Ü40: Liebe in Zeiten des Wechsels - Sandra Engler - E-Book

Ü40: Liebe in Zeiten des Wechsels E-Book

Sandra Engler

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Beschreibung

In diesem Buch erzählen Frauen, wie sie die Liebe in den Wechseljahren erleben, wie sie mit den Umbrüchen im Leben jenseits der 40 zurechtkommen und wie sie sich selbst verändert haben. Mal sind ihre Geschichten ernst, mal romantisch und sehr oft auch lustig oder verrückt. Die Hormone spielen eben immer mit. So fühlt sich Lotta, die 44-jährige Mutter dreier Kinder, zunächst wieder wie ein Teenager, als sie eine Beziehung mit einem 17 Jahre jüngeren Studenten eingeht. Doch ist der Altersunterschied wirklich kein Problem? Luisa, eine 41-jährige Singlefrau, legt sich im Liebeswahn immer mehr Haustiere zu, damit sie einen Grund hat, in der Tierarztpraxis ihres Traummanns aufzutauchen. Funktioniert der Plan? Die 45-jährige Christina beschließt eines Morgens, ihre Ehe nach 15 Jahren mangels Leidenschaft aufzugeben. Beginnt nun ein neues Leben? Die zusammengetragenen Erfahrungsberichte ergeben insgesamt ein positives Bild von den Wechseljahren: Sie sind eine Chance, sich selbst und die Liebe neu zu entdecken und zu erleben.

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Seitenzahl: 322

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Sandra Engler

Ü40 – Liebe in Zeiten des Wechsels

Frauen berichten von Herzklopfen, Lust und Frust im Klimakterium

Für meine Familie und meine Freundinnen. Ich danke euch!

Vorwort

Veränderungen

Sandra (45), Künstlerin, Stephanskirchen, getrennt, drei Kinder

Jetzt, so ungefähr in der Mitte meines Lebens, glaube ich manchmal, dass ich im wahrsten Sinne des Wortes angekommen bin. Ich habe damit begonnen, mein Leben, die Umstände, die Gefühle, das Zusammentreffen mit den verschiedensten Menschen zu reflektieren. In vielen Gesprächen habe ich gemerkt, dass es den meisten Frauen zwischen 40 und 55 Jahren ähnlich geht. So vieles ändert sich, die Kinder werden groß und selbstständiger, die Aufgaben müssen neu definiert werden und so manch eine Frau begibt sich auf die Suche nach dem Sinn des Lebens. Da ich drei Kinder verschiedenen Alters habe, durfte ich viele Frauen mit Kindern kennenlernen und habe gemerkt, dass es für fast keine leicht ist, die Grätsche zwischen Mutter, arbeitender Ehefrau, Geliebter und Hausfrau zu bewerkstelligen, ohne dass manchmal das eigene Leben auf der Strecke bleibt.

Bei manchen Frauen scheint zwar immer alles zu klappen und man denkt, sie würden stets auf der Sonnenseite des Lebens stehen, sieht man aber ab und zu ein bisschen genauer hin, bemerkt man, dass es auch bei diesen Superfrauen immer wieder Höhen und Tiefen gibt – und das ist doch sehr beruhigend!

Wichtig im Leben ist in meinen Augen, dass man sich selbst immer treu bleibt und die richtigen Antworten für sich findet. Vor allem jetzt, in Zeiten des Wechsels. Ich stelle fest, dass ich neben dem Alltag, der Arbeit und den Kindern wieder mehr Zeit für mich habe. Ich merke, dass ich öfter zur Ruhe komme, wieder zurück zu mir selbst finde. Ich habe auch erkannt, dass ich viele Trends nicht mehr mitmachen muss. Ich suche nach Möglichkeiten, mehr zu entspannen und die Dinge lässiger zu sehen.

Meine Ruhe und Zufriedenheit finde ich am Meer, dort bin ich mit mir im Einklang. Für mich hat das Meer einen Zauber, den ich mit Worten gar nicht beschreiben kann – es steht für die Wechselfälle im Leben. Mal ruhig dahinplätschernd, wunderschön, mal wild, unbeherrscht und unberechenbar. Ich liebe die Schätze, die es mit sich bringt: Strandgut, Treibholz, Steine und Muscheln in den wunderschönsten Formen und Farben.

Kürzlich in einem Urlaub am Meer habe ich ein sehr schönes Buch gelesen, in dem die Autorin eine Frau in reiferem Alter mit einer Austernmuschel vergleicht. Ein sehr passender Vergleich, wie ich finde! Mir persönlich gefallen Austernmuscheln besonders gut, jede einzelne hat eine andere Form, meist unsymmetrisch, grau, von außen oft nicht so glänzend und schön anzusehen wie andere Muscheln, aber zweckmäßig und vor allem anpassungsfähig, bewachsen mit allem Möglichen. Auf ihrem buckligen Rücken hat sich im Lauf der Zeit einiges angelagert: kleine Muscheln, Algen, manchmal sogar kleine Einsiedlerkrebse. Oft kann man ihre ursprüngliche Form kaum noch erkennen. Doch wenn man sie ein bisschen säubert und freilegt, wird sie wieder wunderschön und glänzend.

Irgendwie ist es bei uns in der zweiten Hälfte des Lebens doch auch so. Wir sind bewachsen und vielleicht sogar überwuchert von so vielem, denn wir haben einiges erlebt und geschafft. Nun gilt es, ein bisschen zu sortieren, auszumisten, wieder Neues zu entdecken, so manche Altlast hinter uns zu lassen ‒ uns zu putzen und wieder zu glänzen. Uns bereit zu machen für die schönen, interessanten, ruhigen, aber auch für die aufregenden Wechselfälle, die das Leben für uns vorsieht.

Die kleinen Episoden der völlig verschiedenen Frauen in meinem Buch sollen mit einem Augenzwinkern zeigen, dass es den meisten von uns doch ganz ähnlich geht. Dass man ab und zu nur den Blickwinkel auf sein Leben verändern muss und manchmal erst in der Rückschau erkennt, dass alles einen Sinn hat. :-)

Viel Spaß beim Lesen wünscht Sandra Engler!

Geschichte 1

Es lebe die Ameisenkönigin!

Patrizia (47), Lehrerin, Potsdam, verheiratet

Olga kommt überfallartig. Ohne Vorwarnung. Überall und jederzeit. Neulich stehe ich im Supermarkt in der Warteschlange an der Kasse. Mit vollgepackten Einkaufskörben, in jeder Hand einen. Mit Erdbeerschalen, so übervoll mit herrlich roten, saftigen, duftigen Früchten, dass diese bei jeder falschen Bewegung herauskullern und auf dem Supermarktboden landen könnten.

Ich bin also an sich schon in einer schwierigen Situation. Und dann kommt Olga. Es fängt immer damit an, dass ich das Gefühl habe, dass mein Kopf explodiert, mein Herz klopft so stark, als würde es jeden Moment herausspringen. Dann kommt Olga wie eine heiße, warme Welle, die von Brust, Nacken und Gesicht ausgeht. Von dort verteilt sie sich auf den ganzen Körper. Es wird mir so plötzlich warm, als wäre ich in der Dampfsauna. Es ist die Hitzewallung, die ich Olga nenne.

»Hallo, Sie sind dran!« Der junge dunkelhaarige Mann mit dem lässigen Dreitagebart drängelt hinter mir schon die ganze Zeit. In der Hand hat er nur eine Dose Energydrink. Er dribbelt ungeduldig von einem Bein auf das andere.

Vorsichtig mache ich einen Schritt zur Seite. »Gehen Sie doch einfach vor, junger Mann. Sie haben ja nicht so viel.«

Das macht er gern. Gut sieht er auch von hinten aus. Breites Kreuz, schmale Hüften, knackiger Hintern ‒ und so herrlich jung! Er schwitzt höchstens, wenn er schuftet, nicht an der Kasse vom Supermarkt wie ich.

Olga hat jetzt meine gefährliche Zone erreicht. Ich spüre, wie es unter meinen Achseln allmählich feucht wird. Ich habe eine zartgelbe Bluse an. Schwarz geht schon lange nicht mehr, Weiß ist auch suboptimal, Zartgelb ist die einzige Farbe, auf der man diese scheußlichen Flecken nicht so sieht. Nicht ganz so stark zumindest. Zartgelb steht mir zwar überhaupt nicht, aber gut, einen Tod stirbst du immer.

So, gleich muss ich meine Einkäufe auf das Band legen. Jetzt muss ich mich bewegen, vorsichtig meine Arme hochheben. Jeder im Supermarkt wird jetzt auf meine Achseln starren. Jeder. Vom Fleischfachverkäufer bis zu der Aushilfskraft, die gerade das Kühlregal einräumt. Tut natürlich niemand – es fühlt sich nur so an.

Was bin ich froh, wenn so eine Hitzewallung wieder vorbei ist! Mal dauert es drei Minuten, die sich so lang anfühlen wie drei Tage. Aber ich hatte auch schon mal eine, die eine ganze Stunde anhielt. Das war ein Spaß! In solchen Momenten überlege ich mir, ob ich nicht nach Sibirien ziehen sollte. Oder nach Finnland. Ich bräuchte nicht einmal einen Norwegerpulli. Aber dann, wenn sich Biest Olga wieder zurückzieht, wird es mir plötzlich kühl. Ich fröstele ‒ und will lieber nach Afrika. Inzwischen bin ich ausgerüstet. Ich habe stets ein bis zwei Reserve-Shirts und ein kleines Körperpflege-Set dabei. Hilft aber nicht immer, wie zum Beispiel jetzt. Ich kann mich ja schlecht an der Supermarktkasse umziehen.

Jetzt bin ich endlich dran. Eine Schale Erdbeeren stelle ich auf das Band, dann die zweite, dann folgt der Rest. Ich versuche dabei, meinen Arm möglichst wenig zu bewegen. Das ist Übungssache, kann man lernen!

»Macht dann 40,36 Euro«, verlangt die freundliche Kassiererin mit sanfter Stimme. Sie ist höchstens Mitte 20. Lange blonde Haare mit leichten Wellen, blaue Augen unter beneidenswert langen Wimpern, bezauberndes Lächeln. So war ich früher auch mal. Und sie wird später so wie ich sein. Niemand entkommt Olga. Und das hat etwas Tröstliches.

Es gibt nichts, was ich nicht schon ausprobiert hätte: Nachtkerzenölkapseln, Rotklee, Soja-Isoflavone-Kapseln, Bachblüten, Schüßler-Salze, die indianische Frauenwurzel, Farblichtpunktur, Kneippkuren für Frauen in den Wechseljahren, sogar einen Malkurs gegen den Wechsel. Die Bilder sind schön geworden. Zu meinem letzten Geburtstag habe ich mir Magnetschmuck gewünscht. Mein Mann hat mich angesehen, als hätte ich drei Augen und vier Ohren. »Sonst wünschst du dir doch immer richtigen Schmuck …« Tja, vorbei.

Also schenkte er mir einen Magnetanhänger am Lederband für den Hals, einen für das Handgelenk und Magnetstecker für die Ohren. Nach drei Wochen kehrte ich dann doch wieder zu meinen Diamantsteckern zurück.

»Haben Sie vielleicht 40 oder 50 Cent?«, fragt die junge Blondine an der Kasse freundlich.

»Nein, leider nicht«, antworte ich wie aus der Pistole geschossen. Obwohl ich sie bestimmt gehabt hätte, denn in meinem Geldbeutel befindet sich immer jede Menge Kleingeld. Aber ich will mich einfach nicht mehr unnötig bewegen. Ich fühle mich, als würde ich unter einem Wasserfall stehen. Unter den Niagarafällen, um genau zu sein. »Tut mir leid.«

»Das macht doch nichts«, sagt die Kassiererin einfühlsam. Offenbar sehe ich aus, als hätte ich Trost nötig.

Manchmal ist das in der Tat so. Olga macht mich zum Weichei.

Neuerdings neige ich nämlich zu den merkwürdigsten Stimmungsschwankungen. Einerseits fühle ich mich so antriebslos wie ein abgelaufener Handyakku, dann wieder überfällt mich schlagartig eine nie gekannte Aggression. Wie neulich im Auto. Vor mir fuhr ein Mann im Kleinwagen. Er wollte rechts abbiegen, aber Olga ging es nicht schnell genug. Gestenreich pöbelte ich den kleinen Mann vor mir im Auto an und beschimpfte ihn, nur weil er nicht so schnell in die Seitenstraße einbog, wie ich das wollte. Es war mir vor mir selbst peinlich, zum Glück hatte der kleine Mann wohl nichts mitbekommen.

Seit meinem 18. Lebensjahr fahre ich Auto und ich hatte nie Punkte, nicht einen einzigen, ich hatte in der Flensburger Verkehrssünderkartei eine makellos reine Weste. Normalerweise bin ich ein umsichtiger Verkehrsteilnehmer, bremse auch für Kröten und Igel und halte mich an alle Regeln. Doch seit Olga in mein Leben getreten ist, ist es damit vorbei – drei Punkte wegen Drängelns, beziehungsweise wegen zu nahen Auffahrens, drei Punkte wegen des Überfahrens einer roten Ampel. »Wenn du so weitermachst, musst du noch zum Idiotentest«, zieht mich mein Mann auf. Und ich sehe mich schon vor einem Verkehrspsychologen, der mich fragt: »Worauf führen Sie denn Ihr verändertes Fahrverhalten zurück?« Und ich antworte dann wahrheitsgemäß: »Auf Olga.« Kommt sicher gut …

Mein Mann meldete mich schließlich zum Hormon-Yoga an, das macht die Frau eines seiner Kollegen auch. »Seitdem ist sie viel entspannter«, meinte mein Mann. Zweimal ging ich hin.

»Legen Sie sich auf den Rücken. Mit dem Einatmen heben Sie die Beine in die Senkrechte und stützen die Hüften mit den Händen ab. Überkreuzen Sie mit dem rechten Fuß den linken. Dann machen Sie sieben Bhastrikas und schicken danach die gesamte Energie in Gedanken an Schilddrüse und Hypophyse, also zum Hals und zum Zentrum des Kopfes hin. Wechseln Sie die Füße und wiederholen Sie die Übung. Machen Sie sie insgesamt jeweils dreimal, bevor Sie die Position auflösen. Optimal ist es, wenn Sie insgesamt fünf Minuten in dieser Umkehrhaltung bleiben können …« Das war mir dann alles doch etwas zu kompliziert.

Schweißtropfen bilden sich auf meiner Stirn. Ich puste Luft nach oben. Hilft nicht viel.

»Ziemlich heiß heute«, nickt die nette Blonde an der Kasse, während sie mir das Wechselgeld hinzählt.

Heiß? Puh! Mädchen, du weißt nicht, was Hitze ist, bevor du nicht deine erste Wallung gehabt hast. Ich komme mir inzwischen vor, als hätte ich einen Flammenwerfer in mir. Wenn ich jetzt den Mund öffne, kommt vermutlich eine Feuerwand heraus. Also sage ich besser nichts, nicke nur und stecke das Wechselgeld ein.

»Danke für den Einkauf bei uns, einen schönen Tag wünsche ich Ihnen noch!«, gibt mir die nette Kassiererin noch mit auf den Weg.

Kommt ganz auf Olga an, wie mein Tag wird! Und meine Nacht. Manche Nächte schlafen wir getrennt, Olga und ich. Herrliche Durchschlaferlebnisse! In anderen Nächten werde ich wach, weil ich schweißgebadet bin. Komplett! Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie an den Unterarmen oder auf den Schienbeinen geschwitzt, aber jetzt läuft mir das Wasser nur so runter. Sogar hinter den Ohren. Um nicht ständig aufstehen und die Wäsche wechseln zu müssen, schlafe ich nur noch mit griffbereiter Ersatzausrüstung neben dem Bett: Ersatzbettzeug, Ersatznachthemd, Handtücher …

Ich verlasse den Supermarkt, gehe um die Ecke und suche mir ein schattiges Eckchen. Dort stelle ich erst einmal meine Einkäufe ab und schnaufe tief durch.

»Brauchen Sie Hilfe?« Ein junger Mann bleibt neben mir stehen und sieht mich sorgenvoll an. »Geht es Ihnen nicht gut?«

Gute Frage, junger Mann! Haben Sie vielleicht ein Zaubermittel gegen Wechseljahre?

Neulich war ich sogar in einem Workshop – für Frauen, die ihre Wechseljahre kreativ, mutig und sinnlich nutzen wollen, um sich selbst neu zu erfinden. Wie Rhonda Sherin, die Leiterin des Kurses, predigte, »beginnt im archaisch-weiblichen Weltbild ab circa 50 die Zeit der Macht. Bisherige Gewohnheiten und Sicherheiten brechen auf. Turbulenzen, Gefühlsschwankungen, Hitze, Tränen und Wut sind der Preis für neue Träume, neuen Mut, Rebellion und Befreiung. Die wunderbaren Wechseljahre laden uns ein zu erforschen, was wir wirklich wollen, was uns wichtig ist, was wir können.« Die wunderbaren Wechseljahre, alles klar …

»Hallo??? Soll ich den Notdienst holen?« Der junge Mann steht noch immer wartend vor mir.

Notdienst? Nein, danke! Ich habe Wechseljahre, keine Krankheit.

Ich lächle ihn freundlich an. »Danke schön. Nett von Ihnen. Aber es ist alles bestens. Es geht mir gut.«

»Okay.« Er wirft mir noch einen ziemlich misstrauischen Blick zu, dann geht er weiter.

Zum Glück ist wenigstens mein Mann einigermaßen entspannt. Zumindest meistens. Er nennt es meine zweite Pubertät. »Schau mal, Schatz, ihr Frauen schwitzt, wir Männer bekommen Bauch und dünne Haare«, sagt er. Mal überlegen, ob mir nicht auch Bauch und dünne Haare lieber wären.

Apropos Bauch! Mein Gewicht gerät auch ganz schön aus den Fugen. Ich war nie wirklich dick, aber inzwischen neige ich zu rundlicheren Formen oder, genauer gesagt, zu Speckröllchen. Wenn es wenigstens an einem genüsslichen Zuviel an leckerer Schokolade liegen würde! Mit Olgas Ankunft hatte ich das Gefühl, ich würde zunehmen, ohne auch nur einen Bissen mehr zu essen. Und es stimmt leider tatsächlich! Meine Ärztin bestätigte mir, dass man im Alter einen viel geringeren Kalorienbedarf hat, obwohl man natürlich die gleichen Mengen an Nahrung zu sich nimmt. Statt Heidelbeertörtchen knabbere ich jetzt also Heidelbeerreistaler – geschmacksneutral, staubtrocken, aber gegen Trockenheit habe ich nichts mehr. Ganz im Gegenteil. Alkohol gibt’s für mich auch nur noch in Maßen. Das schönste Prosecco-Kribbeln hilft nichts, wenn es von einem Schweißausbruch begleitet wird. Meinen geliebten Kaffee habe ich ebenfalls auf ein Minimum reduziert. Stattdessen gibt’s jetzt Kräutertee: 15 g Brombeerblätter, 30 g Blutwurz, 30 g Gänsefingerkraut, 15 g Heidelbeerblätter, 50 g Frauenmantelkraut. Lecker.

Ich hole die Taschentücher und das Deo aus meinem Notfallset. Zwei Mädels, beneidenswert jung, bleiben vor dem wild dekorierten Schaufenster einer Boutique stehen und begutachten die angesagten knappen Röcke. Zwischendurch werfen sie mir einen verstohlenen Blick zu. Mädels, kauft euch coole Outfits, solange es geht!, würde ich ihnen am liebsten raten. Irgendwann muss Kleidung nämlich nicht mehr schick, sondern einfach nur noch wasserfest und pflegeleicht sein. Stichwort: thermoregulierende Kunstfaser. Gegen Kompressionsstrümpfe weigere ich mich dagegen noch mit Händen und Füßen. Auch wenn es die Dinger inzwischen schon in »zwölf lebendigen Farbtönen« gibt.

Lange gewehrt habe ich mich auch gegen Chemie. Dann habe ich mich von einer Freundin zu einem Selbstversuch mit einem Hormonpflaster überreden lassen. Ihr hat es geholfen. Tja, aber ich Schussel hatte es vergessen, als ich auf der Terrasse im Liegestuhl in der Sonne lag. Durch die Wärme hat sich der Wirkstoff zersetzt und die gepflasterte Stelle auf meiner Haut brannte tagelang wie Feuer. Danach habe ich es nicht mehr aufgeklebt.

Die beiden Mädels haben sich offenbar zum Kauf entschieden, kichernd betreten sie die Boutique. Olga hat inzwischen eine Verschnaufpause eingelegt und ich mache mich auf den Heimweg. Ich muss eben mit ihr leben. Es führt kein Weg daran vorbei.

Früher pappten an meinem Kühlschrank farbenfrohe Magnetpins in Erdbeer-, Kirsch- oder Zitronenform, jetzt klebt daran ein Spruch, den Kim Cattrall als lebensfrohe und männerverschlingende Samantha zu ihren Freundinnen Carrie, Miranda und Charlotte in dem Streifen Sex and the City 2 sagt: »Ich werde euch durch das Menopausen-Labyrinth führen. Mit meinen Vitaminen, meinen Melatonin-Schlafbrillen, meiner bioidentischen Östrogencreme, meiner Progesteroncreme und einem winzigen Hauch Testosteron.«

Wenn ich diesen Spruch lese, fühle ich mich ein kleines bisschen besser. Olga ist eben international und sie ist demokratisch. Niemand wird von ihr verschont. Nicht einmal ein Hollywoodstar. Trotzdem wäre ich an manchen Tagen lieber eine Ameisenkönigin. Ameisenköniginnen haben keine Wechseljahre – ihre Eierproduktion nimmt mit dem Lebensalter zu.

Geschichte 2

Fahndungsfoto mit Folgen

Elena (40), Mediengestalterin, Riedering, verheiratet, ein Kind

Alle meine Freundinnen hatten einen Riesenhorror vor ihrem 40. Geburtstag, ich nicht. Ich freute mich darauf. Ein Riesenfehler, wie sich herausstellen sollte …

Es war an meinem 40. Geburtstag. Ein herrlich sonniger Tag im Wonnemonat Mai. Bilderbuchblauer Himmel, blühender Flieder, laue 25 Grad, der Frühsommer lag in der Luft. Max, mein neunjähriger Sohn, war in der Schule, Markus, mein Mann, auf Arbeit. Er ist Marketingchef einer Baumarktkette. Ich, das Geburtstagskind, saß an unserem gemütlichen, kleinen, marmorierten Bistrotisch in der Küche unseres schnuckligen Reihenmittelhauses, trank einen Cappuccino mit Schokohaube und gönnte mir zur Feier des Tages ein feines Zartbitter-Schokocroissant. Dann klingelte das Telefon.

»Hallo, Elena.«

Am anderen Ende der Leitung war meine Freundin Irene ‒ mit einer traurigen, düsteren Stimme, sie hörte sich an, als wäre jemand gestorben.

»Ich wollte dir zum Geburtstag gratulieren«, sagte sie. »Zu deinem 40.«

»Danke dir, Irene!«

»Willkommen im Club!«, setzte sie noch ebenso düster nach. Irene war vor einem halben Jahr 40 geworden.

»Wenn du Hilfe brauchst …«, bot sie sich an.

»Nein, danke, es ist alles bestens durchgeplant«, antwortete ich fröhlich. »Heute Nachmittag feiere ich ein bisschen mit Max. Am Abend gehe ich mit Markus schick essen. Er hat einen Tisch bei meinem Lieblings-Nobelitaliener reserviert!«

»Eigentlich sollte man alles über 40 nicht mehr feiern«, jammerte Irene ins Telefon.

»Ach was!« Ich war bester Stimmung und nicht gewillt, mir die Laune verderben zu lassen. »Ist doch nur eine Zahl.«

»Eine Horrorzahl. Du bist jetzt alt, Elena«, schickte sie dann noch nach.

Ich hatte keine Lust mehr, mich weiter volljammern zu lassen. »Komm doch heute Nachmittag vorbei und wir stoßen mit einem leckeren Gläschen Hugo an. Okay?«, versuchte ich, sie zu stoppen.

»Also gut.«

Irene wartete aber nicht bis zum Nachmittag. Sie stand gleich eine halbe Stunde später vor der Tür, was mir gar nicht passte, denn ich hatte noch einiges zu erledigen. Aber meinetwegen. Das erste Glas Prosecco mit Holunderblütensaft war schnell runtergekippt. »Ach, Elena«, seufzte Irene, »wir gehören jetzt zum alten Eisen, du und ich. Pfeift dir etwa noch jemand nach? Mir nicht. Nicht einmal ein kleiner, dickbäuchiger Bauarbeiter. Niemand. Kein Schwein.« Sie schenkte sich gleich noch mal ein. »Ich fühle mich so alt.« Mit ihren braunen Rehaugen sah sie mich treuherzig an. »Und weißt du was, dieses Gefühl kam schlagartig mit dem 40. Geburtstag. Zack, bumm! Einfach so. Als Geburtstagsgeschenk sozusagen.«

»Ach, Irene, das ist doch alles relativ! Als wir 18 waren, dachten wir, 30 sei alt …«

»Jaaa, du hast gut reden.« Irene schlürfte an ihrem Gläschen Holunderblütenprosecco.

Ich nippte nur, schließlich wollte ich ja an meinem Geburtstag nicht schon am Nachmittag voll sein.

»Du hast ein Haus, ein Kind, einen Mann. Alles erledigt. Alles in trockenen Tüchern. Die nächsten 40 Jahre bist du sicher.« Irene sprach jetzt schon ein bisschen undeutlich. Sie bückte sich und kramte in ihrer dunkelbraunen, schweineteuren Designerhandtasche herum und zog einen pinkfarbenen Umschlag heraus, den sie mit einem kleinen Lächeln auf den Tisch legte. »Hier, das ist für dich.«

»Was ist das?«

»Ein Flugzeug«, gab Irene ironisch zurück. »Dein Geburtstagsgeschenk, was sonst! Mach schon auf!«

Ich öffnete den pinkfarbenen Briefumschlag und zog einen Gutschein heraus. Für eine Woche Wellnessurlaub in San Vincenzo in Italien. Mit Schlammpackung, Gesichtsbehandlung, Heubad.

Irene hatte ihr Glas schon wieder geleert und schenkte sich nach. »Alles schon bezahlt.«

»Wow, das ist ja …« Ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte.

»Den Zeitpunkt kannst du dir aussuchen, wir fahren da zusammen hin und chillen mal so richtig.«

»Ähm …« Ich legte den Gutschein wieder auf den Tisch. »Du, das ist total lieb von dir, Irene, aber ich glaube nicht, dass das klappt«, sagte ich schließlich geradeheraus. »Markus mag es nicht mal, wenn ich allein weggehe, geschweige denn allein wegfahre! Für eine Woche! Das gibt Stress ohne Ende. Du weißt doch, wie das mit ihm ist.«

»Und ob!«, nickte Irene. »Mit 40 ist es höchste Zeit, das zu ändern! Du hängst doch nur noch am Rockzipfel von deinem Markus. Und dabei mögen Männer das eigentlich gar nicht. Die wünschen sich selbstständige Frauen, glaub mir!«

So langsam wurde ich ungehalten. »Aha, und woher willst du das wissen? Deine Beziehungen halten doch nie länger als drei Wochen.«

»Na und?«, grinste Irene. »Immerhin hab ich drei Wochen Spaß.«

»Apropos. Hat sich eigentlich dein heißblütiger Zumba-Lehrer noch mal bei dir gemeldet?«

»Autsch!« Irene zuckte zusammen. »Wunder Punkt.«

»Also nicht?«

»Mit keinem Sterbenswörtchen«, gab Irene zu. »Der hat bestimmt inzwischen eine knackige 20-Jährige. Die Konkurrenz lauert schließlich überall.«

Bevor Irene weiterphilosophieren konnte, klingelte es an der Haustür. Ich stand auf, um zu öffnen.

»Ein Geschenk, ein Geschenk«, rief mir Irene kichernd nach.

Es war aber nur der Postbote, der mir einen safrangelben Umschlag reichte. Postzustellungsurkunde. Förmliche Zustellung. Sah amtlich aus. War es auch. Von der Verkehrspolizei.

Ich setzte mich mitsamt Umschlag an den Tisch. »Ein Strafzettel zum Geburtstag, welche Freude!«

»Zeig mal her.« Irene nahm mir den Umschlag aus der Hand. »Der ist an deinen Mann adressiert«, stellte sie fest.

»Er ist der Wagenhalter, deswegen«, klärte ich sie auf.

»Ich mach mal auf.« Ehe ich Irene stoppen konnte, hatte sie den Umschlag aufgerissen und holte die Papiere heraus. Auf einmal pfiff sie laut durch die Zähne. »Öha!«, sagte sie dann und sah mich mit einem höchst merkwürdigen Blick an.

»Was ist denn?«

»Da ist ein Foto dabei.«

»Was denn für ein Foto?«

»Aus einer Verkehrsüberwachungskamera«, erklärte sie.

»Na und? Das ist in der Regel üblich …«

»Auf dem Foto ist dein Mann.«

»Super! Dann hab ich ja gar nicht Schuld«, freute ich mich. Sonst wäre Markus sicher wieder sauer gewesen. Er schimpft immer darüber, dass ich so rüpelhaft fahre.

»Mit einer Frau.«

»Bitte was?«

»Hier.« Irene reichte mir das Foto der Überwachungskamera.

Tatsächlich. Es war ein etwas verschwommener Schwarz-Weiß-Abzug. Er zeigte meinen Mann am Steuer. Unverkennbar. Trotz der miesen Qualität. Neben ihm saß eine mir unbekannte Blondine, ziemlich jung, halb so alt wie ich, mit einem ausgesprochen hübschen Profil und einer Stupsnase, auf der eine Sonnenbrille thronte.

»Kennst du die Frau?«, erkundigte sich Irene neugierig.

»Nee, keine Ahnung, nie gesehen«, musste ich zugeben. Irgendwie wurde mir plötzlich mulmig. Beinahe schon mechanisch griff ich nach meinem Holunderblütenprosecco und trank einen großen Schluck.

»Vielleicht ist das ja seine Geliebte?«, orakelte Irene.

Danke, Irene, wenn man solche Freundinnen hat, braucht man keine Feinde mehr.

»Markus geht nicht fremd. Niemals«, murmelte ich, merkte aber gleichzeitig, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildete.

»Hat ja wahrscheinlich auch gar nichts zu bedeuten.« Irene packte das Foto rasch wieder zurück in den Umschlag. »Ist alles wahrscheinlich ganz harmlos. Könnte ja auch nur eine Arbeitskollegin sein, die er mitgenommen hat.«

»Eben«, nickte ich und konnte nicht umhin festzustellen, dass meine Stimme etwas zitterte.

»Völlig bedeutungslos«, nickte mir Irene zu. Sie legte ihre Hand auf meine. »Vergiss es einfach.«

»Ja, klar, ich vergesse, dass mein Mann neben einer hübschen Blondine im Auto saß.«

»Solange er nur neben ihr sitzt …«, versuchte Irene zu scherzen.

»Witzig!«, fauchte ich meine Freundin an. Mir war überhaupt nicht zum Scherzen zumute. Mein Leben fiel gerade komplett in sich zusammen. »Mein Mann geht fremd und das an meinem Geburtstag!«

»Nicht an deinem Geburtstag, Elena. Das Bild wurde doch schon vor ein paar Wochen aufgenommen«, korrigierte mich Irene. »Aber der 40., der hat es in sich, ich hab’s dir ja gesagt«, fügte sie dann noch hinzu.

»Was soll ich denn jetzt nur tun?«, flüsterte ich und fühlte mich so verloren wie zuletzt mit elf Jahren, als meine große Liebe Kaijetan meiner besten Freundin einen viel schöneren Satz ins Poesiealbum geschrieben hatte als mir.

Irene zuckte die Schultern. »Nichts. Was sollst du auch tun. Es ist, wie es ist.« Sie stand auf und legte tröstend ihre Arme um mich. »Ach, Schätzchen.«

Ich war wütend, frustriert, sauer, deprimiert, enttäuscht, alles auf einmal. Ich spürte, wie meine Augen feucht wurden. Mein Blick fiel auf Irenes Geburtstagsgeschenk. »Weißt du was? Wir fahren«, entschloss ich mich spontan und kampfwillig. »Gleich morgen.«

»Wie?« Irene konnte gerade nicht folgen.

»Ich fahre mit dir in die Toskana. Wir beide, gleich morgen.«

»Sehr gut!«, lobte Irene. »Das ist die einzig richtige Reaktion.« Sie holte ihr Handy raus. »Ich mach das gleich fest.« Das tat sie dann auch. Drei Sätze in ihrem etwas holprigen Volkshochschul-Italienisch und die Sache war geklärt.

Ehe ich weiter darüber nachdenken konnte, wurde die Haustür aufgeschlossen. »Hallo, mein Geburtstagsschatz«, flötete mein Mann, als er ins Zimmer kam. Im Arm hatte er einen dicken Strauß langstieliger dunkelroter Rosen. Das schlechte Gewissen? Ich ballte die Fäuste, war inzwischen auf 180. Komm nur her, du mieser Fremdgeher!

Irene stemmte die Arme in die Hüften, sah mich an. »Ich bleib hier, ich steh dir bei«, sollte das bedeuten.

Ich schüttelte den Kopf. »Danke, Irene, ich glaube, es ist besser, wenn du gehst.«

»Also gut.« Irene trank ihr Glas leer, schnappte sich ihre Tasche und wischte an Markus vorbei. Natürlich nicht, ohne ihm einen bitterbitterbösen Blick zuzuwerfen.

»Alkohol schon am frühen Nachmittag«, fing Markus auch gleich an zu nörgeln, als Irene draußen war. Er fing sich aber gleich wieder. »Na gut, du hast ja heute Geburtstag.«

»Oh ja«, stieß ich hervor. Ich kam mir vor wie im falschen Film.

Markus streckte mir den gewaltigen Rosenstrauß entgegen. »Noch mal alles, alles Liebe zum Geburtstag, mein Schatz!«

Ich nahm den Strauß und knallte ihn auf den Tisch. »Den kannst du deiner Blondine schenken«, zischte ich ihn an.

»Wie bitte?« Völlig ratlos und verwirrt zugleich sah mich Markus an. »Von welcher Blondine sprichst du?«

»Du betrügst mich, Markus, Leugnen ist völlig zwecklos«, fauchte ich. In meinem Inneren tobte ein Orkan. »Ich habe Beweise.«

»Wie?« Markus guckte mich an wie ein Auto.

»Und morgen werde ich mit Irene in die Toskana fahren«, setzte ich gleich noch nach. »Diese Reise hat sie mir nämlich zum Geburtstag geschenkt. Und wenn du fremdgehen kannst, kann ich auch allein verreisen.«

»Hä???« Markus sah mich kopfschüttelnd an. »Wovon sprichst du überhaupt, Elena? Könntest du mich mal aufklären?«

»Du gehst fremd, du hast eine Geliebte«, sagte ich erst laut, dann leise, dann schluchzend.

»Ja, klar, und außerdem habe ich mich für die nächste Weltraumfahrt angemeldet.« Markus stand kopfschüttelnd neben mir. »Wie kommst du denn auf diesen Blödsinn?«

Völlig außer mir, griff ich nach dem polizeilichen Überführungsfoto und hielt es ihm vor die Nase. »Hier! Leugnen zwecklos!«

»Verdammter Mist!«, fluchte er, nachdem er einen Blick auf das Corpus Delicti geworfen hatte.

»Alles klar! Dann stimmt es also«, wütete ich. Mein Herz schlug wie das Trommelfeuer eines Eingeborenenstammes.

»Was stimmt?«

»Dass die Frau neben dir deine Geliebte ist!«

»Natürlich nicht!«

»Du hast es doch gerade zugegeben.«

»Hab ich nicht.«

»Hast du doch. Du hast gesagt: verdammter Mist.«

»Ja, weil mich die 120 Euro und die drei Punkte nerven!«

»Ist das alles?«

»Jaha.«

»Und wer ist dann die Frau neben dir?«

»Eine Kollegin. Britta Welsch. Ihr Auto ist in der Werkstatt und ich habe sie mitgenommen, das ist alles. Wir mussten Gas geben, weil sonst die Werkstatt geschlossen hätte.«

»Und da läuft wirklich nichts?« Ich beobachtete ihn ganz genau. Jede Zuckung in seinem Gesicht. Aber da war nichts Verräterisches. Rein gar nichts. Ganz im Gegenteil. Er sah aus wie Max, als ich ihn kürzlich zu Unrecht verdächtigt hatte, den Schokopudding verspeist zu haben. Die Naschkatze war Markus gewesen, nicht er.

»Aber sie ist hübsch.«

»Na und?« Markus streckte die Arme nach mir aus und zog mich an sich. »Das bist du doch auch, meine Schöne.«

»Und sie ist jung. Ich bin alt, ich bin 40.«

»Seit heute«, grinste Markus. »Und ich bin 45.«

»Aber du bist ein Mann. Bei Männern ist das ganz anders.«

»Ich habe noch etwas Hübsches für meine 40-Jährige.« Lächelnd zog Markus eine kleine herzförmige Schachtel aus seiner Jackentasche und öffnete sie. »Gefallen sie dir?«

Es waren ausgesprochen schöne, oval geformte Ohrringe mit kleinen Diamantsplittern. »Danke. Ich probiere sie gleich an.«

»Ach, Schatz!«, rief mir Markus noch nach. »Da sich das mit dem Fremdgehen erledigt hat, sind deine Reisepläne ja wohl auch hinfällig!«

Ich ging ins Gästebad, um mir die Ohrringe anzustecken. Eigentlich ist doch jetzt alles wieder gut. Mein Leben geht weiter wie vorher. Nein. Mit 30 vielleicht. Jetzt nicht mehr. Mein Mann hat keine Affäre, ich glaube ihm. Jetzt nicht, heute nicht, nicht mit dieser jungen Blondine. Aber die nächste kommt bestimmt. Plötzlich schien die Welt voll von jungen hübschen Frauen.

Irene hatte recht. 40 ist eine Grenze, die man nicht so leicht überschreitet. Es ist, als würde mit 40 ein Schalter umgelegt, der einen unsicherer macht, angreifbarer, verwundbarer. Innerhalb weniger Stunden habe ich mich verändert. Und deswegen werde ich auch etwas verändern. Ich werde mit Irene in die Toskana fahren. Morgen.

Geschichte 3

Noch mal richtig Gas geben!

Alexandra (58), Sachbearbeiterin, Braunschweig, geschieden, zwei Kinder

Vielleicht klingt es ja egoistisch, aber ich habe Kinder bekommen und war ein Leben lang für sie da, und irgendwie habe ich erwartet, dass sie im Alter auch für mich da sein werden. Natürlich habe ich nicht daran gedacht, dass sie kontinuierlich um mich herum sein werden, aber ich habe eigentlich schon damit gerechnet, sie wenigstens ein- bis zweimal im Monat zu sehen, mal mit meiner Tochter in ein Konzert oder eine Oper zu gehen oder von meinem Sohn zum Essen eingeladen zu werden.

Leider hat sich dann alles ganz anders entwickelt. Mein Sohn hat geheiratet, ist zu seiner Frau gezogen und lebt 800 Kilometer entfernt von mir. Meine Tochter macht Karriere, wohnt gerade mal 60 Kilometer weit weg, schafft es aber nicht, wenigstens einmal im Monat am Sonntag zum Kaffeetrinken zu kommen. »Versteh doch, Mama, ich arbeite die ganze Woche, da bin ich am Wochenende platt und liege meistens nur faul rum. Oder ich treffe Freunde, für die ich ja sonst auch keine Zeit habe, weil ich so viel arbeite.«

Tja. Bisher rief sie immerhin zum Muttertag an. Aber nicht mal das war in diesem Jahr drin. »Tut mir so leid, Mama, hab ich total verschwitzt. Wenn man nicht selbst Mutter ist, hat man dieses Datum eben nicht so im Kopf. Wir können ja mal nachfeiern.« Aha. Da saß ich also an meinem Ehrentag. Eigentlich kinderlos und allein.

Ich war inzwischen 55 Jahre alt und hatte noch viel Leben vor mir. Das ich aber, so wie es schien, allein verbringen würde. Auf meine Kinder jedenfalls konnte ich nicht zählen. So viel war mir inzwischen schmerzhaft klar geworden. Mein Mann hatte sich schon vor fünf Jahren aus dem Staub gemacht.

Mein 55. Geburtstag war eine Katastrophe. Vor meinem 50. hatte ich ja schon Panik gehabt, aber da ging es eigentlich nur darum, von »jung« zu »nicht mehr ganz so jung« zu wechseln, doch von 54 auf 55 heißt es dann, von »nicht mehr ganz so jung« zu »alt« zu wechseln. Wenn man auf einem Geburtstagskuchen 55 Kerzen anzündet, sind die ersten schon wieder abgebrannt, bevor die letzte an ist. Mein Sohn schickte einen Blumenstrauß, meine Tochter eine Karte: Hab dich lieb. Mir ging’s gar nicht gut. Ich verkroch mich, hatte mit dem Leben abgeschlossen, weinte viel, litt und fühlte mich unendlich alt und einsam.

Eines Tages kam ich zufällig an einer Fahrschule vorbei, die gerade Tag der offenen Tür hatte. Ich hatte nichts weiter vor, also ging ich rein, sah mich um und lief mit dem Prospekt Alles, was Sie über den Motorradführerschein wissen müssen wieder nach Hause. Ich glaube bis heute, dass der Tag der offenen Tür in der Fahrschule ein Wink des Schicksals war!

Jedenfalls entschloss ich mich bereits am nächsten Tag spontan dazu, den Motorradführerschein zu machen. Warum auch nicht? Eigentlich hatte ich das schon immer vor, doch früher hatte es meine Mutter nicht erlaubt und später ging mein Wunsch im Alltag unter, außerdem fehlte das Geld, und mein Mann wäre auch dagegen gewesen. Inzwischen war er seit fünf Jahren Geschichte, ich war geschieden, frei und über 50. Was hatte ich denn noch zu verlieren?

Also meldete ich mich an und ging zur ersten Unterrichtsstunde. Außer mir waren da hauptsächlich junge Burschen. Einer meinte frech: »In deinem Alter ist man doch nicht mit dem Motorrad, sondern mit dem Rollator unterwegs!« Im ersten Moment musste ich schon schlucken, denn er hatte ja gar nicht so unrecht. Aber dann meldete sich mein Widerspruchsgeist. »Für den Rollator brauche ich keinen Führerschein, für das Motorrad schon«, entgegnete ich. »Na dann!« Der Junge grinste anerkennend und hob den Daumen. Später erklärte er mir sogar, wie man Prüfungsfragen für den Motorradführerschein auch online lernen konnte. »Spart Geld«, meinte er dabei. »Deine Rente ist ja bestimmt auch nicht so üppig.« Ich arbeitete zwar noch halbtags und meine Rente war in weiter Ferne, aber für einen 19-Jährigen ist wahrscheinlich jeder über 40 ein Rentner.

Jedenfalls war nun erst mal Büffeln angesagt, es war ja schließlich schon ein halbes Leben her, dass ich meinen Führerschein gemacht hatte. Die Langeweile war fortan aus meinem Leben verschwunden. Was war ich stolz, als ich endlich meinen Schein in der Hand hielt! Für die Jungs aus meinem Kurs, die ich inzwischen alle ins Herz geschlossen hatte, gab ich eine Runde Freibier aus.

Ich kaufte mir eine kleine gebrauchte Honda CB500, eine Lederkluft aus zweiter Hand und düste durch die Gegend. Es war unfassbar schön, die Luft um die Nase wehen zu lassen und das Gefühl von Freiheit zu genießen! Wenn ich auf meinem Feuerofen saß, fühlte ich mich wie 15 und nicht wie 55. Als ich mich einigermaßen sicher fühlte, buchte ich Motorradtouren in die Berge. Motorradfahren ist ja ein Einzelsport, daher gab es in diesen Gruppen auch immer viele Singles oder Alleinfahrer, sodass ich nie das Gefühl hatte, ich wäre einsam.

Zu meinem 40. Geburtstag hatte ich einen Gutschein geschenkt bekommen: für einen Tandem-Fallschirmsprung. Ich traute mich nicht. Ich hatte einfach nicht den Mut dazu. Anderthalb Jahrzehnte hatte dieser Gutschein in einer Schublade ein einsames Dasein gefristet. Als ich eines Tages von einer besonders schönen Motorradtour zurückkam, nahm ich ihn aus der Schublade – warum, weiß ich gar nicht mehr so genau. Er schien quasi nach mir gerufen zu haben. Ich legte ihn auf den Tisch. Zwei Tage lang schlich ich um ihn herum. Angst hatte ich noch immer. Aber nicht mehr ganz so viel. Angst hatte ich ja auch vor der Motorradprüfung gehabt, und jetzt fuhr ich so einen heißen Ofen! Also, mach’s einfach!

Am dritten Tag rief ich dann den Flughafen an, der den Gutschein ausgestellt hatte. Die mussten erst mal stundenlang suchen, um ihn schließlich aus irgendeiner Mottenkiste hervorzukramen. »Jo«, meinte der Herr jovial. »Extrem knapp vor dem Verfall!«, erklärte er lachend.

Also gut. Ich sprach einen Termin für die nächste Woche ab. Die Nacht davor war ich so aufgeregt, dass ich nicht schlafen konnte. Millionen Horrorszenarien schossen durch meinen Kopf. Was war, wenn der Fallschirm riss, was, wenn wir in ein Luftloch gerieten, was, wenn morgen mein letzter Tag sein sollte … Sag doch einfach ab!, meldete sich mein innerer Schweinehund. Ist doch egal, wenn du’s nicht machst.

Nein, es war nicht egal. Ich wollte nichts mehr aufschieben. Mut zahlt sich aus, das wusste ich seit meinem Motorradführerschein. Auch den hätte ich nicht machen müssen, und nun freute ich mich jeden Tag darüber, dass ich ihn hatte.

Meine Knie zitterten gewaltig, als ich am nächsten Tag auf dem Flugplatz stand. Zum Glück war mein »Tandemmaster« im wahrsten Sinne des Wortes ein alter Hase, der es verstand, mich zu beruhigen. Nach einer kurzen Einweisung ging es ins Flugzeug. Im Steigflug nach oben. Ich glaube, mein Herz hat noch nie im Leben so wild und laut geklopft, nicht einmal, als ich zum ersten Mal verliebt war.

Als sich die Tür öffnete und das »Go!« kam, dachte ich, ich würde vor Aufregung sterben. Dann folgten 50 Sekunden mit 200 km/h im freien Fall Richtung Erde. Es war ein unbeschreibliches Gefühl. So unglaublich frei und unbeschwert! Es war, als würde meine Seele jubeln. Der freie Fall endete 1.500 Meter über der Erde, mein Master riss den Fallschirm auf und wir schwebten fünf Minuten lang dem Landeplatz entgegen. Durch den Rest des Tages taumelte ich mit einem unbeschreiblichen Glücksgefühl.

Diese unbeschreibliche innere Freiheit, die ich bei dem Sprung gefühlt hatte, aber auch immer wieder auf meinem Motorrad erlebte, ließ mich aufblühen. Auch äußerlich. Zum ersten Mal in meinem Leben trennte ich mich von meinem halblangen Bob, den ich getragen hatte, seit ich denken konnte. Ich legte mir einen lässigen kupferroten Kurzhaarschnitt zu. Meinen Kleiderschrank mistete ich aus. Röcke und Blusen kamen zur Altkleidersammlung. Es ist unglaublich, wie viele weitere die erste Veränderung in meinem Leben bewirkt hatte.

Der nächste Punkt auf meiner To-do-Liste war das Tauchen. Auch etwas, was ich immer schon wollte, aber nicht gewagt hatte. Aber jetzt! Jetzt war meine Zeit! Ich plante also gerade einen Tauchurlaub, als es klingelte. Meine Tochter stand vor der Tür und sah mich an, als hätte sie ein Gespenst gesehen.

»Wie siehst du denn aus?«, wunderte sie sich.

»Und du erst!«, gab ich zurück. Denn meine Tochter hatte einen kugelrunden Bauch, offensichtlich war sie hochschwanger.

Als wir uns beide an das veränderte Äußere des anderen gewöhnt hatten, machte ich uns einen Cappuccino – für sie ohne Koffein – und wir setzten uns auf die Terrasse. Gleich zu Beginn des Gesprächs offenbarte mir meine Tochter, dass sie gekommen war, um zu bleiben. Sie war im Mutterschutz, ihr Freund hatte sie verlassen, in ihrer stylishen Wohnung fühlte sie sich allein, und sie hatte sich gedacht, dass sie doch eigentlich zu mir ziehen könnte. Außerdem könnte ich ja dann auch auf das Baby aufpassen, denn sie wollte nach der Geburt so schnell wie möglich wieder arbeiten. Ich sei doch ohnehin zu Hause und da würde sie sich die Kosten für eine Kita sparen.

Als mir meine Tochter ihre Pläne offenbart hatte, war ich für einen Moment sprachlos. Wenn sie vor zwei Jahren mit dieser Idee gekommen wäre, dann wäre ich ihr sicher um den Hals gefallen und überglücklich gewesen. Nur zu gern hätte ich meine Tochter und mein Enkelkind um mich gehabt. Aber jetzt? Mein Leben hatte sich komplett verändert. Auf meine Honda passte kein Kindersitz. Tandemsprünge gibt es nicht mit der Enkeltochter im Schlepptau. Und bevor die Kleine nicht den Fahrtenschwimmer hatte, konnte ich sie auch keinesfalls mit zum Tauchen nehmen.

Ich bat mir einen Tag Bedenkzeit aus, was meine Tochter völlig konsterniert zur Kenntnis nahm. »Du hattest bis jetzt dein eigenes Leben, in dem du mich nicht gebraucht hast«, erklärte ich ihr. »Ich musste mich emanzipieren. Das war schwer genug.«

Ich erinnerte mich an meinen 55. Geburtstag, als ich dachte, mein Leben sei gelaufen. Heute war es spannender denn je. Und ich musste mir die Frage stellen: War ich bereit, meine neue Freiheit wieder aufzugeben? Und wenn ich ganz ehrlich zu mir war, lautete die Antwort: Nein.

Am nächsten Morgen beim Frühstück sprach ich mit meiner Tochter darüber. Ich erklärte ihr, dass ich immer für sie da sein würde, aber dass ich nun auch mein eigenes Leben haben wollte. Zuerst weinte sie bittere Tränen, doch irgendwann verstand sie mich.