Reise in eine neue Welt - Janette Oke - E-Book

Reise in eine neue Welt E-Book

Janette Oke

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Beschreibung

Missie, die älteste Tochter von Clark und Marty Davis, und ihr Mann Willie machen sich voller Zuversicht auf den Weg in den Westen, um dort ein eigenes Stück Land in Besitz zu nehmen und sich ein neues Leben aufzubauen. Doch Heimweh und eine unsichere Zukunft plagen die junge Frau … Teil 3 der beliebten Siedler-Serie von Janette Oke.

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Seitenzahl: 300

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über die Autorin

Janette Oke wurde 1935 auf einer Farm in Alberta, Kanada, geboren. Sie ist Mutter von vier erwachsenen Kindern. Mit ihrem Ehemann Edward wohnt sie in Alberta, nahe der Farm ihrer Eltern, die zu einem Museum umgerüstet wurde.

Janette Oke

Reise in eine neue Welt

Die Siedlerserie, Band 3Aus dem Amerikanischen von Beate Peter

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.Die amerikanische Originalausgabe erschien im Verlag Bethany House Publishers unter dem Titel „Love’s Long Journey“ (© 1982 by Janette Oke)

© der deutschen Ausgabe 1984 Gerth Medien

in der SCM Verlagsgruppe GmbH

Berliner Ring 62, 35576 WetzlarErschienen im Juli 2025

ISBN 978-3-96122-710-5Umschlaggestaltung: Gert Wagner unter Verwendung bildgebender Generatoren

Erstellung E-Book: Uhl + Massopust, Aalenwww.gerth.de

Aufbruch nach Westen

Missie schob die Haube zurück, um sich den lauen Wind durch die Locken wehen zu lassen. Doch jetzt brannte ihr die glühende Nachmittagssonne um so unbarmherziger auf den Kopf.

Liebe Güte, diese Hitze war ja kaum zu ertragen! Aber es würde jetzt wohl nicht mehr lange dauern, bis eine frische Abendbrise ihr heißes Gesicht kühlte.

Dieser erste Tag ihrer Reise nach Westen kam Missie unendlich lang vor. Seit dem Aufbruch am Morgen mit all der Aufregung, dem Menschengewühl und dem Stimmengewirr schienen schon Wochen vergangen zu sein.

Bei dem Gedanken an die hektischen Reisevorbereitungen und die Aufbruchstimmung heute früh spürte Missie wieder diese prickelnde Abenteuerlust in allen Gliedern. Man stelle sich nur vor: Willie und sie waren tatsächlich unterwegs in den fernen Westen! Ihr lang gehegter Wunschtraum war endlich Wirklichkeit geworden! Manchmal meinte sie noch immer zu träumen. Aber ihre müden, schmerzenden Beine bewiesen ihr das Gegenteil.

Unruhig rutschte sie auf der harten Holzbank hin und her. Die Zügel in der Hand, schaute Willie sie fragend an.

„Hast du kein Sitzfleisch mehr?“

Missie lächelte zurück und strich sich eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn.

„Ist schon reichlich holprig hier oben. Ich glaube, ich sollte mir wieder mal ein bisschen die Füße vertreten.“

Willie nickte und sah wieder nach vorn.

„Das Laufen tut dir bestimmt gut. Soll ich gleich anhalten?“

„In ein paar Minuten.“ Missie verfiel wieder in ihr Schweigen.

Willie warf ihr einen besorgten Seitenblick zu. Nein, sie schaute eigentlich recht zufrieden drein.

„Ist schon ’ne mächtig staubige, rumpelnde Angelegenheit, so ’ne Fahrt im Wagentreck!“, seufzte Missie jetzt. „Knarrendes Zaumzeug, stampfende Pferde und dazu das Geschrei! Hätte nicht gedacht, dass es so laut zugehen würde!“

„Mit der Zeit wird’s bestimmt ruhiger, denk ich.“

„Ja, da magst du recht haben.“

Missie langte zu ihm hinüber und versteckte ihre kleine Hand unter seinem Arm. Sie spürte jede Bewegung seiner starken Muskeln. Sein grob gewebtes Baumwollhemd hatte dunkle Schweißränder; am Kragen hatte er ein paar Knöpfe geöffnet.

„Ein gutes Stück von dem Lärm und Betrieb zu Hause haben wir wohl mitgebracht“, bemerkte Missie.

„Wie meinst du das?“

„Na, du weißt doch, wie’s in den letzten Wochen daheim zugegangen ist bei all dem Planen, Einkaufen, Packen und Verladen. Ich hab schon gedacht, es nimmt gar kein Ende mehr. Und dann der Lärm! Alle reden durcheinander, Hammerschläge, rumpelnde Fässer und klapperndes Kochgeschirr – verrückt war’s, fast wie in einem Irrenhaus!“

Willie lachte kurz.

„Ja, so kann man’s wohl ausdrücken!“ Wieder schwiegen beide.

Willie sah seine junge Frau verstohlen von der Seite an. Ein Schatten schien ihre sonst so strahlenden blauen Augen zu trüben. Als Missie längere Zeit schwieg, begann er behutsam: „Machst dir wohl Gedanken, nicht?“

Ein leises Seufzen war Missie entfahren, bevor sie antworten konnte.

„Ach, es ist eigentlich kaum der Rede wert. Ich hab nur eben an zu Hause gedacht. Muss mächtig still dort sein jetzt. Ganz ungewohnt ruhig nach all den geschäftigen Wochen und Monaten …“

Gedankenverloren schaute sie vor sich hin. Willie wollte sie in ihren Träumen nicht stören.

Die junge Frau schaute auf die beiden hochbeladenen Planwagen zurück. Nie hätte sie es für möglich gehalten, dass man so viele Dinge auf zwei Wagen unterbringen könnte. Beinahe ein ganzer Hausstand war hier verladen worden – und dazu manche Gegenstände, die eigentlich gar nicht dringend notwendig gewesen wären, gestand sie sich ein. Zum Beispiel hatte ihre Mutter darauf bestanden, von ihrem aufgesparten Eiergeld ein hübsches Essgeschirr zu kaufen und es eigenhändig in mit Sägespänen gepolsterte Kisten zu verpacken. „Eines Tages wirst du froh sein, dass du es mitgenommen hast“, hatte Marty zu ihr gesagt, und Missie wusste, dass sie die Teller und Tassen später tatsächlich einmal mit einem wehmütigen Lächeln auf den Lippen einzeln aus dem Schrank hervorholen und mit dem Finger über die glasierten Ränder fahren würde.

Eine große Sehnsucht überkam die junge Frau plötzlich, doch Willie zuliebe wollte sie sich nichts davon anmerken lassen. Die Gedanken an ihr Zuhause … ihre Eltern und Geschwister, hatten den ersten Funken von Heimweh in ihr entzündet. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie noch in Tränen ausbrechen – Heulsuse, die sie war! Sie schluckte und zwang sich zu einem tapferen Lächeln.

„Vielleicht sollte ich jetzt doch mal ein Stück Weg auf Schusters Rappen gehen“, schlug Missie vor.

„Gut, dann halte ich da vorn an dem Grasstreifen an“, versprach ihr Mann.

Missie nickte.

„Ist dir auch aufgefallen, dass wir unsere Nachbarsfarmen längst hinter uns gelassen haben?“, fragte Willie. „Stimmt. Ich kenne mich schon gar nicht mehr aus.“

„Stell dir bloß vor, jetzt sind wir endlich auf großer Fahrt!“

Sie teilte zwar Willies Hochstimmung, doch zugleich blieb ein bohrender Schmerz in ihr. Ja, endlich war sie mit Willie unterwegs nach Westen – aber alle ihre Lieben hatte sie weit hinter sich zurücklassen müssen. Wann würde sie sie wohl wiedersehen? Ob sie sie überhaupt jemals wiedersah? Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen.

Erleichtert stieg Missie vom Wagen, als Willie angehalten hatte. Das davontrottende Gespann wirbelte eine große Staubwolke auf, sodass sie ein paar Schritte zurücktrat und sich ihre Haube vor das Gesicht hielt – Sie wartete, bis auch die anderen Wagen an ihr vorübergezogen waren. Dann hielt sie Ausschau nach einem vertrauten Gesicht. Aber die Menschen, die da hinter den Wagen hermarschierten, waren ihr alle fremd.

Mit einem beherzten Lächeln reihte sie sich in den Zug ein. Bei jedem Schritt auf dem staubigen, unebenen Weg schmerzten ihr die Glieder. Insgeheim fragte sie sich, wie es wohl den älteren Frauen ergehen mochte. Zu ihrer Rechten wanderten zwei Frauen, die etwa so alt wie ihre Mutter sein mochten. Mama ist gesund und kräftig und bei der Arbeit macht sie mir oft noch etwas vor. Trotzdem würde ich sie nicht ohne Weiteres auf so eine Reise schicken, überlegte sie.

Die beiden Frauen machten einen müden und abgekämpften Eindruck. Plötzlich war Missie froh über die Ankündigung des Treckführers, der jeweils kurze Wegstrecken für die ersten paar Tage angeordnet hatte. Erst jetzt verstand sie, wie klug dieser Reiseplan war. Sie selbst würde sich ja nur zu gern auf der Stelle ausruhen. Ob Willie sich ebenso wie sie auf das frühe Nachtlager freute? Vielleicht hätte er ja in seinem Eifer lieber eine größere Wegstrecke zurückgelegt, dachte sie.

Missie war stolz auf ihren Mann. Stattlich sah er aus mit seinem dichten, lockigen Haar, seinen dunkelbraunen Augen, dem markanten, energischen Kinn und der wohlgeformten Nase, die einzig durch einen Sturz vom Baum, als er neun Jahre alt war, an Makellosigkeit eingebüßt hatte. Das war ihr Willie, ihr breitschultriger, hochgewachsener, starker Willie.

Doch mehr als seine äußere Erscheinung schätzte sie seinen Charakter. Wie vertraut sie doch mit seinen Wesenszügen geworden war! Willie, der ihr die Gedanken von den Augen ablesen konnte, der stets zuvorkommend mit anderen umging, doch unnachgiebig gegen sich selbst war; Willie, der entschlossen und unbeirrt seine Ziele verfolgte – ein wenig starrköpfig, wie manche meinten, doch Missie betrachtete diese Eigenschaft als Charakterfestigkeit. Aber vielleicht war doch eine Spur von Starrköpfigkeit dabei, wenn man seine Beharrlichkeit, den Traum seines Lebens zu verwirklichen, so bezeichnen wollte. Er hatte es sich nun einmal in den Kopf gesetzt, eine eigene Ranch zu haben, Viehzüchter zu werden und eines Tages die besten Rinder und Pferde im ganzen Westen zum Verkauf anzubieten.

Als Willie vor zwei Jahren allein eine Erkundungsfahrt nach Westen unternommen hatte, ließ er sich weder durch die zunächst unergiebige Landsuche noch durch die schier endlose Jagd nach Unterschriften der Behörden von seinem Vorhaben abbringen, bis er endlich den Kaufvertrag für sein erträumtes Stück Land in den Händen hielt. Die lange Zeit bis zu ihrer endgültigen Abreise bedeutete für Willie eine harte Geduldsprobe. Doch sein Traum war lebendig geblieben. Von seinem Arbeitslohn in der Sägemühle hatte er jeden Groschen auf die hohe Kante gelegt, bis er endlich genug Rücklage zu haben glaubte. Voller Stolz hatte Missie ihr Lehrerinnengehalt dazugelegt, sodass die Summe umso schneller angewachsen war. Willies Traum war auch ihr Traum geworden.

Missie sah auf zum Himmel. Dem Sonnenstand nach zu urteilen, mochte es zwischen drei und vier Uhr nachmittags sein.

Zu Hause konnte man die Tageszeiten an dem, was die einzelnen Familienmitglieder gerade taten, ablesen. Ma gönnte sich jetzt bestimmt eine Pause von den anstrengenden Arbeiten, um es sich mit ihrem Strickzeug im Schaukelstuhl bequem zu machen, während Pa noch draußen auf dem Feld war. Auch Missies Eltern hatten großzügig zu Willies Ersparnissen beigetragen. Wieder musste sie schweren Herzens an den Abschied von ihnen denken.

Clark, ihr Vater, hatte sie alle um sich versammelt und ein letztes Gebet im Kreis der Familie gesprochen. Marty hatte verzweifelt mit den Tränen kämpfen müssen. Missie hatte ihr den Arm um die Schultern gelegt und gesagt: „Schon gut, Ma, wein ruhig, wenn dir davon besser wird!“ Und dann waren sich die beiden Frauen in die Arme gefallen und hatten geschluchzt, bis die Tränen versiegt waren und ihnen leichter ums Herz war.

Missie wischte sich eine heimliche Träne aus den Augenwinkeln und sah sich beschämt um. Es bedurfte ihrer ganzen Willenskraft, um das Heimweh in den hintersten Winkel ihres Herzens zu verdrängen. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie mit rot verheulten Augen das Lager erreichen! Außerdem hatte sie ja ihren Willie. Ganz einsam würde sie also nie werden.

Mühsam schleppte sie sich weiter, immer einen Fuß vor den anderen setzend. Selbst in ihren derben Wanderschuhen wirkten ihre Füße schmal und zierlich, und ihr einfacher, aus grober Baumwolle gewebter Rock konnte die jugendliche Anmut ihrer Gestalt nicht verbergen. Beinahe mechanisch strich sie sich eine vorwitzige Locke aus dem Gesicht, die sich von ihrem Hinterkopf gelöst hatte und ihr nun um die Wangen tanzte. Ihre sonst so helle, klare Gesichtshaut war gerötet und von Hitzeflecken übersät. Trotz des nagenden Heimwehs, der bleiernen Müdigkeit und der glühenden Sonne am Himmel funkelte aus ihren blauen Augen noch ein waches Interesse an allem, was um sie herum vorging.

Einige der Frauen begannen, trockene Zweige vom Wegrand aufzulesen. Auch die Kinder halfen, Brennholz zu sammeln. Wir sind bestimmt nicht mehr weit von unserem Lagerplatz für die Nacht entfernt, dachte Missie. Am besten such ich mir auch etwas Holz für unser Feuer.

Aus den Wagen vor ihnen wurden jetzt Stimmen laut. Die Wagenführer lenkten die Gespanne im Kreis zu einer Wagenburg, wie es ihnen am Morgen erklärt worden war. Missies Schritte wurden beschwingter. Nicht mehr lange, und sie würde sich irgendwo im Schatten ein wenig ausruhen können! Oh, wie sie sich darauf freute, nur einfach im Gras zu sitzen und sich die heiße Stirn von der Abendbrise kühlen zu lassen! Außerdem konnte sie es kaum erwarten, ein wenig mit Willie zu plaudern, nachdem sie eine Weile von ihm getrennt gewesen war.

Ob sie heute Abend bei dem knisternden Lagerfeuer den richtigen Zeitpunkt finden würde, um Willie die große Neuigkeit mitzuteilen? Bei dem Gedanken daran machte ihr Herz vor Aufregung einen Sprung. Ja …, sie war sich inzwischen recht sicher, dass sie im Begriff war, Mutter zu werden. Bisher hatte sie ihrem Mann noch nichts von ihrem Geheimnis verraten. „Lieber keine falschen Hoffnungen wecken!“, hatte sie sich gesagt.

Ob Willie ihre Freude teilen würde? Sie wusste, wie sehr er Kinder mochte, und dass er sich eines Tages einmal einen Sohn wünschte, aber sie ahnte auch, dass er sehr besorgt um sie sein würde. Bestimmt hatte er die Reise nach Westen hinter sich bringen wollen, bevor sie gemeinsam eine Familie gründeten. Die lange Fahrt mit dem Wagentreck konnte an den Kräften einer werdenden Mutter zehren. Vielleicht würde Willie am Ende meinen, dass dieses Baby sich ganz und gar die falsche Zeit für seine Ankunft ausgesucht hatte.

Missie selbst machte sich in dieser Hinsicht keinerlei Sorgen. Sie war jung und gesund, und außerdem würden sie ihr Reiseziel längst erreicht haben, bis das Kind geboren wurde. Zugegeben, sie hatte Willie absichtlich nichts von ihrem wachsenden Verdacht verraten wollen, bis sie endgültig unterwegs waren. Sonst hätte er womöglich die ganze Reise verschoben, und das wollte Missie ihm ersparen.

Deshalb hatte sie ihr Geheimnis für sich behalten. Nicht einmal ihrer Mutter hatte sie es zuflüstern können, obwohl sie sich mit allen Fasern ihres Herzens danach gesehnt hatte. „Wenn sie es weiß“, hatte Missie sich gesagt, „hat sie keine ruhige Minute, solange wir unterwegs sind!“

Missie entdeckte ihre beiden nebeneinander stehenden Wagen in der kreisförmigen Aufstellung schon von Weitem. Willie spannte gerade die Pferde von dem ersten Wagen los, während Henry Klein, sein zweiter Wagenführer, mit dem anderen Gespann beschäftigt war. Bei den Reisevorbereitungen hatte sich sehr bald herausgestellt, dass ein Wagen allein längst nicht als Transportvehikel und Nachtlager zugleich ausreichen würde. Clark, Missies Vater, hatte deshalb den Vorschlag gemacht, einen zweiten Wagen mit auf die große Fahrt zu nehmen, und hatte sogar einen Kutscher dafür ausfindig gemacht. Manche Familie im Treck war mit mehr als einem Wagen unterwegs, wobei die meisten von ihnen ohne einen bezahlten Fahrer ausgekommen waren, weil ein Familienglied die Gespanne lenken konnte.

Missie näherte sich der Wagenburg, als der letzte Wagen, der siebenundzwanzigste, gerade seine Position bezog.

Willie begrüßte sie mit einem fröhlichen Lächeln.

„Siehst mir ein bisschen abgekämpft aus, Schatz“, sagte er dann besorgt.

„Kein Wunder – bei dieser Hitze!“, stöhnte sie gespielt und verdrehte die Augen.

„Du hast dir ’ne kleine Ruhepause redlich verdient. Ein bisschen Schatten tut dir bestimmt gut. Soll ich dir einen Schemel oder die Decke aus dem Wagen holen?“

„Lass nur, das mach ich schon selbst. Du hast ja erst dein Gespann zu versorgen.“

„Mr Blake sagt, hinter der Baumgruppe dort fließt ein Bach. Wir führen gleich alle Pferde dahin und binden sie dann an den Bäumen fest. Blake meint, da gibt’s so viel Gras, dass ihnen die Augen übergehen würden!“

„Wann möchtest du denn zu Abend essen?“, erkundigte sich Missie.

„Nun, vielleicht in ein oder zwei Stunden, eher nicht. Lass dir nur Zeit damit!“

„Zuerst werde ich mich um mehr Brennholz kümmern müssen, fürchte ich. Die paar Zweige, die ich da beisammen habe, reichen ja kaum von zwölf bis Mittag!“

„Auch damit hat’s keine Eile. Ich bring dir Holz von dort drüben mit. Henry wird sich bestimmt nicht lumpen lassen und mir beim Sammeln helfen. Setz du dich nur in den Schatten und ruh dich aus. Du schaust mir regelrecht erledigt aus, Liebling!“ Seine Stimme klang besorgt.

„Ach, das ist bestimmt nur die ungewohnte Aufregung am ersten Tag, weiter nichts“, beruhigte ihn Missie. „Ich werde mich schon bald an dieses Zigeunerleben im Treck gewöhnen, sollst mal sehen. Aber schön, wenn du meinst, setz ich mich halt fein gehorsam in den Schatten unter den Baum dort. Nur ein kleines Weilchen, dann bin ich wieder ganz die Alte.“

Während Willie sich mit den Pferden und den beiden Rindern, die an die Wagen angebunden waren, auf den Weg zum Bach machte, holte Missie eine Decke aus dem Wagen, um sie im kühlen Gras auszubreiten.

Nicht ohne Selbstvorwürfe ließ sie sich im Schatten nieder, denn alle anderen Frauen waren geschäftig auf den Beinen. Nun, sie würde es ihnen gleichtun, sobald sie sich ein wenig ausgeruht hatte. Wie wohl es tat, die müden Glieder einmal auszustrecken!

Missie lehnte den Kopf an den Baumstamm und schloss die Augen. Das Gesicht wandte sie der lauen Brise zu und ließ sich das lose Haar um die Wangen wehen. Oh, wie ihre Glieder schmerzten! Ein entspannendes Bad wäre jetzt genau das Richtige. Zu Hause …, aber nein, so durfte sie jetzt nicht mehr denken, schalt sie sich selbst. Das geräumige, weiß gestrichene Haus ihrer Eltern war jetzt endgültig nicht mehr ihr Zuhause. Das Zimmer im oberen Stockwerk mit dem bunten Teppich und den duftigen Vorhängen war nicht mehr ihr eigenes Reich. Sie gehörte jetzt zu ihrem Mann und er gehörte zu ihr. In ihrem Herzen bat sie Gott um Hilfe, dass sie sich eines solchen Mannes wie Willie würdig erweisen und es ihr gelingen möge, ihr gemeinsames Zuhause einmal mit Liebe und Geborgenheit zu erfüllen.

Dann spürte sie nichts als nur die bleierne Schwere in ihren Gliedern. „Gib bloß nicht nach!“, befahl sie sich mit geschlossenen Augen. „Gib bloß nicht nach! Es geht ja schon viel besser.“

Erste Abendrast

Missie schlug die Augen auf und stutzte. Sie musste wohl eingenickt sein und gleich mehrere Stunden lang geschlafen haben! Es war jetzt viel kühler, und die Sonne, die den ganzen Tag über so unbarmherzig auf sie herabgebrannt hatte, stand inzwischen schon recht tief über dem westlichen Horizont.

Ein starker, würziger Rauchgeruch hing in der Luft. Der Duft von geröstetem Brot und heißem Kaffee erinnerte Missie daran, wie hungrig sie war. Hellwach fuhr sie auf und sah sich um. Sie stellte verlegen fest, dass über jedem Lagerfeuer das Essen kochte. Was mochten die anderen Frauen nur von ihr denken? Bald würde Willie von den Tieren zurückkehren und nicht einmal eine Feuerstelle vorfinden!

Missie hastete auf den Wagen zu. Unterwegs strich sie schnell ihren Rock glatt und fuhr sich mit der Hand durch das wirre Haar.

Es dauerte einen Augenblick, bis sie begriffen hatte, dass das Feuer dort vor dem Wagen ihr Feuer war und dass der köstliche Duft von gebratenem Fleisch und Kaffee aus keinen anderen als ihren eigenen Kochtöpfen kam. Sprachlos stand sie da, als Willie plötzlich seinen Kopf unter der Wagenplane hervorsteckte. Seine Besorgnis wich einem erleichterten Ausdruck.

„Da bist du ja wieder! Siehst schon viel erholter aus. Wie fühlst du dich denn?“

„Gut … bestens“, stotterte Missie und fügte dann kleinlaut hinzu: „Aber ich schäme mich in Grund und Boden.“

„Schämen?“ Das hätte Willie nicht gleich so herauszutrompeten brauchen, fand Missie. „Wieso denn das?“

„Also … Hier verschlaf ich den halben Tag, und du …, du hast in der Zeit schon das Feuer gemacht und das Essen gekocht! Liebe Güte, was sollen denn die andern von mir denken? Dass mein Mann seine eigene Arbeit und meine noch dazu tun muss?“

„Na, wenn das alles ist, was dir Sorgen macht, dann werden wir schon damit fertig werden!“, antwortete Willie gut gelaunt. „Außerdem hab ich das Feuer gar nicht gemacht. Das haben wir Henry zu verdanken. Der konnte das Abendessen nämlich kaum erwarten. Meine Güte, der Bursche kann vielleicht reinhauen! Ich seh’s schon kommen, dass wir eines Tages noch unsere Kühe schlachten müssen, um Henry bei Kräften zu halten!“

„Dann hat er also schon gegessen?“

„Gegessen? Das könnte man auch anders ausdrücken! Vielleicht hat er uns auch noch ein bisschen von dem Schmaus übrig gelassen. Er hatte es furchtbar eilig, sich wieder aus dem Staub zu machen. In unserem Treck befinden sich nämlich zufällig ein paar hübsche Mädchen. Ich glaub, er ist mal rübergegangen, um sich vorzustellen.“ Willie zwinkerte mit den Augen.

„Kommst du denn nicht vom Wagen runter?“, fragte Missie.

„Ich suche gerade das Brot. In all den Kisten und Kästen hier oben finde ich mich nicht zurecht. Hast du irgendein Geheimfach? Henry hat sein Essen schon ohne Brot runtergeschlungen, aber ich hätte ganz gern eine Scheibe dazu.“

„Gleich beißt’s dich!“, lachte Missie. „Da ist es doch, direkt vor deiner Nase!“ Sie kletterte auf den Wagen. „Hier, ich hol’s dir. Mama hat uns auch ein paar von ihren Früchtebroten für die ersten Tage unterwegs mitgegeben.“

Als Missie nun das Brot aus dem Tongefäß hervorholte, spürte sie wieder einen leisen Stich im Herzen. Sie sah Marty vor sich, wie sie mit gerötetem Gesicht ihre duftenden Backwaren aus dem heißen Ofen zog.

Willie schien Missies schwermütige Gedanken zu erraten. Er legte den Arm um sie und zog sie an sich.

„Sie vermisst dich bestimmt auch“, flüsterte er in ihr Haar. Missie schluckte mühsam.

„Ja, da magst du recht haben“, flüsterte sie zurück. „Missie?“ Willie zögerte. „Bist du dir ganz sicher? Es ist noch nicht zu spät zum Umkehren, weißt du. Wenn du Zweifel hast …“

„Kommt ja gar nicht infrage!“, sagte Missie mit Nachdruck. „Ich habe nicht die geringsten Zweifel. Im … Gegenteil! Ich freue mich doch auf dein Land und unser gemeinsames Zuhause! Natürlich werde ich Ma und Pa und die andern daheim mächtig vermissen, besonders in der ersten Zeit, aber irgendwann muss schließlich jeder erwachsen werden. Und damit basta!“ Wie konnte Willie nur denken, dass sie ihm selbstsüchtig den Traum seines Lebens verwehren würde?

„Bestimmt?“

„Ganz bestimmt.“

„Ein Sonntagsausflug wird diese Reise nicht gerade werden. Das weißt du doch, oder?“

„Natürlich weiß ich das.“

„Und wenn wir erst da sind, wird’s auch nicht einfach sein. Wir werden lange Zeit auf ein richtiges Haus, auf Nachbarn und auf eine Kirche verzichten müssen. Du wirst dich bestimmt manchmal einsam fühlen, Missie.“

„Ich hab doch dich.“

Willie nahm sie fest in seine Arme.

„Viel hast du an mir nicht bei allem, was du zurücklassen musst. Aber ich liebe dich, Missie. Ich liebe dich mehr als alles auf der Welt!“

„Mehr brauche ich nicht zum Leben“, flüsterte sie. „Liebe ist das Einzige, auf das ich nicht verzichten kann!“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss auf das Kinn. „Solange du mich lieb hast, fehlt’s mir an gar nichts.“

Sanft löste sie sich aus seinen Armen.

„Aber meinst du nicht auch, dass es längst Essenszeit ist? Ich hab einen Bärenhunger!“

Willie schmunzelte.

„Na, vielleicht überlegst du dir’s doch noch anders, wenn du erst von meinen armseligen Kochkünsten gekostet hast!“

Sie lachten fröhlich.

Nachdem sie gegessen hatten und die wenigen Teller, sauber abgewaschen, wieder in der Geschirrkiste verpackt waren, holte Willie seine Bibel hervor. Sie war liebevoll mit einem Umschlag aus samtweichem Hirschleder und schützendem Wachspapier darüber eingebunden.

„Ich denke, dass wir morgens alle Hände voll zu tun haben werden“, sagte er. „Abends finden wir bestimmt mehr Zeit und Ruhe zum Bibellesen.“

Missie nickte und setzte sich neben ihn. Noch war es hell, doch die Dämmerung würde bald hereinbrechen. Willie blätterte und begann zu lesen:

„Fürchte dich nicht, ich bin mit dir, weiche nicht, denn ich bin dein Gott. Ich stärke dich, ich helfe dir auch, ich halte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit“ (Jesaja 41,10).

Langsam schlug er die Bibel wieder zu.

„Dein Pa hat uns diesen Vers unterstrichen. Als er mir die Bibel heute Morgen gab, hat er ihn mir vorgelesen und dieses rote Lesezeichen hineingelegt. Er sagte, wir sollen diesen Vers jeden Tag laut lesen und uns ganz bewusst davon ansprechen lassen, bis er uns in Fleisch und Blut übergegangen ist.“

„Ein schöner Vers!“, sagte Missie mit bebender Stimme. Sie schloss die Augen und sah ihren Pa am Küchentisch mit der aufgeschlagenen Familienbibel vor sich. Sie konnte sogar seine Stimme hören, wie er das Morgengebet für die um ihn versammelte Familie sprach. Pa war das geistliche Oberhaupt der Familie – doch jetzt war Willie ihr neues geistliches Oberhaupt. Jetzt hatte sie ihn, um an seiner Seite Kraft und Mut für jeden Tag, ob in guten oder bösen Zeiten, zu schöpfen. Sie war nicht mehr Clarks kleine Tochter; sie war eine erwachsene, verheiratete Frau. Pa hatte seinen Segen zu ihrer Ehe mit Willie gegeben, und obgleich sie sich der Liebe und Fürbitte ihres Vaters gewiss war, zweifelte sie keinen Augenblick daran, dass er sie an Willies Seite in guter Obhut wusste.

Missie schob ihre Hand in Willies, als sie nun gemeinsam beteten. Willie dankte Gott für seine Gegenwart und für die Eltern und Geschwister zu Hause. Er betete um besondere Kraft in diesen ersten Tagen der Reise, die Missie und er ohne ihre Angehörigen zurücklegten, und bat um Bewahrung vor allen Gefahren und um Kraft für Missie, um die Strapazen der Reise gesund zu überstehen.

Missie erkannte, dass heute Abend kaum der richtige Zeitpunkt dafür war, Willie in ihr Geheimnis einzuweihen. Er würde sich nur unnötige Sorgen machen. Sie würde warten, bis sie sich an die unbequeme Wagenfahrt und die anstrengenden Fußmärsche gewöhnt hatte. Und außerdem, sagte sie sich, konnte sie sich immer noch geirrt haben.

Wenn sie aber recht hatte – und im Grunde wusste sie, dass es so war –, dann würde sie sich bestimmt mit jedem neuen Tag besser fühlen. Die frische Luft und das Laufen würden ihr guttun. Ja, sie würde es Willie erst sagen, wenn er sich mit eigenen Augen davon überzeugt hatte, wie gesund und kräftig sie war. Dann würde er ihre Vorfreude unbeschwert teilen können.

Oh, wenn sie es doch ihren Eltern vor der Abreise hätte sagen können! Sie stellte sich vor, wie sie ihnen geradewegs ins Gesicht geschaut und ausgerufen hätte: „Na, ihr beiden, was haltet ihr denn davon, bald zu den Großeltern zu zählen?“ Und dann wären sie sich in die Arme gefallen und hätten gelacht und geweint und Freudentänze aufgeführt. Aber so hatte es eben nicht sein können, und auch für Willie war der Zeitpunkt, das Geheimnis zu erfahren, noch nicht gekommen. Sie würde noch eine Weile warten.

Ein neuer Tag

Noch im Halbschlaf streckte Missie ihre schmerzenden Glieder. Oh, wie steif ihre Arme und Beine warten! Was war nur geschehen?

Dann fiel ihr plötzlich alles wieder ein. Sie waren unterwegs nach Westen. Sie hatte neben Willie auf dem Kutschbock gesessen, bis sie das ständige Rütteln und Schütteln des Wagens auf dem unebenen Weg nicht mehr ertragen konnte, und war zu Fuß hinter dem Wagenzug hergegangen. Schließlich hatten sie ihre Beine keinen Schritt mehr tragen wollen, und nach einer unruhigen Nacht auf dem engen, harten Strohlager fühlte sie sich nun beinahe noch abgeschlagener als gestern Abend.

Willie erging es sicher nicht viel besser, dachte sie und wollte nach seiner Hand greifen, doch ihre Hand landete auf dem leeren Kissen. Willie war längst aufgestanden. Er war aus dem hochbeladenen Wagen geklettert, der für die kommenden Wochen und Monate ihr Heim auf Rädern sein sollte, um sich draußen ein wenig die Beine zu vertreten.

Missie erhob sich stöhnend von ihrem Bett. „Liebe Güte, wenn Willie sich bloß nicht wieder selbst das Essen gemacht hat!“, murmelte sie.

Doch nachdem sie schnell in ihre Kleider geschlüpft und vom Wagen gestiegen war, stellte sie erleichtert fest, dass die ersten Sonnenstrahlen gerade über dem östlichen Horizont glänzten. Im ganzen Lager war es noch still. Willie hatte ein Feuer in Gang gebracht und es für sie brennen lassen. Missie legte ein paar Zweige nach und sah zu, wie die Flammen sie hungrig verschlangen.

„Eine Schande ist das!“, murmelte sie vor sich hin. „Als ob ich lauter Blei in den Armen und Beinen hätte!“

Sie ging ein wenig auf und ab und schwang dabei ihre Arme im Kreis, um ihre Muskeln zu lockern.

„Da bin ich schon auf der Farm aufgewachsen, aber so’n Zuckerpüppchen ist aus mir geworden, dass ein einziger Tag mit dem Treck mir so zusetzt! Mam hätte mir mehr Arbeit aufladen sollen!“

Bald entdeckte Missie einen weiteren Grund, um sich ständig in Bewegung zu halten: In der Kühle des frühen Morgens schwirrten die Stechmücken in dichten Schwärmen auf der Suche nach einem Opfer umher. Missie griff nach einer Jacke, um sich gegen ihre Angriffe zu schützen.

Sie goss frisches Flusswasser in die Waschschüssel und begann ihre Morgentoilette. Das Wasser war so kalt, dass sie sich mit dem rauen Handtuch die Wärme wieder in die Wangen reiben musste. Erfrischt wandte sie sich dann ihren morgendlichen Arbeiten zu. Sie hängte das Handtuch an den Haken zurück und bereitete das Frühstück.

Der Kaffee kochte schon sprudelnd, und die Rühreier verbreiteten einen herzhaften Duft, als Henry auftauchte.

Für Missie war Henry noch ein junger Bursche. Lächelnd musste sie sich aber eingestehen, dass Willie nicht älter war als Henry. Trotzdem wirkt er längst nicht so erwachsen wie mein Willie, dachte sie.

„Morgen, Henry!“, begrüßte sie ihn.

„Morgen, Ma’am!“

Diese Anrede ließ Missie wieder schmunzeln.

„Hungrig?“

„Und wie!“, grinste Henry.

„Haben Sie gut geschlafen?“

„Die lästigen Mücken lassen einen doch keine Sekunde zur Ruhe kommen! Die Pferde haben bestimmt die ganze Nacht lang mit dem Schweif um sich schlagen müssen.“

„Komisch, ich hab von alledem nichts gemerkt, bis ich aufgestanden bin. Vielleicht hatten wir ja keine in unserem Wagen.“

„Willie sagte, ihm hätten sie unheimlich zugesetzt.“ Missie sah von der Bratpfanne auf.

„Wirklich? Mich haben sie überhaupt nicht gestört. Ich muss wohl todmüde gewesen sein. Übrigens, wo steckt Willie denn?“

„Wir haben vorhin nach den Pferden und Kühen gesehen, und danach ist er zum Treckführer rübergegangen.“

„Stimmt irgendwas nicht?“ Eine Sorgenfalte legte sich auf Missies Stirn.

„Alles in bester Ordnung! Willie wollte nur ein Weilchen mit ihm plaudern, um zu hören, wie weit wir heute fahren.“

„Ach so!“ Missies Stimme klang erleichtert. Sie begann, die Blechteller für das Frühstück hervorzuholen.

Es dauerte nicht lange, bis sie Willies vertrautes Pfeifen hörte. Ihr Herz schlug schneller. Wie sehr sie ihn doch liebte! Wenn Willie vor sich hin pfiff, war die Welt in Ordnung.

Inzwischen hatte Willie den Wagen erreicht und blieb stehen.

„Nanu? Du bist schon auf?“, begrüßte er sie. „Die Stechmücken haben dich wohl auch nicht mehr schlafen lassen, wie?“

Missie lächelte.

„Wenn ich ehrlich sein soll, hab ich sie nicht mal bemerkt. Es waren eher meine lädierten Knochen, die mich aus dem Bett getrieben haben. Sag mal, bist du auch so steif?“

„Ich müsste schon lügen, wenn ich nicht zugeben würde, dass es mich hier und da ’n bisschen zwickt“, lachte Willie, „aber mehr Bekenntnisse kriegst du nicht aus mir heraus. Ein gestandener Mann sollte sich schämen. Man könnte direkt meinen, ich hätte mein Lebtag noch keine harte Arbeit angefasst!“

Missies Augen streiften den kräftigen, muskulösen Oberkörper ihres Mannes.

„Das denkt bloß einer, der keine Augen im Kopf hat!“, erwiderte sie lächelnd.

„Also, ich geb’s ohne Umschweife zu“, meldete sich Henry zu Wort. „Ich spüre jeden einzelnen Knochen. Wusste gar nicht, dass man so viele davon hat. Nie hätte ich mir träumen lassen, was für ’ne Schwerstarbeit das ist, mit den Zügeln in der Hand auf dem Bock zu sitzen!“

„Wir haben uns bestimmt bald daran gewöhnt“, tröstete ihn Willie. „Noch ein paar Tage und wir lachen darüber!“

Sie setzten sich auf einen Baumstamm, und Willie sprach das Dankgebet, bevor Missie das Frühstück brachte.

Nachdem sie gegessen hatten, machte Henry sich gleich auf den Weg, um nach dem anderen Wagen zu sehen. Während Missie das Geschirr aufwusch und die Lebensmittel wieder verstaute, untersuchte Willie seinen Wagen und das Zaumzeug sorgfältig auf Bruchstellen und Risse. Die anderen Mitreisenden waren inzwischen auch auf den Beinen. Die Luft war erfüllt vom Jauchzen der spielenden Kinder, Hundegebell und den Rufen der Mütter. Inmitten all dieser Geschäftigkeit hörte Missie einen Säugling schreien.

„Hab gar nicht gewusst, dass auch ein Baby mit von der Partie ist“, sagte sie bewusst lässig und beobachtete Willie aus dem Augenwinkel.

„Das ist das kleine Collins-Mädchen“, gab Willie zurück. „Ganze sieben Monate ist sie alt.“

„Die Kleine hat sich aber mächtig viel vorgenommen.“

„Und ihre Mutter erst!“

„Ist das ihr einziges Kind?“

„Nein, sie hat noch eins. Muss ungefähr zwei Jahre alt sein.“

Missie überlegte.

„Da wird sie aber alle Hände voll zu tun haben. Vielleicht können wir anderen Frauensleute ihr hin und wieder ein bisschen von ihrer Arbeit abnehmen.“

„Da würde sie bestimmt nicht Nein sagen. Es ist noch eine andere Frau dabei, die auch Hilfe gebrauchen könnte, glaube ich.“

Missie sah auf.

„Ist sie krank?“

„Nun, krank vielleicht nicht gerade. Sie erwartet Nachwuchs.“

„Ach so!“

Missies Wangen röteten sich ein wenig. Sie hoffte, dass Willie es nicht bemerkt hatte.

„Das Kleine könnte sogar noch unterwegs ankommen. Ich hab mit dem Treckführer gesprochen. ,Keine Sorge!‘ hat der gemeint. ,Das ist schließlich nicht das erste Kind, das mitten in der Prärie zur Welt kommt. Außerdem haben wir eine Hebamme dabei. Mrs Kosensky heißt sie. Die hat schon unzählige Säuglinge ans Licht der Welt geholt. Trotzdem weiß ich nicht so recht. Also, wenn’s meine Frau wär …“

„Was denn, wenn’s deine Frau wäre?“, wiederholte Missie ängstlich.

„Wenn’s meine Frau wäre, dann säh ich lieber, dass das Kind in einem richtigen Haus geboren wird, und zwar mit einem Doktor dabei – für alle Fälle. Blake macht zwar große Worte, aber ganz wohl ist ihm bei der Sache vielleicht auch nicht. Ihm wär’s bestimmt lieber, die junge Frau brächte ihr Kind irgendwo in einer Stadt zur Welt, wo ein Arzt in erreichbarer Nähe ist.“

„Allzu große Sorgen scheint er sich aber kaum zu machen. Sonst hätte er sie nicht mitfahren lassen.“

„Soviel ich weiß, hat niemand ihm etwas von der Sache gesagt, bis alles geregelt war. Und dann wollte er die beiden jungen Leute auch nicht mehr fortschicken. Sie hatten längst ihr ganzes Hab und Gut verkauft.“

„Nun ja, wenigstens kann niemand Mr Blake irgendwelche Vorwürfe machen. Er hat’s ja nicht gewusst!“

„Ihr Mann hat’s aber von Anfang an gewusst.“

Missie wandte sich ab und machte sich an dem Kaffeekessel und der Bratpfanne zu schaffen.

„Wird schon alles gut gehen“, sagte sie. „Ich geh sie gleich heute besuchen. Wie heißt sie denn eigentlich?“

„Clay ist der Nachname. Wenn ich mich nicht irre, heißt der Mann John.“

„Hast du die Frau gesehen?“

„Ja, von Weitem. Ihr Wagen ist der erste im Treck. Gestern Abend, als ich die Pferde ans Wasser führte, sah ich zufällig, wie er ihr vom Wagen half. Ich glaube nicht, dass ihr den ganzen Tag über nach einem Fußmarsch zumute war.“

„Sie gewöhnt sich bestimmt schnell an das Reisen“, meinte Missie, doch es klang nicht sehr überzeugt. „Vielleicht geht sie ja heute ein Stück zu Fuß, und dann kann ich sie kennenlernen.“

Einer der Treckbegleiter kam auf einem lebhaften Rotschimmel an die Wagen herangeritten und rief den Wagenführern zu: „Alle Mann anspannen! Gleich geht’s los!“

Wie auf Kommando hasteten die Männer auf die Baumgruppe zu, wo die Pferde angebunden standen. Die Frauen beeilten sich, das Kochgeschirr wieder in den Wagen zu verstauen, die Feuerstellen auszulöschen und ihre Kinder um sich zu versammeln. Missie, deren Pfannen und Teller längst eingepackt waren, lehnte sich an ihren Wagen und schaute dem geschäftigen Treiben zu.

Da hörte sie wieder den Säugling schreien. Sie hatte ein Herz für Kleinkinder, doch mit einem so jungen Erdenbürger diese strapaziöse Reise zu unternehmen erschien ihr doch recht gewagt. Vielleicht würde sie der Mutter hier und da eine Hilfe sein können.

Dann wanderten ihre Gedanken zu der schwangeren jungen Frau. Missie freute sich darauf, sie kennenzulernen. Sie hoffte, dass ihre junge Mitreisende die Schwangerschaft gut überstehen würde, doch Willies Worte klangen noch im ihr nach und legten sich wie ein eisernes Band um ihr Herz. „Ich werde einfach mal diese Mrs Kosensky aufsuchen und ein Weilchen mit ihr plaudern“, nahm sie sich vor. „Sie ist schließlich erfahren in solchen Sachen und wird sich zu helfen wissen.“

Damit verschwanden Missies Bedenken wie der Nebel vor der Sonne.

Missies Weggefährtinnen

An diesem Tag nahm Missie sich vor, ihre Mitreisenden ein wenig näher kennenzulernen. Mrs Collins war nicht schwer zu finden. Sie brauchte nur dem Schreien des Kleinkindes zu folgen. Es war schon Mittag und Mrs Collins kochte gerade das Essen. Ein kleiner Junge hielt sich an ihren Rockfalten fest, während der Säugling auf ihrem Arm aus Leibeskräften schrie.

Missie begrüßte die junge Frau und stellte sich vor.

„Wir haben gerade gegessen“, sagte sie. „Kann ich Ihnen vielleicht das Baby abnehmen, während Sie kochen?“