Wenn der Hoffnung Flügel wachsen - Janette Oke - E-Book

Wenn der Hoffnung Flügel wachsen E-Book

Janette Oke

5,0

Beschreibung

Nach einem aufregenden Jahr im kanadischen Westen kehrt Beth Thatcher zu ihrer wohlhabenden Familie zurück. Kaum ist sie angekommen, brechen sie gemeinsam zu einer luxuriösen Dampfschiff-Kreuzfahrt entlang der Ostküste auf. Schnell wird Beth klar, dass sie sich stärker verändert hat, als sie dachte - aber auch, dass der Lebensstil ihrer Familie durchaus seine Reize hat. Auch die Trennung von Jarrick, dem Mountie, dem sie ihr Herz geschenkt hat, fällt ihr schwer. Doch ist sie wirklich bereit, mit ihm in den Westen zu ziehen und damit ihre Familie und allen Komfort für immer hinter sich zu lassen? Während Beth noch mit der Entscheidung ringt, passiert etwas, das alles infrage stellt ... Die Fortführung der Serie, die mit "Aufbruch ins Ungewisse" ihren Anfang nahm.

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Über die Autorinnen

Janette Oke gilt als die Grande Dame der christlichen Siedler-Romane und hat bereits über 75 Bücher veröffentlicht, von denen einige auch verfilmt wurden. Sie wurde 1935 auf einer Farm in Kanada geboren und lebt heute mit ihrem Mann Edward in Alberta. Sie hat vier erwachsene Kinder und eine wachsende Schar von Enkel- und Urenkelkindern. Dieses Buch hat sie gemeinsam mit ihrer Tochter Laurel Oke Logan verfasst.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die amerikanische Originalausgabeerschien im Verlag Bethany House Publishers, Minnesota,unter dem Titel „Where Trust Lies“.© 2015 by Janette Oke und Laurel Oke Logan© der deutschen Ausgabe 2016 by Gerth Medien GmbH, Dillerberg 1, 35614 AsslarDie Bibelzitate wurden, sofern nicht anders angegeben,der folgenden Bibelübersetzung entnommen:- Revidierte Elberfelder Bibel, © 1985/1991/2008 SCM R. Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten1. Auflage 2016ISBN 978-3-96122-149-3V001Umschlaggestaltung: Yannick SchneiderUmschlaggrafik: Dan ThornbergSatz: DTP Apel, Wietzewww.gerth.de

Romanfiguren

Die Familie Thatcher

Beth – Elizabeth Thatcher

Mutter – Priscilla Thatcher

Vater – William Thatcher

Julie – Beths vier Jahre jüngere Schwester

Margret Bryce – Beths verheiratete, zwei Jahre ältere Schwester

John Bryce – Margrets Ehemann

J. W. Bryce – Margrets Sohn, Beths Neffe (Kleinkind)

Die Familie Montclair

Charles Montclair – Geschäftspartner von William Thatcher, Freund der Familie

Edith Montclair – Edwards Mutter und engste Freundin von Priscilla Thatcher

Edward Montclair – Beths Freund aus Kindertagen und ihr vermeintlicher Verehrer

Victoria Montclair – Edwards Schwester, Teenager

Weitere Personen

Jarrick „Jack“ Thornton – Beths Schwarm in Aufbruch ins Ungewisse

Emma – Dienstmädchen der Familie Thatcher

Lucille Bernard – Kindermädchen von J. W.

Lise – Dienstmädchen der Familie Montclair

Emile Laurent – frankokanadischer Reiseführer, Freund von William Thatcher

Penny, Jannis und Nick – Freunde auf dem Kreuzfahrtschiff

Kapitel 1

Beth griff nach dem samtigen Rosenblatt und zupfte behutsam daran, bis es sich von seinem Platz in der noch immer duftenden Blütenpracht löste. Zu schade! Wenn ich doch nur den ganzen Strauß aufbewahren könnte! Sie hatte einen Großteil der Reise damit zugebracht, sich die Szene ihrer Heimkehr am Bahnhof von Toronto auszumalen, und diese Lösung schien die beste zu sein.

Sollte sie mit einer Schachtel welkender langstieliger Rosen aus dem Zug steigen, würde ihre Mutter sofort ahnen, dass es über Beths Jahr als Lehrerin in Coal Valley mehr zu sagen gab, als sie bisher preisgegeben hatte. Eine Flut von Fragen und Vermutungen würde folgen, viel mehr, als Beth zu beantworten bereit war. Darum blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als Jarricks Abschiedsgeschenk, das sie die ganze Zeit wie einen kostbaren Schatz gehütet hatte, auf diese Weise zu verbergen.

Seufzend zupfte sie ein weiteres weinrotes Blütenblatt ab und legte es zu den übrigen in das weiße Taschentuch auf ihrem Schoß. Natürlich war es nicht nötig, sämtliche Rosenblätter aufzubewahren, doch Beth brachte es nicht übers Herz, auch nur das kleinste, eng gekräuselte Blättchen wegzuwerfen. Während sie sich das Taschentuch samt Inhalt vors Gesicht hielt und den köstlichen Duft einatmete, wurden die Erinnerungen wieder lebendig.

Vor ihrem geistigen Auge sah sie Jarrick am Bahnhof von Lethbridge, wie er die Hand beinahe beschützend auf seine Jackentasche legte, in der sich Beths Adresse und Telefonnummer in Toronto befanden. Groß und breitschultrig stand er da, sein kupferfarbenes Haar glänzte blond, wo es von den Sonnenstrahlen berührt wurde, und sein Lächeln spiegelte die Traurigkeit über diesen Abschied wider.

Der Gedanke daran, schon bald einen ersten Brief von ihm zu bekommen, vielleicht sogar seine Stimme am Telefon zu hören, ließ Beth erröten. Wenn es doch nur einen Grund gäbe, in den Westen zurückzukehren. Wenn doch nur eine Nachricht eintreffen würde, in der ich gebeten werde, ab Herbst ein weiteres Jahr in Coal Valley zu unterrichten …

Beth spähte aus dem Abteilfenster, während der Zug seine Fahrt verlangsamte, als er sich dem Bahnhof von Toronto näherte. Sie verknotete die Enden des weißen Taschentuchs und barg das duftende kleine Päckchen sicher in ihrer Handtasche. Dann wickelte sie das feuchte Tuch, mit dem sie die Blumen während der Reise frisch gehalten hatte, von den Rosenstielen und stopfte es in eine Ecke ihrer Reisetasche.

Ihr Puls beschleunigte sich, als ein schriller Pfiff zu hören war und der Bahnhof in Sicht kam. Mit einem letzten wehmütigen Blick auf die nackten Stängel in der Blumenschachtel nahm Beth ihre Reisetasche und folgte dem Gepäckträger, der ihre zwei übrigen Taschen durch den engen Gang trug.

Sie schob sich an anderen Reisenden vorbei, kletterte die überdimensionierten Stufen hinab und setzte ihren Fuß auf festen Boden. Obwohl sie sich innerlich darauf eingestellt hatte, fühlte sie sich völlig erschöpft. Keine Züge mehr!, dachte sie seufzend. Jedenfalls nicht in den nächsten Monaten. Es tut so gut, zu Hause zu sein. Warum ist das Reisen nur so anstrengend – selbst wenn man die meiste Zeit über sitzt?

Suchend glitt ihr Blick über den Bahnsteig, um ihren Gepäckträger ausfindig zu machen. Doch dann entdeckte sie ihren Vater, dessen winkender Arm über die Menschenmenge hinausragte.

Und gleich darauf hörte sie Julies Stimme. „Bethie! Wir sind hier drüben!“

Rasch bahnte Beth sich einen Weg durch das Menschengewühl und warf sich in die Arme ihrer Familie.

„Du bist zu Hause, Schatz! Herzlich willkommen daheim!“ Ein Durcheinander von Armen umfasste sie, begleitet von Lachen und aufgeregten Begrüßungen.

Schließlich gelang es Beth, sich Gehör zu verschaffen: „Ich kann euch gar nicht sagen, wie wundervoll es ist, euch alle zu sehen. Ich finde einfach keine Worte dafür …“

„Wir haben so sehnsüchtig auf dich gewartet“, rief ihre Mutter und umfasste Beths Gesicht mit ihrer weiß behandschuhten Hand. „Gut siehst du aus. Geht es dir auch gut, Beth? Du wirkst etwas dünn. Hast du auch immer genug gegessen?“ Mit diesen Worten trat Mrs Thatcher einen Schritt zurück, um ihre Tochter zu mustern, die dasselbe Reisekostüm trug wie vor einem knappen Jahr, als sie Toronto verlassen hatte.

„Mir geht es ausgezeichnet, Mutter. Wirklich!“

Julie nahm ihren Arm. „Ich habe dir so viel zu erzählen, Bethie. Warte nur ab! Es ist einfach wundervoll!“ Ihre Augen glänzten vor Begeisterung.

Sofort schaltete sich Mrs Thatcher ein: „Still, Julie. Alles zu seiner Zeit. Alles zu seiner Zeit.“ An Beth gewandt, fuhr sie fort: „Hier, Schatz, lass Julie deine Tasche tragen.“

Irgendetwas im Ton ihrer Mutter ließ Beth stutzen, doch Julie nahm flink ihre Tasche und Beth fand sich in der herzlichen Umarmung ihres Vaters wieder.

Alle redeten gleichzeitig, als sie die übrigen Taschen vom Gepäckträger entgegennahmen und Richtung Straße marschierten. Ihre Koffer aus dem Gepäckwagen würden in Kürze gebracht werden, hatte der Gepäckträger noch versichert und sich für das großzügige Trinkgeld bedankt.

Während der Heimfahrt in Vaters Rolls Royce beobachtete Beth den regen Verkehr auf den sauber gepflasterten Straßen, wo sich kleine Sportwagen, behäbige Lieferwagen und die eine oder andere schnittige Limousine tummelten. Immer wieder mussten die Autos einer Straßenbahn oder einem mutigen Fußgänger ausweichen. Was für ein Unterschied zu Coal Valley!, dachte Beth im Stillen. Ich hatte völlig vergessen, wie viel Betrieb hier herrscht!

Nach einiger Zeit ließen sie die Innenstadt hinter sich und fuhren unter einem Baldachin aus Baumkronen durch ein gepflegtes Wohnviertel. Schließlich hielt der Wagen vor dem prächtigen Anwesen, das Beth den größten Teil ihres Lebens als ihr Zuhause betrachtet hatte.

Die junge Frau atmete auf, während ihr Blick über die Fassade des dreigeschossigen Steinbaus glitt, der einem englischen Herrenhaus nachempfunden war. Glücklicherweise schien alles noch genau so zu sein, wie sie es zehn Monate zuvor verlassen hatte. Aber irgendwie kommt mir das Haus breiter vor als früher, dachte Beth, als sie aus dem Wagen stieg.

Wie aufs Stichwort erschienen Margret und ihr Mann in der offenen Eingangstür. Beth lief die Stufen hinauf und warf sich ihrer älteren Schwester in die Arme, bevor sie auch ihren Schwager John begrüßte. Gleich darauf blickte sie sich suchend um.

Margret lächelte wissend, legte eine Hand auf Beths Arm und nickte in Richtung der breiten Tür zum Salon.

Vor lauter Überraschung schlug Beth die Hand vor den Mund, als eine kräftige kleine Gestalt mit pummeligen Beinchen den Flur entlangrannte. Das ist ja J. W.!

„Margret, ich kann kaum fassen, wie groß er geworden ist!“ Eine Mischung aus Freude und Traurigkeit füllte Beths Augen mit Tränen, die sie hastig fortwischte. Schnell ging sie ihrem süßen kleinen Neffen nach und hob ihn schwungvoll hoch.

Doch der Kleine zappelte und wand sich so heftig, dass sie ihn schließlich wieder freigab, worauf er sich eilig hinter den Beinen seines Vaters versteckte.

Er kennt mich gar nicht mehr! Dieser Gedanke traf sie wie ein eisiger Windhauch aus den Rocky Mountains.

Margret legte schmunzelnd einen Arm um ihre Schwester. „Lass ihm etwas Zeit. Er wird dir schon bald überallhin folgen, sodass du über jede Ruhepause froh sein wirst.“

Beth lächelte, doch innerlich war sie noch immer traurig. Dann wurde ihr bewusst, dass sie ihren kleinen Neffen im Grunde ja auch nicht mehr richtig kannte.

„Er macht uns so viel Freude, Beth“, erklärte die stolze Mutter. „Stell dir vor, wir haben ihm sogar beigebracht, ‚Tante Beth‘ zu sagen, auch wenn es sich eher nach ‚Tan Bes‘ anhört, fürchte ich.“

„Was, er spricht sogar schon?“

„Ja, jeden Tag ein bisschen mehr. Er ist anderen Kindern in seinem Alter weit voraus.“ Margaret hielt inne und lachte. „Nun, jedenfalls glauben wir das.“

Julie hatte sich von hinten an J. W. herangeschlichen, und der fast Zweijährige kicherte, als er sie sah. „Und du sagst ‚Tan Bes‘ genauso perfekt, wie du ‚Tan Duli‘ sagst, nicht wahr, junger Mann?“ Sie kitzelte den kleinen Jungen, der daraufhin kreischend durch den Flur lief.

Margret hatte noch immer den Arm um Beth gelegt und drückte sie sanft. Dann schob sie sie zum Esszimmer, wo das Mittagessen wartete. „Wir wollen alles über dein Leben da draußen im Westen hören, Beth. Mutter hat uns die meisten deiner Briefe vorgelesen, aber ich bin sicher, dass es noch viel mehr zu erzählen gibt.“

Beth dachte an die Rosenblätter in ihrer Handtasche. Mehr, als du ahnst, liebe Margaret. Mehr, als du ahnst.

* * *

Beth öffnete vorsichtig die Augen und sah sich in dem einst so vertrauten Schlafzimmer um. Es fühlte sich seltsam an, mit den Armen über der Bettdecke aufzuwachen, nachdem sie in den kalten Nächten in Coal Valley ihre Decke stets bis zum Kinn hatte hinaufziehen müssen.

Sie erinnerte sich an das Gefühl des dicken Teppichs unter ihren Füßen, als sie am Abend zuvor in das große, einladende Badezimmer gegangen war. Und das ausgiebige Bad in der großen Wanne war eine wahre Wohltat gewesen – welch ein Unterschied zu der Eisenwanne in Mollys Küche, die eigenhändig mit Wasser vom Ofen gefüllt werden musste!

Doch Beth hatte nicht lange Zeit, sich wieder auf ihre Umgebung einzustellen, da irgendjemand stürmisch an ihre Tür klopfte. Gleich darauf tauchte Julies strahlendes Gesicht im Türrahmen auf. „Zeit zum Aufstehen, du Faulpelz!“

Beth musste lachen.

„Komm, das Frühstück ist fertig und deine Koffer sind angekommen!“ Julie lief zum Bett, fasste ihre Schwester an den Händen, um sie aufzurichten, und huschte so schnell aus dem Zimmer, wie sie hereingekommen war.

Rasch zog Beth sich an und ging nach unten, wo der Rest der Familie bereits am Tisch saß. Die junge Lehrerin war es gar nicht mehr gewohnt, dass ein Hausangestellter die Schüsseln auf der Anrichte nachfüllte, während sich ihre Familienmitglieder angeregt unterhielten. Glücklicherweise hatten die anderen Erbarmen mit ihr und ließen sie essen und Tee trinken, ohne sie mit allzu vielen Fragen zu bombardieren.

Nach dem Frühstück bestand Mrs Thatcher darauf, Beth beim Auspacken zu helfen. Margret kam ebenfalls ins Zimmer und setzte sich auf die Fensterbank, während Julie zwischen den Koffern hin- und herflitzte, Teile herausnahm und besah und Kommentare abgab, wenn ihr etwas besonders gut gefiel. Beth, ihre Mutter und das Hausmädchen Emma holten abwechselnd Kleidungsstücke aus den Taschen, um sie wegzuräumen.

So viel Aufhebens, um ein paar Koffer auszupacken. Molly würde nicht schlecht darüber staunen!, schoss es Beth durch den Kopf.

„Ach du meine Güte!“, sagte Mutter erschrocken. „Was um alles in der Welt ist denn das?“ Sie hielt eine einfache Kattunbluse hoch.

Beth nahm ihrer Mutter die Bluse aus der Hand und stopfte sie mit einigen anderen schlichten Kleidungsstücken in den Koffer zurück. Hastig erklärte sie: „Das habe ich zum Unterrichten angezogen. Ich habe mir extra einige einfache Kleider nähen lassen, damit meine Schüler nicht denken, ich würde mich für etwas Besseres halten.“ Sie bemerkte, dass sich ein defensiver Ton in ihre Stimme geschlichen hatte, und versuchte, unbekümmert zu lächeln.

Ihre Mutter schien vor lauter Bestürzung sprachlos zu sein. Hilfesuchend drehte sie sich erst zu Margret, dann zu Julie um.

Doch Margret sagte nur: „Wie lieb von dir, Beth, dafür zu sorgen, dass deine Schüler sich in deiner Gegenwart nicht unbehaglich fühlten. Kein Wunder, dass dein Unterricht erfolgreich gewesen ist.“

Julie lachte fröhlich. „Keine Sorge, Mutter. Bei meinem Besuch konnte ich mich davon überzeugen, dass sie dort nicht unangenehm aufgefallen ist. Aber, Bethie“, fuhr sie fort, und im ersten Moment war Beth froh, dass ihre Schwester das Thema wechselte, „du hast uns ja längst noch nicht alles über deine Abenteuer erzählt. Gibt es nicht vielleicht noch irgendwelche Dinge – oder Personen –, über die wir Bescheid wissen sollten?“

Beth warf Julie einen ärgerlichen Seitenblick zu, bevor sie mit ruhiger Stimme antwortete: „Nein, ich denke, ich habe euch alles Wichtige berichtet. Gestern Abend bei Tisch und auch heute Morgen beim Frühstück habe ich ja ausführlich erzählt, und ich glaube, das genügt für den Augenblick.“

Mit einem verschmitzten Lächeln beugte Julie sich vor, als ob sie etwas aus dem Koffer holen wollte, und flüsterte Beth das Wort „Lügnerin!“ ins Ohr. Ihr kurzer Besuch in Coal Valley hatte dazu geführt, dass sie mehr wusste als der Rest der Familie. Sie kannte Jarrick, hatte sogar einige Worte mit ihm gewechselt. Was würde sie als Nächstes sagen?

Erleichtert atmete Beth auf, als Julie mit einer Bürste und einer Schachtel Haarklammern auf den Toilettentisch zuging.

Doch ihre jüngere Schwester hatte ihr kleines Spielchen noch nicht beendet. Bevor Mutter sich einmischen konnte, zuckte sie spöttisch die Achseln und sagte in gespielt hochnäsigem Ton: „Es sieht so aus, als ob ich die Einzige hier wäre, die darauf erpicht ist, die ganze Wahrheit zu hören!“

Nun runzelte Mrs Thatcher die Stirn und sagte tadelnd: „Julie, ich weiß nicht, wieso du Beth in dieser Weise provozieren musst. Dies ist weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort, um …“

„Aber wir können doch jetzt über unser Geheimnis reden, oder?“, warf Julie rasch ein.

Beth klappte den Koffer zu und reckte sich. „Was für ein Geheimnis?“

Mutter seufzte und nickte kaum merklich, worauf Julie freudestrahlend herausplatzte: „Räum deine Koffer noch nicht weg, Schwesterlein. Du wirst sie noch brauchen!“

Nachdem Mutter das Dienstmädchen Emma mit einer Handbewegung entlassen hatte, bedeutete sie Beth, sich neben sie auf die Bettkante zu setzen.

Beths Herz begann zu rasen. Was um alles in der Welt …?

„Wie du weißt, haben wir schon seit einigen Jahren vor, auf Reisen zu gehen. Doch Vater war durch seine Geschäfte immer so eingespannt, dass es bisher nicht möglich gewesen ist. Nun ist er damit einverstanden, dass wir ohne ihn reisen, da ihr mittlerweile alle erwachsen genug seid. Wir haben also Plätze auf einem Dampfer reserviert, der den Sankt-Lorenz-Strom hinunter und anschließend an der Ostküste Kanadas und der Vereinigten Staaten entlangfahren wird. Unterwegs kann man viele große Städte und interessante Sehenswürdigkeiten besichtigen.“

Margret nickte lächelnd, während Mutter weiterredete: „Schiffe sind längst nicht mehr die schwerfälligen, unzumutbaren Verkehrsmittel wie früher – sie sind jetzt höchst modern und mit jeglichem Komfort ausgestattet. Ich habe gehört, dass es sogar überdachte Schwimmbäder darauf gibt, stell dir nur vor! Viele unserer Freunde habe eine solche Kreuzfahrt gemacht und waren davon sehr angetan.“

„New York City!“, stieß Julie begeistert hervor. „Denk doch nur!“

Beth spürte ihr Herz pochen und schluckte mühsam. „Und wann … wann genau soll diese Reise denn stattfinden?“

Ein peinliches Schweigen folgte. Die drei Frauen sahen einander verlegen an, bevor Mutter schließlich antwortete: „Es ist geplant, dass wir – wir alle – am kommenden Montag nach Quebec City aufbrechen. Wir haben vereinbart, mit Mrs Montclair und ihrer Tochter Victoria gemeinsam zu reisen. Seit Wochen sind wir damit beschäftigt, alle nötigen Vorkehrungen zu treffen.“ Die Stimme von Mrs Thatcher gewann mit jedem Satz an Sicherheit.

Stumm betrachtete Beth ihre Hände und vermied es, jemanden anzusehen. Sie etwarten, dass ich etwas sage. Dass ich völlig aus dem Häuschen bin vor Freude. Wenn sie jetzt zum Ausdruck bringen würde, wie ihr zumute war, würde sie die anderen unweigerlich enttäuschen.

„Ich bin gerade erst heimgekehrt, Mutter.“ Beth schluckte erneut. „Und ich hatte eigentlich gedacht … Ich hatte mich darauf gefreut …“ Sie brach ab und suchte nach den richtigen Worten. „Ich fürchte, ich brauche etwas Zeit, um mich innerlich darauf einzustellen.“

Sofort machte sich eine gewisse Ernüchterung breit. Margaret stand auf und schlüpfte hinaus, nachdem sie noch kurz Beths Arm getätschelt hatte. Julie folgte ihr und schließlich ging auch Mutter zur Tür.

Doch Mrs Thatcher zögerte, bevor sie den Raum verließ. „Wir hatten uns so darauf gefreut, es dir zu erzählen. Vor allem Julie. Ich wünschte, du hättest …“ Sie seufzte. „Früher hast du uns so oft bestürmt, endlich verreisen zu dürfen, dass wir keinen Zweifel daran hatten, dass du einverstanden sein würdest. Mit dieser Reaktion hätten wir niemals gerechnet.“

Sie schüttelte den Kopf. „Und ich weiß wirklich nicht, wo du bleiben und was du tun solltest, falls du nicht mitkommen willst. Vater wird auch fort sein, sodass das Haus praktisch leer stehen wird. Bitte überleg es dir gut, Liebling. Wir haben dich in all den Monaten so sehr vermisst. Und ich glaube, ich könnte es nicht ertragen, dich hier zurückzulassen.“ Mit diesen Worten verließ Mrs Thatcher das Zimmer ihrer Tochter.

Beth starrte auf ihre halb ausgepackten Koffer und bemühte sich, nicht in Tränen auszubrechen. Doch als sie mit zitternden Händen weiter aufräumte, spürte sie ihr Herz wie einen Stein in der Brust.

* * *

„Hast du Zeit, ein wenig mit mir spazieren zu gehen?“ Das Lächeln, das sie ihrem Vater schenkte, fiel etwas zittrig aus, als sie ihn von der Türschwelle seines Arbeitszimmers aus ansprach.

Sofort legte er das Buch, in dem er gerade las, zur Seite. „Natürlich, mein Schatz.“ Er stand auf, schlüpfte in seine Jacke und folgte ihr nach draußen.

Beth wickelte ihren Schal enger um ihre Schultern, als sie an diesem ungewöhnlich kühlen Juniabend mit ihrem Vater die breiten Stufen hinunterging. Sie überlegte, welche Richtung sie einschlagen sollten. Anstatt die Einfahrt entlangzugehen, war es vielleicht besser, über den Rasen rund um das Gebäude zu schlendern. Vermutlich waren mindestens zwei Runden nötig, bis sie alle ihre Gedanken und Gefühle losgeworden war.

Schmunzelnd schritt ihr Vater neben ihr her. „Ich bezweifle, dass diese Schuhe jemals zuvor den Rasen betreten haben.“

Beth blieb stehen und schaute bestürzt auf die handgefertigten Kalbslederschuhe ihres Vaters. Sie hatte es sich angewöhnt, an der frischen Luft herumzugehen, wann immer sie nachdenken wollte.

„Keine Sorge, meine Liebe“, beschwichtigte sie ihr Vater, während er ihren Arm nahm. „Ich bin gar nicht so kompliziert. Es ist nur so, dass ich tatsächlich noch nie über unsere Außenanlagen marschiert bin. Hältst du mich jetzt etwa für einen fürchterlichen Snob?“ Seine Augen weiteten sich in gespielter Besorgnis.

Beth musste trotz ihrer inneren Anspannung lachen. „Nein, Vater. Ganz bestimmt nicht.“

Eine kleine Weile blieb es still, während Beth ihre Gedanken zu sammeln versuchte. Sie gingen an einer langen Reihe französischer Fliederbüsche vorbei, die das Anwesen von der Straße abschirmten. Mehrere große Büschel verblühender Blüten hingen noch an den Zweigen und verströmten einen vertrauten, intensiven Duft, den Beth stets geliebt hatte. Sie atmete tief ein, bevor sie sich ihrem Vater zuwandte. „Ich bin nicht sicher, ob ich verreisen möchte“, flüsterte sie.

„Mutter hat es mir gegenüber erwähnt.“

Beth biss sich auf die Unterlippe. „Was hat sie denn alles gesagt?“

„Das ist jetzt nicht wichtig.“

Schweigend gingen sie weiter und blieben wenig später vor einigen großen violetten Schwertlinien stehen.

Schließlich brach es aus Beth heraus: „Ich bin gerade erst zu Hause angekommen! Und ich finde gar keine Worte dafür, wie wundervoll sich das anfühlt. Ich habe noch nicht einmal meine Sachen ganz ausgepackt!“ Danach erklang ein Geräusch, das sowohl ein unterdrücktes Schluchzen als auch ein leises Lachen sein konnte.

„Ich verstehe.“ Vater tätschelte ihren Arm. „Würde es einen Unterschied machen, wenn du vor der Abreise noch eine oder zwei Wochen Zeit hättest?“

„Ich weiß es nicht.“ Beth seufzte. „Vielleicht … aber andererseits kommt es auf ein paar Tage hin oder her auch nicht an.“

„Was ist es dann, was dich an diesem Vorhaben so stört?“

Beth setzte sich wieder in Bewegung und ihr Vater ging neben ihr her. „Nun“, gab Beth zu, „in erster Linie mache ich mir Sorgen, dass ein Brief eintreffen könnte, in dem ich gebeten werde, weiterhin in Coal Valley zu unterrichten. Und dass diese Stelle anderweitig vergeben werden könnte, falls ich nicht schnell genug darauf reagiere.“

„Du meinst, diese Reise könnte eine mögliche Rückkehr in den Westen gefährden?“

„Ja, genau.“

„Ich verstehe. Das klingt so, als ob du entschlossen wärst, die Stelle anzunehmen, wenn sie dir angeboten wird.“

Beth suchte den Blick ihres Vaters und flüsterte: „Ja, das stimmt. Ich fühlte mich sehr, sehr wohl dort.“

Als sie Traurigkeit in seinen Augen aufflackern sah, wandte sie rasch den Kopf ab. Erneut herrschte Schweigen, während sie nebeneinander über das Grundstück spazierten. Beth kämpfte mit widerstreitenden Gedanken und nach einigen Minuten fragte sie: „Kann die Post nachgesandt werden, egal, wo wir uns befinden?“

„Ja, das ist kein Problem.“

„Und wir würden sie erhalten, sobald wir in einem Hafen anlegen?“

„Ja, das wurde immer so gehandhabt, wenn ich auf Reisen war. Kannst du dich erinnern, wie viele Briefe du mir im Laufe der Jahre geschrieben hast? Ich habe jeden einzelnen davon erhalten.“ Vater machte eine Pause, bevor er fortfuhr: „Ich kann nicht versprechen, dass es keinen Verzug geben wird. Aber es besteht ja auch noch die Möglichkeit, ein Telegramm zu verschicken. Wir könnten Jacob die Anweisung geben, jeden Brief, der von der Schulbehörde stammt, zu öffnen und die Neuigkeiten aufs Schiff zu telegrafieren.“

Dieser Gedanke entfachte einen kleinen Hoffnungsfunken. „Das wäre wirklich hilfreich.“

„Hast du denn schon einmal in Betracht gezogen, dass du diese Reise tatsächlich genießen könntest, Beth?“

Sie spürte, wie ihr Widerstand dahinschmolz. Seufzend hakte sie sich bei ihm unter. „Und wo wirst du sein, Vater? Warum kommst du nicht mit?“

„Tja, nun … ich muss leider nach Südamerika fahren. Mr Montclair und ich haben einige neue Kontakte geknüpft, um die wir uns kümmern müssen. Vielleicht werden wir sogar vor Ort ein Flugzeug chartern, um die Produktionsstätten zu besichtigen. Stell dir nur vor, dein alter Vater wird womöglich fliegen!“ Er breitete die Arme aus und zwinkerte ihr zu.

Während er seine Arme schwenkte, die die Tragflächen eines Flugzeugs darstellen sollten, begann Beth zu lachen. Inzwischen waren sie bei den in ordentlichen Reihen gepflanzten Obstbäumen ganz hinten im Garten angelangt. Einige Bäume trugen noch ihre Blüten aus dem späten Frühjahr. Vater pflückte eine von ihnen und steckte sie in Beths Haar.

In ernsterem Ton sprach er weiter: „Nach all den schwierigen Jahren erleben wir gerade einen Wirtschaftsaufschwung, der hoffentlich noch eine Weile anhalten wird. Und obwohl ich nicht zu denen gehöre, die alle Vorsicht außer Acht lassen, glaube ich doch an eine beständige Expansion unserer Geschäfte. Anders gesagt: Man muss das Eisen schmieden, solange es heiß ist.“

Nachdenklich hielt er inne. „Ich bin immer gerne unterwegs gewesen, Beth, und deshalb glaube ich, dass ich für diese Tätigkeit geeignet bin. Allerdings bedaure ich meine häufige Abwesenheit von zu Hause. Ich war zu oft auf Reisen, als ihr Kinder groß geworden seid. Aber so ist es nun mal im Leben: Alles hat seinen Preis. Oft bedeutet die Entscheidung, in eine bestimmte Richtung voranzugehen, dass man gezwungen ist, anderes loszulassen, darunter auch die Menschen, die einem am Herzen liegen.“

Beth merkte an seinem Blick und an seiner gepressten Stimme, dass er nicht länger nur über seine Geschäfte sprach.

„Ich würde dich gern für immer in meiner Nähe behalten, mein Schatz“, erklärte er ruhig. „Aber trotzdem würde ich dir niemals das Vorrecht streitig machen, dir deine eigene Meinung zu bilden und deinen eigenen Weg zu wählen.“

Sein Gesicht verzog sich zu einem schelmischen Lächeln. „Letztes Jahr lag ein überschaubarer Weg vor dir: Du hättest Edward Montclair mit dem Segen beider Elternpaare heiraten und an seiner Seite recht komfortabel leben können.“

„Oh, Vater“, wandte sie errötend ein. „Du weißt doch, dass er für mich nie mehr als ein guter Freund gewesen ist.“

„Jedenfalls hast du dich anders entschieden“, sagte er, wobei er wieder ernst wurde. „Und daraus schließe ich, dass du mir vermutlich noch ähnlicher bist, als ich bisher gedacht habe.“

Er nahm ihren Arm und sie setzten ihren Spaziergang fort. „Bestimmt wird deine Mutter mir vorwerfen, es sei meine Schuld, dass du nicht davor zurückschreckst, dich auf Dauer im Westen niederzulassen. Aber mir ist bewusst, dass du in den letzten Monaten manche Schwierigkeiten bewältigt und verschiedenste Entbehrungen auf dich genommen hast. Und du bist an diesen Herausforderungen gewachsen und dadurch in deiner Persönlichkeit reifer und stärker geworden. Ich bin sehr stolz auf dich, Beth.“

„Danke, liebster Vater. Es bedeutet mir mehr, als ich sagen kann, dass du mich verstehst“, sagte sie mit rauer Stimme und umarmte ihn.

Schmunzelnd entgegnete er: „Wenn man beschließt, zu neuen Ufern aufzubrechen, gewinnt man ja manchmal auch neue Freunde …“

Beth keuchte und verbarg ihr Gesicht in der Anzugjacke ihres Vaters. Julie! Was kann sie nur erzählt haben?

Im Weitergehen bemerkte ihr Vater: „Ich habe am Abend vor deiner Heimkehr einen äußerst ungewöhnlichen Anruf erhalten. Es war ein Mann, dem ich nie zuvor begegnet bin. Stell dir nur vor!“ Wieder erschien ein schelmisches Lächeln auf Vaters Gesicht. „Ich glaube, ich sollte diesen Mann möglichst bald persönlich kennenlernen. Er bat nämlich darum, mit dir sprechen zu dürfen, meine Liebe.“

Atemlos fragte Beth: „Was … was hast du gesagt?“

„Ich habe ihm gesagt, dass du noch nicht in Toronto angekommen bist, dass er aber heute Abend erneut anrufen kann, um herauszufinden, ob du ihn sprechen möchtest.“

„Vater!“

„Ich war sehr freundlich, Beth, keine Sorge. Ich habe mich vorgestellt und ihn gefragt, woher er dich kennt. Und dann haben wir uns ein bisschen unterhalten. Es war sehr … aufschlussreich.“ Obwohl Vaters Worte beiläufig klangen, hatte er ihr seinen Kopf zugewandt und beobachtete aufmerksam ihren Gesichtsausdruck.

Beth, deren Herz bis zum Hals schlug, versuchte, sich nicht vorzustellen, über welche Details die beiden wohl gesprochen hatten. „Wirst du Mutter von ihm erzählen? Ich fürchte, sie könnte zu viel Wirbel darum machen. Wirst du …?“

„Nein, mein Schatz. Ich werde deiner Mutter nichts sagen. Doch bevor dieser junge Mann heute Abend erneut anruft, wäre es ratsam, dass du sie selbst informierst.“

Beth schluckte und nickte.

Kapitel 2

„Mutter, hast du einen Moment Zeit?“

Beth hatte ihren ganzen Mut zusammengenommen und war in den Wintergarten gegangen, wo ihre Mutter am Schreibtisch saß. Sie nimmt wahrscheinlich an, dass ich wegen der Kreuzfahrt zu ihr komme. Himmlischer Vater, hilf mir, die richtigen Worte zu finden. Und hilf Mutter, mich zu verstehen. Beths stummes Gebet machte sie ruhiger. „Können wir uns aufs Sofa setzen?“

Seufzend stand ihre Mutter auf und ließ sich auf dem bequemen Sofa vor der großen Fensterfront nieder, die den Blick auf den hinteren Garten freigab. Beth setzte sich neben sie und verschränkte ihre Hände nervös im Schoß. Dann sagte sie das Erste, was ihr in den Sinn kam: „Ich erwarte heute Abend einen Anruf.“

„Von wem denn, Liebling?“ Die Augen ihrer Mutter, von winzigen Fältchen umgeben, sahen sie voll Überraschung und Freude an. Offenbar ging Mrs Thatcher davon aus, dass es sich um eine von Beths Bekanntschaften aus Toronto handelte … womöglich sogar um einen geeigneten jungen Mann aus einer wohlsituierten Familie.

„Es ist jemand, den ich in Coal Valley kennengelernt habe“, fuhr Beth hastig fort.

Ihre Mutter zog die Augenbrauen hoch. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

„Also … ähm … es ist ein Mann.“

Mrs Thatcher räusperte sich. „Tatsächlich?“

„Er heißt Jarrick Thornton, aber die meisten Leute nennen ihn einfach nur ‚Jack‘. Ich selbst habe ihn von Anfang an mit seinem richtigen Vornamen angesprochen. Zuerst wollte ich ihn damit wohl ein wenig aufziehen, aber irgendwann ist mir klar geworden, dass ‚Jack‘ viel zu gewöhnlich klingt und einfach nicht zu ihm passt.“

Mutter schien nicht beeindruckt zu sein.

„Er ist ein Beamter der Royal Canadian Mounted Police.“

„Hast du ihn durch Edward kennengelernt?“, erkundigte sich Mrs Thatcher in etwas spitzem Ton.

„Nein.“ Beth hielt kurz inne, um sich noch einmal ins Gedächtnis zu rufen, wann genau sie Jarrick zum ersten Mal gesehen hatte. „Der Pastor von Coal Valley hat uns einander vorgestellt. Ich habe sonntags den Gottesdienst besucht, und meine Pensionswirtin, Miss Molly, hat die beiden Männer zum Mittagessen in ihr Haus eingeladen. Dort sind wir uns dann begegnet.“

Beth hoffte, dass ihre Mutter an der Art und Weise dieses Kennenlernens nicht zu beanstanden haben würde.

„Und seither habt ihr euch regelmäßig getroffen?“

Rasch schüttelte Beth den Kopf. „Oh, nein. Wir sind uns nur hin und wieder über den Weg gelaufen. Ich habe ihn bei Veranstaltungen in Coal Valley gesehen, und gelegentlich haben wir zusammengearbeitet, um den Kindern an meiner Schule zu helfen. Julie hat ihn ebenfalls kennengelernt, als sie mich besucht hat.“

Beth war bewusst, dass sie hektisch und nervös klang. Sie holte tief Luft und dachte an den Tag zurück, an dem sie zu dritt die Gegend rund um Coal Valley erkundet hatten – sie selbst, Julie und Jarrick. Er ist so aufmerksam und charmant gewesen, erinnerte sie sich. Doch solche Gedanken konnte sie ihrer Mutter gegenüber nicht äußern. Stattdessen sagte sie etwas verlegen: „Ich habe ihn doch sicherlich in meinen Briefen erwähnt.“

„Nein, tut mir leid, ich kann mich nicht an diesen Namen erinnern.“

Da hat sie wohl recht, dachte Beth beschämt. In ihrem Bemühen, ihre Mutter nicht allzu sehr zu beunruhigen, hatte sie ihr absichtlich das eine oder andere verschwiegen, was sie in Coal Valley erlebt hatte. Und ihre Bekanntschaft mit Jarrick hatte sie vermutlich höchstens am Rande erwähnt.

„Nun, er ist ein netter Mann, Mutter, ein bisschen älter als ich – beinahe dreißig, glaube ich. Wann er Geburtstag hat, weiß ich nicht.“ Was um alles in der Welt konnte sie noch über ihn berichten?

„Er stammt aus einer sehr angesehenen Familie in Manitoba, sein Vater ist dort Pastor. Soviel ich weiß, hat er eine Schwester und mehrere Brüder.“ Beth merkte selbst, dass diese äußerst knappe Personenbeschreibung kaum ausreichen würde, um Mutters verständliche Neugier zu stillen.

„Seit wann ist er bei der berittenen Polizei?“

„Ich weiß es nicht. Darüber haben wir nicht gesprochen.“

„Wird er in jener Gegend bleiben, oder wird er immer wieder an einen anderen Posten versetzt werden – wie Wynn und deine Tante Elizabeth? Edith Mountclair hat gesagt, dass Edward sich in Calgary niederlassen wird und gerade seine Verlobung mit einer Kate Duncan bekannt gegeben hat. Sie wollen schon bald heiraten.“

Mrs Thatchers Stimme war lauter und schärfer geworden. Es schien beinahe so, als würden ihre Worte von den bemalten Bodenfliesen zurückprallen und aus jeder Ecke des hohen Zimmers widerhallen.

Doch Beth blieb ganz ruhig. „Ich freue mich für Edward. Und ich weiß nicht, wohin Jarricks Arbeit ihn führen wird. Darüber haben wir noch nicht gesprochen.“

„Hmmm. Ich verstehe.“

Beth musste an seine Abschiedsworte denken, die er erst eine Woche zuvor geäußert hatte: Dass sie genau die Eigenschaften besäße, die er sich für seine zukünftige Frau wünsche. Und dass er sie – sollte Gott sie zurück nach Coal Valley führen – gerne um Erlaubnis bitten würde, ihr den Hof machen zu dürfen. „Er hat … Wir haben darüber gesprochen … dass wir einander näher kennenlernen möchten. Und wir haben vereinbart, den Sommer über Kontakt zu halten.“

Zwar entsprach dies durchaus den Tatsachen, aber Beth war bewusst, dass das Band zwischen ihr und Jarrick viel stärker war, als sie durchblicken ließ.

Sie beobachtete, wie ihre Mutter versuchte, diese Informationen zu verarbeiten. „Deshalb also möchtest du nicht verreisen. Du möchtest zu Hause sein, um seine Anrufe entgegenzunehmen?“

„Ja, schon, aber das ist nicht der einzige Grund. Ich bin gerade erst heimgekommen, Mutter, und ich …“ Da Beth in diesem Moment bewusst wurde, dass es vielleicht besser war, beim Thema zu bleiben, brach sie ab.

„Jedenfalls würde ich heute Abend sehr gerne mit ihm reden, wenn er anruft“, fuhr sie fort. „Ich hoffe, du hast nichts dagegen. Mit Vater hat er bereits gesprochen. Ich weiß nicht, wie und wann du ihn persönlich kennenlernen kannst, aber ich hoffe sehr, dass sich bald eine Gelegenheit dafür finden wird. Ich bin sicher, er würde dir gefallen. Er ist ein wahrer … Gentleman.“

Dieses Wort schien nicht einmal im Entferntesten auszureichen, um Jarricks Charakter zu umreißen, doch Beth hoffte, dass es ihre Mutter beeindrucken würde. Während sie nervös am Stoff des Sofas herumzupfte, stammelte sie: „Er ist freundlich, redegewandt, geschickt im Umgang mit Kindern und äußerst umsichtig. Ich habe gesehen, wie hart er arbeitet, um für die Sicherheit anderer Menschen zu sorgen – um uns alle zu schützen. Er nimmt seine Arbeit sehr ernst …“

„Ich verstehe.“

Um ein Haar wäre Beth herausgeplatzt: Warst du nie verliebt, Mutter? Doch sie hielt diese gewagte, vielleicht sogar respektlose Frage gerade noch rechtzeitig zurück. Da ihre Gedanken allerdings weiter in diese Richtung gingen, fragte sie sich unwillkürlich: Ist es das, was ich fühle? Bin ich in Jarrick verliebt? Allein die Vorstellung bewirkte, dass sie sich einerseits unbehaglich und andererseits wie beschwingt fühlte.

In diesem Moment erklang die Glocke zum Abendessen. Sie standen auf und Mutter schob ihren Arm unter den ihrer Tochter. „Ich werde mich bemühen, dieser Sache aufgeschlossen gegenüberzustehen, mein Schatz. Aber ich hoffe sehr, dass du selbst nicht zu viel in eure Bekanntschaft hineininterpretierst. Du solltest nichts überstürzen, hörst du?“

Das würdest du nicht sagen, wenn es hier um Edward ginge!, hätte Beth am liebsten erwidert. Doch stattdessen nickte sie schweigend und ließ sich zum Speisezimmer führen.

* * *

Beim Abendessen wurden die Themen, über die Beth mit ihren Eltern gesprochen hatte, nicht erwähnt. Vater war wie üblich recht schweigsam, sodass vor allem John und die Frauen am Tisch miteinander sprachen, während Emma ihre Teller füllte.

Beth nahm an, dass sowohl ihre Mutter als auch ihr Vater glücklich darüber waren, dass endlich die ganze Familie wieder vereint war. Und hätte sie selbst nicht dieses nervöse Flattern in der Magengegend verspürt, dann hätte sie das ausgezeichnete Essen und das Zusammensein mit ihren Angehören mit allen Sinnen genießen können.

Nach dem Dessert standen sie auf und gingen in den Salon. Margret nahm ein Babylätzchen zur Hand, das sie mit buntem Garn bestickte. Julie wollte an einem Porträt von Vater weiterzeichnen – die Konturen des Gesichts und der Schultern waren bereits erkennbar –, während alle Übrigen es sich mit einem Buch bequem machten. Beth starrte jedoch auf die bedruckten Seiten, ohne den Inhalt des Textes zu erfassen.

„Vater“, beklagte sich Julie, „du musst aufhören, dich in deinem Sessel zu bewegen. Ich kann dich nicht richtig zeichnen, wenn du nicht still sitzt.“

„Tut mir leid, Schatz. Ich bin wohl irgendwie zerstreut heute Abend.“

Beths Blick heftete sich unwillkürlich an die Tür zum Arbeitszimmer. Wir können jeden Moment vom Klingeln des Telefons unterbrochen werden. Alle werden damit rechnen, dass Vater wie üblich die Tür des Arbeitszimmers schließt, bevor er abnimmt. Wird er das heute Abend auch tun? Erwartet er von mir, dass ich ihm folge? Vielleicht ruft ja zuerst jemand anders an, sodass die Telefonistin Jarrick sagen muss, dass die Leitung besetzt ist und er es später erneut versuchen soll … Beths Gedanken drehten sich im Kreis, bis sie sich schließlich energisch dazu zwang, aufmerksam zu lesen.

Als das Telefon dann wirklich klingelte, fuhr sie erschrocken zusammen, und Julie bemerkte amüsiert, ihre arme Schwester habe wohl schon lange kein Telefon mehr läuten gehört. Vater stand gelassen auf, ging in sein Arbeitszimmer und schloss die Tür hinter sich, während Mutter Beth einen vielsagenden Blick zuwarf.

Nach einer Weile tauchte Vater wieder auf. „Beth, würdest du bitte kommen?“

Alle Augen waren auf sie gerichtet, als sie durch den Raum schritt, der ihr mit einem Mal viel größer erschien als sonst. In seinem Büro wies Vater auf den Telefonhörer, der neben dem Apparat auf dem Schreibtisch lag, bevor er rasch hinausging und die Tür hinter sich zuzog.

Beth sank in den großen Ledersessel, lehnte sich nach vorn und stützte die Ellbogen auf dem massiven Schreibtisch ab. Dann räusperte sie sich und hielt den Hörer nahe an ihr Ohr. „Hallo?“

„Hallo, Beth. Hier ist Jarrick. Wie schön, endlich deine Stimme zu hören!“

Sie lachte etwas befangen. Tatsächlich war noch nicht viel Zeit vergangen, seit sie sich zum letzten Mal gesehen hatten, doch sie empfand das Gleiche wie er. „Ja, ich bin auch froh, deine Stimme zu hören. Der Abschied von Coal Valley scheint schon so lange her zu sein, dass ich beinahe das Gefühl habe, ich hätte alles nur geträumt.“

„Wie war die Reise?“ Die Frage klang etwas zu steif und förmlich für Beths Geschmack.

Sie bemühte sich, ihre Stimme unter Kontrolle zu bekommen, und antwortete: „Alles lief bestens. Es gab keinerlei unangenehme Zwischenfälle, aber aus irgendeinem Grund war der Rückweg tatsächlich genauso lang wie der Hinweg.“ Da Jarrick auf diesen kleinen Scherz nicht reagierte, fuhr sie ein wenig verlegen fort: „Ich habe mich nur noch danach gesehnt, endlich anzukommen.“

„Und wie geht es deiner Familie?“

„Oh, sehr gut. Alle sind wohlauf.“ Sie lächelte. „Übrigens habe ich erfahren, dass du mit meinem Vater gesprochen hast.“ Mit dieser Bemerkung steuerte sie das Gespräch in tiefere Gewässer. Atemlos wartete sie auf seine Antwort.

„Ja, das habe ich“, gab er zu. „Als ich anrief, hatte ich mich innerlich schon darauf eingestellt, dass nicht du selbst, sondern dein Vater ans Telefon gehen würde. Und so hatte ich mir schon im Voraus einige Antworten auf mögliche Fragen zurechtgelegt. Aber ich fand es natürlich sehr schade, dass du noch nicht zu Hause warst!“

„Ich hoffe, mein Vater war nicht unfreundlich zu dir. Er neigt dazu, seine Töchter zu beschützen!“

„Nein, überhaupt nicht, Beth. Er war erstaunlich ruhig, höflich und sachlich. Ich bin sicher, dass er in keiner Weise mit meinem Anruf gerechnet hat. Allerdings hat er sogleich die Gelegenheit beim Schopf gepackt und mich gründlich ausgefragt.“

Jarrick lachte etwas nervös. „Ich nehme an, dass er mittlerweile mit Edward telefoniert hat, um sich bei ihm über mich zu erkundigen. Edward ist außer dir ja die einzige Person, die sowohl deinen Vater als auch mich kennt.“

Dieser Gedanke war Beth bisher noch gar nicht gekommen. Das würde tatsächlich zu Vater passen. Was könnte Edward ihm über Jarrick erzählt haben? Immerhin ist er einer der wenigen, die über unsere beginnende Beziehung Bescheid wissen. Aber eigentlich hat er keinen Grund, sich negativ über Jarrick zu äußern. Ob Vater ihn schon erreicht hat?

„Hast du gehört, dass Edward inzwischen verlobt ist?“, fragte Jarrick nun.

„Ja. Meine Mutter hat es mir heute gesagt. Ich wusste aber bereits, dass er Kate demnächst einen Heiratsantrag machen wollte. Hast du sie schon getroffen?“

„Nur ein Mal. Sie machte einen netten Eindruck – etwas scheu, aber trotzdem sehr sympathisch. Es heißt ja, dass Gegensätze sich anziehen, also passen die beiden wohl gut zusammen.“

„Hm“, stimmte Beth zu, wobei sie sich unwillkürlich fragte, ob sie und Jarrick ebenfalls gegensätzlich waren.

Jetzt erklang ein Seufzer am anderen Ende der Leitung. „Ich fürchte, wir können nicht mehr lange miteinander reden, Beth. Ich bin am Bahnhof in Lethbridge, wo man mir ein Büro zum Telefonieren zur Verfügung gestellt hat, aber es kann sein, dass gleich jemand hereinkommt. Doch ich wollte dir unbedingt sagen, wie sehr ich dich vermisse. Und ich wollte noch einmal betonen, wie gern ich den Sommer über mit dir in Kontakt bleiben möchte. Leider weiß ich immer noch nicht, ob die Lehrerstelle in Coal Valley im Herbst wieder besetzt werden soll …“

„Jarrick“, unterbrach sie ihn hastig, „entschuldige bitte, aber ich muss dir etwas Wichtiges sagen: Meine Mutter und meine Schwestern planen, am Montag nach Quebec City aufzubrechen und von dort aus eine Kreuzfahrt entlang der Ostküste zu machen.“ Sie holte kurz Luft. „Verstehst du: Sie wollen, dass ich sie begleite.“

„Wie schön, Beth. Ich bin sicher, das wird eine wundervolle Erfahrung für dich sein.“ Er machte eine Pause. „Würdest du zum Schulbeginn im Herbst zurück sein?“

„Ja, natürlich – die Kreuzfahrt dauert nur sechs Wochen. Julie hätte zwar eine komplette Weltreise vorgezogen – sie würde am liebsten sofort sämtliche Reisen machen, die sie seit Jahren unternehmen wollte. Aber glücklicherweise hat Vater das unterbunden. Trotzdem wird es für uns beide schwieriger werden, in Kontakt zu bleiben. Ich glaube nämlich nicht, dass ich an Bord des Schiffes Anrufe entgegennehmen kann.“

„Können wir uns schreiben?“

„Ja, aber es wird länger dauern, bis die Post mich erreicht.“ Etwas nervös spielte Beth mit dem Telefonkabel, bevor sie mit gesenkter Stimme fortfuhr: „Ich habe mich noch nicht entschieden. Ich habe noch nicht zugesagt, dass ich mit ihnen reise.“

„Oh, das musst du aber!“ Seine Nachdrücklichkeit überraschte sie. „Das ist doch eine wundervolle Gelegenheit für dich! Ich bin sicher, du wirst eine großartige Zeit mit deiner Mutter und deinen Schwestern verbringen – und du hast es verdient, dich endlich einmal richtig zu erholen. Niemand weiß das besser als ich.“

„Das ist sehr nett von dir, aber …“

„Ich meine es ernst, Beth – du solltest diese Gelegenheit unbedingt wahrnehmen!“ Er schien nach den richtigen Worten zu suchen. „Vielleicht ist es ja das letzte Mal, dass du zusammen mit deiner Mutter und deinen Schwestern verreisen kannst. Ich meine …“ Er zögerte und schien nach den richtigen Worten zu suchen.

„Ich weiß nicht, ob ich so kühn sein darf, dieses Thema anzusprechen. Aber da ich mich bereits deinem Vater vorgestellt habe und es einige Zeit dauern könnte, bis wir wieder miteinander telefonieren können, wäre etwas Kühnheit vielleicht durchaus angebracht.“

Er räusperte sich, und Beth presste den Hörer noch näher an ihr Ohr und schloss die Augen, um sich Jarricks Gesicht vorzustellen.

Seine Worte kamen langsam. „Ich wollte deinem Vater gegenüber keinen Zweifel daran lassen, dass meine Absichten dir gegenüber ehrenhaft sind. Natürlich müssen wir einander erst noch besser kennenlernen; wir sollten Gott um seine Führung bitten und den Rat erfahrener Menschen einholen, bevor wir eine gemeinsame Zukunft ins Auge fassen können. Doch ich wollte deinem Vater klarmachen, dass meine letztendliche Absicht … nun, die Ehe ist.“

Nach einer kurzen Pause fuhr er mit nervöser Stimme fort: „Ich habe deinem Vater erklärt, dass ich als Polizeibeamter ein regelmäßiges Einkommen habe und somit imstande bin, eine Familie zu ernähren. Ich habe auch schon einiges gespart.“

Er zögerte erneut, dann setzte er rasch hinzu: „Selbstverständlich waren diese Worte nicht nur für deinen Vater gedacht, sondern auch für dich: Du sollst wissen, dass ich in der Lage wäre, für dich zu sorgen – ansonsten hätte ich es nicht gewagt, dich um deine Adresse und Telefonnummer zu bitten. Zwar werde ich dir wohl nicht den Komfort bieten können, den deine Familie gewohnt ist. Aber ich glaube, dass wir ein gutes Leben führen könnten.“

Wieder hielt er kurz inne und schien auf eine Antwort zu warten. „Hoffentlich findest du es nicht vermessen, dass ich meine Absichten so deutlich geäußert habe.“

Beth konnte sich selbst tief durchatmen hören. Das hat er wohl auch gehört, schoss es ihr durch den Kopf. Schließlich flüsterte sie: „Mir war nicht klar, dass du so offen mit Vater gesprochen hast.“

„Ich hatte den Eindruck, dass es notwendig sei. Ich wollte ehrlich und geradeheraus sein. Insbesondere, weil ein mögliches Treffen in eher fernerer Zukunft liegt.“

Einen Moment lang war nur ein Knistern in der Telefonleitung zu hören.

„Bitte sei mir nicht böse, falls ich zu vorschnell gewesen bin, Beth. Ich fürchte, dass dies eine meiner Schwächen ist. Doch meine Gefühle für dich, mein Interesse an einer Beziehung mit dir bestehen schon viel länger, als du ahnst. Wenn Edward mir gegenüber nicht den Eindruck erweckt hätte, er habe gewisse Ansprüche auf dich, dann hätte ich nicht so lange gewartet, um dir all dies zu sagen.“

In Beths Kopf wirbelten alle möglichen Fragen durcheinander: Wie hat Vater auf seine Erklärungen reagiert? Was hat er Jarrick geantwortet? Gleichzeitig versuchte sie, den Inhalt und die Tragweite von Jarricks Worten zu erfassen. War sie tatsächlich schon so weit, eine gemeinsame Zukunft mit Jarrick in Erwägung zu ziehen?

Das geht mir alles zu schnell. Ich weiß ja noch nicht einmal, ob ich ab Herbst wieder in Coal Valley unterrichten werde. Beth fühlte sich überfordert.

„Beth?“

„Könnten wir … das Ganze vielleicht ein bisschen langsamer angehen?“ Sie schob den Stuhl ein Stück vom Schreibtisch weg und lehnte sich darin zurück.

„Natürlich, Beth. Selbstverständlich.“

„Ich mag dich wirklich sehr, Jarrick, und ich bewundere deinen Charakter. Ich weiß deine Aufrichtigkeit zu schätzen und fühle mich durch deine Wort sehr geehrt. Wirklich. Aber ich bin mir noch nicht sicher, ob wir beide zusammengehören, und ich möchte so eine wichtige Entscheidung nicht vorschnell treffen. Darum brauche ich Zeit, um im Gebet auf Gottes Stimme zu hören. Ich möchte eine innere Gewissheit haben, die über meine Gefühle hinausgeht. Ist das in Ordnung für dich? Bitte sei mir nicht böse!“

„Aber nein. Selbstverständlich ist das in Ordnung“, erklärte er, doch seine Stimme klang nicht mehr so kraftvoll wie zuvor. „Ich werde eben Geduld haben müssen – auch wenn das nicht gerade meine größte Stärke ist.“ Er versuchte zu lachen, und sie spürte, dass er um Zuversicht rang.

„Der Sommer wird gar nicht so lange dauern, und er ermöglicht es uns immerhin, ausgiebig zu beten und nachzudenken. Und wenn Gott es will, werde ich bald wieder in den Westen zurückkehren.“

„Hast du dir das auch gut überlegt?“, fragte Jarrick.

„Entschuldige – wie meinst du das?“

Diesmal war sein scherzhafter Ton leicht herauszuhören. „Du bist doch jetzt wieder in einer ganz anderen Welt gelandet: Alle sind wie aus dem Ei gepellt, es gibt feines Essen und schicke Gesellschaften. Und nun wirst du auch noch eine Kreuzfahrt machen und auf einem luxuriösen Schiff das Leben der reichen Aristokraten führen! Da kann Coal Valley nicht mithalten, fürchte ich.“

„Unsinn“, erwiderte sie etwas kokett, doch gleich darauf wurde ihre Stimme wieder ernst. „Es gibt wichtigere Dinge, Jarrick.“

„Zum Beispiel?“

„Ich bin sehr gerne mit dir zusammen; mit dir kann man sich nämlich wunderbar unterhalten. Meinst du, du könntest mich wieder einmal in dieses reizende Restaurant ausführen – dieses Mal, ohne dass ich mir Sorgen um einen kranken Jungen machen muss –, falls ich wieder zurückkomme?“

„Abgemacht“, sagte er, und es klang erleichtert. „Nicht falls, sondern sobald du wieder zurück bist, werde ich dich dorthin ausführen!“

Kapitel 3

Als beim Frühstück eine Einkaufstour angekündigt wurde, zuckte Beth zusammen. Sie fand es äußerst anstrengend, zusammen mit ihrer Mutter einzukaufen, und wenn auch noch ihre beiden Schwestern dabei waren, konnte dies geradezu unerträglich sein. Beth stählte sich innerlich, um den Tag zu überstehen.

„Wir haben nur eine knappe Woche, um alles zu besorgen, was wir brauchen“, erklärte Mrs Thatcher. „Lasst uns rasch zu Ende frühstücken und dann aufbrechen.“

Bisher hatte noch niemand ein Wort über Jarricks Anruf verloren. Als Vater am Vorabend in sein Arbeitszimmer zurückgekehrt war, hatte der Hörer bereits wieder auf der Gabel gelegen. Auf Vaters fragenden Blick hin hatte Beth nur scheu gelächelt und genickt. Die Tränenspuren auf ihrem Gesicht, die von innerem Aufgewühltsein zeugten, hatten ihn offenbar nicht irritiert – er wusste, dass man manchmal auch vor lauter Glück weinen muss.

„Und wie sind nun deine Pläne für den Sommer?“, hatte er sich erkundigt.

Anstatt zu antworten, hatte sie erneut genickt.

„Dann werde ich den anderen sagen, dass du an der Kreuzfahrt teilnehmen wirst.“ Damit hatte er sie allein im Arbeitszimmer zurückgelassen, während Beths Gedanken bereits voller Vorfreude um Jarricks Briefe gekreist waren.

Beth hatte keine Ahnung, was genau ihr Vater den anderen im Salon mitgeteilt hatte, während sie mit Jarrick telefoniert hatte. Aber sie war sich sicher, dass er ihren beiden Schwestern die strikte Anweisung gegeben hatte, sie nicht mit Fragen über ihr Telefonat zu bedrängen. Denn nur so ließ sich Julies äußerst untypische Schweigsamkeit bezüglich dieses interessanten Themas erklären.

Was ihre Mutter betraf, so schien die Tatsache, dass Beth zugestimmt hatte, an der Kreuzfahrt teilzunehmen, sie fürs Erste zufriedenzustellen.

Während Beth im Hausflur auf ihre Schwestern und ihre Mutter wartete, zog sie die weißen Handschuhe an, die ihre Mutter immer noch für unerlässlich hielt. Wieso muss man sich für eine Einkaufstour nur so übertrieben elegant anziehen?, fragte sie sich nicht zum ersten Mal. Zwar wusste sie natürlich, wie viel Wert ihre Mutter auf die äußere Erscheinung legte, doch es kam ihr merkwürdig vor – insbesondere nach dem Leben in Coal Valley, wo ein Dach über dem Kopf und genug Essen auf dem Tisch weitaus wichtiger waren als die neueste Mode.

Wenig später nahmen vier Frauen mit Federhüten und großen Handtaschen in Vaters geräumigem Wagen Platz und überlegten gemeinsam, was sie alles für die Reise benötigen würden. Julie schlug vor, luftige Röcke und weiße Blusen zu kaufen – vielleicht sogar etwas im Matrosen-Stil, der gerade en vogue war. Lange Kleider für festliche Diners, vernünftige Schuhe für Ausflüge und Hüte in jeder Form als Schutz vor der Sonne standen ebenfalls auf der Liste. Auf Julies Drängen hin wurden sogar Badeanzüge für den Swimmingpool und den Strand hinzugefügt.

Beth fragte sich, ob sie es je wagen würde, sich so spärlich bekleidet in der Öffentlichkeit zu zeigen. Zu ihrer Überraschung hatte Mutter nicht gegen Julies Vorschlag protestiert, sondern sogar angekündigt, dass sie sich ebenfalls einen Badeanzug kaufen wolle. „Schließlich“, erklärte sie, „bin ich nicht prüde. Und ich habe die Absicht, unser Abenteuer in vollen Zügen zu genießen.“

Beth meinte, im Rückspiegel das verhaltene Grinsen des Chauffeurs wahrzunehmen, und lächelte ebenfalls amüsiert: Mutter war eine der züchtigsten Frauen, die sie kannte. Sie trug noch immer ein Korsett, obwohl die meisten Frauen ihres Alters und alle jüngeren Frauen längst auf diese unbequeme Unterwäsche verzichteten. Wenn man sie darüber befragte, gab sie stets zur Antwort, sie sei so sehr daran gewöhnt, dass sie sich ohne Korsett nicht richtig angezogen fühle.

Ihre Töchter lächelten dann jedes Mal hinter vorgehaltener Hand. Sie fanden, ihre Mutter sei noch immer so schlank und zierlich, dass sie dieses Hilfsmittel überhaupt nicht nötig hatte.

Als die vier Frauen die geschäftigste Einkaufstraße von Toronto betraten, hielt Beth vorsorglich ihren Hut fest, denn es wehte eine leichte Brise. Mit einiger Verwirrung schaute sie auf das muntere Treiben um sie herum und beeilte sich, einem Jungen auf einem Fahrrad auszuweichen. Dann folgte sie den anderen in den ersten Laden, in dem Mutter sich bereits suchend nach einer Verkäuferin umsah.

„Mrs Thatcher“, rief eine junge Frau und kam eilig auf die vier Damen zu, um sie zu begrüßen und ihnen ihre Jacken abzunehmen. „Es freut mich sehr, Sie mit Ihren Töchtern bei uns zu sehen. Womit kann ich Ihnen heute dienen?“

Energisch schritt Mutter vorwärts und listete auf, was sie brauchten. Beth seufzte unwillkürlich. Da spürte sie, wie Margret einen Arm unter ihren eigenen schob und ihr zuflüsterte: „Himmlischer Vater, bitte gib meiner lieben Schwester die Kraft, diese enorme Herausforderung zu bewältigen!“ Trotz ihres ermutigenden Lächelns war klar, was Margret meinte.

„Ich bin unmöglich, nicht wahr?“, erwiderte Beth beschämt.

„Aber nein. Wahrscheinlich wärst du nur gerade viel lieber woanders.“ Margret tätschelte Beths Hand. „Aber vergiss nicht, dass wir es sehr genießen, dich heute bei uns zu haben. Wir mögen dich nämlich, auch wenn wir es vielleicht auf etwas ungewöhnliche und merkwürdige Art zeigen.“

„Oh Margret!“ Beth lachte verlegen, als die beiden zu den anderen aufschlossen.

* * *

Am späten Nachmittag kehrten die vier Frauen in einem vollgepackten Wagen zurück. Sie hatten – wie Beth schließlich zugeben musste – miteinander einen angenehmen Tag in der Stadt verbracht. Einige größere Pakete würden am nächsten Morgen noch nach Hause geliefert werden.

Während Margret ins Kinderzimmer lief, um nach J. W. zu sehen, wurden die kleineren Schachteln auf dem Tisch im Speisezimmer aufgetürmt. Vater schüttelte in gespielter Verzweiflung den Kopf, als Julie und Mutter ihm ihre Schätze zeigten. Doch Beth wusste, dass seine größte Freude darin bestand, seine Familie so glücklich und lebendig zu sehen.

Nach dem Abendessen würden Gäste kommen, erinnerte er sie jedoch kurz darauf. Vater hatte sich um einen Reisebegleiter gekümmert, da er es für unerlässlich hielt, dass seine Frau und seine Töchter die Unterstützung eines Gentlemans in Anspruch nahmen. Dieser Mann würde nicht nur ihr Reiseführer sein, sondern auch für ihre Sicherheit sorgen und darauf achten, dass es ihnen auf dieser Reise an nichts fehlte.

Zu dem Treffen mit Monsieur Emile Laurent, der pünktlich um sieben Uhr abends erschien, würden später auch noch die Montclairs dazustoßen.

„Emile, wie schön, dich nach so vielen Monaten wiederzusehen“, begrüßte Vater ihn freundlich. „Ça va?“

„Mir geht es gut, mein Freund. Et toi?“

„Sehr gut. In der Tat sehr gut.“

Vater führte ihn zu den anderen in den Salon. „Ich würde dich gerne mit meiner Familie bekannt machen.“ Er wies auf jede Person, während er sie vorstellte. „Emile Laurent, dies ist meine liebe Frau Priscilla Thatcher. Unsere älteste Tochter Mrs Margret Bryce und ihr Mann John. Unsere mittlere Tochter Elizabeth Thatcher – genannt Beth – und unsere Jüngste Julie Thatcher.“

„Ich freue mich sehr, Sie alle kennenzulernen“, antwortete Monsieur Laurent nahezu akzentfrei und mit einer eleganten Verbeugung vor Mrs Thatcher.

Er war älter als Vater, groß und schlank, mit welligem grauem Haar, das er nach hinten gekämmt hatte. Beth, die in die hellblauen Augen des distinguierten Mannes schaute, vermutete, dass er früher einmal sehr gut ausgesehen hatte. Oder es vielmehr auch jetzt noch tat. Sie stufte ihn als jemanden ein, der ihr durchaus sympathisch sein konnte.

Noch bevor die Thatchers Gelegenheit gehabt hatten, sich zu setzen, traf die Familie Montclair ein. Mrs Montclair platzte als Erste in den Salon, wobei sie sich mit ihrem Fächer Luft zufächelte.

„Priscilla, vielen Dank, dass wir heute Abend hier zu Gast sein können. Ich bin furchtbar aufgeregt beim Gedanken an unsere Reise! Nur noch vier Tage! Wie sollen wir je rechtzeitig fertig sein? Oh, und schau nur: Elizabeth – wieder zurück aus dem Wilden Westen. Hattest du eine schöne Zeit, meine Liebe?“

Ohne jedoch eine Antwort abzuwarten, schwebte sie nun auf Monsieur Laurent zu. „Und dies muss der tüchtige Gentleman sein, der sich bereit erklärt hat, uns zu begleiten!“ Sie hielt ihm ihre Hand mit der Handfläche nach unten hin, und Monsieur Laurent trat vor und beugte sich liebenswürdig murmelnd darüber.

„Emile, ich freue mich, dich mit Mrs Charles Montclair bekannt machen zu dürfen“, beeilte sich Vater die beiden einander vorzustellen. „Edith, dies ist Monsieur Laurent.“

Mrs Montclair wich einen Schritt zurück. „Sind Sie Franzose?“

„Aber nein, Madame, ich bin