Trügerische Ruhe - Nicolas Stockhammer - E-Book

Trügerische Ruhe E-Book

Nicolas Stockhammer

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Beschreibung

Im Visier des Terrors Paris, Berlin und Barcelona sind nur einige europäische Städte, die in den vergangenen Jahren von Terroranschlägen erschüttert wurden. Schlussendlich blieb auch Wien nicht verschont: 2. November 2020 – ein lauer Abend, fröhliche Gesichter, Feierlaune. Bis die ersten Schüsse fallen. Warum kommt es immer wieder zu terroristischen Anschlägen? Wer sind die Attentäter und was sind ihre Beweggründe? Wie lassen sich weitere Terrorakte verhindern? Diese und andere komplexe Fragen beantwortet einer der führenden österreichischen Terrorismusforscher: Nicolas Stockhammer erklärt am Beispiel des Wiener Attentats die Hintergründe islamistischer Terrorakte, wie Radikalisierung abläuft, wer potenziell zum Täter wird, wie Überwachung und Prävention seitens der Behörden funktionieren und zeigt wiedererkennbare Muster auf – ein profunder Überblick über die aktuelle terroristische Bedrohungslage in Europa und Österreich. "Jeder, dem die Sicherheit Österreichs am Herzen liegt, sollte dieses Buch lesen." Peter R. Neumann Professor für Sicherheitsstudien King's College, London

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NICOLAS STOCKHAMMER

TRÜGERISCHE RUHE

Der Anschlag von Wien und die terroristische Bedrohung in Europa

Gefördert von der Stadt Wien Kultur

Redaktioneller Hinweis:

In Fällen, in denen aus Gründen der Stilistik das generische Maskulinum verwendet wird, sind grundsätzlich immer alle Geschlechter gemeint.

Der Umwelt zuliebe #ohnefolie

© 2023 by Amalthea Signum Verlag GmbH, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung und Satz: Anna Haerdtl, Barbara Reiter und Silvia Fuchs, Bureau A/O

Umschlagmotiv: Anschlag von Wien, Tatort in der Seitenstettengasse

© Hans Punz/APA/picturedesk.com

Grafik Seite 126/127: © Der Standard

Lektorat: Eva Harker

Herstellung: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH, Heimstetten

Gesetzt aus der Freight Text Pro

Designed in Austria, printed in the EU

ISBN 978-3-99050-252-5

eISBN 978-3-903441-19-4

C + S + Sin Liebe gewidmet

INHALT

VORWORT

von Peter R. Neumann

EINLEITUNG

Drei Jahre danach

VORBEMERKUNG

WARUM TERRORISMUS?

Was ist Terrorismus?

Der hybride Terrorismus

Die Strategien extremistischer Gewalt

Die Medien und der Terror

Islamistischer Terrorismus

RADIKALISIERUNG: WIE WIRD MAN TERRORIST?

Angebot und Nachfrage

Bausteine der Radikalisierung

DAS LAGEBILD DER JIHADISTISCHEN BEDROHUNG

Herbststurm des Jihad oder Charlie Hebdo 2.0

Pandemiebedingte Krisen als Treiber

Post-Afghanistan

Europa

Österreich

DIE VORGESCHICHTE EINES TERRORANSCHLAGS

Der Wiener Attentäter und sein Netzwerk

Konspiration und Planung

Was wussten die Behörden (nicht)?

Zufälle und Herausforderungen

DER 2. NOVEMBER 2020

Rekonstruktion des Tathergangs

Die operativ-gefechtstaktische Vorgehensweise des Attentäters

Der Einsatz

Ausnahmezustand

Opfer und Helden

ERMITTLUNGEN UND AUFKLÄRUNG

Rekonstruktion und Aufklärung

Terrorprozesse

ERKENNTNISSE UND KONSEQUENZEN

Versagen der Prävention?

Die dubiose Rolle des Verfassungsschutzes

Untersuchungsberichte

Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst (DSN)

Antiterror-Gesetzespaket

LEKTIONEN FÜR DIE TERRORISMUSBEKÄMPFUNG

DIE VIELFÄLTIGE EXTREMISTISCHE BEDROHUNG IN EUROPA

Islamismus/Jihadismus

Rechtsextremismus

Staatsleugner (Reichsbürger, Selbstverwalter)

Verschwörungsmythiker

Linksextremismus

EXKURS: Der Wokismus als Zündstoff für Linksextremismus?

Radikale Klimaschutzbewegung

SYSTEMISCHE TRENDS DES (ISLAMISTISCHEN) TERRORISMUS

Low-Level-Szenarien durch Einzeltäter

Kriminalität-Terror-Nexus

„McJihad“

Transnationalisierung

Virtualisierung

AUSBLICK: KOMMT EINE NÄCHSTE TERRORWELLE?

ANMERKUNGEN

DANKSAGUNG

VORWORT

PETER R. NEUMANN

PROFESSOR FÜR SICHERHEITSSTUDIENKING’S COLLEGE, LONDON

Der Anschlag in Wien vom November 2020 war gleichermaßen absehbar und überraschend. Er war überraschend, weil der sogenannte Islamische Staat (IS) zu diesem Zeitpunkt bereits als besiegt galt. Vom vermeintlichen Kalifat, das Mitte 2010 der ganzen Welt Angst und Schrecken eingejagt hatte, waren gegen Ende der Dekade nur noch ein paar Dörfer übrig. Hinzu kam, dass Österreich selbst auf dem Höhepunkt der jihadistischen Terrorwelle in den Jahren 2015 bis 2017 nie als wichtiges Ziel galt. Trotz Mitgliedschaft in der von Amerika angeführten Anti-IS-Koalition hielt sich das Land militärisch zurück. Viele Experten waren der Meinung, dass Österreich für den IS „keine Priorität“ habe.

Wie Nicolas Stockhammer in diesem Buch eindrucksvoll belegt, waren diese Einschätzungen nicht nur falsch, sondern „trügerisch“. Schon Anfang 2010, als sich der Konflikt in Syrien radikalisierte, hätte klar sein sollen, welch enormes jihadistisches Radikalisierungspotenzial selbst in der vermeintlich so friedlichen und wohlhabenden Alpenrepublik existierte. Mehr als 250 Personen aus Österreich zogen in den Konflikt und schlossen sich jihadistischen Gruppen an. Gemessen an der Bevölkerungszahl war die Anzahl der österreichischen Syrien-Kämpfer zweieinhalb Mal so hoch wie in Deutschland und sogar dreieinhalb Mal so hoch wie in der Schweiz. Niemals zuvor hatte eine solch starke Mobilisierung für die jihadistische Bewegung stattgefunden, und obwohl sich diese zunächst auf den Krieg in Syrien richtete, ging es vielen früher oder später auch um ihre eigenen, westlichen Heimatländer.

Mit „Trügerischer Ruhe“ legt Nicolas Stockhammer eine erste umfassende Einordnung des Anschlags vom 2. November 2020 vor. Das ist aus mindestens drei Gründen wichtig. Erstens, weil es selbst bei so dramatischen und viel studierten Ereignissen wie Terroranschlägen auch Jahre später noch offene Fragen gibt. Der Anschlag in Wien ist dabei keine Ausnahme. Bis heute weiß zum Beispiel niemand genau, wie sich Mohammed Atta, der Anführer der Attentäter vom 11. September 2001, radikalisieren konnte; die Verbindungen zwischen den Londoner Attentätern vom 7. Juli 2005 und al-Qaida sind bis heute unklar; und in Deutschland gibt es immer noch Streit darüber, wie der Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz den Behörden durch die Finger schlüpfen konnte.

„Trügerische Ruhe“ bringt alle bekannten Fakten über den Anschlag von Wien zusammen, ordnet sie ein und macht es möglich, die noch offenen Fragen zu identifizieren. Das ist wichtig, denn hundertprozentige Sicherheit gibt es nirgendwo, und bei jedem Anschlag geht es darum, aus Fehlern zu lernen. Wie wir von den Anschlägen in New York, London und Paris wissen, ist es meist nicht ein einziger Fehler, der zur Katastrophe führt, sondern eine Verkettung von kleineren und größeren Versäumnissen auf allen Ebenen. Eine unabhängige und schonungslose Analyse, wie sie Stockhammer in diesem Buch präsentiert, ist unabdingbare Voraussetzung dafür, dass sich solche Fehler nicht wiederholen.

Ein zweiter Grund ist, dass sich am Wiener Anschlag nachverfolgen lässt, wie sich der jihadistische Terrorismus im Laufe der Jahre geändert hat – und wie nicht. Solange das angebliche Kalifat in Syrien und dem Irak eine Operationsbasis bot, waren viele Anschläge des IS relativ komplex und wurden von dort aus organisiert. Bestes Beispiel sind die Anschläge von Paris und Brüssel in den Jahren 2015 und 2016, für die ein ganzes Netzwerk – bestehend aus mindestens drei Dutzend Terroristen – verantwortlich war. Als es in den darauffolgenden Jahren gelang, die Operationsbasis des IS zu zerstören, hieß es plötzlich, dass die Terrorgefahr jetzt nicht mehr von solchen Netzwerken ausgehe, sondern von „einsamen Wölfen“ – also vermeintlich selbst radikalisierten Attentätern, die keine Verbindung zur Terrorgruppe hatten, sich im Internet „verführen“ ließen und auf eigene Faust losschlugen.

Solche Einzeltäter gab und gibt es. Aber wie Nicolas Stockhammer zeigt, sind sie in vielen Fällen weniger „einsam“ als das Label „einsamer Wolf“ suggeriert. So war der Wiener Attentäter seit Jahren in der jihadistischen Szene unterwegs, hatte Kontakte im gesamten deutschsprachigen Raum und war für einen (fehlgeschlagenen) Versuch, sich dem IS in Syrien anzuschließen, bereits zu knapp zwei Jahren Haft verurteilt worden. Den Anschlag führte er als Einzeltäter durch, aber der Mythos des „einsamen Wolfs“, den keiner kennt und der quasi über Nacht zum Terroristen wird, hatte mit ihm wenig zu tun. Selbst Einzeltäter, so wird auch an diesem Beispiel klar, sind oftmals behördenbekannt, im extremistischen Umfeld vernetzt und lassen sich durch gute investigative Arbeit „entdecken“.

Nicht zuletzt zeigt das Buch, dass die Bedrohung durch den jihadistischen Terrorismus nicht vorbei ist. Natürlich gibt es deutlich weniger Jihadisten als noch vor zehn Jahren, ganz besonders in Europa. Und es stimmt, dass es dem IS schwerer fällt, im Westen Anschläge zu verüben – auch wegen der insgesamt sehr guten Arbeit der Sicherheitsbehörden. Aber ganz verschwunden ist die Gefahr nicht. In den letzten zehn Jahren haben sich in Europa mehr junge Menschen jihadistisch radikalisiert als je zuvor. Und auch wenn sich die große Mehrheit von der Ideologie losgesagt hat, kommt es immer wieder zu Anschlägen und Anschlagsversuchen.

Obwohl andere Formen des Terrorismus in der Zwischenzeit zweifellos an Bedeutung gewonnen haben, wäre es deshalb ein Fehler, die Erfahrung und Kompetenz bei der Bekämpfung des jihadistischen Terrorismus einfach so aufs Spiel zu setzen. Nicolas Stockhammers Buch beweist, wie wichtig es ist, Bedrohungen über Jahre hinweg zu beobachten, langfristige Strukturen zur Gefahrenabwehr und Prävention aufzubauen und immer wieder die eigenen Annahmen auf den Prüfstand zu stellen. Jeder, dem die Sicherheit Österreichs am Herzen liegt, sollte dieses Buch lesen.

London, 17. August 2023

EINLEITUNG: DREI JAHRE DANACH

Während ich diese Zeilen schreibe, ist es knapp drei Jahre her, dass Wien an einem lauen Allerseelenabend von einem islamistischen Terroranschlag heimgesucht wurde. Die Wunden sind noch immer nicht ganz verheilt, die Narben werden der Stadt bleiben. Wie viele andere europäische Metropolen hat der Terrorismus auch Wien verändert. Wenn wir heute durch die Gassen des sogenannten Bermudadreiecks schlendern, werden sich viele von uns an jenen tödlichen Abend im Herzen der Stadt erinnern. Auch ohne die Mahnmale zum Gedenken an die Opfer. Das völlig Unbeschwerte ist seitdem dahin. Die schmerzhaften Erinnerungen an die grauenhaften Szenen des Anschlags, die Gewehrsalven, das brutale Vorgehen des verblendeten Attentäters und die unschuldig attackierten, wehrlosen Opfer kommen einem unversehens in den Sinn. Genauso wie die schaurige Akustik: Hier ein dumpfer Knall. Dort hektisches Gebrüll. Überall Sirenen. Visuell begleitet von dem blauen Lichtermeer Dutzender Einsatzfahrzeuge. Kohorten von Polizisten, Rettungskräften und Helfern. Legionen von Medienvertretern und Kameras. Eine unübersichtliche Gemengelage. Chaos bis zum Schluss. Am darauffolgenden Morgen die vollkommene Ernüchterung. Eine Bilanz des Grauens. Das blutverschmierte Pflaster. Unzählige Einschusslöcher. Umgestoßene Stühle. Zerborstene Scheiben. Polizeiliche Absperrungen. Fast wie die Filmkulisse eines Actionfilms. Doch leider war dies nicht inszeniert, sondern harsche Realität.

Die unzähligen Bilder und Eindrücke jenes langen Abends haben sich fest ins kollektive Unterbewusstsein der Menschen in Wien eingebrannt und sind irgendwie stets abrufbereit. Dafür braucht es bloß einen kleinen Anstoß, etwa einen Spaziergang durch den Bereich des einstigen Tatorts. Die Besinnung auf die tragischen Ereignisse jenes 2. November hat sicherlich auch etwas Reinigendes. Sie macht die Endlichkeit unserer Existenz bewusst. Und einmal mehr offenbart sie die willkürliche Macht des Zufalls und die unnachgiebige Härte des Schicksals. Ich selbst kenne einige, die an jenem Abend inmitten des Geschehens waren, aber nicht mit dem Attentäter zusammengetroffen sind. Die Opfer hatten dieses Glück nicht. Im Gegenteil, die meisten von ihnen hatten das ausgesprochene „Pech“, einem skrupellosen Attentäter, mit Schnellfeuergewehr und Pistole bewaffnet, direkt zu begegnen, der auf sie zielte, der töten wollte. Einige darunter wurden durch dessen Feuerstöße eher zufällig getroffen, durch Abpraller oder Streifschüsse. Ganze neun Minuten dauerte das apokalyptische Terrorszenario. Neun Minuten, die das Leben so vieler für immer verändert haben. Jenes der überlebenden Verletzten, der Angehörigen der Toten, derjenigen, die sich in Restaurants und Kellergeschossen versteckt gehalten haben. Jenes der Einsatzkräfte. Niemand blieb unberührt. Manche haben vielleicht ein Fingerglied verloren, andere einen geliebten Angehörigen – alle jedoch die Gewissheit der Sicherheit. Sie alle leben mit ihrer individuellen Erinnerung an jenen Allerseelenabend. Und mit den mannigfaltigen Konsequenzen, die für jede einzelne Person komplett unterschiedlich sein können.

Die vorliegende Zusammenstellung versucht, die Hintergründe und Auswirkungen dieser folgenschweren Tat zu erläutern und kritisch einzuordnen. Wie so oft bei derartigen Themen mit Bezug zu nachrichtendienstlichen Vorgängen und Erkenntnissen gibt es inoffizielle Quellen und Informationen, die nicht zitierfähig sind, Hinweise, die glaubhaft erscheinen, aber nicht belegt sind. Natürlich auch umgekehrt, was möglicherweise manche erstaunen wird. Aus diesem Grund habe ich mich vordergründig an offen zugänglichen Quellen orientiert und die relevanten Zusammenhänge möglichst originalgetreu sowie akkurat rekonstruiert. Dennoch kann man gewisse Kenntnisse und Informationen bei der Beurteilung von Ereignissen und Konstellationen nicht völlig ausblenden. Diese reflektieren dann die subjektive Komponente, die hoffentlich einen Mehrwert dieses Buches darstellt. Trotz meines redlichen Versuchs, einige wichtige Fragen zu beantworten, werden andere weiterhin offenbleiben. Eine wesentliche Zielsetzung meiner Beschäftigung mit dem Terroranschlag von Wien und der terroristischen Bedrohungslage in Europa ist unzweifelhaft eine kritische Auseinandersetzung einer breiteren Öffentlichkeit mit diesen Aspekten. Schließlich hoffe ich, dass dieser Befund einen Beitrag zu einer aufgeklärten öffentlichen Diskussion über Terrorismusbekämpfung und deren Notwendigkeiten sowie zugleich auch deren Defizite leisten wird.

Meine professionelle Beschäftigung mit dem Terrorismus hat mich allgemein sicherlich etwas abgebrüht werden lassen, was die tragische Dimension von Terroranschlägen betrifft. Manchmal ertappe ich mich zwar bei traurigen Gedanken an die bedauernswerten Opfer, aber für eine sachliche Betrachtung solcher Konstellationen als „Studienobjekt“ ist kritische Distanz unabdingbar. Ähnlich wie bei einem Arzt, der seine subjektive Betroffenheit ausblenden muss, um einen guten Job am Patienten zu verrichten. Doch der Wiener Terroranschlag hat mich erstmals selbst ins Mark getroffen. Wahrscheinlich vordergründig deshalb, weil ich in jenem Bezirk, wo der Attentäter zuletzt gewohnt hat, aufgewachsen bin und einen persönlichen Bezug zum Tatort habe. Ebenso, weil ich mich geistig in die Lage vor Ort komplett hineinversetzen konnte. Hinzu kamen die zahlreichen Bilder und Videos, die meinen Eindruck noch weiter verfestigten. Mit etwas Zeitverzögerung, aber dann umso mehr, erfassten mich starke Gefühle wie Trauer und Mitgefühl. Als ich den Tatort das erste Mal besuchte, musste ich nach Fassung ringen. Möglicherweise ergeht es anderen Kollegen aus meinem Berufsfeld ähnlich, wenn es einen Terroranschlag in ihrer Heimatstadt gibt.

Diese persönliche Betroffenheit ist vermutlich der Hauptgrund dafür, dass ich dieses Buch erst im dritten Jahr nach dem Terroranschlag vom 2. November 2020 geschrieben habe. Ich wollte mir etwas Abstand genehmigen. Erstens als Forscher und Analytiker der Geschehnisse und zweitens, um meinen eigenen, persönlichen Zugang zu diesem Ereignis zu finden. Diese Darstellung reflektiert ein Stück weit auch meine subjektive Betrachtung der Faktizität. Daher finden sich darin immer wieder Einblicke in meine Gedanken, um die Hintergründe gewisser Schlussfolgerungen besser zu illustrieren.

Nichtsdestotrotz bleibt dies die Bearbeitung eines Politikwissenschaftlers, der sich seit rund zwei Jahrzehnten mit dem Thema beschäftigt, verbunden mit dem Anspruch, eine seriöse Bestandsaufnahme sine ira et studio zu liefern. Die Zielsetzung in meinem Fach besteht darin, den unbestechlichen Blick konsequent nach vorn zu richten und aus Vergangenheit und Gegenwart auf die mögliche Zukunft zu schließen – also faktenbasiert „Illusionen zu zerstören“, wie eine Koryphäe der Disziplin es einmal treffend auf den Punkt gebracht hat. Im Kapitel über die strategischen Trends des Terrorismus versuche ich, basierend auf der Methode der strategischen Vorausschau, ein mögliches Zukunftsbild zu entwerfen. Hierauf aufbauend wage ich einen Ausblick in die nächste Zukunft der terroristischen Lage in Europa, wohl wissend, dass solche Projektionen immer nur explorativ sein können. Zudem unterstehen sie den Voraussetzungen einer linearen Trendentwicklung. Gamechanger, also grundlegende Brüche wie eine Pandemie, Krieg in der unmittelbaren Nachbarschaft oder technologische Revolutionen sind jederzeit denkbar. Das bedeutet, dass es kurzfristig anders kommen kann als ursprünglich erwartet.

In den rund 36 Monaten seit der Wiener Terrornacht ist viel passiert. Einiges hat sich verbessert, anderes ist gleich geblieben; die Bedrohungslage durch extremistisch motivierte Gewalt hat sich, wie ich zeigen werde, sogar graduell verschlechtert. Gänzlich verhindern wird man derartige Anschläge niemals können. Aber wir müssen aus dieser Schreckenstat und den zahlreichen Defiziten ihrer unterschiedlichen Akteure lernen. Dies ist die Basis für eine zukünftige effektive Vorbeugung oder Verhinderung weiterer terroristischer Attacken.

Es obliegt unserer Verantwortung, dafür Sorge zu tragen, dass die Opfer dieses Terrorakts nicht vergessen werden. Ihnen und den zahlreichen selbstlosen Helfern, den wahren Helden vom 2. November 2020, ist dieses Buch respektvoll gewidmet.

Wien/Berlin im Juli 2023

GAMECHANGER, ALSO GRUNDLEGENDE BRÜCHE WIE EINE PANDEMIE, KRIEG IN DER UNMITTELBAREN NACHBARSCHAFT ODER TECHNOLOGISCHE REVOLUTIONEN SIND JEDERZEIT DENKBAR.

VORBEMERKUNG

Immer wieder werde ich gefragt: Was bringt jemanden zum wenig ersprießlichen Themenbereich Extremismus und Terrorismus? In meinem Fall geschah dies eher zufällig und war vordergründig dem Geist der Zeit geschuldet. Im Rahmen meiner politikwissenschaftlichen Ausbildung widmete ich mich im Wesentlichen ideengeschichtlich-politiktheoretischen Fragen von Staatsräson und Macht. Doch wie so oft im Leben treffen sich die elliptischen Bahnen. Das Thema hat mich erfasst und nachhaltig in seinen Bann gezogen.

Meine erste Begegnung mit dem Terrorismus war, wie bei so vielen meiner Generation, eine virtuelle – als Konsument von dramatischen Echtzeitbildern eines Terroranschlags. Vor dem Fernsehbildschirm ergriff mich blankes Entsetzen, als am 11. September 2001 die beiden entführten Passagierflugzeuge direkt in die New Yorker Twin Towers rasten. Der globale Schock hielt wochenlang an. Auch in unseren Breitengraden. Seminare an der Universität wurden kurzfristig thematisch umgeplant und der „Terror“ bestimmte für längere Zeit die Tagesordnung. Es gab in jenen Tagen kaum eine Konversation, die nicht in irgendeiner Form den Terrorangriff in den USA betraf. Wenige Monate vor dem Abschluss meines Politikwissenschaftsstudiums wollte ich mehr über dieses Phänomen erfahren und absolvierte ein gewaltiges Lesepensum von einschlägigen Büchern und Berichten.

Kurz entschlossen bewarb ich mich vor nunmehr fast genau 20 Jahren ohne große Erwartungen, aufgenommen zu werden, für ein Spezialprogramm „International Security after 9/11“ mit dem Schwerpunkt Terrorismusbekämpfung an der renommierten Stanford University in den USA. Als dann der Postbote unerwartet den UPS-Brief mit der Zusage zustellte, hatte ich ein Gefühl, als ob Weihnachten und Ostern auf einen Tag fielen. So durfte ich als frischgebackener Magister nach Stanford und erhielt dort unglaubliche fachliche Einblicke, die meine Arbeit heute noch prägen. Während meines Aufenthalts an dieser Elite-Institution forschte ich in einem fast paradiesischen Umfeld in Kleinstgruppen mit internationalen High-Profile-Kommilitonen und war Dauergast in der berühmten unterirdischen Bibliothek am Campus.

Mein weiterer Ausbildungsweg führte mich im Rahmen meines Doktoratsstudiums an die Humboldt-Universität zu Berlin, wo mich mein akademischer Mentor, Professor Herfried Münkler, einer der führenden deutschen Politikwissenschaftler, noch tiefer in die Materie eintauchen ließ und mich darin bestärkte, den Terrorismus „intellektuell zu durchdringen“, wie er es formulierte. Am Münkler’schen Lehrstuhl für Theorie der Politik wurde dem Namen entsprechend theoriebasiert geforscht. Dadurch haben Begriffsarbeit und Theorien mein Verständnis des Fachs geprägt. Ein Zugang, von dem ich noch heute sehr profitiere. Überhaupt sind die Ideengeschichtler und Politiktheoretiker eine eingeschworene Gemeinschaft, die sich als „Elite der Politikwissenschaftler“ verstehen. Das legendäre dienstägliche Doktorandenkolloquium, eigentlich ein Schaulauf der Habilitierten, in der Berliner Universitätsstraße war ein intellektuelles Leuchtfeuer und zugleich ein Stahlbad für die Vortragenden, deren Thesen penibel seziert wurden. Auch ich selbst kam in den Genuss, vor den Augen der Anwesenden von mehreren Seiten freundlich angegriffen und förmlich zerlegt zu werden. Am Ende erhielt ich ein verständnisvolles Schulterklopfen. „Willkommen im Club“, hatte mir ein älterer Kollege augenzwinkernd zugeflüstert. Das war so etwas wie ein akademischer Initiationsritus. Herfried Münkler präsentierte dort ebenfalls regelmäßig die neuesten Thesen und Kapitel seiner bevorstehenden Publikationen. Heute darf ich ihn einen guten Freund nennen, den ich sehr schätze und mit dem ich mich regelmäßig austausche.

Meine akademisch überaus lehrreichen Jahre in der deutschen Hauptstadt waren von den US-Interventionen im vom Weißen Haus dereinst ausgerufenen „Krieg gegen den Terror“ geprägt. Auf den Straßen Berlins und auch sonst überall in Europa wurde lautstark gegen diese, als Maßnahmen der Terrorismusbekämpfung etikettierten, militärischen Gegenschläge der Vereinigten Staaten protestiert.

Nach meiner Berliner Zeit verschlug es mich nach einem kurzen Intermezzo im österreichischen Verteidigungsministerium schließlich als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Wien an die Landesverteidigungsakademie, wo ich mir einen anderen, mehr sicherheitspolitischen Zugang zur Materie aneignen durfte. Dort machte ich erstmals Bekanntschaft mit der Methode der Szenariotechnik und dem softwareunterstützten Zukunftsmanagement (Strategy Foresight Cockpit), die ich bis zum heutigen Tag im Rahmen meiner Forschung verwende, um Trends, Prognosen und eben Szenarien des Terrorismus abzuleiten. Nach dem Terroranschlag von Wien bekam ich die Chance, eine eigene Forschungsstruktur unter meiner wissenschaftlichen Leitung an der Donau-Universität Krems, den Research Cluster „Counter Terrorism, Countering Violent Extremism (CVE) and Intelligence“ aufzubauen. Dort werden Terrorismus und die Phänomene des Extremismus vor dem Hintergrund von Prävention und Bekämpfung analysiert. Das Themenfeld Intelligence, also die nachrichtendienstliche Beschäftigung mit diesen Problemstellungen, ist eine dritte Säule in Forschung und Lehre.

Der Terrorismus als Gegenstand meines wissenschaftlichen Interesses begleitet mich beruflich seit nunmehr rund zwei Jahrzehnten. Meine Faszination für dieses Thema ist ungebrochen und es gibt immer wieder neue Facetten zu entdecken.

WARUM TERRORISMUS?

Mit diesem Buch möchte ich einer interessierten Leserschaft das Thema Terrorismus und seine komplexen Zusammenhänge näherbringen. So emotionsgeladen diese Materie sich darstellt, so vielschichtig ist sie – dementsprechend taucht instinktiv zuallererst und zwangsläufig die Frage nach dem „Warum“ auf.

Doch was ist Terrorismus in Abgrenzung zu anderen Gewaltakten wie etwa zu Amok und School Shootings überhaupt? Wovon ist die Rede, wenn wir über terroristische Gewalt sprechen? Die Mehrzahl von uns hat eine grundsätzliche Idee hierzu, jedoch variieren die jeweiligen Zugänge in den meisten Fällen je nach persönlichem Bezug und individueller Relevanz. Ein vollkommen deckungsgleiches Verständnis von Terrorismus ist kaum zu finden – wie wir sehen werden, auch nicht in der Politik, der Wissenschaft oder in den Medien. Und schon gar nicht in der breiten Öffentlichkeit.

Der Terrorismus ist eine Strategie der Schwachen und eine Manifestation der Ausweglosigkeit, nicht selten ein Verzweiflungsakt und der Ausdruck eines Scheiterns.1 In den meist traurigen Biografien der Attentäter lässt sich dieses Versagen auf persönlicher Ebene, privat wie beruflich, regelmäßig gut nachvollziehen. Wahllose Gewalt gegen unbeteiligte Dritte erscheint häufig als der letzte Ausweg für extremistische Gruppierungen und Einzeltäter. Offenbar sind sie der Meinung, mittels öffentlichkeitswirksamer Brutalität ihre Ziele erreichen zu können. Terroristen sind die willfährigen Erfüllungsgehilfen einer mörderischen Ideologie. Sie werden benutzt, um willkürlich Angst und Schrecken zu verbreiten.

Einige der Hauptursachen, warum jemand zu einem Terroristen wird, sind die Einflüsse politischer, wirtschaftlicher oder sozialer Faktoren. Hierzu zählen politische Unterdrückung, religiöser Fanatismus, Armut sowie Arbeits- und Perspektivlosigkeit, aber ebenso Sinnkrisen, Frustration und Enttäuschung. Menschen, die sich unterdrückt fühlen oder ihre politischen Überzeugungen nicht frei äußern dürfen, können sich unter bestimmten Voraussetzungen zu terroristischen Aktivitäten hinreißen lassen. Manche wiederum sehen in ihrer religiösen Überzeugung den einzigen Weg zur Rettung der Welt und glauben, dass der Einsatz von extremistischer Gewalt dafür notwendig sei. Insbesondere junge Erwachsene haben in gewissen Konstellationen aufgrund von Armut und Arbeitslosigkeit keine Zukunftsaussichten. Für sie ist der Terrorismus eine impulsive Möglichkeit zur Veränderung dieser Umstände, letztlich in der Meinung, ihrem chancenlosen Dasein zu entkommen. Frustriert und enttäuscht stürzen einige in eine Sinnkrise, die sie dazu bringt, sich dem Terrorismus als dem letzten Ausweg aus ihrer persönlichen Misere zuzuwenden. In der Praxis ist es oftmals eine Kombination dieser Ursachen.

WAS IST TERRORISMUS?

Terrorismus ist die gezielte Anwendung von Gewalt, Einschüchterung oder Nötigung, um weltanschauliche, politische oder religiöse Ziele zu verfolgen.2 Ist diese Form der ideologisch motivierten Gewalt eher eine Taktik oder eine Strategie? Sicherlich beides. Sowohl eine taktische Methode, derer sich Extremisten bedienen, um mit einzelnen Maßnahmen ihre Anliegen durchzusetzen. Zugleich aber auch eine vielschichtige, kommunikationsbestimmte Strategie der Gewalt, der Einschüchterung, der Zermürbung und der Provokation, also ein Aktionsplan, der langfristig zu einer politischen Verhaltensänderung führen soll.

Der Terrorist des einen sei der Freiheitskämpfer des anderen, heißt es immer wieder polemisch. Darin zeigt sich die Schwierigkeit, den Begriff Terrorismus (von frz. terreur) allgemeingültig zu erfassen, da er zugleich eine negative und eine positive Wertung beinhaltet. Oftmals sehen sich Terroristen im typischen Selbstverständnis als „Revolutionäre“ oder „Kämpfer für eine gute Sache“. Sie erhöhen ihr ideologisches Anliegen zu einem Rechtfertigungsgrund für ihr illegitimes Handeln.

Wie eigentümlich falsch dies sein kann, illustriert ein fiktives Beispiel: Eine Gruppe von radikalen Tierschutzaktivisten bringt einen voll besetzten Zug, der auch Hühnerbatterien transportiert, zum Entgleisen. Tierschutz ist zweifellos ein legitimes Begehren, doch die Mittelwahl ist im skizzierten, zugegebenermaßen extremen Beispiel eindeutig terroristisch. Unterm Strich bleibt, gleichgültig wie man zur Sache selbst stehen mag, Terrorismus übrig, unbenommen, ob es als ethisch vertretbar angesehen werden könnte, zum Wohle der nicht artgerecht beförderten Tiere zu extremeren Maßnahmen zu greifen. Die Aktivisten haben mit ihrem Sabotageakt bewusst das Leben von unschuldigen Menschen und Tieren aufs Spiel gesetzt, um auf eine objektiv bestehende Ungerechtigkeit aufmerksam zu machen.

Daher ist stets zwischen dem Anliegen, den Zielen und der Protestform zu unterscheiden. Anliegen und Zielsetzungen können legitim sein, die Protestform hingegen illegitim und auf terroristischen Mitteln beruhen oder solche anstreben. So ist extremistisch motivierte Gewalt als illegitimes Handeln zu verurteilen und gleichzeitig, sofern zutreffend, sind die legitimen Anliegen zu unterstützen, die durch extremistische Mittel diskreditiert werden. Manche Medien tappen gelegentlich in die Falle, diese notwendige Differenzierung nicht trennscharf vorzunehmen. Sie laufen in solchen Situationen Gefahr, sich vom möglicherweise gerechtfertigten Begehren einer politischen Initiative blenden oder sogar einspannen zu lassen. Auch ist nicht von der Hand zu weisen, dass persönliche Einstellungen und Werthaltungen von Journalisten, aber auch von Forschern den Zugang zu diesem sensiblen Thema graduell mitprägen. Zumal Terrorismus in der Regel ereignisorientiert ist und es verschiedene Beurteilungen der relevanten Ereignisse geben kann. Man kann also folgern: Der Standort bestimmt den Standpunkt. Seriöse Medien müssen jedenfalls sehr sorgfältig und differenziert mit diesem Thema umgehen. Derzeit lässt sich dies etwa anhand der aufgeladenen Debatte rund um die „Klimakleber“ und einschlägige Protestaktionen von Klimaschutzgruppen wie der „Letzten Generation“ gleichsam in Echtzeit nachvollziehen. Journalistische Beiträge pendeln regelmäßig zwischen Stigmatisierung und Trivialisierung. Keiner von beiden Zugängen ist auf Grundlage fundierter Einschätzungen der Extremismusforschung haltbar. Diskussionen verlagern sich vermehrt insbesondere auch in die sozialen Medien, die wie eine Echokammer der Polarisierung funktionieren. Verbreiter extremistischer Ideologien instrumentalisieren Facebook, YouTube, Telegram, TikTok & Co zusehends für ihre Zwecke, wobei die Pandemie hier begünstigend oder gar antreibend gewirkt hat.3

Die Wissenschaft muss demgegenüber stabile und nachvollziehbare Kriterien für eine Begriffsbestimmung von Terrorismus, aber auch Extremismus anbieten. Denn die Auswirkungen einer (Nicht-)Festlegung auf die Politik können signifikant sein. Genauso wählen Staaten wie internationale Organisationen mit Bedacht auf eigene Interessen und Präferenzen ihren subjektiven Zugang zum Terrorismusbegriff. Nach wie vor kursieren in der Terrorismusforschung rund 260 verschiedene Definitionen. Zu den am häufigsten wiederkehrenden Merkmalen des Terrorismus innerhalb dieser begrifflichen Einfassungen gehören mit 83,5 Prozent Gewalt, mit 65 Prozent politische Ziele und schließlich mit 51 Prozent die Verbreitung von Angst und Schrecken.4

Eine der meistzitierten Begriffserläuterungen kommt vom amerikanischen Doyen der Terrorismusforschung, Bruce Hoffman. Danach kann Terrorismus „[…] als bewusste Erzeugung und Ausbeutung von Angst durch Gewalt oder die Drohung mit Gewalt zum Zweck der Erreichung politischer Veränderung […]“ verstanden werden.5 Das Ziel besteht also in einer Zustandsänderung der Politik. Weiters sei der „Terrorismus […] spezifisch darauf ausgerichtet, über die unmittelbaren Opfer oder Ziele des terroristischen Angriffs hinaus weitreichende psychologische Effekte zu erzielen. Er will innerhalb eines breiteren ‚Zielpublikums‘ Furcht erregen und dieses dadurch einschüchtern […].“6 Die Verunsicherung ist das Mittel der Zielerreichung. Nach Herfried Münkler ist „Terrorismus […] die Praxis des Gewaltgebrauchs durch [nichtstaatliche, Anm. N. S.] Akteure, die ihrem Gegner ressourcenmäßig deutlich unterlegen sind und über die psychischen Effekte physischer Gewalt politische Ziele erreichen wollen.“7 Im Wesentlichen ist der Terrorismus stets eine asymmetrische Konfliktsituation. Die eigene Unterlegenheit gleichen Terroristen durch den Zeitvorteil und den operativ taktischen Vorsprung aus, welche sie gegenüber Sicherheitsbehörden haben, was ihre Planungen im Vorfeld betrifft. Gemeint ist hiermit vorwiegend der Überraschungseffekt.

Problematisch erscheint außerdem, dass der Terrorismus ein „Drittes zwischen Krieg und Verbrechen“ und zugleich auch ein hybrider Aggregatzustand zwischen Krieg und Frieden ist, wie Münkler verdeutlicht.8 Unserem Verständnis nach ist der Terrorismus zweifellos ein auf Hass basierendes Gewaltverbrechen, das mit den Mitteln der Polizei sowie der Strafjustiz zu bekämpfen ist. Dennoch ist vor allem dann, wenn terroristische Gewalt von einer militärisch aufgebauten Organisation nach ebensolchen taktischen Grundsätzen ausgeübt wird, von einem kriegerischen Akt gegen die politische Ordnung auszugehen. Terrorismus hat in dieser Textur eine Systemänderung bis hin zum Regimewechsel, vor allem aber Destabilisierung zum Ziel. Daher entscheiden Regierungen von angegriffenen Staaten im Wesentlichen, ob sie mit sicherheitspolizeilich-strafrechtlichen oder mit militärischen Mitteln darauf antworten. Die USA haben sich im Nachklang von 9/11 in einen langatmigen und kostenintensiven „Krieg gegen den Terror“ verstrickt, dessen mäßig erfolgreiche militärische Interventionen in Afghanistan und im Irak annähernd zwei Jahrzehnte gedauert und rund 8000 (!) Milliarden US-Dollar an Ressourcen verschlungen haben. Ganz zu schweigen von der enormen Anzahl (etwa 900 000) an Menschenopfern.9 In Frankreich hat man als Reaktion auf die beiden massiven Terroranschläge von 2015 (Charlie Hebdo und Bataclan) mit einem verordneten Ausnahmezustand reagiert, der ebenfalls eine starke militärische Komponente, etwa an Wachsoldaten, beinhaltete. Dies ist aber in unseren Breitengraden eher die Ausnahme. Die Mehrheit der europäischen Staaten orientiert sich am sogenannten Kriminalitätsparadigma, also an einer Gegenstrategie, die auf dem Einsatz von konventionellen Instrumentarien innerer Sicherheit, das heißt der Polizei und des Verfassungsschutzes, beruht. Dabei wird das Ziel verfolgt, Terrorismus strafrechtlich zu ahnden.

Strukturell kann man Terrorismus mit einer schwelenden Glut vergleichen. Darüber hinaus erweist sich der Terrorismus entsprechend dem Krieg als ein „wahres Chamäleon“, das seine Gestalt nach Belieben verändern und an äußere Sicherheitsumgebungen anpassen kann.

DER HYBRIDE TERRORISMUS

Besonders deutlich haben die islamistisch motivierten Attentate in Europa seit 2015 diese taktische Anpassungsfähigkeit der Terroristen gezeigt. Sie weisen auf einen neuartigen, „hybriden“ Terrorismus hin, der eine strategische Abkehr von komplexen, lange geplanten und breit angelegten Terrorszenarien wie den Anschlägen vom 11. September 2001 vermuten lässt.

Hybrid bedeutet in diesem Zusammenhang eine bewusste Vermengung alter, „bewährter“ Taktiken mit den Möglichkeiten des digitalen Zeitalters. Wenn man so möchte, simpel und unkompliziert, aber digital. Die digitale Transformation als tiefgreifende Veränderung hat in den postmodernen Terrorismus Einzug gehalten und diesen streckenweise auch übernommen.

In der Regel steckten hinter der überwiegenden Mehrzahl der jihadistischen Terrorattacken in Europa weder hierarchisch strukturierte Terrorzellen noch eine komplexe Vorbereitung. Die Vorgehensweise der vorwiegend selbst radikalisierten Einzeltäter entspricht dem Muster des sogenannten Gelegenheitsterrorismus. Für diese nach wie vor dominante Spielart terroristischen Vorgehens ist charakteristisch, dass die Attentäter von jihadistischen Terrornetzwerken entkoppelt sind. Die anhaltende Loslösung von Einzeltätern und kleineren Strukturen von den maßgeblichen salafi-jihadistischen Terrororganisationen, dem „Islamischen Staat“ (IS) und al-Qaida, hat Marc Sageman als „führerlosen Jihad“ bezeichnet.10

In den meisten Fällen werden die Terroristen nicht mehr direkt von Organisationen wie dem IS ausgebildet, vorbereitet, ausgestattet und detailliert instruiert. Vielmehr sind sie aus eigenen Stücken zur Durchführung von Terrorakten bereit. Unterstützt werden sie dennoch. Ideologisch inspiriert, angestiftet und mitunter ebenso angeleitet. Ein Studium der relevanten islamistisch motivierten Terroranschläge in Europa seit dem Aufkommen des IS zeichnet ein klares Bild in dieser Hinsicht und belegt diese These.11 Die jihadistische Ideologie ist die Trägerschicht, auf der alles Weitere aufbaut. Zur Aufrechterhaltung der Dynamik erscheint es daher essenziell, diese extremistische Weltanschauung zu verbreiten und an die „richtigen Empfänger“ zu bringen. Islamistische Propaganda bietet für Jihadisten die ersehnte Rechtfertigung, einen Terrorakt zu verüben. Durch ihre terroristischen Aktionen oder bloß die artikulierte Bereitschaft dazu können sie gleichsam Teil eines Terror-„Franchise“-Netzwerks werden. Praktisch jeder einschlägig Radikalisierte kann, ohne jemals zuvor als Islamist in Erscheinung getreten zu sein, spontan bei diesem Trittbrettfahrer-Terrorismus mitmachen. Ohne jedwede Vorlaufzeit, komplizierte Instruktionen oder langwierige Aufnahmeverfahren. Eine formale Zugehörigkeit zum IS oder zu einer anderen islamistischen Terrororganisation ist mittlerweile nicht mehr notwendig. Alles ist der Spontaneität geschuldet – gepaart mit einer erstaunlichen Einfachheit in der Durchführung. Danach reicht es nunmehr aus, eigeninitiativ tätig zu werden und sein perfides Gewalthandeln der islamistischen Sache zu widmen. „Soldat des IS“ wird, wer im Namen des IS tötet. Ich habe dieses islamistische Terror-Franchise bereits früher als „McJihad“ bezeichnet.12

Diese spontanen sogenannten Low-Level-Attacken durch radikalisierte Einzeltäter oder Mikrozellen sind demzufolge noch immer das dominante terroristische Anschlagsmuster in Europa. Die Vorgehensweise bei terroristischen Anschlagsszenarien beruht dabei auf taktischer Einfachheit in Planung, Logistik und bei der operativen Durchführung, gleichgültig, ob diese Terrorakte als geplant oder gelegenheitsbasiert eingestuft werden. Zu den relativ leicht zu beschaffenden Wirkmitteln wie (Hieb- und Stich-)Waffen, Schnellfeuergewehren und Sprengstoffwesten sowie Alltagsgegenständen wie Messern könnten in naher Zukunft möglicherweise auch Drohnen gehören. Zwischenzeitlich hatten sich Szenarien des „vehikulären“ Terrorismus (unter anderem in Nizza, Berlin, Barcelona, Stockholm) aus Sicht der Terroristen bewährt, bei denen jeweils ein Attentäter mit einem Fahrzeug in eine Menschenmenge gerast ist. Bereits 2014 hatte der mittlerweile getötete IS-Propagandist Abu Mohammed al-Adnani dazu aufgerufen, unvorhersehbare Terrorattacken gegen „Ungläubige“ im unmittelbaren Umfeld mit einfachsten Mitteln zu verüben: „Zerschmettert seinen Kopf mit einem Stein, schlachtet ihn mit einem Messer, überfahrt ihn mit einem Auto, werft ihn von einem hohen Platz nach unten, erstickt oder vergiftet ihn.“13

Gerade im letzten Jahrzehnt ist insbesondere die zunehmende Virtualisierung des Terrorismus, sowohl bei Jihadisten als auch bei Rechtextremisten, ein nachhaltiger Trend geworden.14 Das Internet (vor allem soziale Medien und verschlüsselte Messenger-Apps) spielt nunmehr eine Schlüsselrolle im Zusammenhang mit der gesamten Palette terroristischer Erscheinungsformen. Ideologieunabhängig entfaltet sich diese Verlagerung in den virtuellen Raum entlang der terroristischen „Wertschöpfungskette“. Das geht vom Erstkontakt mit extremistischer Propaganda zu Radikalisierung, Rekrutierung und Planung bis zur logistischen Unterstützung inklusive des Austausches über die effektive Durchführung eines Terroraktes.15 Nahezu alles findet mittlerweile online statt. Nicht zuletzt islamistische Extremisten nutzen diese Kanäle gekonnt, um gezielt neue Attentäter zu rekrutieren, Zweifelnde anzustacheln oder zu Terroranschlägen aufzurufen.

Dadurch sind aufseiten der Extremisten ein Wettbewerb und indirekt eine Eskalationsdynamik entstanden. Diese Konkurrenz im Kampf um Aufmerksamkeit, einerseits der Islamisten untereinander, andererseits auch nach außen hin gegenüber Rechtsextremisten, hat eine terroristische Gewaltspirale ausgelöst, die zu einer wechselseitigen Inspiration führt – Vorbilder versus Nachahmer. Im Sinne einer Propaganda der Tat verstärkt eine solche Interaktion den Handlungsdruck innerhalb der extremistischen Gesinnungsgemeinschaften. So haben islamistische Terroranschläge häufig Antwortcharakter auf rechtsextremistische und umgekehrt.16 Es entsteht eine Art Teufelskreis von Reaktion und Gegenreaktion.17 Terroristische Gewalt wirkt deshalb gefühlt omnipräsent. Durch eine Häufung von Anschlägen im europäischen Umfeld wird die Unsicherheit weiter gefördert. Man fragt sich nicht unberechtigt, wann und wo es das nächste Mal zu einer Terrorattacke kommen wird. Allein in Europa wurden zwischen 2014 und 2022 insgesamt rund 120 islamistisch motivierte Terroranschläge verübt und/oder von den Sicherheitsbehörden verhindert.18 Infolge der tatsächlich umgesetzten jihadistischen Terrorakte gab es insgesamt mehr als 800 Tote und 3800 zum Teil schwer Verletzte. Die Zahlen der relevanten Vorkommnisse dürften auch in den nächsten Jahren in ungefähr demselben Rahmen bleiben oder sogar steigen. Im islamistischen Phänomenbereich ist aktuell eine drastische Zunahme an gewaltorientierter Propaganda im Internet zu registrieren. In einschlägigen Foren werden vermehrt terroristische Planungen diskutiert, auch die notwendigen Mittel zur Durchführung von Low-Level-Szenarien sind vorhanden. Ein weiterer Faktor sind großflächig bevorstehende Haftentlassungen von verurteilten Jihadisten in Europa. Daher erscheint ein künftiger Rückgang in der relevanten Statistik der durchgeführten, nicht durchgeführten und verhinderten Terrorplots vor dem Hintergrund krisenhafter Entwicklungen und einer fortschreitenden Polarisierung in Europa jedenfalls unwahrscheinlich. Sämtliche der tatsächlich umgesetzten, jihadistisch motivierten Terroranschläge in den Jahren 2021 und 2022 wurden von Einzelpersonen verübt, die allein handelten.19 Diese Daten belegen den bestehenden Trend zum radikalisierten Einzeltäter.

So war dies auch der Fall beim Wiener Terroranschlag vom 2. November 2020, wobei der Attentäter zwar unmittelbar allein gehandelt haben dürfte, aber inspirative und logistische sowie taktische Unterstützung erhalten hat. Beobachter fragen sich, was einen jungen Mann dazu verleitet, mitten im beschaulichen Wien wahllos mit einem vollautomatischen Schnellfeuergewehr auf unschuldige Menschen zu schießen. Noch dazu, zumal bereits im Vorfeld klar erschien, dass der Attentäter diese Attacke höchstwahrscheinlich nicht überleben würde. Wie verzweifelt und verblendet muss man sein, um eine solche sinnlose Schreckenstat zu verüben? Kann ein Mensch sämtliche moralischen Bedenken und angeborenen Selbsterhaltungsreflexe vollkommen ausblenden? Die Antworten hierauf sind vielschichtig und komplex. Und ausnahmslos einzelfallorientiert. Kaum ein Fall gleicht dem anderen in den bestimmenden Parametern. Unzählige wissenschaftliche Erklärungsmodelle in Hinblick auf Radikalisierung sowie den dahinterstehenden Prozess setzen entweder beim Individuum, bei Bezugsgruppen im Umfeld oder bei der Gesamtgesellschaft an. Relevant bei Einzeltäterszenarien sind Individuen und die unmittelbare Situation, in der es zum Terrorakt kommt. Was kann man dagegen tun? Wie kann man dieser Entwicklung auch in Zukunft nachhaltig entgegenwirken?

Über Sinn und Bedeutung terroristischer Gewalt nachzudenken ist kein einfaches Unterfangen. Überlegungen dieser Art erfordern ein grundlegendes Verständnis der Funktionalität des Terrorismus, aber vor allem seiner elementaren Wechselwirkungen. Hier die Terroristen, dort die Angegriffenen. Zudem orientiert sich terroristische Gewalt an den politischen Strukturen, den Staaten, die ebenfalls ins Visier genommen werden. All dies ist stets gesamtheitlich und in wechselseitigen Abhängigkeiten und Bezügen zu denken. Denn was für unsereins gemeinhin mit Blick auf Ursachen, Motive und Zielsetzungen vollkommen widersinnig erscheinen mag, kann für Terroristen durchaus eine nutzbringende Option sein. Sowohl im Diesseits als auch im Jenseits, da gerade Jihadisten mehrheitlich transzendent orientiert sind.

Was die Motivlage von Terroristen betrifft, so unterscheidet man primäre von sekundären Motiven. Bei den primären Motiven handelt es sich um tief sitzende Frustrationen, erlittene Traumata, schwerwiegende psychische Kränkungen oder andere negative Erfahrungen (wie im Kapitel „Warum Terrorismus?“ beschrieben). Oftmals ist es eine Kombination von „Push-Faktoren“, also motivierenden Umständen, die zur Radikalisierung von ansprechbaren, meist labilen Persönlichkeiten beitragen. Die Radikalisierten betrachten sich prinzipiell als Opfer und verspüren zunehmend einen Drang zu handeln. Gewalt erscheint ihnen als eine sinnvolle, weil auf den ersten Blick Erfolg versprechende Alternative.

Die sekundären Motive sind die berühmten „drei R“ (nach Louise Richardson): „Rache, Ruhm und Reaktion“.20 Rache als Antwort auf die reale oder wahrgenommene Unterdrückung von Muslimen im Westen oder in muslimisch dominierten Ländern. Ruhm bezieht sich auf die ersehnte Anerkennung innerhalb der extremistischen Bezugsgruppe, der sich Terroristen zugehörig fühlen. „Der wahre Märtyrer will nicht sterben, sondern ewig leben. Der Massenmord verheißt Ruhm und Unsterblichkeit, und sei es nur im Gedächtnis der Hinterbliebenen“, wie der Soziologe Wolfgang Sofsky illustriert.21 Dies meinen vor allem junge radikalisierte Männer dadurch zu erreichen, indem sie als Kämpfer, manchmal zugleich als Märtyrer, für die eigene verquere Ideologie oder demokratiefeindliche Überzeugung in Erscheinung treten. Gewaltsame, extremistisch motivierte Handlungsweisen sind häufig eine unmittelbare Reaktion auf wahrgenommene Provokationen wie etwa die Veröffentlichung von Karikaturen des Propheten Mohammed. Terrorakte streben wiederum selbst nach einer Reaktion der Angegriffenen. Im Idealfall, aus Sicht der Angreifer, entpuppt sich diese Antwort der Staaten als ein übereiltes Gegenhandeln. Konkret kann das eine drastische Beschränkung von Grundrechten, insbesondere staatsbürgerlichen Freiheiten, nach sich ziehen, die wiederum den Terroristen in die Hände spielt.