Two Wrongs make a Right - Chloe Liese - E-Book

Two Wrongs make a Right E-Book

Chloe Liese

0,0
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Every way you were my opposite only made me want you more Jamie Westenberg und Bea Wilmot haben nichts gemeinsam außer den traumatischen Erinnerungen an ihre erste Begegnung. Doch als die Menschen, die ihnen am nächsten stehen, Amor spielen und sie zu einem Date überreden, wird den beiden klar, dass sie noch eine Gemeinsamkeit haben: ein unbestreitbares Bedürfnis nach Rache. Bald steht ihr Plan fest: Ein falsches Date vortäuschen und ihre Freunde davon überzeugen, dass sie total verliebt sind. Dann machen sie spektakulär Schluss, um dem Verkupplungswahn ein für alle Mal ein Ende zu setzen. Jamie und Bea legen den Auftritt ihres Lebens hin, und je länger sie die Liebenden spielen, desto einfacher wird es …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über dieses Buch

Jamie Westenberg und Bea Wilmot haben nichts gemeinsam außer den traumatischen Erinnerungen an ihre erste Begegnung. Doch als die Menschen, die ihnen am nächsten stehen, Amor spielen und sie zu einem Date überreden, wird den beiden klar, dass sie noch eine Gemeinsamkeit haben: ein unbändiges Verlangen nach Rache.

Bald steht ihr Plan fest: Ein falsches Date vortäuschen und ihre Freunde davon überzeugen, dass sie total verliebt sind. Dann machen sie spektakulär Schluss, um dem Verkupplungswahn ein für alle Mal ein Ende zu setzen.

Jamie und Bea legen den Auftritt ihres Lebens hin, und je länger sie die Liebenden spielen, desto einfacher wird es …

 

 

 

Für die innere Kraft, die ich fand, als ich sie brauchte.

Und die unerschütterliche Hoffnung.

 

 

 

In welche meiner schlechten Eigenschaften hast du dich zuerst verliebt?

William Shakespeare, Viel Lärm um Nichts

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

diese Geschichte beinhaltet Figuren, deren menschliche Realitäten meiner Ansicht nach durch eine positive und authentische Darstellung in Liebesromanen mehr Beachtung verdienen. Als neurodivergenter Mensch mit (häufig) unsichtbaren chronischen Symptomen schreibe ich mit großer Leidenschaft romantische Komödien in der festen Überzeugung, dass jeder von uns, der es sich aus tiefstem Herzen wünscht, verdient, »glücklich zu sein bis ans Ende seiner Tage«.

Dieser Roman thematisiert die Probleme neurodivergenter Personen – von Menschen, die unter Ängsten oder Autismus leiden – sowie ihre Strategien, im Leben und in Beziehungen damit klarzukommen. Neurodivergenz ist für keine zwei Personen gleich, dennoch habe ich mich bemüht, basierend auf meinen persönlichen Erlebnissen sowie den Erfahrungen von Authentizitätslesern und -leserinnen, Figuren zu erschaffen, die den zahlreichen Nuancen von Neurodivergenz gerecht werden. Bitte nimm zur Kenntnis, dass es in dieser Geschichte auch um das Erkennen und Überwinden toxischer Beziehungen geht.

Sollte dies ein sensibles Thema für dich sein, kann ich dir versichern, dass in dieser Geschichte letztendlich nur gesunde und liebevolle Beziehungen – zu sich selbst und anderen – Bestand haben werden.

 

XO,

Chloe

Playlist

Kapitel 1: Modern Girls & Old Fashion Men, The Strokers and Regina Spektor

Kapitel 2: Cold, Cold, Cold, Cage The Elephant

Kapitel 3: Prom Dress, mxmtoon

Kapitel 4: Dream a Little Dream of Me, Handsome and Gretyl

Kapitel 5: Honest, Tessa Violet

Kapitel 6: Nantes, Beirut

Kapitel 7: AGT, Mountain Man

Kapitel 8: Hello My Old Heart, The Oh Hellos

Kapitel 9: I Don’t Wanna Be Funny Anymore, Lucy Dacus

Kapitel 10: Ain’t No Rest for the Wicked, Cage The Elephant

Kapitel 11: Coffee Baby, Nataly Dawn

Kapitel 12: Roma Fade, Andrew Bird

Kapitel 13: Us, Regina Spektor

Kapitel 14: Move, Saint Motel

Kapitel 15: Yes Yes I Can, Rayelle

Kapitel 16: Lost Day, Other Lives

Kapitel 17: Feel Something Good, Biltmore

Kapitel 18: Constellations, The Oh Hellos

Kapitel 19: La Vie En Rose, Emily Watts

Kapitel 20: A Question, Bombadil

Kapitel 21: Slack Jaw, Sylvan Esso

Kapitel 22: Talk, Hozier

Kapitel 23: Young Song, Ellie Goulding

Kapitel 24: Fine Line, Harry Styles

Kapitel 25: Subway Song, Julianna Zachariou

Kapitel 26: No Plan, Hozier

Kapitel 27: Said and Done, Meiko

Kapitel 28: Kiss Me, Vitamin String Quartet

Kapitel 29: Lett he Light In, MisterWives

Kapitel 30: Human, dodie and Tom Walker

Kapitel 31: Crane Your Neck, Lady Lamb

Kapitel 32: Power over Me, (Acoustic), Dermot Kennedy

Kapitel 33: Halo, Kestner

Kapitel 34: Sweet Creature, Harry Styles

Kapitel 35: Honeybee, The Head and the Heart

Kapitel 36: Left Handed Kisses, Andrew Bird

Kapitel 37: Love You So Bad, Ezra Furman

1

Bea

Hier ein guter Rat, den ich niemandem vorenthalten möchte: Lass dir niemals die Zukunft aus der Hand lesen, wenn du nicht bereit bist, danach zutiefst verstört nach Hause zu gehen.

 

Falsch ist richtig, und richtig ist falsch.

Ich sehe Krieg – Freud oder Leid, kurz oder lang?

Ein Gebirge aus Täuschungen ragt vor dir auf.

Überquere es und lerne daraus.

 

Ich habe zwar versucht, mich von dieser düsteren Prophezeiung nicht verunsichern zu lassen, aber dann hat mich am Morgen danach auch noch eine E-Mail mit einem unheilvollen Tageshoroskop erreicht. Die kosmische Warnung war laut und deutlich. Ich konnte sie nicht ignorieren.

In meinen Doc Martens zitternd beschloss ich, mich für die Party heute Abend zu entschuldigen. Da es sich um die Party meiner Zwillingsschwester handelte, allerdings ohne Erfolg. Denn ihr eine Absage zu erteilen, ist äußerst schwierig, um nicht zu sagen, unmöglich.

Und hier bin ich nun. Entgegen allen Warnungen des Universums, die in der Luft knistern wie Ozon vor einem Unwetter, habe ich mich in Schale geworfen, mir eine Maske aufgesetzt, eine Käseplatte vorbereitet, mich im Haus meiner Familie zum Dienst gemeldet – und verstecke mich seitdem in der Speisekammer neben der Küche, wie es sich für eine notorische Angsthäsin gehört.

Zumindest bis die Schwingtür aufgerissen wird und meine Schwester hereinstürmt. Ich bin aufgeflogen. Wie eine von den Cops erwischte Einbrecherin stehe ich in einem grellen Lichtkegel und verstecke schnell die Flasche Pfefferminzlikör hinter meinem Rücken, von wo ich sie unauffällig zurück ins Regal schiebe. Gerade noch rechtzeitig, um auf unschuldig plädieren zu können.

»Da bist du ja«, ruft Jules fröhlich.

Ich halte mir die Arme vors Gesicht. »Das Licht tut mir in den Augen weh!«

»Das Motto dieser Party ist Im Reich der Tiere. Vampire haben hier nichts zu suchen. Deine Krebsmaske ist Furcht einflößend genug. Los, komm jetzt.« Sie packt mich am Arm und zerrt mich ins Foyer, mitten hinein in die Urwaldmenagerie aus verkleideten Gästen. »Ich möchte dir jemanden vorstellen.«

»JuJu, bitte«, stöhne ich und schlurfe widerwillig hinter ihr her. Meine Schulter streift den Rüssel eines Elefanten, ich werde von den hungrigen Augen eines Tigers verschlungen, und zwei Hyänen brechen direkt neben mir in lautes Gelächter aus. »Ich will niemanden kennenlernen.«

»Schon klar. Was du willst, ist unbeobachtet in der Speisekammer saufen und die Hälfte der Käseplatte allein verputzen. Aber das ist nur, was du willst, nicht, was du brauchst.«

»Hat sich aber bewährt«, brumme ich.

Jules verdreht die Augen. »Du meinst, als perfekte Strategie, um als exzentrische alte Jungfer zu enden.«

»Ich weiß zwar nicht, was daran schlecht sein soll, aber eigentlich meinte ich, um mit meinen Ängsten klarzukommen.«

»Ich bin deine Zwillingsschwester, und kenne dich schon mein ganzes Leben«, sagt sie, »samt all deiner Ängste und deiner Scheu vor Menschen. Aber der Typ ist es wirklich wert. Vertrau mir.«

Normalerweise ist der Pfefferminzlikör und das Verstecken tatsächlich ein bewährtes Mittel gegen meine Sozialphobie. Ich bin neurodivergent. Für mein autistisches Gehirn ist es weder leicht noch entspannend, sich mit Fremden zu befassen. Aber nach ein paar heimlichen Schlucken Likör – beschwipst und ruhiger – überfordert mich die Situation nicht mehr ganz so schlimm, und ich wirke auf andere nicht nur einigermaßen umgänglich, sondern zudem auch noch minzig frisch. Zumindest meistens. Heute leider nicht. Heute schwebt eine düstere kosmische Prophezeiung über mir, und wohin auch immer meine Schwester mich gerade schleppt, begleitet mich ein sehr ungutes Gefühl.

»Juuuuules«, heule ich wie ein quengelndes Kleinkind im Supermarkt – fehlen nur der schokoladenverschmierte Mund und ein offener Schnürsenkel.

»BeeBee«, zwitschert sie zurück und sieht mich an, ohne jedoch verhehlen zu können, wie irritierend sie meine Krebsmaske aus Pappmaschee findet. Entschieden schiebt sie sie mir aus dem Gesicht und versteckt sie in meinen Haaren. Ich ziehe sie wieder herunter. Sie schiebt sie wieder hoch.

»Finger weg von meiner Maske.« Mit einem bösen Blick ziehe ich die Maske noch einmal über mein Gesicht.

»Ach, komm schon. Findest du nicht, dass es an der Zeit ist, deinen Panzer abzulegen?«

»Nein. Nicht einmal für diesen Dad-Joke.«

Sie seufzt resigniert. »Zumindest trägst du ein heißes Kleid – ups, warte mal.« Wir bleiben vor der untersten Treppenstufe stehen, und Jules zieht mich schnell hinter das Geländer.

»Was ist?«, frage ich. »Lässt du mich etwa gehen?«

»Das könnte dir so passen.« Sie hebt eine ordentlich gezupfte dunkle Augenbraue. »Kleiderpanne.«

Als ich an mir hinabsehe, entdecke ich den Spalt, der seitlich über den Rippen in meinem Kleid klafft. Danke, Schicksal! »Oh, ich glaube, es ist gerissen. Ich geh mal ins Bad und kümmere mich darum.«

»Vergiss es. Du willst dich nur aus dem Staub machen.« Sie zieht den Reißverschluss wieder hoch und erstickt damit mein letztes Fünkchen Hoffnung, dem Ganzen zu entkommen.

»Aber er könnte jeden Moment kaputtgehen. Ich will nichts riskieren. Ein Busenblitzer wäre eine Katastrophe!«

»O nein, meine Liebe.« Jules packt meine Hand und zieht mich weiter. Wie ein Meteorit rasen wir unaufhaltsam der Katastrophe entgegen. Als wir uns unserem Ziel nähern, bricht mir der Schweiß aus.

Da sind Jean-Claude, Jules Partner, und Christopher, Nachbar, Freund der Familie und Ersatzbruder. Den dritten Mann, der mit dem Rücken zu uns steht, kenne ich nicht. Er ist einen Kopf größer als die anderen, schlank mit dunkelblondem, gewelltem Haar und trägt einen gut geschnittenen dunkelgrauen Anzug. Als Jean-Claude etwas zu ihm sagt, dreht er sich ein Stück und enthüllt dabei ein Viertel seines Profils sowie die Tatsache, dass er eine Schildplatt-Brille trägt. Ein sehnsüchtiges Kribbeln breitet sich in mir aus und kriecht in meine Fingerspitzen.

Davon abgelenkt, verfange ich mich mit meinem Zeh im Teppich und lande nur deshalb nicht der Länge nach auf dem Fußboden, weil Jules, die meine Tiefensensibilitätsstörungen kennt, mich fest genug am Ellbogen packt.

»Hab ich’s dir nicht gesagt?«, flüstert sie selbstgefällig.

Vor mir steht ein Kunstwerk. Nein. Schlimmer noch. Vor mir steht ein Mann, den ich zum Kunstwerk machen will. Ich kralle meine Finger in den Stoff meines Kleids, während ich mich zum ersten Mal seit einer Ewigkeit nach meinen Ölfarben und dem kühlen, glatten Holz meines Lieblingspinsels sehne.

Mein Künstlerinnenblick labt sich an ihm. Seine maßgeschneiderte Kleidung unterstreicht die Breite seiner Schultern und die lange Linie seiner Beine. Dieser Mann hat den perfekten Körper. Er ist der Athlet in deinen Träumen, der seine Kontaktlinsen vergessen hat und sich mit einer Brille behelfen muss – die er normalerweise nur im Bett trägt, zum Lesen.

Nackt.

Die Fantasie flutet meinen Verstand mit glühend heißen, nicht jugendfreien Bildern. Ich werde zu einer wandelnden erogenen Zone.

»Wer ist das?«, murmle ich.

Jules bleibt mit mir etwas außerhalb der Runde stehen und nutzt meine Sprachlosigkeit, um mir die Maske wieder aus dem Gesicht zu schieben. »Jean-Claudes Mitbewohner«, flüstert sie. »West.«

West.

O Scheiße. Dank meines kürzlichen Tauchgangs in die Abgründe erotischer historischer Romane habe ich an einen Kerl, der auch noch West heißt, nur umso höhere Erwartungen. Ich stelle mir einen attraktiven Herzog vor, die muskulösen Oberschenkel in enge Wildlederhosen gezwängt, wie er von seinen zehrenden Pflichten gezeichnet und tief in Gedanken durch windgepeitschte Moore streift. Jules drängt sich mit mir unerbittlich zwischen das Trio, und obwohl ich auf herzogliche Erhabenheit vorbereitet bin, muss ich einen Anflug von Panik niederkämpfen, als West sich zu mir umdreht.

Er sieht mich an, wobei seine unglaublichen haselnussbraunen Augen sich weiten. Aber ich versinke nur kurz darin. Zu neugierig, zu fasziniert lasse ich den Blick an ihm hinabgleiten und sauge jedes Detail in mich auf. Die Schluckbewegung seines Kehlkopfs. Seine Hände, die mit rauen Knöcheln und roten rissigen Fingerspitzen ein Glas umklammern. Im Gegensatz zu Jean-Claude, dessen arrogante Haltung seine locker sitzende Krawatte an Nonchalance noch weit übertrifft, hat West überhaupt nichts Entspanntes oder Lockeres an sich. Kerzengerade Haltung, nicht ein Fältchen in der Kleidung, jede Haarsträhne sitzt.

Auch er mustert mich von oben bis unten. Und obwohl ich oft Schwierigkeiten habe, einen Gesichtsausdruck richtig zu deuten, bemerke ich es sofort, wenn er sich verändert. Auch dann, wenn es nur für den Bruchteil einer Sekunde ist, so wie jetzt, als sich seine Züge verhärten und das Blut, das gerade noch heiß durch meine Adern geschossen war, sofort zu Eis gefriert.

Er scannt meine Tattoos und bleibt an dem Hummeltanz hängen, der sich von meinem Hals über meine Brust bis unter mein Kleid zieht. Danach wandert sein Blick wieder nach oben zu meinen frisch gewaschenen Strähnen und dem unordentlichen Pony, bevor er schließlich auf den weißen Haaren landet, die an meinem schwarzen Kleid kleben. Ein besonders hartnäckiges Büschel befindet sich in meinem Schritt, wo Puck, unser Familienkater, es hinterlassen hat, bevor ich ihn von meinem Schoß werfen konnte. Mr Korrekt und Perfekt sieht mich mitleidig an, als schäme er sich für mich, weil ich meinen Fusselroller vergessen habe. Er verurteilt mich.

»Beatrice«, unterbricht Jules meine Gedanken.

»Was?« Ich blinzle sie an.

Nach neunundzwanzig Jahren schwesterlicher Koexistenz weiß ich, was dieses geduldige Lächeln in Kombination mit meinem vollen Namen bedeutet. Ich war mal wieder abwesend, und sie muss sich wiederholen. »Ich habe gesagt, das ist Jamie Westenberg. Den aber alle nur West nennen.«

»Jamie ist auch in Ordnung«, fügt er nach einem unangenehmen Moment des Schweigens hinzu. Seine tiefe, dabei aber leise Stimme schlägt gegen meine Knochen wie eine Stimmgabel. Das gefällt mir nicht. Kein bisschen.

Ich werde mir von diesem Mann, der mich immer noch missbilligend mustert, meine Liebesroman-Wests nicht ruinieren lassen. Ich werde ihn Jamie nennen. Judgy Jamie. Das passt viel besser zu ihm.

Er tut es schon wieder. Sein kritischer Blick gleitet die Tattoos entlang, meinen Hals hinunter bis zu meinem Schlüsselbein, als würde er mich röntgen. Mir steigt die Hitze in die Wangen. »Siehst du etwas, das dir gefällt?«, frage ich.

Jules stöhnt, schnappt sich Jean-Claudes Glas und trinkt es zur Hälfte aus.

Ruckartig sieht Jamie mir wieder in die Augen und räuspert sich. »Ich entschuldige mich. Du … kommst mir irgendwie bekannt vor.«

»Oh? Wie das?«

Er räuspert sich noch einmal und schiebt seine Brille nach oben. »All die Tätowierungen. Sie erinnern mich an … Ich dachte für einen Moment, du seist jemand anderes.«

»Genau das will jemand hören, der sich den Arsch aufreißt, um ganz individuelle Tattoos zu entwerfen – dass sie so gewöhnlich sind, dass man sie gern mal verwechselt.«

»Ich würde denken, du wärst daran gewöhnt, verwechselt zu werden«, kontert Jamie mit einem Blick zu meiner Zwillingsschwester.

»Richtig. Und genau das ist der Grund für meine ganz individuellen Tattoos«, presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ich will aussehen wie ich selbst, nicht wie jemand anders.«

Er sieht mich mit einem kritischen Stirnrunzeln an. »Nun, man kann dir zumindest nicht vorhalten, dass du dich nicht bemühen würdest.«

Christopher prustet in seinen Drink, woraufhin ich mir mit dem Mittelfinger die Nase reibe.

»Vielleicht kommen West deine Tattoos nur deshalb so bekannt vor, weil ihr euch schon einmal begegnet seid … irgendwo … irgendwann?«, meint Jules hoffnungsvoll.

»Das bezweifle ich«, erkläre ich ihr. »Du weißt, dass ich nicht oft ausgehe. Und wenn, dann sicher nicht in Clubs, die so spießig – ich meine, seriös – sind, dass man dort Typen wie ihn trifft.«

Jamies Augen verengen sich zu Schlitzen. »Also, wenn ich an den Schuppen denke, in den Jean-Claude mich letztes Jahr geschleppt hat, könnte es schon sein, dass wir bereits das Vergnügen hatten. Eine absolute Chaoshöhle. Vielleicht warst du die unangemessen aufdringliche Frau, die mir dort in einem Schwall auf die Schuhe gekotzt hat.«

Jean-Claude reibt sich den Nasenrücken und murmelt etwas auf Französisch.

Das Lächeln, das ich Jamie schenke, kommt mehr einem Zähneblecken gleich. »Chaoshöhlen sind nicht so mein Ding. Aber wer auch immer die arme Seele war, die sich übergeben musste. Ich könnte mir vorstellen, dass das Erbrechen eine unfreiwillige Reaktion auf den unglücklichen Umstand war, dir zu begegnen.«

Jules boxt mir den Ellbogen in die Seite. »Was ist in dich gefahren?«, zischt sie.

»Ich kann mich an den Abend erinnern«, erklärt Jean-Claude Jamie. »Es war definitiv nicht Beatrice.« Dann wendet er sich mir zu. »West hat beschlossen, als griesgrämiger alter Junggeselle zu sterben. Die Einsamkeit macht ihn ein wenig schrullig. Du musst seine etwas eingerosteten Umgangsformen entschuldigen.«

Jamies Wangen nehmen ein fleckiges Himbeerrot an, während er in sein halb leeres Whiskey-Glas starrt.

Ein überzeugter Junggeselle? Das heißt, ich bin hier nicht die Einzige, die einer Romanze aus dem Weg geht. Verdammt. Ich will keine Gemeinsamkeiten mit diesem brilletragenden Typen mit Stock-im-Arsch haben.

»Bea ist genauso«, fügt Jules hinzu, ganz die gedankenlesende, indiskrete Zwillingsschwester. »Als ich sie vorhin in ihrem Versteck ertappt habe, hat sie mich angefaucht.« Sie lächelt Jean-Claude an. »Aber ich bin zuversichtlich, eines Tages wird die alte Jungfer ihre Krallen einfahren und so glücklich werden, wie ich es bin.«

Die beiden Turteltauben sehen sich an und geben sich einen langen, schmachtenden Kuss, bei dem mir fast der Käse und die Kräcker wieder hochkommen. Der Kuss wird zu Küssen, während Christopher seine Uhr gerade rückt, Jamie sein Glas studiert, und ich mir Pucks Fell vom Kleid zupfe.

Schließlich sieht Christopher mich an und zieht herausfordernd die Augenbrauen nach oben. Ich zucke mit den Achseln. Was?

Seufzend wendet er sich an Jamie. »Dann kennt ihr euch also schon lange, du und Jean-Claude?«

»Unsere Mütter sind befreundet«, erklärt er. »Ich kenne Jean-Claude schon mein ganzes Leben.«

»Ach ja, richtig«, entgegnet Christopher. »Wart ihr auch auf demselben Internat?«

»Nein, aber unsere Mütter. Sie stammen beide aus Paris. Jean-Claudes Familie ist in die Staaten gezogen, als wir Teenager waren, aber unsere akademischen Wege haben sich erst an der Uni gekreuzt.«

Ich verdrehe die Augen. Natürlich gehört Jamie zu den Leuten, deren französische Mütter ein Internat besucht haben. Ich könnte wetten, er selbst war auch auf einem Internat. Die Privatschule steht ihm auf die Stirn geschrieben.

Während Christopher ihm eine weitere Frage stellt, trinkt Jamie den Rest seines Cocktails, der nach Bourbon und Orangen duftet. Als er schluckt, gleitet mein Blick unweigerlich von seinen Lippen hinunter zu seinem Hals.

Die beiden unterhalten sich, und ich starre Jamie an, wobei ich mir einrede, dass ich ihn als Person ja gar nicht mögen muss. Als Künstlerin steht es mir zu, fasziniert zu beobachten, wie das sanfte Licht in unserem Haus die lange Linie seiner Nase streift und über die Konturen seines Gesichts streichelt, die hohen Wangenknochen, den kantigen Kiefer und den schmallippigen Mund, der insgeheim vielleicht ganz weich ist, wenn er ihn mal nicht zusammenpresst. Einem spießigen Langweiler wie ihm sollte es verboten sein, so schön zu sein.

»Und du, Fräulein Krebs?« Christopher tippt auf meine Maske. »Hast du die selbst gemacht?«

»Aber natürlich.« Ich spüre Jamies Blick auf mir und hasse mich dafür, dass ich deswegen rot werde. »Dich brauche ich wohl gar nicht erst zu fragen, oder, Christopher? Dein Bärenkostüm ist eindeutig gekauft.«

»Tut mir leid, dich zu enttäuschen, aber manche von uns sind einfach zu eingespannt in ihrem Job, um eine Maske für Jean-Claudes Geburtstagsparty zu basteln.«

»Na ja, zumindest ist die Verkleidung farblich gut auf dich abgestimmt.« Christophers dunkle Haare und bernsteinfarbene Augen haben die gleichen Farben wie seine Maske. Ich fahre mit den Fingern durch seine perfekt gestylten Locken und verstrubble sie absichtlich.

Er schnippt mir mit dem Finger gegen das Ohr. »Schon mal was von Diskretion gehört? Ich bitte darum, Abstand zu halten. Du stinkst nach Pfefferminzlikör.«

Dem nächsten Schnippen kann ich ausweichen. »Besser, als nach Bourbon.«

Jamie beobachtet uns schweigend, mit hochgezogener Augenbraue, als hätte er noch nie zwei Menschen gesehen, die sich freundschaftlich necken.

Bevor ich ihn damit aufziehen kann, trennen sich die Turteltäubchen mit einem lauten Schmatzer, und meine Schwester sieht mich atemlos und mit geröteten Wangen an.

»Was Juliet sich immer ausdenkt«, sagt Jean-Claude mit einem Blick auf meinen Zwilling. »Eine Mottoparty, auf der ich sie mit so vielen Leuten teilen muss.« Er holt sie näher zu sich heran und zieht das Dekolleté ihres Wickelkleids wieder zurecht. »Dabei brauche ich nur dich.«

Jules lächelt und beißt sich auf die Lippe. »Ich wollte etwas Besonderes für dich organisieren. Du hast mich doch andauernd für dich allein.«

»Aber nicht oft genug«, grummelt er.

Etwas an der intensiven Nähe, die Jean-Claude zu meiner Schwester sucht, verursacht mir Gänsehaut. Die beiden sind nun seit etwas über drei Monaten zusammen, aber anstatt sich nach der ersten großen Verliebtheit ein wenig zu beruhigen, wie die Menschen, mit denen Jules davor zusammen war, scheint Jean-Claude mit jedem Tag noch verliebter. Das geht so weit, dass ich in unserer Wohnung nicht mehr im Bademantel herumlaufen kann, weil er immer da ist – auf dem Sofa, in unserer Küche, in ihrem Zimmer. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass das zu viel ist.

Aber Jean-Claude arbeitet für Christophers Hedgefonds und wurde erst kürzlich befördert, was bedeutet, dass Christopher ihm vertraut. Und das heißt viel. Hinzu kommt, dass Jean-Claude Jules wirklich glücklich zu machen scheint. Ich verstehe es zwar nicht, kann es aber auch nicht leugnen, weshalb ich meine Bedenken für mich behalte, bisher.

Jules lächelt. »Als Gastgeber sollten wir uns ein wenig unter die Leute mischen, Jean-Claude«, sagt sie und boxt Christopher den Ellbogen in die Rippen. »Würde es dir etwas ausmachen, nachzusehen, ob noch genug Eis an der Bar ist?«

Christopher wirft ihr einen finsteren Blick zu, bevor sein Gesicht sich aufhellt. »Oh. Richtig. Die Bar. Dann geh ich mal.«

Zurück bleiben Jamie und ich. Allein.

Die Luft zwischen uns knistert.

Wenn ich jetzt vernünftig wäre, würde ich mich verkrümeln. Mich nützlich machen. Drinks servieren. Häppchen auffüllen. Aber ich bin nicht vernünftig. Meine kompetitive Ader gewinnt die Oberhand, und ich gebe dem perversen Bedürfnis, Jamie zu beweisen, dass er sich in mir täuscht, nach. Ich bin nicht wie die mit nichtssagenden Tattoos dekorierte Chaotin, die ihm vor ein paar Monaten in einer zwielichtigen Bar auf die Schuhe gekotzt hat.

Na ja, eine Chaotin bin ich schon irgendwie. Und ein wenig tollpatschig auch. Aber das ist nicht meine Schuld. Was alles andere angeht, schätzt er mich völlig falsch ein. Ich werde ihm beweisen, wie kultiviert ich bin. Das einzige Problem ist, dass dazu etwas nötig ist, in dem ich denkbar schlecht bin: Small Talk.

»Was … ähm … trinkst du da?«, will ich von ihm wissen. Blöde Frage, aber wie ich schon sagte, Small Talk ist nicht gerade meine Stärke.

Jamie sieht mich skeptisch an, als wüsste er nicht, worauf ich damit hinauswill. Womit wir schon zwei wären.

»Einen Old Fashioned«, antwortet er schließlich so knapp und präzise wie seine ganze Erscheinung. Dann sieht er auf meine leeren Hände. »Trinkst du nichts?«

»Oh, ich habe schon beim Pfefferminzlikör in der Küche zugeschlagen. Mein bevorzugtes soziales Gleitmittel. Du weißt, was ich meine.«

Seine Augen weiten sich, und ich wäre am liebsten im Boden versunken.

Gleitmittel? Warum habe ich Gleitmittel gesagt? So viel zu meiner Kultiviertheit.

»Verstehe.« Er rückt die Löwenmaske zurecht, die auf seinen makellosen dunkelblonden Locken sitzt.

Der Einschlag meiner Gleitmittel-Bombe hat das sanfte Geplätscher unserer Konversation in eine gefährliche Brandung verwandelt. Wir stehen kurz davor unterzugehen, aber Jamie hat mir mit seinem »Verstehe« eine Rettungsleine zugeworfen. Ich ergreife sie und werfe ihm ebenfalls eine zu. »Hübsche Maske«, sage ich.

»Danke«, entgegnet er und sieht sich meine genauer an. »Deine ist …«

»Gruselig?« Ich streichle zufrieden über eine der Pappmascheescheren. »Danke. Die habe ich selbst gebastelt.«

Er blinzelt mich an, als würde er intensiv darüber nachdenken, was er Nettes darüber sagen könnte. »Ich … bin beeindruckt. Sieht …«, er räuspert sich, »kompliziert aus.«

»Ach, das war gar nicht so schwierig. Außerdem bin ich Künstlerin. Ich liebe kreative Handarbeiten.« Und dann werde ich irgendwie kindisch und füge noch hinzu. »Wie meine Tattoos.«

Er schluckt und wird unglaublich rot, während sein Blick wieder den Hummeln folgt und meinen Hals hinunter zu meinen Brüsten wandert. Dabei hat er gar keinen Grund zu erröten. Es gibt dort nicht viel zu sehen. Mein Kleid lässt zwar tief blicken, aber im Gegensatz zu meiner Schwester bin ich im Brustbereich eher nicht gesegnet. Der Fluch des Zwillingsdaseins: ähnliche Gesichter, unterschiedliche Titten.

Nach diesem letzten Seitenhieb bleibt Jamie stumm. Ein hart erkämpfter Triumph. Nun bin ich diejenige, die höflich lächelt, während er das Gespräch langsam und grausam sterben lässt. Als ich gerade meinen Sieg erklären will, tritt Margo zwischen uns.

Sie trägt einen knallorangen Jogginganzug und eine Fuchsmaske, die ihre dichten, schwarzen Locken zurückhält. Winzig, wie sie ist, muss sie zu uns hochsehen. »Cocktail gefällig, ihr zwei Süßen?«, fragt sie lächelnd.

»Großer Gott, ja.« Ich nehme ihr das Glas ab und erfreue mich an der dunkelroten Farbe und dem verführerischen Aroma. Margo, die Barkeeperin ist, mischt die weltbesten Drinks. Ich würde alles trinken, was sie mir anbietet. Wie so ziemlich jeder hier auf der Party ist sie eine Freundin von Jules. Meine Schwester bildet den Kern unserer sozialen Zelle, während ich glücklich am Rand der semipermeablen Membran treibe.

Auch ich habe Freunde, aber die kenne ich alle nur über Jules. Das genügt mir. Über Jules habe ich Margo kennengelernt, die mit Sula verheiratet ist. Und dank Sula, für die ich derzeit arbeite, habe ich als Künstlerin einen Job, von dem ich tatsächlich leben kann. Dass meine Schwester ständig damit beschäftigt ist, an unserem sozialen Netz zu knüpfen, kann manchmal anstrengend sein, aber es hat mein Leben auch besser gemacht. Ohne Jules, die mich immer wieder in ihren Orbit zerrt und dazu anstößt, auf andere zuzugehen, wäre ich sehr viel einsamer und hätte keine so lukrative Anstellung, insbesondere seit bei mir vor fast zwei Jahren alles den Bach runterging.

Margo streckt Jamie die Hand hin, und an meinem Vorsatz festhaltend, ihm zu beweisen, dass ich keine Chaotin bin, mache ich die beiden höflich miteinander bekannt. »Jamie«, sage ich, »das ist Margo.«

»Eigentlich«, bemerkt er, während er ihr die Hand schüttelt und dann gleich wieder loslässt, »nennen mich die meisten Leute …«

»West!«, brüllt jemand hinter mir und erschreckt mich so heftig, dass ich vorwärtsstolpere und mein knallroter Drink direkt auf Jamies Brust landet.

Mit zuckendem Kiefer weicht er einen Schritt zurück, um die rote Flüssigkeit abzuschütteln, die von seiner Hand tropft. »Entschuldigt mich«, sagt er und zieht dabei missbilligend eine Augenbraue nach oben. Siehst du, ermahnt mich die Augenbraue, du bist eben doch eine Chaotin. Dann dreht er sich um und verschwindet im Dschungel der Gäste.

Ich bete zum Universum, es möge den Boden unter mir öffnen und mich verschlucken.

Aber nichts rührt sich. Also stehe ich einfach nur da, ein leise zischender Meteorit inmitten seines Einschlagkraters.

2

Jamie

Als ich die Treppe herunterkomme, sieht Jean-Claude mir irritiert entgegen. Ich war im Badezimmer im ersten Stock – in einem der Badezimmer, um genau zu sein –, um dort meine Garderobe zu wechseln. Das Haus erinnert mich an das Haus meiner Eltern, zumindest was die Größe anbelangt. Aber das war’s dann auch schon mit den Gemeinsamkeiten, denn das hier scheint ein echtes Zuhause zu sein.

»Was ist passiert?«, fragt er.

Ich ziehe die Manschetten meiner Ärmel gerade, bis die Knöpfe mittig auf der Innenseite der Handgelenke sitzen. »Beatrice. Zum Glück hatte ich ein Ersatzhemd eingepackt.«

Seufzend klopft er mir auf den Rücken. »Damit war zu rechnen. Du bist stets auf alle Eventualitäten vorbereitet.«

»Ich bin Kinderarzt, Jean-Claude. Ich habe immer Ersatzkleidung dabei. Hast du eine Vorstellung davon, wie oft pro Woche mich ein Baby vollspuckt?«

»Ich hab’s verstanden.« Er nippt an seinem Drink. »Ich hoffe, du schreibst sie nicht gleich ab«, sagt er leise und deutet auf den Schauplatz der verheerenden Cocktailattacke.

»Wen?«

Er sieht sich um und wechselt auf Französisch, das wir dank unserer ausgewanderten Mütter beide fließend sprechen. Das tut er normalerweise nur, wenn er in Gegenwart anderer lästern will. »Bea. Ich weiß, sie ist ein wenig … merkwürdig, aber wenn man sie besser kennt, ist sie sehr süß. Auf ihre Art.«

»Ich schreibe niemanden ab. Wozu auch? Unsere Wege werden sich hoffentlich nie wieder kreuzen.« Derzeit waren meine sozialen Ängste besonders stark, weshalb ich mich eben nicht gerade von meiner liebenswertesten Seite gezeigt habe. Beatrice hat mir das schmerzlich bewusst gemacht. Warum sollten wir nach diesem Desaster noch weiter miteinander zu tun haben wollen?

»Vielleicht ist heute nicht der richtige Abend«, räumt Jean-Claude ein. »Aber du wirst sie in Zukunft ohnehin häufiger sehen.«

Ich bleibe abrupt stehen. »Wie bitte?«

Mit einem wölfischen Grinsen klopft er auf seine Hosentasche. »Ich werde Juliet heute einen Heiratsantrag machen.«

»Einen Heiratsantrag? Es sind erst drei Monate.«

Jean-Claude wirkt verstört. »Das ist lange genug, um zu wissen, dass ich möchte, dass sie für immer zu mir gehört. Das Schneckentempo, das du in diesen Dingen an den Tag legst, ist nicht jedermanns Sache, West.«

Das saß. Aber wie immer lasse ich es an mir abprallen.

»Schon gut. Ich wollte dich nicht kritisieren. Ich war nur überrascht.«

Jean-Claudes Blick bleibt an Juliet hängen, die sich unter die Gäste gemischt hat. Nicht einmal die exotische Schwanenfedermaske kann ihr strahlendes Lächeln verbergen. »Du bist schon viel zu lange allein, West«, ermahnt er mich, die Augen immer noch auf Juliet gerichtet. »Du hast dich in diesen Junggesellenquatsch hineingesteigert, und jetzt bist du einsam und leidest darunter. Was spricht dagegen, das heute Abend zu ändern, hm?«

»Ich bin weder einsam noch leide ich«, erkläre ich ihm wieder auf Englisch, ein Zeichen, dass unsere private Unterhaltung hiermit beendet ist. »Ich bin beschäftigt.«

Wer in Arbeit ertrinkt, hat keine Zeit, sich nach einer Beziehung zu sehnen. Und ja, vielleicht arbeite ich nur deshalb so viel, weil ich es um jeden Preis vermeiden will, jemanden kennenzulernen. Aber jeder, dessen letzte Beziehung so geendet hat wie meine, würde sich für ein Singledasein entscheiden.

Im Zeitraffertempo spult mein inneres Auge alles noch einmal ab, von dem Moment, in dem ich Lauren bei einer Spendengala kennengelernt habe, bis zu dem Tag, an dem sie Schluss gemacht hat. Ich dachte, ich hätte jemanden gefunden, der perfekt zu mir und meinem Lebensstil passt, jemanden, der exakt dasselbe will wie ich – eine sinnstiftende medizinische Karriere, Routine, Ordnung. Doch dann stellte sich heraus, dass ich jemanden gefunden hatte, der eine Zeit lang von unserer Beziehung profitierte und dann keinerlei Probleme hatte, mich wie lästigen Ballast loszuwerden, als ich seinen Zwecken nicht länger dienlich war.

Im letzten Jahr habe ich die harte Trennung immer als Grund angeführt, um sozialen Events aus dem Weg zu gehen. Tatsächlich war ich zu ausgelaugt, um überhaupt nur daran zu denken, es noch einmal mit jemandem zu versuchen, dem ich dann wieder nicht genügen würde und der mir den Boden unter den Füßen wegzieht. Nein, was ich brauche, ist ein unaufgeregtes Junggesellendasein, und soziale Kontakte und Ereignisse, so gut es geht, zu meiden, ist der beste Weg dorthin. Unglücklicherweise scheint meine Ausrede mit der Trennung bei Jean-Claude, der die Ich habe Geburtstag, du bist mein Mitbewohner, und es ist unhöflich, nicht zu kommen Karte gezogen hat, nicht mehr zu funktionieren.

Er wusste, dass er mich damit kriegen würde. Und er hat recht behalten.

»Wenn du nicht leidest, warum jammerst du dann?«, will er wissen.

»Ich jammere nicht.«

»Doch, tust du.« Er schwenkt sein Glas, und seine blassblauen Augen mustern mich skeptisch. »Außerdem ist es höchste Zeit, dass du ein bisschen Spaß hast.«

»Spaß?«

»Ja. Spaß. So wie heute Abend. Das nennt sich Spaß.«

»Hmm.« Ich kratze mich unter der Maske am Wangenknochen. »Muss Spaß derart jucken? Das ist Polyester, habe ich recht?«

Jean-Claude verdreht hinter seiner eher abschreckenden Kobramaske die Augen. Dann betrachtet er sich im Flurspiegel und zupft an seinen verstrubbelten braunen Haaren herum, für die er jeden Morgen eine Unmenge an Zeit aufwendet, damit sie aussehen, als würde er überhaupt keine Zeit dafür aufwenden. »Keine Ahnung, woraus die Maske ist. Aber sie macht aus dir einen wilden Löwen. Nun müssen wir nur noch jemanden finden, der dich zum Brüllen bringt.«

»Raus mit dir! Los! Misch dich unter deine Gäste!«

Er klopft mir auf den Rücken. »Wir werden uns heute Abend amüsieren!«, verspricht er mir, während er sich grinsend davonmacht. »Liebe liegt in der Luft, und der Wein fließt in Strömen. Wer weiß, was noch passieren wird.«

Mir dreht sich der Magen um. Dieser Blick. Ich kenne diesen Blick. Er führt etwas im Schilde.

Ich brauche so viel Distanz wie möglich und bahne mir einen Weg durch die Menge auf der Suche nach einer einsamen Ecke, in die ich mich verkriechen kann, um zu lesen. Dem Himmel sei Dank für Smartphones, auf denen man heimlich ein E-Book lesen kann.

»West! Da bist du ja wieder.« Eine von Juliets Freundinnen hakt sich bei mir unter. Es ist die Frau mit den dunklen Locken und dem Fuchskostüm, die mir gerade erst vorgestellt wurde. Ich brauche einen Moment, um mich an ihren Namen zu erinnern.

»Hallo, Margo.«

Sie lächelt. »Suchst du etwas?«

»Nur eine ruhige Ecke, in die ich mich eine Weile setzen kann.«

»Da weiß ich den perfekten Ort für dich. Komm.« Sie führt mich in den hinteren Teil des Hauses zu einer gemütlichen Sitzecke, die etwas abgenutzt, aber sauber aussieht. Zwei identische senfgelbe Sessel, ein schmaler Beistelltisch und eine Tiffany-Lampe, deren buntes Glas wie ein Kaleidoskop glitzernde Lichtflecken streut.

»Vielen Dank.«

Sie lächelt wieder. »Freut mich, wenn ich helfen konnte.«

Ich lasse mich in einen der Sessel sinken, strecke die Beine aus und krame mein Handy aus der Tasche. Dann fange ich an zu lesen. Nur ein paar Minuten. Nur, bis ich das Kapitel, bei dem mich das eintreffende Taxi unterbrochen hat, zu Ende ist.

Es ist friedlich hier hinten, abseits des Partygetümmels. Ein Fenster steht einen Spalt breit offen, durch den ein Hauch Herbst ins Zimmer dringt. Es ist einer dieser absolut perfekten Momente.

Bis durch eine Schwingtür am anderen Ende des Raums, von deren Existenz ich nichts wusste, Bea den Raum betritt und mich zu Tode erschreckt.

Ruckartig richte ich mich in meinem Sessel auf und stoße um ein Haar die farbenfrohe Lampe um.

»Beatrice.«

Die Augen hinter der kunstvollen Pappmascheemaske weiten sich. »James.«

»Jamie«, korrigiere ich sie, wobei ich nicht weiß, warum zur Hölle ich dieser nervigen Frau gestatte, mich bei meinem richtigen Vornamen zu nennen, obwohl es in meinem Leben nur ein paar wenige Personen gibt, die sich diese Intimität verdient haben.

»Bea«, pariert sie. »Aber da du mich Beatrice nennst, nenne ich dich James. Was machst du hier?«

Ganze zehn Sekunden lang kommt mir kein Wort über die Lippen. Das war schon immer so. Sobald meine Ängste mich übermannen, werde ich sprachlos. Aber heute Abend – mit ihr – ist es besonders schlimm.

Ich starre sie an, ihre langen Beine, die feinen, schwarzen Tintenzeichnungen auf ihrer Haut und den quälend tiefen Ausschnitt, der kaum etwas entblößt. Ihr Haar ist dunkel, bis auf die hellblond gefärbten Spitzen auf den Schultern. Aber der eigentliche Grund, weshalb sich schon bei unserem ersten Aufeinandertreffen jedes Wort in meinem Kopf in Luft aufgelöst hat, sind ihre Augen – blaugrüne Iriden, umgeben von faszinierenden, wolkengrauen Ringen –, die an einen sich aufbäumenden Ozean unter einem stürmischen Himmel denken lassen.

»Margo hat mir den Platz gezeigt«, bringe ich schließlich heraus. Da ich sitzend so viel kleiner bin als sie, stehe ich auf. Aber nun überrage ich sie, was noch unangenehmer ist. »Und was machst du hier?«, frage ich zurück.

»Man hat mich gebeten nachzusehen, ob alle Gäste ein Glas Champagner haben, bevor Jules einen Toast auf das Geburtstagskind ausbringt.«

»Ah.« Ich räuspere mich.

Das alles erscheint mir merkwürdig, aber warum sollten Juliets – und wahrscheinlich auch Jean-Claudes – Freunde uns nach dem Desaster von vorhin vorsätzlich in dieselbe Ecke des Hauses schicken?

»Nimm dir ein Glas.« Bea hält mir ein Tablett mit perlendem Champagner hin, und ohne es zu wollen, weiche ich einen Schritt zurück.

»Das ist Schampus, James, kein Molotowcocktail.«

»In deinen Händen wird jedes Getränk zu einem Geschoss, Beatrice.«

»Wow«, sagt sie. »Du bist wirklich ein …«

Bevor Bea mir die Beleidigung an den Kopf werfen kann, schwingt hinter ihr die Tür auf, und sie kippt mir stattdessen sechs Gläser eisgekühlten Champagner direkt über die Hose.

Als ich nach einem weiteren Garderobenwechsel mit meiner nassen Hose in der Hand in die Küche biege, steht Beatrice an der Theke, in den Augen ein katzenhaftes Lauern. Instinktiv zucke ich zurück.

Ich ziehe mir die Löwenmaske über das Gesicht, stopfe die champagnergetränkte Hose in meine Umhängetasche und ziehe meine Manschetten gerade. »Heute Abend bin ja eigentlich ich der Spitzenprädator«, erkläre ich, »trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass ich derjenige bin, der hier gejagt wird.«

»Ich hatte mir den Abend auch anders vorgestellt, das kannst du mir glauben.« Sie legt eine Scheibe weichen Brie zwischen zwei Kräcker und beißt hinein. »Wessen Idee war die Löwenmaske?«, fragt sie kauend.

»Ich habe sie mir im Foyer genommen. Deine Schwester hatte eine Auswahl für Gäste, die keine mitgebracht haben.«

Bea hört auf zu kauen. »Ich verstehe die Leute mit ihren seelenlosen, gekauften Kostümen nicht. Die selbst gebastelten Masken sind das einzig Schöne an diesem Abend.«

»Für dich mag das zutreffen, du bist Künstlerin. Aber ich habe seit den frühen Zweitausendern kein buntes Papier und keine Klebstofftube mehr in der Hand gehabt. Und das wird auch so bleiben.«

»Was für eine traurige Existenz, dabei ist, sich schmutzig zu machen eines der größten Vergnügen im Leben. Außerdem, wie hätte ich sonst zum Ausdruck bringen sollen, dass mein Sternzeichen Krebs ist?«, fragt sie und tippt an ihre Maske. »Niemand verkauft Krebsmasken.«

»Man fragt sich, warum.«

»Oh, herzlichen Dank. Zumindest trage ich mein richtiges Sternzeichen. Und warum verkleidet sich ein Bilderbuchsteinbock wie du als Löwe?«

Ich blinzle sie an und rücke meine Brille zurecht, die durch die Maske nach unten gerutscht war. »Woher weißt du, dass ich Steinbock bin?«

Nicht, dass ich viel auf Sternzeichen und all den Quatsch gebe, aber technisch gesehen macht mich mein Geburtstag auf der astrologischen Karte tatsächlich zu einem Steinbock.

Sie schnaubt. »James. Wenn du ein bisschen mehr Bock in dir hättest, würdest du jetzt Berge erklimmen, anstatt hier mit mir Small Talk zu halten.«

»Das ist nicht wirklich eine Antwort.«

»Doch, ist es«, sagt sie und knabbert an ihrem Kräcker. »Es ist nur nicht die, die du hören wolltest. Können wir jetzt?«

»Wenn du mir verrätst, warum du hier auf mich gewartet hast.«

»Jules wartet auf dich. Ich habe nur den Befehl, dich nach draußen zu bringen und ihr ein Zeichen zu geben, wenn sie ihren Toast ausbringen kann.« Sie mustert mich stirnrunzelnd.

»Hast du dich umgezogen?«

»Ja.«

»War ja klar, dass du auch noch eine faltenfreie Reservehose in petto hast.« Sie beißt in einen weiteren Kräcker. »Du bist Steinbock.«

»Und doch war mir nicht bewusst, wie weise es war, mich auf ein eventuelles Desaster vorzubereiten. Immerhin wurde ich von dir und diversen alkoholischen Getränken heute Abend schon zweimal erfolgreich attackiert.«

Sie gibt ein leises Knurren von sich, das in Kombination mit ihren Katzenaugen und der schrillen Krebsmaske erschreckend verführerisch klingt.

Es muss das unglaublich schmeichelhafte Kleid sein, das sie trägt. Und meine lange Abstinenz. Unter diesen Umständen ist jeder Mann in der Lage, eine gewisse Anziehungskraft zu spüren, obwohl er am liebsten davonlaufen würde.

Ich streiche meine Manschetten glatt und ziehe sie nach unten, zuerst an einem Handgelenk, dann am anderen. »Ich verzeihe dir übrigens.«

Sie bleckt die Zähne, was wohl ein Lächeln sein soll. »Wie großzügig von dir. Aber du solltest lieber Jean-Claude verzeihen, der wie eine Elefantenherde, ohne anzuklopfen, durch die Tür getrampelt ist.«

»Da er allein war, wohl eher wie ein Elefant.«

Sie wirft mir einen deutlich genervten Blick zu. »Gehen wir. Ich halte das nicht länger aus.«

»Hey, ihr zwei!«, begrüßt uns Margo herzlich, als ich mit Bea das Foyer betrete. »Was für ein entzückender Anblick.« Sie gibt Juliet ein Zeichen, die lächelnd ihr Champagnerglas erhebt. »Kommt. Juliet macht ihren Toast, und danach machen wir ein Spiel!«

»Ein Spiel?«, frage ich schwach.

Beatrice beugt sich zu mir herüber. »Manche Leute tun so etwas, James. Um diese Sache zu haben, die man Spaß nennt.«

Sie kann nicht wissen, wie sehr mich diese spitze Bemerkung verletzt. Wie ein Pfeil, der ins Schwarze trifft, schlägt dieses Wort mit einem grässlichen Geräusch in meine Brust ein.

Spaß.

Spaß zu haben, ist schwer, wenn man schon sein Leben lang unter Angststörungen leidet. Wenn es einem bei neuen Orten und Menschen die Kehle zuschnürt und einem die Brust eng wird. Wenn man, egal wo man hingeht, die Verantwortung für die Reputation einer großen Familie trägt und jeder kleine Fehltritt verheerende Folgen hat.

Mittlerweile habe ich meine Ängste besser im Griff als noch als Kind, aber Beatrice’ unterschwellige Anschuldigung trifft eine empfindliche alte Wunde, die nie ganz verheilt ist.

Weder kann ich ihre Anspielung wegen meiner Steifheit witzig kontern, noch bin ich zu einem gleichermaßen bissigen verbalen Gegenangriff fähig. Beatrice’ gerunzelte Stirn lässt vermuten, dass sie das wundert. Sehnsüchtig starre ich auf den Drink in Margos Hand. Großer Gott, will ich das wirklich riskieren, mit Beatrice neben mir? Ist der Drink das wert?

»West.« Die Entscheidung trifft Christopher für mich, der mir einen weiteren Old Fashioned hinhält. Seine Maske trägt er eingebettet in die dunklen Haare auf der Stirn, was ich als unausgesprochene Erlaubnis werte, mir meine ebenfalls aus dem Gesicht zu schieben.

Ich freue mich auf einen großen Schluck, besinne mich aber eines Besseren und bringe zuerst einen guten halben Meter Abstand zwischen mich und Beatrice. »Danke«, sage ich zu Christopher.

Er nickt mir zu. »Ein Old Fashioned ist das Mindeste, was ich dir schulde, nachdem ich Bea vorhin so erschreckt habe, dass sie dich mit Margos Drink in ein Pollock-Gemälde verwandelt hat.«

»Hey, ich stehe neben dir, schon vergessen?«, faucht sie ihn an.

Liebevoll streicht er ihr die Locken aus der Stirn. »Wie könnte ich das vergessen?« Er hebt sein Glas und stößt mit mir an. »Entschuldigung noch mal.«

»Kein Problem«, entgegne ich. »Prost.«

Wir genehmigen uns beide einen ausgiebigen Schluck.

Beatrice starrt mich an. »Aha, Monsieur ist sich zu gut, um das Blubberwasser zu trinken, das ich ihm angeboten habe, und bevorzugt Christophers Männerdrink.«

»Das ist nichts Persönliches. Champagner schmeckt mir einfach nicht besonders. Und Bourbon als Männerdrink zu bezeichnen, ist ziemlich sexistisch.«

In ihren sturmgrauen Augen blitzt es.

Christopher lacht. »Komm schon, Bea. Das war witzig.«

»Leg dich nicht mit mir an, Balu.«

»Balu?«, hake ich nach.

Bea bedenkt Christopher mit einem liebevollen Blick und zieht ihm die Bärenmaske aufs Gesicht. »Er ist der große Bruder, den ich nie hatte.«

»Irgendjemand muss ja auf euch Wilmot-Mädchen aufpassen«, sagt er und schiebt sie sich wieder auf den Kopf.

»Christopher wohnt nebenan. Wir sind zusammen aufgewachsen«, erklärt Bea.

Christopher grinst. »Ich könnte dir viele peinliche Geschichten über Bea erzählen.«

Ihre Augen verengen sich zu Schlitzen. »Denk nicht mal daran.«

Bevor die Situation eskaliert, lenkt Juliet mit einem Pfiff die Aufmerksamkeit auf sich. »Alle mal herhören«, ruft sie. Sie steht auf einem Stuhl in der Nähe der Eingangstür. »Danke, dass ihr heute Abend gekommen seid! Ich bin so glücklich, dass ihr mit uns Jean-Claudes Geburtstag feiert. Aber bevor der Spaß richtig losgeht, möchte ich einen Toast ausbringen.« Sie hebt ihr Glas.

»Eigentlich«, unterbricht Jean-Claude sie, »wollte ich davor auch noch etwas sagen.« Er tritt vor sie, fällt auf die Knie und öffnet sein Schächtelchen mit dem Ring.

»Was zur Hölle …?«, zischt Bea.

Christopher stößt ihr den Ellbogen in die Seite. »Pssst!«

»Sie sind erst seit drei Monaten zusammen!«

»Bea!« Er wirft ihr einen strengen Blick zu.

Als ich mich wieder auf den Heiratsantrag konzentriere, hält Juliet sich bereits die Hände vor den Mund und nickt begeistert.

Unter lautem Applaus heben wir die Gläser und stoßen zuerst auf die Verlobung und dann auf den Geburtstag an. Als die Gäste das glückliche Paar mit Glückwünschen überhäufen, steht Bea wie betäubt daneben.

Ich weiß nicht, was ich sagen soll.

»Und jetzt wird gespielt!«, ruft eine Frau und steigt auf den Stuhl, auf dem vor einer Minute noch Juliet stand. Sie hat leuchtend blaue Haare, die perfekt zu ihrer Pfauenmaske passen. »Für diejenigen von euch, die mich nicht kennen, ich bin Sula, eine Freundin von Juliet.«

Margo pfeift anerkennend aus der Mitte der Menge, und Sula zwinkert ihr zu.

»Das erste Spiel des Abends soll den Frischverlobten ein paar Minuten Zeit für sich geben. Jules und Jean-Claude, ihr fangt an mit Suchen. Aber erst, wenn alle anderen sich versteckt haben. Jedes Versteck ist erlaubt. Sobald jemand gefunden wurde, hilft er beim Suchen. Der Letzte, der gefunden wird, gewinnt den großen Preis! Los geht’s!«

3

Bea

Ziel des Spiels ist es, als Letzte gefunden zu werden, und ich bin extrem ehrgeizig. Aber das ist nicht der Grund, weshalb ich mein ultimatives Versteck aufsuche. Tatsächlich möchte ich einfach nur so lange wie möglich allein sein, und es ist mir ausnahmsweise piepegal, ob ich gewinne oder nicht.

In der großen alten georgischen Villa meiner Eltern gibt es unendlich viele kleine Kammern. Und von dieser einen im Obergeschoss weiß selbst Jules nichts. Sie fürchtet sich vor dem Obergeschoss, seit unsere nervige kleine Schwester Kate – die sich momentan auf der anderen Seite der Erdkugel befindet und von dieser beängstigenden Entwicklung nichts mitbekommt, der Glückspilz – sich einmal eine Gespenstergeschichte ausgedacht hat, bei der sich meine Zwillingsschwester zu Tode geängstigt hat.

Wenn Jules also überhaupt hier hochkommt, dann nur in der allerletzten Verzweiflung und definitiv nicht allein.

Besagte Besenkammer befindet sich den halben Weg den Flur hinunter und ist hinter den Wandpaneelen versteckt. Den Spalt im Holz sieht man nur, wenn man – wie ich – einen Blick für Details hat. So habe ich sie vor zwanzig Jahren auch entdeckt.

Ich drücke sachte dagegen, bis die Tür nachgibt, und ziehe sie dann leise wieder hinter mir zu. Eine kleine Nachtlampe in der Steckdose taucht den Raum in ein schwaches Licht. Es riecht nach Zitronenpolitur und den Zitrusduftsäckchen, die Mom in jeder Ecke des Hauses platziert, damit es »frisch riecht«, wenn sie nicht da sind, was ziemlich häufig der Fall ist. Meine Eltern lieben es, zu reisen. Sie verbringen die meiste Zeit des Jahres damit, die etwas wärmeren Ecken der Welt zu erkunden, und diese Wanderlust haben sie auch Kate vererbt, die seit ihrem Uniabschluss nie länger als ein paar Wochen zu Hause war. Ich würde alles dafür geben, jetzt an ihrer Stelle zu sein – Tausende Kilometer weit weg von all dem Schwachsinn.

Ich meine, verlobt. Nach drei Monaten. Ich weiß, ich klinge wie eine spießige alte Schachtel. Aber Entschuldigung, drei Monate!

Ich nehme die Maske ab, lasse mich auf einen Stapel Toilettenpapier sinken und schließe die Augen. Dann schiebe ich mein Kleid nach oben, um mehr Beinfreiheit zu haben. Es ist still hier. Zu still. Ich liebe atmosphärische Stille – eine leichte Brise, das rhythmische Rauschen von Wellen. Diese Stille, in der nur mein viel zu schneller Herzschlag zu hören ist, erscheint mir leer und quälend.

Juliet ist verlobt. Ich reibe mir die schmerzende Brust, die sich anfühlt, als wäre darin etwas gerissen, das kein Kleber dieser Welt mehr kitten kann.

Gerade als sich in meinen Augen die ersten Tränen sammeln, sind auf dem Flur Schritte zu hören. Leise und gleichmäßig. Direkt vor der Tür bleiben sie stehen, und ich lausche dem Geräusch einer Hand, die über das Holz fährt. Ernsthaft jetzt? Das kann nicht wahr sein. Niemand sollte mich hier finden.

Die Tür springt auf und wird sofort wieder zugezogen, als die Kammer sich mit der großen, schlanken Gestalt des Menschen füllt, den ich hier am allerwenigsten erwartet hatte.

Jamie.

Er dreht sich um und greift sich mit der Hand an die Brust, als er mich sieht. »Großer Gott«, japst er und schließt die Augen. Im Zurückweichen knallt er mit einem lauten Rumms gegen die eingebauten Regale.

»Psst«, flüstere ich scharf. »Wenn du schon ungefragt in mein Versteck eindringst, dann sei wenigstens leise. Wie hast du es überhaupt gefunden?«

»Da sich fast jeder vor dem Obergeschoss fürchtet, ist es nur logisch hierherzukommen.« Er zieht seine Manschetten gerade, bis die Knöpfe exakt in der Mitte der Innenseite seiner Handgelenke sitzen. »Und Sula – ich glaube, so hieß sie? Blaue Haare? – hat mir auch das Obergeschoss als Tipp gegeben.«

Ich presse meine Zähne zusammen. Das sieht meinen Freunden ähnlich. Sie versuchen schon den ganzen Abend, uns zu verkuppeln – seit Jules mich ihm vorgestellt hat und sich dann mit Christopher und Jean-Claude sofort aus dem Staub gemacht hat, damit wir uns ungestört unterhalten konnten. Danach hat Margo mich mit dem Champagner ins Hinterzimmer geschickt, und Jules hat mir aufgetragen, mich vor ihrem Toast um Jamie zu kümmern. Und dann hat ihn auch noch Sula auf meine Spur gebracht, die gesehen haben muss, wie ich die Treppe hochgeschlichen bin. »Diese hinterhältigen, miesen kleinen Kuppler.«

»Wie bitte?«

»Ach, nichts. Ich verstecke mich woanders.« Ich stehe auf und greife an Jamie vorbei in die kleine Kerbe in der Tür, an der sie sich öffnen lässt. Doch als ich dagegendrücke, passiert nichts.

Ich versuche es noch einmal und fange an zu rütteln.

Plötzlich umfängt mich ein warmer Hauch und ein Geruch, der sehr viel angenehmer ist als Möbelpolitur und Citrus-Potpurri. Ich schließe meine Augen, nur für einen Moment. Verdammt. Warum muss Jamie riechen wie … wie ein Spaziergang durch einen dichten Wald an einem kühlen, nebligen Morgen? Nach Salbei und Zedernholz und regennasser Erde.

Ich schlucke und drehe mich kurz nach ihm um. Er steht dicht hinter mir und starrt auf die Tür.

»Was ist damit?«, fragt er leise. Sein Atem streift meinen Hals. Orangenschale und Bourbon, sein Drink.

Ich schlucke noch einmal. Der Raum wird mit jeder Sekunde kleiner. »Sie klemmt.«

»Sie klemmt?«

»Ja«, murmle ich verärgert. »Dank dir.«

»Wieso? Ich habe sie nur hinter mir geschlossen.«

Ich drehe mich um und sehe ihm direkt in die Augen, was ein Fehler ist. Wir stehen extrem dicht voreinander, ohne eine Möglichkeit auszuweichen. Jamie atmet tief ein, wobei sein Brustkorb sich weitet und meine Brüste streift. Eine unwillkommene Hitze rauscht durch meine Adern, und ich muss mich an der Wand abstützen.

»Wenn man sie zu fest zuschlägt«, erkläre ich ihm, ohne mir die Mühe zu machen, den anklagenden Unterton zu kaschieren, »verklemmt sie sich manchmal.« Verzweifelt versuche ich mein Herz, das immer schneller pocht, zu ignorieren.

»Woher sollte ich das wissen?«

»Du solltest es eben nicht wissen! Du solltest gar nicht hier sein!« Ich beiße die Zähne zusammen und versuche, meine Wuttränen zu unterdrücken. Ich wollte einfach nur allein sein. Und nun bin ich mit diesem überheblichen, aufgeblasenen, verstörend attraktiven Typ in einer Besenkammer eingesperrt. Mit diesem stocksteifen Spießer, dem ich heute Abend peinlicherweise nicht nur einmal, sondern gleich zweimal einen Drink über die Klamotten geschüttet habe, während meine Zwillingsschwester sich einfach so verlobt hat, mit einem Kerl, von dem ich bis heute nicht weiß, ob ihm zu trauen ist.

Und nun fange ich auch noch an, vor ihm zu weinen.

»Ist alles okay mit dir?«, fragt Jamie vorsichtig.

Ich blinzle ihn an, ohne ein Wort herauszubringen. Ist er jetzt etwa auch noch … nett? Dieser nerdige Steinbock?

Er schaut zu mir herunter. »Hast du Platzangst? Wenn es sein muss, kann ich die Tür wahrscheinlich aufbrechen.«

Scheiße. Nun gibt es kein Halten mehr für meine Tränenflut. Ich war nicht darauf vorbereitet, sanft behandelt zu werden. Nicht von diesem mindestens ein Meter neunzig großen, zynischen Brillenträger. Nicht wenn ich leide und ein paar nette Worte dringend brauchte.

Mir rutscht ein Fiepen heraus. Dann noch eins. Und schließlich ein lautes Schluchzen, das ich gerade noch dämpfen kann, in dem ich mir die Hand vor den Mund presse.

»Bitte nicht«, flüstert er, als würde er mit sich selbst sprechen. Er zerrt die Maske aus seinen Haaren und wirft sie zur Seite. »Bitte … bitte nicht weinen.«

Das zurückgehaltene Schluchzen lässt meine Brust beben, und während ich weiter die Hand vor den Mund halte, fließen die Tränen in Strömen. Das bisschen Make-up, das ich trage, genügt, um mein Gesicht in Drip-Painting-Kunst zu verwandeln. Meine Nase läuft. Ich bin das wandelnde Porträt eines emotionalen Zusammenbruchs.

»Ich ka-kann nicht aufhören.«

»In Ordnung.« Er sieht mich so besorgt an, dass ich mich sofort noch schlechter fühle. Ich heule Rotz und Wasser. »Was …« Er schluckt. »Was würde helfen?«

Eine Umarmung. Druck. Aber das kann ich ihm nicht sagen. Ich kann ihn nicht bitten, mich in den Arm zu nehmen. Also schlinge ich die Arme um den Körper und ziehe das Kinn ein, damit er meine Tränen nicht sieht.

Plötzlich ist er so nah, dass seine Wärme über mich hinwegschwappt. »Kann ich dich umarmen? Ich meine, ist es das, was du brauchst? Dass man dich … festhält?«

Ich starre auf den Boden, fest entschlossen, das allein in den Griff zu bekommen. Aber das Verlangen nach diesem Druck, der mir Erleichterung verschafft, nach der heilsamen Ruhe, die eine feste Umarmung in mir auslöst, ist zu groß. Zögernd nicke ich.

Als verstünde er ganz genau, was ich brauche, schlingt Jamie die Arme um mich und drückt mich fest an seine Brust. Er streichelt mir nicht über den Rücken, hält mich einfach nur fest, und sofort beginnt das penetrante Kribbeln auf meiner Haut nachzulassen. An ihn gequetscht, in seinem eisernen Griff, mein Ohr an seinem pochenden Herzen, seinem stetigen Rhythmus lauschend, fällt mir das Atmen ein wenig leichter.

Er wirkt ruhig und gefasst, obwohl das donnernde Bumm, bumm seines Herzens mir verrät, dass er alles andere als ruhig ist. Ich frage mich, ob er zu jenen Menschen zählt, die wahre Meister darin sind, auszusehen, als ging es ihnen bestens, obwohl sie kurz vor dem Durchdrehen sind. Was er wohl sonst noch hinter seiner makellosen Fassade versteckt?

Nun ja, ehemals makellosen Fassade. Nun ist sie dank mir komplett ruiniert.

Langsam weiche ich ein kleines Stück zurück, wische mir Augen und Nase trocken und rubble vergeblich an seinem mit Mascara, Rotz und Tränen verschmierten Hemd. »Tut mir leid wegen der Flecken«, flüstere ich, wobei mir auffällt, dass er mich noch immer an sich drückt und unsere Körper sich ein bisschen zu gut aneinanderschmiegen.

Jamie scheint es auch zu bemerken. Seine Atmung hat sich verändert. Genau wie meine. Sie ist schneller. Flacher. »Was?«, fragt er leicht benommen.

»Dein Hemd«, sage ich und versuche, tief durchzuatmen, was ich sofort bereue, da sich meine Brust dabei gegen seine presst. »Tut mir leid, dass ich dein Hemd ruiniert habe. Dieses … und das davor … und deine Hose.«

Seine Mundwinkel wandern ein winziges Stück nach oben. »Ist schon in Ordnung. Ich bin auf alles vorbereitet.«

»Du könntest Pfadfinder sein.«

»Ich bin Pfadfinder.« Er klingt so ernst wie immer, aber in seinen Augen ist ein leichtes Blitzen, das neu ist. Eine Wärme, die dazu passt, wie nett er eben zu mir war.

Was wohl gewesen wäre, wenn wir diese Seiten von uns zuerst kennengelernt hätten? Wenn wir keinen so desaströsen Start hingelegt hätten? Ich sehe ihn an, und in mir regt sich die absurde Hoffnung, dass in einem Paralleluniversum, in dem das Timing nicht ganz so schlecht ist wie in diesem, eine andere Bea und ein anderer Jamie aus den richtigen Gründen zu zweit in einer winzigen Besenkammer feststecken.

Stille füllt den engen Raum, und als unsere Blicke sich für einen kurzen, intensiven Moment begegnen, scheint die Welt sich schneller zu drehen. Die tiefe Falte auf Jamies Stirn glättet sich, sein Gesicht wird weicher, und die harte Linie seiner Lippen entspannt sich zu einem schiefen Lächeln. Aber es sind diese haselnussbraunen Augen, von denen ich mich einfach nicht losreißen kann. Sie erinnern mich an einen Septemberabend – die Ränder, der Rauch eines Lagerfeuers, die Iriden goldene Flammen, die auf den letzten grünen Blättern des Sommers tanzen. Sie sind ungerecht bezaubernd.

Das alles ist so seltsam. Ich bin mit einem Typen, mit dem ich mich den ganzen Abend nur gezofft habe, in eine Besenkammer gepfercht, und er hält mich an sich gedrückt und hat mich getröstet.

Vielleicht bin ich ja schon gar nicht mehr ich. Vielleicht befinde ich mich bereits in diesem Paralleluniversum, und wir sind die andere Bea und der anderer Jamie. Ich schmiege mich an ihn, und meine Hand fährt über seine Brust, während er langsam ausatmet – ein konzentrierter, gleichmäßiger Atemzug, der um Kontrolle ringt. Mir wird warm, als sein Griff um meine Taille fester wird und er mich näher zu sich heranzieht.

Umnebelt von meinen lustvollen Gedanken kommt mir der leise Verdacht, dass sich bei Jamie hinter der harten Schale vielleicht ein weicher Kern verbirgt. Vielleicht ist es wie bei meinem Igel Cornelius, dem ich nur ein Schaumbad einlassen muss und schon rollt er sich auseinander und lässt sich knuddeln.

Scheiße. Bei dieser Vorstellung setzt mein Gehirn aus, und ich bekomme weiche Knie.

Jamies Nase streift mein Haar, und er atmet ein, als könnte er nicht genug von mir bekommen. Ich sehe zu ihm hoch, er zu mir herunter. Unsere Münder berühren sich fast. Werden wir uns küssen? Wir werden uns nicht küssen.

O Gott. Wir werden doch nicht …

Mein Blick klebt an seinen Lippen, während seine Hand meinen Rücken hinuntergleitet und unsere Hüften gegeneinanderpresst. Er stöhnt im selben Moment, in dem mir ein leises Wimmern herausrutscht.