Über allem bleibt die Freude - Janette Oke - E-Book

Über allem bleibt die Freude E-Book

Janette Oke

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Beschreibung

Endlich ist der langersehnte Tag gekommen: Nach einer anstrengenden Reise feiern Marty und Clark ein Wiedersehen mit ihrer Tochter Missie und deren Mann Willie und lernen ihre beiden Enkel kennen. Doch schon bald fällt ein dunkler Schatten auf die ungetrübte Freude: Als Clark bei der Bergung verschütteter Kinder in einem alten Bergwerk selbst verunglückt, beginnt ein verzweifelter Wettlauf mit der Zeit … Teil 4 der beliebten Siedler-Serie von Janette Oke.

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Seitenzahl: 321

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über die Autorin

Janette Oke wurde 1935 auf einer Farm in Alberta, Kanada, geboren. Sie ist Mutter von vier erwachsenen Kindern. Mit ihrem Ehemann Edward wohnt sie in Alberta, nahe der Farm ihrer Eltern, die zu einem Museum umgerüstet wurde.

Janette Oke

Über allem bleibt die Freude

Die Siedlerserie, Band 4Aus dem Amerikanischen von Beate Peter

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.Die amerikanische Originalausgabe erschien im Verlag Bethany House Publishers unter dem Titel „Love’s Abiding Joy“ (© 1983 by Janette Oke)

© der deutschen Ausgabe 1984 Gerth Medien

in der SCM Verlagsgruppe GmbH

Berliner Ring 62, 35576 WetzlarErschienen im Oktober 2025

ISBN 978-3-96122-711-2Umschlaggestaltung: Gert Wagner unter Verwendung bildgebender Generatoren

Erstellung E-Book: Uhl + Massopust, Aalenwww.gerth.de

Der erste Gratulant

„Morgen, Schatz!“

Marty blinzelte in den Tag hinein. Da stand er über sie gebeugt, ihr Clark, und lächelte sie an. Eigentlich weckte er sie doch sonst nicht, bevor er in den Stall ging, dachte sie verwundert. Was war denn nur los?

„Alles Gute zum Geburtstag!“

Ach, natürlich! Heute war ja ihr Geburtstag, und Clark ließ es sich in keinem Jahr nehmen, ihr erster Gratulant zu sein. Marty zog die Decke ans Kinn und räkelte sich wohlig. Clarks Lächeln war aber auch unwiderstehlich!

„So, und da reißt du mich aus meinem kostbaren Schlummer – bloß weil ich schon wieder ein Jahr älter geworden bin?!“ Sie bemühte sich um eine finstere Miene, doch um ihre Mundwinkel zuckte es verräterisch.

„Ich weiß gar nicht, was du hast, Schatz. Das Älterwerden ist doch ’ne feine Sache – jedenfalls hundert Mal besser, als nicht älter zu werden, meinst du nicht auch?“, neckte er sie.

Marty lächelte ergeben. Mit dem Schlafen war es nun endgültig aus.

„Weißt du“, sagte sie dann und fuhr Clark zärtlich über den Schopf, „ich mache mir diesmal wirklich nichts daraus. Ich fühle mich kein bisschen älter als gestern oder vorgestern. Ein bisschen unausgeschlafen vielleicht“ – sie warf ihm einen verschmitzten Seitenblick zu –, „aber alt eigentlich gar nicht.“

Clark lachte.

„Manche Leute fangen ja im Alter zu nörgeln an …“ Er ließ den Satz im Raum stehen, doch nur, um ihm mit einem Kuss auf Martys Nasenspitze jede Schärfe zu nehmen.

„So, jetzt wird’s aber höchste Zeit. Die Kühe warten bestimmt schon! Dreh dich doch nur zur Wand und schlaf noch schnell eine Mütze voll, ja? Ich richte uns heute mal das Frühstück, ganz ausnahmsweise.“

„Untersteh dich!“, protestierte Marty. „Wenn ich an das Schlachtfeld denke, das du mir hinterlassen würdest, wird mir ja angst und bange!“

Clark schmunzelte nur und zog die Tür hinter sich zu. Marty streckte sich behaglich unter ihrer warmen Steppdecke aus. Beeilen würde sie sich mit dem Aufstehen nicht, aber wenn Clark von der Stallarbeit zurückkam, sollte er das Frühstück fix und fertig auf dem Tisch vorfinden.

„Heute ist also mein Geburtstag“, sann sie vor sich hin. „Komisch, älter fühl ich mich wirklich nicht, aber ein bisschen merkwürdig kommt’s mir schon vor: zweiundvierzig!“ Sie sagte die Zahl laut und gedehnt wie ein Fremdwort aus der Lesefibel. Nun, eigentlich war doch gar nichts dabei, zweiundvierzig zu werden. Da war der dreißigste Geburtstag schon härter gewesen – und der vierzigste erst! Wie hatte sie sich nur gesträubt, vier ganze Jahrzehnte alt zu werden! Mit vierzig gehört man doch schon zum alten Eisen, hatte sie immer geglaubt. Und heute zählte sie nun sage und schreibe zweiundvierzig Lenze und fühlte sich noch kein bisschen abgekämpft oder verbraucht.

„Nun gut, zweiundvierzig also“, sagte sie sich ein letztes Mal, um stattdessen lieber an den Festtag zu denken, der vor ihr lag. An jedem Geburtstag in diesem Haus wurde die Familienfeier ganz groß geschrieben. Sie freute sich von Herzen darauf, ihre Lieben so vollzählig wie möglich um sich zu haben. Als die Kinder noch kleiner waren, hatte sie für jedes die Geburtstagstorte gebacken und die Geschenke eingepackt. Jetzt, wo sie schon größer waren, durfte sie selbst auch einmal an ihrem Ehrentag im Mittelpunkt stehen. Voriges Jahr hatte Nandry das große Geburtstagsessen für sie zubereitet, hatte Cathy ihre Mutter erinnert. Marty wusste es selbst nicht mehr genau zu sagen. Die Jahre verschmolzen in ihrer Erinnerung immer mehr – aber ja, wenn sie es sich genau überlegte, musste sie Cathy recht geben.

Heute war Samstag, weshalb das Festessen auch um die Mittagszeit anstatt abends aufgetragen werden sollte. Marty war es nur recht so. Samstags hatte man mehr Zeit füreinander; wochentags blieben zwischen der Rückkehr der Kinder aus der Schule, dem Melken und den anderen Stallarbeiten nur ein paar Minuten für das fröhliche Beisammensein. Heute würden sie den ganzen Nachmittag mit ihren Kindern und Enkeln an der gedeckten Kaffeetafel verbringen.

Marty lächelte voller Vorfreude. Jetzt war sie hellwach. Sie schlug die Decke zurück, streckte die Arme und Beine noch einmal kräftig und trat ans Fenster. Welch ein herrlicher Tag! Die ganze Welt war wie frisch gewaschen und blitzblank nach dem Regenguss von gestern Abend. Die Morgensonne lachte von dem klaren Junihimmel. In der Luft lag noch ein letzter Hauch von Frühling, doch die ersten Sommerblumen vor dem Haus wussten es besser. Marty liebte den Juni. Mit ihrem Geburtstag hätte sie gar keinen schöneren Monat treffen können, dachte sie amüsiert.

Dann wanderten ihre Gedanken zu ihren Kindern. Nandry … ach, ihre Nandry! Vier Sprösslinge nannte Nandry schon ihr Eigen, und sie war ihnen eine prächtige Mutter. Josh neckte sie hin und wieder: „Du, im Dutzend wird’s billiger!“, und Nandry protestierte nicht einmal dagegen. Ja, Nandry, ihre Adoptivtochter, wäre der Stolz ihrer leiblichen Mutter gewesen, genau wie ihre Schwester Cathy, Martys zweites Pflegekind. Auch Cathy und ihr Mann Joe hatten ein Herz für Kinder, aber Marty spürte ihr ab, dass sie die Größe ihrer Familie vorläufig am liebsten in Grenzen sah. Joe, der Pastor am Ort, träumte noch immer von einer richtigen Ausbildung an einem Predigerseminar, und das war leider eine kostspielige Angelegenheit. Marty und Clark steuerten hin und wieder einen kleinen Betrag zu den Ersparnissen bei, die für das Seminar bestimmt waren. Marty wünschte sich mit den beiden jungen Leuten, dass aus dem Traum recht bald Wirklichkeit werden konnte. Joe und Cathy hatten ein kleines Mädchen namens Esther Sue.

Bei dem Gedanken an ihre dritte Tochter erstarb ihr das Lächeln auf dem Gesicht. Wie schwer war ihr doch der Abschied von ihrer Missie gefallen! Sie hatte gehofft, die Trennung würde mit den Jahren leichter zu ertragen sein, doch so war es nicht. Mit jeder Faser ihres Herzens sehnte sie sich nach Missie.

Ach, könnte ich doch nur mal schnell auf einen Sprung zu ihr hineinschauen, dachte sie wohl zum hundertsten Mal, nur für ein paar Minuten! Wenn ich sie doch nur wiedersehen und ihre Kinder herzen könnte! Ich weiß ja nicht einmal, ob es ihr überhaupt gut geht! Das Herz wurde ihr schwer. Viele, viele „Tagereisen trennten sie von ihrer geliebten Missie. Seltsam, sann sie, wie man sich nach einer Tochter sehnen kann, die doch das Fleisch und Blut einer anderen Frau ist. Missies leibliche Mutter hatte Ellen geheißen, doch Marty hatte dieses kleine elfenhafte Wesen von Anfang an wie ihr eigenes Kind geliebt.

„Du ahnst ja gar nicht, wie sehr du mir fehlst, mein kleiner Sonnenschein!“, flüsterte sie und eine Träne tropfte schwer auf das Fensterbrett. „Wenn ich doch nur …“

Marty fasste sich wieder. Unten im Hof sah sie Luke und Arnie von der Scheune kommen. Aus den beiden Brüdern waren nun schon erwachsene Männer geworden – aber sie hatten es wie eh und je faustdick hinter den Ohren! Wer nicht wusste, dass Marty damals ihren ersten Mann verloren hatte, der wunderte sich über das völlig unterschiedliche Erscheinungsbild der beiden. Luke wurde seinem Vater Clem von Tag zu Tag ähnlicher, kräftig, muskulös und ständig zu einem Streich aufgelegt. Arnie wirkte dagegen eher feingliedrig, dunkel und sensibel wie sein Vater Clark. Die beiden Brüder waren unzertrennlich. Bald hörte man sie herzlich lachen, bald rauften sie miteinander, und dann wieder trieben sie allerlei Schabernack. Auf dem Weg zum Gutshaus erzählte Luke, der Gesprächigere der beiden, seinem Bruder gerade eine lustige Begebenheit, die sich gestern bei einer Gesellschaft auf dem Nachbarhof zugetragen hatte. Arnie machte sich nicht viel aus Tanztees und dergleichen, während Luke sich keine Party unter den jungen Leuten der Umgebung entgehen ließ. Er wollte sich geradezu ausschütten vor Lachen, und auch Arnie schmunzelte ein wenig, doch Marty hörte ihn sagen: „Mensch, der arme Lou! In dessen Haut hätt ich aber nicht stecken mögen! So was Peinliches!“ Luke schien dagegen wenig Mitgefühl für den unglückseligen Lou aufzubringen. Er hatte seinem Bruder die Geschichte genüsslich in allen Einzelheiten geschildert.

Marty wandte sich seufzend und lächelnd zugleich um und begann sich anzukleiden. Mit dem Frühstück hatte es noch Zeit; ihre Jungs hatten erst noch die Kühe zu melken, bevor sie sich unten um den Tisch versammeln würden.

Marty fuhr sich mit dem Kamm durch das lange, seidig glänzende Haar. Geschmeidig und voll fiel es auf ihre Schultern herab, nicht wie das strähnige, ausgedünnte Haar älterer Frauen. Nein, an ihrem jugendlich schimmernden Haar konnte niemand ihr Alter ablesen. Bisher hatte sich keine einzige verräterische Silbersträhne eingestellt. Clarks Schopf war dagegen mit Grau geradezu übersät, besonders an den Schläfen. An ihm wirkte es aber eher männlich und interessant, fand sie. Seinem guten Aussehen tat es jedenfalls keinen Abbruch – ganz im Gegenteil!

Nachdenklich steckte Marty ihr Haar zusammen. Ein Geburtstag war ihr immer ein willkommener Anlass zu einem besinnlichen Rückblick. Schließlich machte sie das Bett, schaffte ein wenig Ordnung im Schlafzimmer und machte sich auf den Weg nach unten.

Im Flur begrüßte sie der Duft frischen Kaffees.

„Clark wird doch nicht etwa seine Drohung wahrgemacht haben!“ war ihr erster Gedanke. Aber das war ja nicht möglich; sie hatte ihn doch gerade zum Futterspeicher gehen sehen. Sie blieb stehen und schnupperte noch einmal. Kein Zweifel: frischer Kaffee! Dazu lag jetzt eindeutig der Duft von gebratenem Speck und Frühstückshörnchen in der Luft. Marty steuerte neugierig auf die Küche zu.

„Oooch, Mama …, es sollte doch eine Überraschung sein!“

Es war Ellie.

„Liebe Güte, Kind“, lachte Marty, „die Überraschung ist dir voll und ganz gelungen! Hier sind ja die Heinzelmännchen in aller Frühe am Werk gewesen!“

Ellie lächelte zurück.

„Larry wollte es dir eigentlich ans Bett bringen, aber bis dahin wärst du uns sicher längst auf die Schliche gekommen. Da hab ich gedacht, wenigstens sollst du alles fix und fertig in der Küche vorfinden.“

Marty musterte den Tisch. Auf einem frischen, blütenweißen Tischtuch glänzte das Sonntagsgeschirr; Teller, Tassen und Besteck waren auf das Sorgfältigste vor jedem Platz zurechtgelegt. Die Tischmitte schmückte ein Strauß wilder Rosen.

„Mir scheint, du hast das Essen tatsächlich so gut wie fertig. Und wie hübsch du alles gerichtet hast! Ich glaube, an den Rosen werde ich mich so satt sehen, dass ich darüber mein Frühstück ganz vergesse!“

Ellies Wangen röteten sich vor Freude über das Lob. „Larry hat sie hinter der Weide gepflückt.“

Marty beugte sich über eine der Rosen und sog den süßen Duft ein. Sie konnte sich kein schöneres Geburtstagsgeschenk als diesen Rosenstrauß vorstellen. Jede einzelne Blüte war ein bildhafter Ausdruck für die Liebe ihrer Familie zu ihr.

„Wo steckt Larry denn jetzt?“, wollte sie wissen, als sie sich wieder aufgerichtet hatte.

„Hm, das darf ich dir nun wirklich nicht verraten“, meinte Ellie, „aber weit weg ist er nicht, und zum Frühstück ist er ganz bestimmt zurück. Möchtest du schon mal eine Tasse Kaffee vorweg?“

„Keine schlechte Idee.“ Marty schmunzelte. Das Geburtstagskind wurde heute aber auch nach Strich und Faden verwöhnt!

Ellie brachte ihrer Mutter eine dampfende Tasse Kaffee, um dann wieder nach dem Essen auf dem Herd zu sehen. Über den Tassenrand hinweg beobachtete Marty, wie ihre Jüngste am Herd wirtschaftete. Liebe Güte, aus den Kinderschuhen war Ellie wahrhaftig herausgewachsen. Sie war ja schon beinahe eine junge Dame! Wer weiß, wie bald sie an ihrem eigenen Herd stehen würde! Der Gedanke daran, dass auch Ellie eines Tages flügge werden würde, machte Marty das Herz schwer. Nein, noch eine Tochter wollte sie nicht hergeben – nicht ihre Jüngste! Wie einsam ihr die Küche erscheinen würde, wenn das letzte Mädchen auch das Haus verlassen hatte! Bei Ellie hatte sie Trost und Gesellschaft gefunden, nachdem Missie von daheim ausgezogen war. Was sollte sie nur ohne ihre Ellie tun? Vor ein paar Tagen hatte Ma Graham noch im Scherz zu ihr gesagt, dass aus Ellie eine umschwärmte Dorfschönheit zu werden drohte. Marty war sich längst dessen bewusst, dass Ellies Kindertage gezählt waren – aber insgeheim hatte sie gehofft, dass das vorerst noch ein Geheimnis blieb. Wenn die jungen Burschen am Ort sich nämlich erst einmal zum Stelldichein mit ihr verabredeten, gab es kein Zurück mehr. In Scharen würden sie in der Wohnstube sitzen und um die Wette Süßholz raspeln, und einem von ihnen würde es dann schon gelingen, ihre Ellie im Sturm zu erobern. Eine Träne wollte sich von ihrem Wimpernrand lösen, als die Männer aus dem Stall wieder ins Haus kamen, Luke allen voraus.

„Du, Ma“, rief er ihr schon von der Tür aus zu, „so antik siehst du eigentlich gar nicht aus, wenn man bedenkt …“ Er unterbrach sich und fing schallend an zu lachen.

Arnie warf seiner Mutter einen betretenen Blick zu.

„Hör mal, Luke, deine Scherze finde ich manchmal gar nicht komisch!“, wies er seinen Bruder zurecht“, doch dieser versetzte ihm einen gutmütigen Klaps auf die Schulter.

„Ma, dieser Arnie ist dir aber schwer missglückt. Bei dem ist das Lachen ja in den Kniekehlen eingerostet. Ungesund ist so was!“

Dann machte er seine Schwester zur Zielscheibe seiner Späße.

„Na, Frau Wirtin, hier duftet’s ja immer noch ganz passabel. Wann ist’s denn so weit mit dem Anbrennen?“

Ellie lachte nur. Luke neckte sie den lieben langen Tag, und sie wusste, dass er es im Grunde gut mit ihr meinte. Außerdem besaß ihr ältester Bruder ihre ganz mädchenhafte Bewunderung, und auch er hing an ihr. Luke fuhr ihr mit seiner kräftigen Rechten durchs Haar und beeilte sich dann, sich vor dem Frühstück zu waschen. Ellie bemühte sich, ihre losen Haarsträhnen wieder zu ordnen, bevor sie die Rühreier auf den Tisch trug.

Arnie, der geduldig darauf wartete, dass das Spülbecken frei wurde, ging schließlich auf seine Mutter zu.

„Alles Gute zum Geburtstag, Ma!“, sagte er und legte seine Hand auf ihre Schulter.

„Dank dir, mein Sohn. Hat ja schon vielversprechend angefangen.“

„Bis jetzt vielleicht, aber bald geht’s ja los zu Cathy. Mensch, Nandrys Kinder werden von Tag zu Tag wilder. ,Onkel Arnie, nimm mich huckepack!‘ – ,Onkel Arnie, heb mich auch mal hoch!‘ – ,Onkel Arnie, jetzt bin ich aber dran!‘ Onkel Arnie dies, Onkel Arnie das. So geht’s doch jedesmal, wenn wir zu Besuch kommen.“

„Nun, beklagt hast du dich eigentlich noch nie über so viel Anhänglichkeit!“, meldete Ellie sich vom Herd her.

Arnie ließ es bei einem Lächeln bewenden. Marty musste Ellie recht geben: Arnie mochte Kinder tatsächlich gern.

Im nächsten Moment kam auch Clark schon herein, trocknete sich die Hände und sah in die Runde.

„Mir scheint, wir sind fast vollzählig“, bemerkte er. „Ihr habt doch nicht extra auf mich gewartet, oder?“

„Gewartet? Wir haben schon gedacht, du hättest dich draußen verlaufen, Pa!“, sagte Luke mit einem Augenzwinkern, rollte das grob gewebte Handtuch zu einer Schlinge und ließ es durch die Luft pfeifen.

„Die Jungs sind auch gerade erst reingekommen, Pa“, erklärte Ellie ihrem Vater. „Lass dir nur keinen Bären aufbinden!“

Die Männer setzten sich an den Tisch und auch Marty rückte sich ihren Stuhl zurecht. Ellie trug die Schüssel mit dem Schinkenspeck auf. Erst jetzt bemerkte Marty den leeren Platz.

„Larry!“, rief sie erstaunt. „Er ist ja immer noch nicht da!“

„Der schläft bestimmt noch süß und selig, diese Schlafmütze!“, vermutete Luke.

„Ich glaube, in ein paar Minuten wird er kommen“, gab Ellie zurück. „Am besten fangen wir schon mal ohne ihn an.“

„Aber …“ wollte Marty protestieren, als sie die Haustür schlagen hörte und ein zerzauster, von der Eile rotwangiger Larry die Küche betrat. Beim Anblick ihres Jüngsten machte Martys Herz unwillkürlich einen Freudensprung. Er war der Sanfte, der Schlichter und Träumer der Familie. Mit seinen fünfzehn Jahren war er schmaler als seine Brüder. Seine dunklen Augen verrieten etwas von der Tiefe seines Empfindens für andere.

„Entschuldigt“, sagte Larry und rutschte schnell auf seinen Stuhl.

Clark nickte ihm nur zu, doch in dieser Geste lag keine Spur des Vorwurfs.

„Möchtest du dir auch eben die Hände waschen?“, fragte er.

„Das mach ich lieber nach dem Beten, damit euch das Essen nicht kalt wird.“

„Das Essen kann warten, mein Junge. Wasch dich nur schnell!“

Larry sprang auf und lief an das Spülbecken. Unterwegs warf er einen kritischen Blick auf seine Hände. Sie waren geradezu übersät mit roten Flecken.

Als er wieder auf seinem Platz saß, schlug Clark die Familienbibel auf, um den Tagesabschnitt daraus vorzulesen und das Morgengebet zu sprechen. Heute dankte er seinem Gott dabei besonders für die Frau an seiner Seite, die seinen Kindern all die Jahre hindurch eine gute Mutter gewesen war. Dann erbat er Gottes reichen Segen für Martys neues Lebensjahr. Marty wurde an ein ähnliches Gebet erinnert, das er vor vielen Jahren gesprochen hatte. Damals war sie todunglücklich und am Rande ihrer Kräfte gewesen. Als junge Witwe war sie nur widerwillig Clarks Frau geworden – und er hatte Gott um seinen Segen für sie gebeten. Wie wunderbar hatte doch Gott dieses Gebet erhört! Sie hatte seine Nähe, seine Freundlichkeit und seinen Segen über die Jahre hinweg erfahren, und sie war von Herzen dankbar dafür.

Nach der kleinen Andacht wurde es lebendig in der Tischrunde. Luke warf Larry zwischen zwei Bissen einen Blick zu.

„Na, Brüderchen, was hast du denn schon so früh am Morgen getrieben?“

Larry wand sich verlegen auf seinem Stuhl.

„Ach, eigentlich wollt ich ein paar Geburtstagserdbeeren für Ma pflücken, aber damit hab ich Pech gehabt. Die Dinger sind noch so winzig und unreif, dass ich bloß ’ne halbe Tasse voll gefunden hab.“ Damit reichte er seiner Mutter die Blechtasse mit der kärglichen Ausbeute.

Marty schluckte. Wieder wollten ihr die Tränen kommen. Da war ihr kleiner Langschläfer doch tatsächlich für ihre Geburtstagserdbeeren so früh aufgestanden! Vor Jahren hatte Missie diesen Brauch eingeführt; „Mamas Geburtstags-Frühstückserdbeeren“ hatte sie es damals genannt. Nachdem Missie das Haus verlassen hatte, hatten ihre Geschwister gemeinsam die Tradition fortgesetzt, doch mit dem Umbruch des Erdbeerbeets hinter dem Haus waren die Geburtstagserdbeeren schnell in Vergessenheit geraten. Und heute hatte ihr Jüngster sich alle Mühe gegeben, ihr mit einer Tasse wilder Erdbeeren eine Freude zu machen!

Luke fuhr seinem kleinen Bruder anerkennend über das Haar. „Bist schwer in Ordnung, Junge!“, sagte er mit seinen Augen; sprechen konnte er nicht, denn sein Mund war gerade viel zu beschäftigt mit Ellies frischen Frühstückshörnchen.

„Mensch, hättest mir doch Bescheid sagen sollen!“, flüsterte Arnie. „Ich wäre mitgegangen und hätte dir pflücken geholfen!“

Marty seufzte unhörbar. Hier saß sie nun am festlich gedeckten Frühstückstisch, inmitten der vier Kinder, die ihr noch geblieben waren, und das Herz strömte ihr über vor Dankbarkeit. Heimlich wischte sie sich eine Freudenträne aus dem Augenwinkel.

Eine große Überraschung

„Meine liebe Cathy, mit dem Essen hast du dich mal wieder selbst übertroffen!“, lobte Marty und wischte sich die letzten Kuchenkrümel vom Rock. Luke hielt sich nur den Bauch und verdrehte genießerisch die Augen, und Josh lachte.

Kaum waren die Teller abgeräumt, als der gesellige Teil des Beisammenseins begann. Plötzlich hatte jedermann, selbst die Kinder, etwas ungeheuer Wichtiges zu erzählen, bis Clark schließlich die Hände hob, um dem Stimmengewirr Einhalt zu gebieten.

„Sachte, sachte, ihr Rasselbande!“, lachte er. „Bei diesem Lärm versteht man ja sein eigenes Wort nicht mehr! Wie wär’s, wenn wir ein bisschen Ordnung in die Sache brächten?“

Tina, Nandrys Älteste, kicherte.

„Wie stellst du dir das denn vor, Opa: Ordnung beim

Familienklatsch?“

„Darf ich jetzt aufstehen?“, bettelte ihr Bruder Andrew. „Ich will endlich mit Onkel Arnie …“

„Momentchen mal, junger Mann!“, fiel Cathy ihm ins Wort. „Bevor wir uns in alle Winde verstreuen, müssten wir Oma doch wenigstens ihre Geschenke auspacken lassen, oder?“

„Au fein! Prima!“, riefen die Kinder durcheinander und klatschten vor Vergnügen in die Hände. Geschenke waren eine aufregende Angelegenheit, selbst wenn sie für jemand anders bestimmt waren.

Ein Sessel für Marty wurde herbeigeholt und das Überreichen der Gaben konnte beginnen. Die Kinder hatten allerlei Hübsches für ihre Großmutter gebastelt und gemalt. Tina hatte ein Taschentuch umhäkelt. Nandry und Cathy brachen in helles Gelächter aus, als sie entdeckten, dass jede ihre Mutter mit einer neuen Schürze überrascht hatte. Luke und Arnie hatten gemeinsam eine neue Teekanne gekauft.

„Jetzt kannst du die Kanne mit dem Sprung endlich ausmustern“, erklärten sie. Ellie hatte eine Porzellanbrosche für ihre Mutter ausgesucht. Marty vermutete insgeheim, dass Clark zum großen Teil den Kaufpreis des hübschen Stückes bestritten hatte.

Als Letztes der Kinder war Larry an der Reihe. Er schaute ein wenig unsicher drein, als er sich erhob und auf seine Mutter zuging.

„Ich hab überhaupt nichts dafür ausgegeben“, murmelte er verlegen, als er sein Geschenk überreichte.

„Du weißt doch, mein Junge, dass bei einem Geschenk der gute Wille mehr zählt als der Preis“, versicherte sie ihm. Nun war ihre Neugier geweckt.

„Ja, das sagst du immer, aber …, aber andere Leute sagen, ein Geschenk müsse etwas kosten.“

Clark begriff, wo Larry der Schuh drückte.

„Hör mal, mein Sohn“, sagte er, „ein Geschenk misst man nicht in Dollar und Cent. Wenn du ein Stück von dir selbst schenkst, dann ist das mehr wert als eine ganze Tasche voller Geldscheine!“

Larry schien beruhigt. Er schob Marty sein unbeholfen verschnürtes Paket auf den Schoß.

„Die hast du so gern gehabt, Ma, und da dachte ich …“

Mit einem linkischen Achselzucken trat er einen Schritt zurück, damit sie ihr Geschenk auspacken konnte.

Das in braunes Packpapier eingewickelte Etwas war unförmig und schwer. Was es nur sein mochte? Marty konnte es kaum erwarten, es von der groben, zerknitterten Verpackung zu befreien. Endlich fiel das Papier zu Boden – und in ihren Händen hielt sie zwei kleine Heidesträucher samt Wurzelballen und einer Handvoll Mutterboden. Marty erkannte die Pflanzenart auf den ersten Blick. Bei einem Familienausflug in die Berge hatte sie sich an dem rubinroten Blütenkleid dieser Sträucher gefreut. Bei dem Gedanken an die rote Pracht in ihrem eigenen Vorgarten schlug ihr Herz schneller.

„Meinst du, die werden auch hier anwachsen, Pa?“, erkundigte sich Larry besorgt. „Ich hab so doll aufgepasst beim Ausgraben, dass ich die Wurzeln nicht …“

„Da mach dir nur keine Sorgen!“, beruhigte ihn Clark. „Wir pflanzen sie so naturgemäß wie möglich wieder ein.“ Und leise, wie zu sich selbst, fuhr er fort: „Und wenn ich eine ganze Wagenladung Muttererde aus den Bergen holen muss!“

Jetzt konnte Marty die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ihr kleiner Larry! Für diese zwei Sträucher hatte er den weiten Weg in die Berge und eine beträchtliche Anstrengung nicht gescheut. Nun trat er verlegen von einem Fuß auf den anderen mit der stummen Bitte im Blick, sein sonderbar anmutendes Geschenk nicht zu belächeln. Marty zog ihn an sich und umarmte ihn kurz. Ihr Jüngster ließ es geschehen und setzte sich dann strahlend wieder auf seinen Platz.

„Danke, mein Junge! Ich freue mich ja schon so auf die Blütenpracht!“, hatte sie ihm zugeflüstert, und er wusste, dass ihre Freude aufrichtig war.

Schließlich richteten sich alle Augen auf Clark. Es war im Laufe der Jahre Brauch geworden, dass ihm bei Familienanlässen dieser Art das letzte Wort vorbehalten war. Clark räusperte sich und stand auf.

„Also, so hübsch anzusehen wie die anderen Sachen hier ist mein Geschenk nicht. Blüten wird’s wohl auch nie tragen – aber ich hab’s mit Liebe ausgesucht, und ich hoffe, dass es dir gefällt, mein Schatz. Hier, bitte schön!“

Damit reichte er Marty einen einfachen braunen Briefumschlag. Sie drehte ihn in den Händen hin und her. Er war völlig unbeschriftet. Kein einziger Hinweis, der ihr den Inhalt des rätselhaften Briefes verraten hätte.

„Mach ihn schon auf, Omi!“, drängte eine helle Kinderstimme. Die anderen schlossen sich an.

Erwartungsvoll öffnete Marty den Umschlag. Zwei Notizzettel fielen ihr in den Schoß. Sie trugen Clarks Handschrift. Marty nahm einen davon und las vor: „Vorher führe ich dich natürlich zum Großeinkauf aus. Du wirst sicher neue Sachen brauchen.“

„Du hättest den anderen Zettel zuerst lesen sollen“, antwortete Clark ihrem fragenden Blick.

Marty griff nach dem zweiten Zettel.

„Gutschrift für eine Eisenbahnreise zu Missie. Wir fahren …“

Eine Eisenbahnreise zu Missie! Marty konnte ihr Glück kaum fassen. Wie sehr hatte sie sich nach ihrer geliebten Tochter draußen im fernen Westen gesehnt – und nun sollte sie sie bald wiedersehen!

„O Clark!“ Mehr brachte sie nicht hervor. Dann lag sie ihm auch schon in den Armen und schluchzte vor Freude.

Endlich hatte sie ihre Fassung wiedergewonnen und löste sich aus Clarks Umarmung. Mit einem unbeholfenen Lächeln auf den Lippen wandte sie sich nun an die ganze Familie.

„Ich glaube, auf den Schreck muss ich mir draußen erst mal die Beine vertreten. Und dann setzen wir uns gemütlich zusammen und bereden die Sache gründlich!“

Um nicht aufs Neue in Tränen auszubrechen, hastete sie aus der kleinen Wohnküche hinaus in den sonnigen Juninachmittag.

Ziellos wanderte sie in Cathys Garten auf und ab. Zu Hause zog es sie, wenn sie einmal für sich sein wollte, stets an die Baumgruppe am Bach. Nun, der Schatten unter Cathys Apfelbäumen würde ihr heute genügen müssen, um Ordnung in ihren wirren Kopf zu bringen.

Sie sollte also ihre Missie besuchen! An Clarks Seite würde sie die lange Strecke mit der Eisenbahn zurücklegen. Anstatt mehrere Wochen im Planwagen bei Wind und Wetter zubringen zu müssen, würden sie in einem plüschgepolsterten Eisenbahnabteil reisen, und beim Puffen der Lokomotive und dem Rattern der Räder würden die Meilen nur so vorüberfliegen! Kamm konnte sie die Zeit abwarten, bis die Reise losging. Clarks Zettel hielt sie noch immer in der Hand. „Gutschein für eine Eisenbahnreise zu Missie“, las sie. „Wir fahren ab, sobald du reisefertig bist. In Liebe, Dein Clark.“

„Sobald sie reisefertig war! Liebe Güte, sie hatte ja noch tausend Dinge zu besorgen! Schon allein ihre Garderobe – sie würde sich völlig neu einkleiden müssen. In ihrem blauen Hut konnte sie sich in feiner Gesellschaft wirklich nicht mehr sehen lassen, und ihr bestes Kleid hatte einen hässlichen Riss am Saum, der trotz aller Flickkünste nicht zu übersehen war. Wie um alles in der Welt sollte sie nur … ? Aber halt, da war ja noch Clarks zweite Überraschung: „Vorher führe ich dich natürlich zum Großeinkauf aus.“Marty seufzte erleichtert auf. Clark hatte aber auch an alles gedacht!

Entschlossen machte sie sich wieder auf den Weg in Cathys Küche. Sie musste unbedingt mit den Mädchen sprechen. In Sachen Mode waren sie ja weitaus besser auf dem Laufenden als sie selbst und kannten sich auch in den Geschäften in den umliegenden Orten aus. Sie würden schon wissen, was sie auf ihre Einkaufsliste schreiben musste und mit welcher Kutsche die anderen Ortschaften zu erreichen waren.

„Ach du liebe Güte“, murmelte sie überwältigt, „jetzt hab ich aber alle Hände voll zu tun. Wie soll ich das nur alles schaffen?“

Reisevorbereitungen

In den folgenden Tagen war Marty mit ihren Besorgungen für die große Reise vollauf in Anspruch genommen. Nandry und Cathy begleiteten sie zu einer Einkaufsfahrt in die Stadt, wo sie verschiedene Kleiderstoffe auswählten. Dann brüteten sie gemeinsam über den Entwürfen, die Cathy nach der neuesten Mode gezeichnet hatte.

Nach reiflicher Überlegung kamen sie zu dem Schluss, dass ein gründlicher Einkaufsbummel in der Großstadt unumgänglich war, wenn Marty für ihre große Reise gekleidet sein sollte. Doch würde ihr zu einem solchen Ausflug überhaupt noch Zeit bleiben? Eine passable Garderobe war zwar wichtig, aber daneben gab es noch unzählige andere Dinge, die erledigt werden mussten. Da waren zum Beispiel Lukes Heiratsabsichten. Bisher hatten die beiden jungen Leute noch kein Hochzeitsdatum festgelegt, doch Marty wäre erheblich leichter ums Herz, wenn sie vor der Reise noch Klarheit darüber gehabt hätte. Andererseits wollte sie das Paar auch nicht drängen, und so ließ sie es bei einem sachten Hinweis Luke gegenüber bewenden. Der angehende Bräutigam nickte verständnisvoll und versprach, die Frage so bald wie möglich mit seiner Auserwählten zu klären.

Auch das Kofferpacken bereitete Marty Kopfzerbrechen. Mit jedem Tag kamen ihr mehr Gegenstände in den Sinn, die Missie und Willie bestimmt dringend brauchten. Wie viel Hausrat würde sie wohl zum Transport ansammeln können, bis Clark – oder der Bedienstete der Eisenbahngesellschaft – kritisch die Brauen hob? Seufzend nahm sie sich vor, ihre Auswahl auf das Allernotwendigste zu beschränken.

Dazu sollte sie sich nun bald zu einem Abreisetermin entschließen. Clark hatte wichtige Angelegenheiten bezüglich der Farm zu regeln und wartete darauf, dass Marty einen Zeitraum für die Reise festlegte. Marty wiederum war sich nicht sicher, ob es besser wäre, die Reise vor Lukes Hochzeit oder lieber im Anschluss daran zu planen.

Den Haushalt würde Ellie in ihrer Abwesenheit führen. Das junge Mädchen hatte längst schon unter Beweis gestellt, dass sie der Aufgabe durchaus gewachsen war, aber war diese Bürde nicht vielleicht doch zu schwer für diese schmalen Schultern? Dabei vergaß Marty, dass sie selbst in Ellies Alter schon eine verheiratete Frau gewesen war.

Um Larry, ihr Nesthäkchen, sorgte sie sich jedoch am meisten. Wenn sie ihn doch nur mitnehmen könnte! Zugleich befürchtete sie insgeheim, dass Larry Gefallen am Westen finden und seine Eltern am Ende allein wieder auf die Heimreise schicken könnte. Nein, es war sicherer, wenn der Junge blieb, wo er war. Noch ein Kind an den fernen Westen zu verlieren war mehr, als Marty ertragen konnte.

So jagten ihr die Gedanken tagelang im Kopf umher. Sie hatte gehofft, dass niemand ihre Sorgenfalten bemerkte, doch vergebens. Zu guter Letzt beschloss die Familie, dass es höchste Zeit für einen ausgiebigen Einkaufsbummel in der Stadt war, bevor Marty sich völlig in ihren Grübeleien verlor. Nandry und Cathy baten eine Nachbarin, ihre Kinder zu beaufsichtigen, und begleiteten Marty per Überlandkutsche in die Großstadt. Auch Ellie war mit von der Partie. Angesichts der zahllosen Schachteln und Tüten mit den auf diese Weise erstandenen Waren fragte sich Marty auf der Rückfahrt ernstlich, ob sie nicht doch zu großzügig mit Clarks Geld umgegangen war, aber genossen hatte sie jede Minute dieses Ausflugs!

Sie hatte sich sogar dazu hinreißen lassen, ein paar elegante Lampenschirme für Missie zu kaufen. Wer wusste, wie lange Missie keinen Fuß mehr über die Schwelle eines besseren Geschäfts gesetzt hatte!

Luke unterbreitete seiner Kate die Reisepläne seiner Eltern, und gemeinsam berieten sie, was nun im Hinblick auf ihre Hochzeit zu tun war. Schließlich einigten sie sich darauf, mit der Heirat zu warten, bis Clark und Marty wieder zurück wären, und wählten schließlich den 27. August als Beginn ihres Lebens zu zweit. Die Zwischenzeit würde Luke nutzen, um das leer stehende alte Bauernhäuschen auf dem Grundstück seiner Eltern für sich und seine zukünftige Frau herzurichten, während Kate mit dem Nähen von neuen Vorhängen, Handtüchern und Fußmatten vollauf beschäftigt sein würde.

Ellie holte sich den Rat ihrer Mutter in zahllosen Haushalts- und Gartenfragen ein. Im Grunde wusste sie nur zu gut, dass sie schon allein zurechtkommen würde, vermutete aber zu Recht, dass Marty die Reise leichteren Herzens antreten würde, wenn sie genaueste Anweisungen hinterlassen konnte. Ellie versicherte ihrer Mutter ein ums andere Mal, wie sehr sie sich darauf freue, einmal „Hausmütterchen“ spielen zu dürfen, und Marty war sicher, dass ihr diese Aufgabe im Grunde nur guttun würde. Nandry und Cathy versprachen, mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, wenn sie doch einmal Hilfe brauchen sollte.

Larry ließ immer häufiger eine Bemerkung über die baldige Trennung von seinen Eltern verlauten. Eigentlich, so meinte er, sei dies doch eine willkommene Gelegenheit für ihn, einmal probeweise auf eigenen Füßen zu stehen. Er würde ohnehin die Abende über seinen Büchern für die Aufnahmeprüfung der Universität verbringen, sodass ihm zum Trübsalblasen gar keine Zeit bleiben würde. Marty spürte, wie sehr sich ihr Jüngster bemühte, seiner Mutter den Abschied von ihm zu erleichtern.

Jeden Tag überlegte Marty hin und her, was sie an Gepäck auf die lange Reise mitnehmen sollte. Ihr prüfender Blick streifte den Gemüsegarten, die Regale mit dem Eingemachten, ihre Stoffvorräte, den Hühnerstall und sogar die Milchkühe. Kopfschüttelnd seufzte sie tief. Liebe Güte, sie würde ja nie ein Ende finden! Kurz entschlossen bat sie die Familie, ihr bei der Auswahl der Mitbringsel behilflich zu sein, und bald war eine Liste erstellt, die auch Clarks Zustimmung fand.

Endlich war Martys Arbeit getan. Clark bestellte die Fahrkarten, und innerhalb weniger Tage konnte die Reise losgehen.

* * *

„Wann fahrt ihr denn nun ab?“, erkundigte sich Ma Graham am Sonntag nach dem Gottesdienst.

Marty war froh, endlich eine genauere Auskunft geben zu können.

„Also, am Mittwoch fahren wir mit der Postkutsche in die Stadt, und von da aus nehmen wir die Eisenbahn am nächsten Morgen“, antwortete sie.

„Da hast du ja bestimmt schon mächtiges Reisefieber, was? – Ach, weißt du“, fuhr sie fort, denn eine Antwort wäre überflüssig gewesen, „deine Missie fehlt mir ja selbst so, dass ich mir gar nicht ausmalen kann, wie es dir zumute sein muss. Grüß sie mir von Herzen! Hier, ich habe was für sie gehandarbeitet. Ist bloß ’ne Kleinigkeit; ich habe mir nämlich gedacht, für eine Häkeldecke habt ihr vielleicht gerade noch Platz im Gepäck.“

Marty nahm Ma in die Arme. In ihren Augen glänzte es feucht.

„Da wird Missie sich aber freuen!“, sagte sie.

Und so wurden die vollen Kisten, Koffer und Truhen geschlossen, die Kleidung für die Reise sorgfältig zurechtgelegt und alle verstreut liegenden Überbleibsel geordnet. Manche Anweisung und Ermahnung, ob notwendig oder nicht, wurde erteilt. „Sicher ist sicher“, war Martys Devise.

Luke und Arnie hatten Erfahrung in der Landwirtschaft. Beide halfen ihrem Vater schon seit Jahren und hatten nebenbei ein eigenes Stück Land. Clark hatte keine Zweifel daran, dass seine Farm in ihren Händen gut aufgehoben war. Sollten sie allen Erwartungen zum Trotz doch einmal in Not geraten, so gab es hilfsbereite Nachbarn, an die sie sich jederzeit wenden konnten. Auch Larry war gern bereit, seine Freizeit für die Feldarbeit zu opfern. Daß aus ihm selbst jedoch nie ein Farmer werden würde, stand außer Frage. Er besaß einen außergewöhnlich scharfen Verstand, gepaart mit einer Empfindenstiefe, wie man sie nicht häufig findet. Gegenwärtig erwog er eine Laufbahn als Arzt. Clark und Marty unterstützten ihn in diesem hohen Ziel, ohne ihm jedoch über Gebühr zuzureden.

So sollten die Jungen also die Farm versorgen, während Ellie in der Küche das Sagen hatte. Obwohl Marty im Grunde wusste, dass das junge Mädchen vollauf in der Lage war, ihren Brüdern den Haushalt zu führen, beunruhigte sie noch immer der Gedanke an die umfangreiche Arbeitslast, die ihrer Tochter nun aufgebürdet werden sollte.

Wolkenlos und warm zog der Tag der Abreise herauf. Eine strahlende Morgensonne begrüßte die erwachende Welt. Marty war schon vor Clark auf den Beinen, um in ihrer Aufregung noch hier und da ein paar Handgriffe zu tun und zahllose Dinge zu richten, die eigentlich keiner Aufmerksamkeit bedurften. Es erschien ihr wie eine Ewigkeit, bis das Gepäck in den Wagen verladen war und sie endlich aufbrechen konnten.

Ellie und ihre drei Brüder begleiteten sie auf dem Weg in die Stadt, wo Nandry und Cathy mit ihren Familien schon auf sie warteten. Viel zu früh trafen sie an der Kutschstation ein.

Alle schienen vom Reisefieber gepackt zu sein. Aufgeregte Stimmen verdichteten sich zu einem heillosen Gewirr; die Erwachsenen gestikulierten, die Kinder waren außer Rand und Band. Clark schüttelte schmunzelnd den Kopf und gebot dem Treiben Einhalt.

„Kompanie – stillgestanden!“, rief er in die Runde. „Wie wär’s, wenn wir ein bisschen Ordnung in dieses Tohuwabohu bringen?“ Augenblicklich verstummte ein jeder, dann verbreitete sich ein zustimmendes Lachen.

„Ich mache euch einen Vorschlag, liebe Leute“, fuhr Clark fort. „Lasst uns rüber ins Hotel gehen und uns bei Kaffee und Butterbroten die Zeit vertreiben. Erstens gibt’s da nämlich Stühle, und zweitens wird’s dann ein bisschen ruhiger.“

Kurz darauf marschierte die ganze Großfamilie Davis in Reih und Glied zum Hotel. Josh flüsterte Nandry etwas zu und griff in seine Tasche.

„Tina“, rief er dann seiner Tochter zu, „deine Ma hat erlaubt, dass du mit den Kleinen geschwind in den Gemischtwarenladen läufst und jedem von euch ein Bonbon kaufst, weil heute ein besonderer Tag ist!“

Die Kinder brachen in Begeisterungsstürme aus. Tina nahm die Münzen in Empfang und fasste Marty und Esther Sue bei der Hand. Andrew zog es vor, für sich neben den Mädchen herzugehen. Die kleine Jane blieb derweil zufrieden in den Armen ihrer Mutter.

Im Hotel angekommen, setzten sie sich um einen Tisch und gaben ihre Bestellungen auf. Anstatt des Stimmengewirrs von vorher kam nun tatsächlich eine geordnete Unterhaltung auf. Marty verspürte nicht den geringsten Appetit. Sie bestellte sich nur eine Tasse Tee, an der sie hin und wieder nippte. Den Männern dagegen reichten die belegten Brote nicht aus; sie bestellten noch Kuchen und Obsttörtchen dazu. Marty war es ein Rätsel, wie sie wenige Stunden nach einem herzhaften Bauernfrühstück auch nur an Essen denken konnten.

Sie schaute auf die Wanduhr. Die Zeiger schienen geradezu stillzustehen! Die Speisen waren längst verzehrt, die Tassen geleert, nachgefüllt und aufs Neue geleert worden. Wohl zum hundertsten Mal hatten sie einander letzte Anweisungen gegeben, Grüße aufgetragen und liebevolle Ermahnungen ausgesprochen. Marty rutschte ungeduldig auf ihrem Stuhl hin und her. Endlich erhob sich Clark und mahnte zum Aufbruch.

Vor der Kutschstation schloss sich Charles LaHaye, Willies Vater, der Gruppe an. Er schwang seinen Hut zum Gruß und wandte sich dann an Clark.

„Ich brauch dir ja nicht zu sagen, wie ich euch beneide. In den Westen hat’s mich immer schon gezogen, aber jetzt, wo mein Junge da draußen wohnt, bin ich manchmal drauf und dran, mit der nächsten Eisenbahn loszufahren.“

„Dann pack doch dein Bündel und komm einfach mit!“

„Lust hätt ich schon. Für heute bleibt’s aber bloß bei diesem Päckchen, wenn’s euch keine Unannehmlichkeiten macht. Ich kann euch doch nicht ziehen lassen, ohne euch wenigstens eine Kleinigkeit für die jungen Leute mitzugeben!“

„Keine Sorge, das Päckchen hat noch Platz!“, versicherte Clark und legte es zu dem übrigen Gepäck.