: 323

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Ulf Kartte, geboren 1956 in Jena, studierte Germanistik und Geschichte in Mainz und Heidelberg. Er ist Mitinhaber einer PR-Agentur, lebt mit seiner Familie in Bonn und arbeitet seit mehr als zwanzig Jahren in Köln. Er interessiert sich für Literatur und Filme, das Segeln und Afrika. »Vogelfrei« ist sein erster Kriminalroman, momentan schreibt er an einer Fortsetzung. Mehr Informationen über den Autor unter www.ulfkartte.de.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2014 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: © Heinz Wohner/LOOK-foto Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Lisa BitzerISBN 978-3-86358-405-4 Köln Krimi Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Literaturagentur Schmidt & Abrahams GbR, Speyer.

Für Nico

Prolog

Mitternacht war längst vorbei, als der Wagen in die kleine Seitenstraße einbog. Der Treffpunkt war für das, was die beiden Männer in dem Auto vorhatten, ideal. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich um diese Zeit jemand in die dunklen Parkanlagen verirrte, war gering. Sie parkten den Wagen am Rand des großen Platzes und schalteten die Lichter aus. Keiner von beiden sprach ein Wort. Sie warteten. Ruhig und unbeweglich saßen sie in dem Auto. Von außen waren in der Dunkelheit ihre Silhouetten kaum zu sehen.

Was für eine kalte und hässliche Stadt, dachte der Ältere der beiden. Die Enge der Straßen mit ihren endlosen Häuserreihen und die neblige, stickige Luft machten ihm zu schaffen. Nicht mehr lange, sagte er sich. Nur noch wenige Stunden, dann ist es vorbei.

Er dachte an seine Heimat, beschwor die Bilder der Macchia mit ihren blühenden Erdbeerbäumen, Zistrosen, Mastixsträuchern und Kräutern herauf, den Geruch und die weite endlose Natur. Warum bin ich hierhergekommen?, fragte er sich zum tausendsten Mal. Einen alten Baum wie mich soll man nicht entwurzeln.

Dabei wusste er genau, was der Grund für sein Kommen gewesen war: Er musste das ausführen, was der Rat beschlossen hatte. Das war genauso unausweichlich wie die Tatsache, dass er irgendwann sterben musste. Und so waren sie nach Monaten des Wartens, als sich die Ereignisse plötzlich überschlagen hatten, aufgebrochen. Innerhalb weniger Tage waren alle Vorbereitungen abgeschlossen, die Fahrkarten gekauft, das Auto war reserviert gewesen.

Er war vorher selten im Ausland gewesen. Reisen war etwas für Leute, dachte er, die nicht wissen, wo sie hingehören. Seinen Platz hatte er gefunden, wenigstens das. Daran hatte er nie gezweifelt. Und jetzt riss ihn diese Geschichte aus seinem Dorf, brachte sein Leben durcheinander und machte ihn krank. Ja, er fühlte sich elend. Er, der sein ganzes Leben lang immer gearbeitet hatte, und das sogar gern, war nie krank gewesen. Nun merkte er, wie die Schwäche schleichend seine Glieder hinaufkroch und ihm das Fieber den Kopf verdrehte.

Halt durch, sagte er sich. Bald ist alles vorbei.

Das Geräusch eines Autos, das schnell näher kam, riss ihn aus den Gedanken. Die Lichter blendeten ihn, als der ankommende Wagen nur wenige Meter vor ihnen anhielt. Es war so weit. Er hatte die Pistole in seiner Jackentasche versteckt. Bevor sie ausstiegen, vergewisserte er sich, dass die Waffe entsichert war. Er nickte dem anderen zu. Jetzt war der Moment des Handelns gekommen.

1

Eine schmutzige Geschichte war das auf alle Fälle. Hans Brokat hatte lange nichts mehr gesehen, was ihm ein so unangenehmes Gefühl vermittelt hatte. Grausamkeit und kalte Berechnung. Als er in der Nacht zum Mittwoch gegen halb zwei aus dem Bett geklingelt worden war, war seine Laune auf dem Tiefpunkt gewesen. Er hatte schlecht geschlafen. Das Wetter spielte seit Tagen verrückt, wechselte von warm zu lau, von Regen zu windigem Herbstwetter mit Böen, dass man sich auf der Straße vorsehen musste, nicht unversehens weggeweht zu werden.

Dabei war es Januar, und eigentlich hätte es frieren oder schneien müssen. Stattdessen war es herbstlich mild in Köln, und die ersten wagemutigen Touristen saßen bereits wieder auf der Domplatte im Freien. Brokat hatte sich trotzdem eine Erkältung geholt, mit der er sich nun seit Tagen herumschlug, ohne dass eine nennenswerte Besserung eintrat.

Die zwei Leichen am Tatort hatten ihm schnell klargemacht, dass es sich um keine kleine Sache handelte. Sie lagen auf dem Rücken in einer Pfütze aus tiefrotem Blut. Die Haltung wirkte grotesk: Beide Toten hatten die Hände vor der Brust gefaltet, die Beine waren weit gespreizt, der Blick ging nach oben ins Leere.

Das Flutlicht, das den Parkplatz am Eingang des Forstbotanischen Gartens in Köln-Rodenkirchen ausleuchtete, warf lange Schatten auf den Asphalt, wo die Mitarbeiter der Spurensicherung im Scheinwerferkegel arbeiteten. Einige Meter von den Leichen entfernt, wohin das Licht kaum noch reichte, stand ein alter Fiat.

Als Brokat den Parkplatz erreicht hatte, waren die Kollegen schon bei der Arbeit gewesen. Wie immer hatte ihn die kühle Professionalität erstaunt, mit der die Kollegen ihre Arbeit taten, selbst zu nachtschlafender Zeit. Wie ein perfekt funktionierendes Uhrwerk, dachte er, in dem alles zusammenspielt, um die Maschinerie am Laufen zu halten. Wie häufig erfüllte ihn der Gedanke an die Verantwortung, die auf ihm lastete, mit einer Mischung aus Angst und Müdigkeit. Was ist, wenn ich versage? Dann bleibt dieser schlimme Doppelmord ungesühnt wie so viele andere vor und nach ihm. Ich darf nicht versagen, ich will diesen verdammten Fall aufklären.

Brokat kniete sich hin und schaute einem der Toten ins Gesicht, das von einem Baustrahler beschienen wurde. Er hatte südländische Gesichtszüge, Italiener oder Spanier vermutlich, und war jung, sogar sehr jung – kaum über zwanzig Jahre alt. Wie sein Gefährte trug er eine dicke Winterjacke und Stiefel. Ihm war in den Kopf geschossen worden, so viel konnte man auf den ersten Blick erkennen. Die Kugel war oberhalb der linken Augenbraue ausgetreten. Das Loch war klein und sauber, lediglich an der Austrittstelle war die Haut bläulich angelaufen und leicht zerfasert. Durch eine Schwellung unterhalb der Wunde wirkte das Auge etwas verzogen, was dem Toten einen seltsam starren Gesichtsausdruck gab.

So jung, dachte er. Ich will das nicht, dass jemand so früh stirbt. Ihm fiel sein Sohn ein, der ungefähr im gleichen Alter war. Ein jüngerer Mann, der plötzlich neben ihm stand, riss ihn aus den Gedanken.

»Was hältst du von der Sache, Kunert?«, fragte Brokat seinen Assistenten, der unrasiert und mit wirrer Frisur, aber mit für diese Zeit ungewöhnlichem Elan zu ihm aufschaute. Brokat überragte seinen Kollegen um mehr als einen Kopf.

»Das sieht nach einem Bandenmord aus, Chef«, begann Niko Kunert eifrig. »Hast du die Haltung der beiden Toten gesehen? Sieht irgendwie wie eine Botschaft aus. Und die Einschusslöcher im Kopf – exakt an der gleichen Stelle. Das war ein Profi. Ich denke, hier hat jemand eine Rechnung im großen Stil beglichen. Vielleicht eine Racheaktion unter rivalisierenden Clans.«

Brokats Gedanken waren in eine ähnliche Richtung gegangen, als er die Leichen gesehen hatte. Aber irgendetwas hatte ihn an diesem Eindruck missfallen und ihn daran zweifeln lassen.

»Das wirkt auf mich wie arrangiert«, sagte er leise, fast wie zu sich selbst. Er wandte sich wieder an seinen Kollegen. »Wer hat die Leichen gefunden?«

»Ein Spaziergänger, der seinen Hund noch mal rauslassen wollte.«

»Um diese Zeit?«

»Ja. Er sagt, er hat sich mit seiner Frau gestritten. Um sich abzureagieren, ist er noch mit dem Hund spazieren gegangen. Der Mann wohnt in der Schillingsrotter Straße, ungefähr zehn Minuten Fußweg von hier. Er hat uns kurz nach eins angerufen. Gesehen oder gehört hat er nichts.«

»Keine Schüsse?«

»Nein, Chef. Die nächsten Wohnhäuser sind ein ganzes Stück entfernt. Aber natürlich fragen wir in der Gegend rum. Vielleicht hat ja doch jemand etwas bemerkt.«

»Und das Auto?«

»Ein alter Fiat Uno mit italienischem Kennzeichen. Offensichtlich sind die beiden damit gekommen.«

»Also sind die Toten wahrscheinlich Italiener. Habt ihr in den Wagen geschaut?«

»Im Kofferraum liegen drei Taschen und ein Koffer. Der Fiat wird nachher ins Präsidium geschleppt und auseinandergenommen.«

»Gut«, sagte Brokat. »Schaut euch gleich noch mal in der Umgebung um. Vielleicht findet sich ja etwas Verwertbares. Was zwei kleine Italiener wohl um die Uhrzeit hier gewollt haben?«

»Im Park spazieren gehen wohl sicher nicht«, antwortete Kunert grimmig. »Wahrscheinlich jemanden treffen.«

»Möglicherweise ihren Mörder«, überlegte Brokat laut und beschloss, die Spurensicherung ihre Arbeit machen zu lassen. Er hatte Kopfschmerzen und wollte noch einige Schritte durch den Park laufen, um den Kopf klarzubekommen.

Ein Stück hinter dem Parkplatz umfing ihn Dunkelheit. Der winterliche Mond stand als schmale Sichel am Himmel und gab nur wenig Licht ab. Mit zügigen Schritten ging Brokat auf dem Weg in Richtung des Friedenswäldchens, in dem die Stadt in den achtziger Jahren symbolisch Bäume aus mit Deutschland befreundeten Staaten gepflanzt hatte. Nur schemenhaft konnte er die Rasenfläche vor sich sehen, in dessen Mitte eine riesige Sandkuhle als Spielplatz für Kinder eingebettet lag. Im Frühsommer war Brokat hier regelmäßig entlanggejoggt und hatte die prachtvolle Blüte in der Rhododendron-Schlucht bewundert. Dabei war ihm der Park stets ruhig und friedlich vorgekommen.

Noch immer hatte er das Bild der beiden jungen Toten vor Augen. Möglicherweise hat Kunert recht, überlegte er. Auf den ersten Blick wirkte die Tat wie eine Hinrichtung. Dafür sprachen die Einschusslöcher an exakt der gleichen Stelle und die merkwürdige Haltung der Ermordeten. Die ganze Inszenierung schrie geradezu nach einem Verbrechen der organisierten Kriminalität. Nur, dass die beiden jungen Männer gar nicht wie Mafiosi aussahen. Aber wie sahen Killer der Mafia heute aus? Vielleicht genauso unschuldig wie diese beiden. Fakt war, dass auch in Köln verschiedene Banden längst Fuß gefasst hatten und in der Domstadt am Rhein ihren schmutzigen Geschäften nachgingen. Prostitution, Glücksspiel, Geldwäsche, aber auch scheinbar legale Bauprojekte – die Zahl der Betätigungsfelder der Mafia in deutschen Großstädten war groß. Dennoch durfte er sich bei den Ermittlungen nicht zu früh festlegen. Wichtig war, dass die beiden Toten so schnell wie möglich identifiziert wurden.

Links am Weg säumten dichte Sträucher Brokats Weg. Er wollte gerade wieder umdrehen und zum Parkplatz zurückkehren, als er aus dem Gebüsch vor sich ein Geräusch hörte. Vielleicht ein Tier? Er blieb stehen und lauschte. Es war ruhig. Auf einmal meinte er, ein unterdrücktes Husten zu hören. Vorsichtig ging er auf den Busch zu.

Der Angriff traf ihn völlig unerwartet. Eine große dunkle Gestalt löste sich aus dem Schatten und sprang auf ihn zu. Mehrere kräftige Fausthiebe trafen ihn an Bauch und Brust. Brokat wehrte sich und versuchte, den Hals des Unbekannten zu fassen zu bekommen. Doch dieser schlug schnell und hart wie ein Boxer auf ihn ein.

Brokat, der selbst nicht gerade schwach war, merkte, dass er den gezielten Schlägen des Unbekannten wenig entgegenzusetzen hatte. Das entging auch dem Angreifer nicht. Er kam Brokat näher, die Schläge prasselten auf ihn ein. Dann plötzlich machte jemand in seinem Kopf das Licht aus, und die Welt um ihn wurde schwarz.

***

»Chef, was ist passiert?«

Brokat machte die Augen auf und sah Kunert vor sich knien. Er wollte antworten, aber seine Stimme versagte. Schwerfällig versuchte er, sich aufzurichten. Sein Kreislauf rebellierte, und er musste sich wieder hinlegen.

Kunert suchte nach seinem Handy, um einen Krankenwagen zu rufen. Der Gedanke, offiziell mit der Ambulanz abtransportiert und so womöglich zum Gespött der Abteilung zu werden, verlieh Brokat neue Kräfte. Schwankend baute er sich vor seinem Assistenten auf, die rechte Hand wie zum Schlag geballt. Kunert sah ihn erschrocken an, bis Brokat langsam die Faust öffnete. Darin lag eine Halskette mit einem silbernen Anhänger in der Größe eines Zwei-Euro-Stücks, die er beim Versuch, den Fremden zu würgen, wohl abgerissen hatte. Er ließ sich von Kunert ein kleines Plastiksäckchen reichen und verstaute das Schmuckstück darin.

Als sie am Parkplatz ankamen, fühlte sich Brokat etwas besser. Offensichtlich tat ihm die kalte Nachtluft gut. Vorsichtig betastete er seinen Kopf – wahrscheinlich eine Beule und eine leichte Gehirnerschütterung, jedenfalls nichts Ernstes. Dennoch war es nicht einfach, seinen besorgten Assistenten davon zu überzeugen, dass er seinen Wagen durchaus allein nach Hause lenken konnte.

Als er in seinen alten Volvo stieg und langsam in Richtung Südstadt fuhr, war er immer noch leicht benommen. Am Ende der Bonner Straße, kurz vor dem Chlodwigplatz, meinte er, im Rückspiegel eine große schwarze Limousine zu erhaschen, die ihm folgte. Als er in das Gewirr der Einbahnstraßen im Severinsviertel eintauchte, drehte er sich häufiger im Fahrersitz um. Um drei Uhr nachts würde ihm bei den leeren Straßen niemand unbemerkt nachfahren können. Die Limousine war dann auch nicht mehr zu sehen. Brokat schrieb den vermeintlichen Verfolger seinem schlechten Allgemeinzustand zu und vergaß den schwarzen Wagen vollends, als er versuchte, in der Kartäusergasse einen Parkplatz zu finden – ein wie immer zeit- und nervenaufreibendes Unterfangen, egal um welche Uhrzeit.

Als er die Treppen zu seiner kleinen Zweizimmerwohnung im Kartäuserhof hochstieg, meldeten sich die Kopfschmerzen zurück. Brokat legte sich einen kalten Waschlappen auf die Stirn, setzte sich in den alten Lehnstuhl im Wohnzimmer und schaltete die große Stehlampe an. Er holte die Kette, die er seinem Angreifer entrissen hatte, aus seiner Jackentasche und legte sie vor sich auf den kleinen Beistelltisch. Im Licht glänzte der Anhänger und funkelte, als sei er gerade kürzlich erst poliert worden. Deutlich konnte Brokat die Prägung erkennen: zwei Adler mit einer Krone darüber und einem Kreuz in der Mitte. Den Rand des wie eine Münze geformten Anhängers zierten stilisierte Lorbeerzweige. Die Rückseite war wesentlich einfacher gestaltet und zeigte nur einen kunstvollen Schriftzug, den Brokat allerdings nicht entziffern konnte. In den Versalien am Anfang der beiden Wörter meinte er, die Buchstaben »R« und »K« zu erkennen. Die Vorderseite zeigte offensichtlich ein Wappen, möglicherweise das einer Familie oder eines Ortes. Bei dem Schriftzug auf der Rückseite konnte es sich um den Namen des Besitzers handeln.

Brokat überlegte. War der Anhänger vielleicht so etwas wie ein Mitgliedsabzeichen? Möglicherweise sogar das einer kriminellen Vereinigung? Auf jeden Fall musste er seine Bedeutung so schnell wie möglich entschlüsseln. Gleich morgen früh würde er ein Foto an einen Spezialisten für Wappen, Abzeichen und Symbole bei der Kripo in Düsseldorf mailen.

***

»Es waren zwei Schützen«, begrüßte ihn Berschke am nächsten Tag gut gelaunt. Wie immer trug er seinen unvermeidlichen weißen Kittel. Obwohl es noch früh am Morgen war, wirkte er hellwach. Seine überschäumende Energie schien sich wie immer auf die wenigen weißen Haare zu übertragen, die von seinem Kopf aus wirr in alle Richtungen abstanden.

Brokat war erst um vier ins Bett gekommen, und zweieinhalb Stunden später hatte der Wecker schon wieder geklingelt. Die Kopfschmerzen waren leider nicht verflogen. Gegen halb acht hatte der Hauptkommissar des Kölner Kriminalkommissariats 11 das Haus verlassen und beim Traditionsbäcker Merzenich einen schnellen Kaffee getrunken. Er mochte es, dort an einem der Stehtische zu stehen und die vorbeihastenden Menschen zu beobachten. Wenigstens das war ein Privileg seines Berufs, dass er keine festen Arbeitszeiten hatte. Dafür war er eigentlich immer im Dienst. Auch nicht schön.

Brokat sah auf den vor ihm liegenden Chlodwigplatz. So richtig hatte er sich noch immer nicht daran gewöhnt, dass nach Jahren des permanenten Lärms wegen des Baus der neuen U-Bahn-Nordsüd-Verbindung der Platz und die Severinstorburg bis auf die Absperrungen für die Eingänge zu den neuen Haltestellen wieder ruhig und friedlich dalagen. Im Verlauf der Bauarbeiten waren eine Reihe von Häusern auf der Severinstraße abgesunken, die Kirche St. Johann Baptist in eine gefährliche Schräglage geraten und schließlich sogar das historische Stadtarchiv eingestürzt. Die neue U-Bahn-Linie war immer noch nicht fertiggestellt, und niemand konnte mit Sicherheit sagen, wann sie endlich eröffnet werden würde.

Langsam war Brokat im morgendlichen Berufsverkehr über die Ringe in die Aachener Straße gefahren, bis er den Kölner Gürtel erreicht hatte. Sein Ziel war ein großes graues Betongebäude des Uniklinikums auf dem Melatengürtel, das das Institut für Rechtsmedizin beherbergte.

Reinhold Berschke war ein erfahrener Rechtsmediziner. Mit weit über sechzig Jahren stand er kurz vor der Pensionierung. Brokat, dem selbst noch fünfzehn Dienstjahre bevorstanden, erschien er mit seiner burschikosen Art beinahe jugendlich.

»Es müssen mindestens zwei Männer gewesen sein«, rief ihm Berschke entgegen, kaum dass Brokat die Sektionssäle der Gerichtsmedizin betreten hatte. Ein Hauch von Verwesung und Tod vermischte sich mit dem Geruch von süßlichen Desinfektionsmitteln. Die beiden Leichen lagen aufgebahrt vor ihm. Offensichtlich war der Mediziner gerade dabei, sie zusammen mit einem Assistenten einer sorgfältigen Untersuchung zu unterziehen.

Er bat Brokat, mit in sein Büro zu kommen. Dort bedeutete er ihm, auf dem alten Stuhl vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Brokat setzte sich schweigend und wartete darauf, dass der andere begann. Doch Berschke blätterte hektisch in seinen Notizen und schien die Gegenwart des Kommissars kurzzeitig vergessen zu haben. So schaute sich Brokat in dem kleinen Büro um. Das Zimmer wirkte kahl und unpersönlich, die Wände waren bis auf zwei schon leicht vergilbte Plakate mit anatomischen Zeichnungen leer. Das Fenster war so dreckig, dass die aufgehende blasse Januarsonne kaum in den muffig riechenden Raum dringen konnte.

Brokat kannte Berschke schon seit mehr als fünfzehn Jahren. Er hielt ihn für einen hervorragenden Rechtsmediziner und arbeitete gern mit ihm zusammen. Berschke redete nicht um den heißen Brei herum, sondern sagte, was zu sagen war, und das ohne Rücksicht auf Verluste. Brokat mochte diese direkte Art. Trotzdem war ihr Kontakt nie über das Dienstliche hinausgegangen. Schade eigentlich, dachte Brokat. Wir hätten mal abends zusammen ein Bier trinken oder ins Kino gehen können. Immer diese verdammte Arbeit und der Druck, noch etwas erledigen zu müssen. Eigentlich habe ich immer nur in der Zukunft gelebt und mir vorgestellt, was ich machen werde, wenn ich mal mehr Zeit habe. Aber die habe ich nie gehabt.

Er wollte gerade Berschke fragen, ob er nach Dienstschluss etwas vorhabe, als der Rechtsmediziner zu sprechen begann. »Ich kann dir noch keinen vollständigen Bericht geben. Dazu war die Zeit zu kurz. Wir wissen aber mit Sicherheit, dass die beiden Kopfschüsse aus ein und derselben Waffe abgegeben wurden, und zwar von hinten. Die Kugeln haben die Schädelknochen und das Gehirn glatt durchschlagen und sind vorn an der Stirn wieder ausgetreten. Einer der beiden Toten hat aber noch eine zweite Kugel abbekommen, und zwar in die Brust. Der Schuss kam allerdings von vorn. Die Kugel hat außerdem ein ganz anderes Kaliber. Folglich müssen wir von zwei Tätern ausgehen. Genaueres werden uns die Ballistiker sagen. Ach ja, Todeszeit war, soweit ich es zu diesem Zeitpunkt sagen kann, so gegen ein Uhr.«

Er sah Brokat an. »Dir ist sicher nicht die merkwürdige Haltung der beiden jungen Männer entgangen. Aller Wahrscheinlichkeit nach sind sie nach den Schüssen erst einmal nach vorn gefallen, lagen also auf dem Bauch. Die Mörder haben sich die Zeit genommen, sie umzudrehen und in diese merkwürdige Position zu drapieren.« Berschke zeigte auf die Fotos der beiden Toten, die die Spurensicherung am Tatort gemacht hatte. »Wer sich solche Mühe macht, verfolgt eine ganz bestimmte Absicht.«

»Bloß welche?«, entgegnete Brokat, während er aufstand und zur Tür ging. Die Frage blieb unbeantwortet.

2

Als er gegen zehn das Polizeipräsidium auf dem Pauli-Ring in Kalk betrat, musste er feststellen, dass sich sein nächtlicher Kampf mit dem Unbekannten schon herumgesprochen hatte. Anja Korschmann, seine Sekretärin, erkundigte sich ungewohnt besorgt nach seinem Wohlergehen, und zwei Kollegen von der Sitte, die ihm auf der Treppe entgegenkamen, tuschelten miteinander, als sie ihn sahen. Also hatten entweder Kunert oder die Mitarbeiter der Spurensicherung ihren Mund nicht halten können.

Ärgerlich betrat Brokat als Erstes Kunerts Büro und wies seinen verdutzten Assistenten schroff an, die Kette mit dem Anhänger zu fotografieren, das Bild an die entsprechende Fachabteilung der Kripo in Düsseldorf zu mailen und ansonsten lieber zu arbeiten, als über andere Leute zu tratschen.

Als Kunert wenig später mit zwei Tassen frisch gekochtem Kaffee sein Büro betrat, hatte sich Brokat schon wieder beruhigt. Kurz berichtete er seinem Assistenten von dem Gespräch mit Berschke.

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