Über mir der Sternenhimmel - Johanna Geils - E-Book

Über mir der Sternenhimmel E-Book

Johanna Geils

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Beschreibung

Eine Frau, eine Hängematte und jede Menge Abenteuer: eine spannende Reiseerzählung Einfach den Rucksack packen und loswandern! Draußen sein, sich der Natur mit all ihrer Schönheit und Wildheit ausliefern, Abenteuer erleben und vor allen Dingen: immer unter freiem Himmel schlafen. So lautet der Plan, als Johanna Geils im Februar 2022 zu ihrer fünfmonatigen Reise von Zypern ans Nordkap aufbricht. Ohne Zelt, nur mit Hängematte im Gepäck, reist sie allein und größtenteils zu Fuß durch elf Länder vom Süden bis ganz in den Norden Europas. Packend und mitreißend erzählt sie in ihrem Reisebericht davon, was man erlebt, wenn man den Mut aufbringt, seiner Leidenschaft zu folgen, alle Ängste und Zweifel über Bord wirft und einfach losläuft. Als Frau allein unterwegs durch elf Länder Europas Über zweitausend Kilometer hat Johanna Geils auf den spektakulärsten Wanderwegen Europas wie dem Likya Yolu, dem Alpe Adria Trail oder dem St. Olavsweg zurückgelegt. Mit einer ordentlichen Portion Durchhaltevermögen, aber auch mit einem leichten Hang zur Selbstüberschätzung, erlebt sie auf ihrem Europatrip einmalige Abenteuer. Sie berichtet von Temperaturstürzen, unerbittlichen Regentagen und stürmischen Nächten, von Einsamkeit, Zweifeln und Verletzungen, aber auch von einmaligen Naturerlebnissen zwischen Fjorden, Bergen und Wäldern, von spektakulären Übernachtungsplätzen unter den Sternen und schließlich auch von der unfassbaren Gastfreundschaft der Menschen auf Ihrem Weg. Ergänzend zu ihrem Reisebericht, gibt Johanna Geils auch zahlreiche Tipps und Tricks für die eigene Wanderreise vor allem für Frauen. Eine Reiseerzählung, die Mut macht, selbst den Rucksack zu packen und loszuziehen!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 344

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Für meine Eltern,die mich bei allem, was mir so einfällt,immer unterstützen und die michmit dem Wanderfieber angesteckt haben

Bildnachweis:

Cover und Buchrückseite: Landschaften mit Autorin und Polaroids

© Johanna Geils, Sternenhimmel © shutterstock/lif3vil

Buchrücken: © Johanna Geils

Innenseiten: Hintergrund Inhaltsverzeichnis

© shutterstock/MR.PRAWET THADTHIAM,

Hintergrund Bildteil © shutterstock/lif3vil,

alle anderen Fotos © Johanna Geils

Deutsche Originalausgabe

Copyright © 2024 von dem Knesebeck GmbH & Co. Verlag KG, München

Ein Unternehmen der Média-Participations

Projektleitung: Ellen Venzmer, Knesebeck Verlag

Lektorat: Silke Weiher, Gräfelfing

Gestaltung und Umschlaggestaltung: Favoritbüro, München

Satz und Herstellung: Arnold & Domnick, Leipzig

ISBN 978-3-95728-807-3

Elektronisch ist folgende Ausgabe erhältlich:

eBook (epub): ISBN 978-3-95728-898-1

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise.

www.knesebeck-verlag.de

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Informationen zum Buch

Informationen über die Autorin

Impressum

INHALT

Wie die Hummeln in den Hintern kamen

Kapitel 1 Zypern

Antonios & Aphrodite

Rausch und tiefer Fall

Mein Freund Halloumi

Erste Grenzerfahrungen

Kapitel 2 Türkei

Der schrecklich schönste Wanderweg der Welt

Nächtliche Ungeheuer und andere Eskapaden

Hochmut kommt vor Gelassenheit

Be careful what you wish for

Kapitel 3 Griechenland

Komische Vögel und böse Wölfe

Mit Tiago auf den Spuren der Griechen

Bildteil

Ein grünes Inselparadies

Kapitel 4 Albanien, Montenegro, Kroatien

Die Prophezeiungen eines Taxifahrers

Hart im Training

Lieber Bären als Menschen

Kapitel 5 Italien, Slowenien, Österreich

Pizza, Piercings und Prosecco

Magische Momente im Sočatal

Schmerzhafte Entscheidungen

Kapitel 6 Norwegen

Im Land der Fjells und Fjorde

Vom Schatten ins Licht

Danke

WIE DIE HUMMELN IN DEN HINTERN KAMEN

Menorca, 16. März 2020

Wird Zeit, dass du zurückkommst … die machen die Balearen dicht!

Ungläubig starre ich auf die Nachricht meines Bruders. Dann macht mein Handy noch einmal Ping.

Hey Johanna☺in Barcelona herrscht jetzt Ausgangssperre und meine Mitbewohner haben gesagt, sie wären nicht so begeistert, wenn jetzt noch jemand mit in der WG wohnen würde … meld dich mal☺

Ich lese die Nachrichten noch zweimal, dann schalte ich das Handy wieder aus und stecke es ganz hinten in meinen Rucksack. Das Gleiche versuche ich mit den Gedanken in meinem Kopf. Doch so ganz wollen sie sich nicht verdrängen lassen. Wie eine düstere Wolke zieht die Erkenntnis in mir auf, dass ich meine erste Solo-Wanderung frühzeitig beenden muss. Seit zwei Wochen bin ich unterwegs und es waren die aufregendsten und intensivsten Wochen meines Lebens.

Der Plan hatte vorgesehen, zuerst auf Mallorca über die Serra de Tramuntana zu laufen, einen Gebirgszug im Norden der Insel. Danach wollte ich mit der Fähre auf die Nachbarinsel Menorca und diese auf dem Camí de Cavalls einmal umrunden. Zum Abschluss wollte ich meine Freundin in Barcelona besuchen und dann auf dem Camí de Ronda an der Costa Brava bis zur französischen Grenze wandern. Sechs Wochen Zeit hatte ich dafür eingeplant, bevor ich in England meine dritte Saison als Activity Instructor in einem Outdoor-Center antreten sollte. Groß vorbereitet hatte ich die Reise nicht. Auf ein paar DIN-A4-Seiten hatte ich mir Notizen zu den drei Wanderwegen gemacht und mir Orte und Länge der Tagesetappen aufgeschrieben. Karten und Reiseführer waren zu teuer und zu schwer. »Ich fliege schließlich nur nach Mallorca, was soll schon passieren?!«, war meine Antwort auf die Bedenken meiner Familie, als ich mein Vorhaben offenbarte, den Großteil der Nächte unter freiem Himmel zu verbringen. Denn auch ein Zelt wollte ich nicht mitschleppen und das Wildcampen war in Spanien verboten, wie in den meisten europäischen Ländern. Unter freiem Himmel schlafen dagegen nicht. Ich wollte schon lange einmal ganz allein draußen übernachten. Nur die Natur und ich.

Mit den Kindern im Outdoor-Center hatte ich regelmäßig coole Unterschlüpfe unter den Bäumen unserer kleinen Bushcraft-Ecke gebaut. Wir hatten Feuer ohne Streichhölzer oder Feuerzeug entzündet und kleine Brote gebacken oder Brennnesselsuppe gekocht. Als mein Freund Tiago ein Stipendium für eine PhD-Stelle an der Universität Loughborough erhalten hatte, war ich kurzerhand mit ihm nach England gezogen und hatte dort den Job als Instructor in einem Outdoor-Center angenommen. Die ersten Monate waren hart. Ich hatte während meines Freizeitwissenschaft-Studiums zwar schon verschiedene erlebnispädagogische Programme und Outdoor-Trainings durchgeführt, trotzdem fühlte ich mich wie eine Anfängerin. Und nun sollte ich innerhalb kürzester Zeit mehrmals am Tag einer zehnköpfigen Gruppe erklären, wie man auf verschiedenste Weise ein Feuer entfacht oder einen Unterschlupf für die Nacht baut. Außerdem sollte ich die Besucher in zehn Metern Höhe sichern, während sie sich an einer Kletterwand oder dem Hochseilparcours austobten. Oder sie durch Teambuilding-Aufgaben leiten mit Reflexion und Transfer in den Alltag – alles auf Englisch. Später kamen Bogenschießen, Luftgewehrschießen und Paddelsessions auf dem Fluss dazu. Ich war – gelinde gesagt – etwas überfordert.

Und auch jetzt, zwei Jahre später, kam ich mir im Vergleich zu meinen supercoolen Kollegen, alle absolute Outdoor-Experten, immer noch ein wenig inkompetent und unerfahren vor. Deshalb wollte ich unbedingt ohne Zelt und bloß mit dem Allernötigsten ausgestattet diese Reise bewältigen. Ausprobieren, wie ich, nur auf mich gestellt, draußen zurechtkomme.

Mit meinen Eltern war ich schon den Camino Portugues nach Santiago de Compostela gewandert und mit meinem Bruder den Rennsteig in Thüringen. Mit Tiago hatte ich während einer Amerikareise ein paar Tage auf dem Appalachian Trail verbracht – was das Wandern anging, hatte ich also schon Erfahrung. Doch vom ersten Tag an war klar: Das hier ist noch mal etwas anderes! Allein und ohne Zelt – was hatte ich mir da nur eingebrockt? Ich hatte ja keine Ahnung!

Und so stehe ich, zwei Wochen bevor die Hiobsbotschaften auf meinem Handy eintrudeln, um sechs Uhr morgens in Birmingham am Flughafen, bereit, mich allen Herausforderungen und Widrigkeiten Mallorcas und Menorcas zu stellen – ach was: ganz Spaniens!

»That’s not from here.« Die Dame am Einlass zur Handgepäckkontrolle schaut verwirrt auf meine Bordkarte und sagt noch einmal: »That’s not from here.« Ich verstehe nicht, was sie meint, und schaue mindestens genauso verwirrt zurück. »That flight is from East Midlands Airport.« Mein Magen zieht sich kurz zusammen. Ich bin am falschen Flughafen. O nein! Mein erster Gedanke: Sofort Tiago anrufen, damit er umdreht und mich schnell zum East Midlands Airport fährt. Mein zweiter Gedanke: Es ist schon sechs Uhr und der Flieger nach Palma de Mallorca geht um 07.45 Uhr. Das schaffe ich nie! »There is a flight at 7 o’clock to Palma«, die Stimme der Dame erlöst mich aus meiner Schockstarre. Okay, sieben Uhr, dann nichts wie los! Ich renne die Rolltreppen hinunter zurück in die Eingangshalle. Dort renne ich nach rechts und dann nach links. Woher soll ich denn wissen, wo der Last-minute-Schalter ist? Da! Eine Frau mit gelber Weste. Ich stürze auf sie zu: »I mixed up the airports, where can I book last minute flights?« Ich bekomme eine Wegbeschreibung und renne wieder los. Der Schalter, zu dem sie mich geschickt hat, ist sogar von derselben Airline wie mein ursprünglicher Flug. Atemlos erkläre ich mein Problem und nach ein paar Klicks an ihrem Computer entgegnet mir die Dame am Schalter etwas, doch außer hart gerollten »rrr« verstehe ich kein Wort. Die Frau ist Schottin, o nein! Nach dreimaligem Nachfragen bekomme ich heraus, dass mich das Umbuchen 108 Pfund kostet. Scheiß drauf, nützt ja nichts. Ungeduldig warte ich, bis ich meine Kreditkarte zurückbekomme. Doch statt mir nur die Karte in die Hand zu drücken, flitzt die Dame mit mir zum Check-in. Sie drängelt sich sogar für mich vor, checkt mich ein und mit Bordkarte in der Hand flitzt sie mit mir zurück zum Last-minute-Schalter. Dort gibt sie mir weitere Instruktionen. Ich verstehe nur, dass ich schnell sein muss, denn es sei bereits 6.20 Uhr, und dass ich die Rolltreppe nach rechts oben nehmen soll. Ich düse los, merke zu spät, dass ich die falsche Seite der Rolltreppe erwischt habe (die nach unten fährt) und renne nun wie eine Irre mit der Rolltreppe um die Wette. Da höre ich auch schon ihre Rufe hinter mir: »No, no teke the otherrr seede!« Ich stürze die Rolltreppe also wieder hinunter und fahre dann mit der richtigen nach oben. »Thank you, thank you!«, rufe ich und bin mir sicher, die Dame hält mich für komplett bescheuert.

Völlig aus der Puste komme ich bei der Handgepäckkontrolle an. Ich schmeiße alles in die großen grauen Kisten und warte angespannt. Nichts tut sich. Das Beförderungsband weigert sich, meine Sachen zu befördern. Das gibt es nicht! Flehend schaue ich die Dame am gegenüberliegenden Band an und sie winkt mich zu sich. Schnaufend und mit hochrotem Kopf hieve ich die grauen Kisten ein Band weiter. Erleichtert atme ich aus, als ich und mein Rucksack keinen Piepton erzeugen und ich mich im Slalom und in Windeseile durch den nicht enden wollenden Duty-free-Bereich schlängle. Um 6.30 Uhr stehe ich tatsächlich am Gate und werde begrüßt: »Flight LS1275 to Palma de Mallorca is now ready for boarding.« Ich habe es geschafft!

Noch immer zittrig und etwas hysterisch sitze ich im Flugzeug. Ich hätte eigentlich einen Eintrag ins Guinnessbuch der Rekorde verdient, denn bestimmt hat es noch niemand geschafft, alle Kontrollen einer Flugreise innerhalb von dreißig Minuten zu absolvieren. Gleich neben diesem Eintrag sollte man mir auch den Rekord für nicht zu übertreffende Dämlichkeit zusprechen, dafür, dass ich es geschafft habe, zum falschen Flughafen zu fahren. Bei all den Warnungen über die Gefahren des Alleinwanderns und Draußenschlafens, die in den letzten Wochen an mich herangetragen wurden (Attacken von wilden Hunden, Wölfen und Bären, unberechenbares Wetter oder der Klassiker: die vielen Vergewaltiger), hatte keiner meiner Freunde und Familienmitglieder mir eingeschärft, zum richtigen Flughafen zu fahren.

Erschöpft liege ich am Ende des ersten Tages zusammengerollt wie ein Igel unter ein paar pieksigen Büschen und versuche, das wilde Auf und Ab der letzten Stunden zu verarbeiten: erst das Chaos am Flughafen, dann Freude und Sonnenschein bei der Ankunft auf Mallorca. Bald darauf strömender Regen, doch ein netter Galizier nimmt mich in seinem Auto mit. Schlechtes Gewissen, denn damit breche ich mein Versprechen, nicht per Anhalter zu fahren, schon nach einer Stunde. Wieder Hochstimmung am Beginn des Wanderweges in Port d’Andratx: Es gibt ja Berge auf Mallorca! Abgelöst von tiefer Trauer, als ich feststelle, dass meine Kamera bei meinen Flughafen-Sprints kaputtgegangen ist. Wenig später wieder helle Freude, als ich auf dem ersten Bergrücken entlangspaziere und die wilde Landschaft und die tollen Ausblicke genieße. Irgendwo nehme ich dann eine falsche Abzweigung und lande in einer von Bäumen und Büschen überwucherten Talsenke. Mit sturer Gewalt und auch ein bisschen in Panik kämpfe ich mich durch das Dickicht den Hang hinauf und reiße mir dabei Haut und neue Wanderhose an Dornen und Stacheldrahtzäunen auf. Doch irgendwie lande ich am Ende wieder auf dem richtigen Weg. Die Sonne ist währenddessen schon fast hinter der kleinen Insel La Dragomera verschwunden, deshalb schlage ich mein Lager direkt am Wegesrand auf. Ich quetsche meine Isomatte unter zwei Büsche, krieche in den Schlafsack und ziehe drum herum noch meinen neuen olivfarbenen Bivy Bag, eine dünne, wasserfeste Hülle für den Schlafsack. Die Büsche und Bäume über mir rascheln laut und bedrohlich im Wind. Ich kann nicht aufhören zu denken: »Du solltest nicht allein unterwegs sein, wenn du es nicht einmal zum richtigen Flughafen schaffst!« Ich ziehe mir den Bivy Bag über den Kopf und wenig später komplett zu. Nun sehe ich nichts mehr und höre nur meinen eigenen unregelmäßigen Atem, immer angestrengter und hechelnder, da ich nur schwer Luft bekomme. Kann man in so einem Ding eigentlich ersticken? Schnell lockere ich die Bandschlaufe, um ein kleines Loch für meinen Mund frei zu haben. Ich traue mich nicht, mich zu bewegen. Bestimmt würde meine Atemöffnung verrutschen oder noch schlimmer: Irgendjemand könnte das Rascheln hören. Als mir auch noch die Nase läuft, nehme ich all meinen Mut zusammen und drehe mich auf die andere Seite. Ha! Nichts passiert! Besonders mein linker Hüftknochen freut sich über die Entlastung. Irgendwann döse ich tatsächlich ein. Wirklich schlafen kann ich in dieser Nacht allerdings nicht …

Ich muss gestehen, meine Erfahrungen auf Mallorca und Menorca wirken im Rückblick nicht sehr positiv. Meine naive Einstellung, »Was soll denn groß passieren?!«, führte dazu, dass eine ganze Menge passierte. Darunter eine fast lebensgefährliche Situation. Doch trotz der Strapazen habe ich mich so lebendig, frei, glücklich und zufrieden gefühlt wie nie zuvor. Nur vierzehn Tage war ich damals unterwegs, als mich die Nachrichten von meinem Bruder und meiner Freundin auf dem Handy erreichten. Zwei Tage später musste ich die Reise wegen der Pandemie abbrechen. Im Nachhinein konnte ich nicht fassen, so intensive Erfahrungen ausgerechnet auf Mallorca und Menorca gemacht zu haben. Ich habe gelernt, dass es beim Reisen mehr auf das Wie ankommt als auf das Wo. Und so fingen die kleinen Hummeln in meinem Hintern leise, aber stetig an zu summen: »Europa … wandern … draußen schlafen … «

Es sollte aber fast zwei Jahre dauern, bis ich endlich einen neuen Anlauf unternehmen konnte. Zwei Jahre, in denen ich sämtliche schönen Ecken und Wanderwege Europas recherchierte und den Plan schmiedete, eine viel längere Reise zu unternehmen, durch Gegenden, die ich vorher noch nicht gesehen hatte.

KAPITEL 1:

ZYPERN

Antonios & Aphrodite

»Meine Damen und Herren, verehrte Fluggäste. Wir haben soeben den deutschen Luftraum verlassen und befinden uns über Österreich. Unsere weitere Flugroute führt uns über Slowenien, Kroatien, Serbien, Bulgarien, Griechenland und die Türkei nach Zypern. Die voraussichtliche Ankunftszeit in Paphos ist 20.05 Uhr. Ich wünsche ihnen einen angenehmen Flug.«

Ich lehne mich zurück in meinen Sitz und muss grinsen. Genau vier Stunden dauert der Flug von Köln nach Paphos und genau vier Monate habe ich dafür eingeplant, fast genau diese Route wieder zurückzureisen. Allerdings ohne Flugzeug und statt durch Serbien und Bulgarien über Albanien und Montenegro. Alles Länder, in denen ich – abgesehen von einem Familienurlaub in der Türkei vor fünfzehn Jahren – noch nie gewesen bin. Deshalb habe ich keine Ahnung, was mich erwarten wird, doch zumindest habe ich es dieses Mal zum richtigen Flughafen geschafft! Außerdem habe ich, statt loser DIN-A4-Seiten, ein GPS-Gerät mit den GPX-Tracks der Wanderrouten dabei. Ansonsten ist der Inhalt meines Rucksacks fast derselbe wie vor zwei Jahren auf Mallorca. Nur zwei Kameras und einen Wasserfilter habe ich mir gekauft. Ich möchte sehen, wie es ist, sich den Rucksack zu schnappen und loszuwandern – auch ohne teure Ultralight-Hightech-Ausrüstung. Isomatte, Schlafsack und Bivy Bag haben zusammengenommen unter hundert Euro gekostet. Das GPS-Gerät hat mir mein Vater geliehen, und von meiner Schwester habe ich zu Weihnachten eine Reisehängematte mit Moskitonetz bekommen – damit ich meine Nächte nicht nur unter piksigen Büschen, sondern auch über ihnen verbringen kann. Ansonsten habe ich ein kleines Tarp als Regenschutz, Gaskocher plus Topf, Erste-Hilfe-Set, Stirnlampe, Sägeband und Feuerstahl, Shampoo, Deo, Feuchttücher, Tampons, Sonnencreme und ein dünnes Tagebuch dabei. Nur bei der Kleidung habe ich mich hinreißen lassen und die eine oder andere Hose oder Jacke zu viel eingepackt. Auch meine technische Ausrüstung wiegt ein bisschen zu viel: Handy, Kameras, Ersatzakkus und Solarpowerbank. Doch ich wollte auch nicht auf alles verzichten. Auch nicht auf meinen heiß geliebten E-Book-Reader, den ich nun voller Vorfreude einschalte. Ich scrolle durch die vielen Bücher, die ich mir für die dunklen Nächte heruntergeladen habe. Dafür habe ich auch noch Geld ausgegeben. Endlich habe ich genug Zeit, all das zu lesen, wofür ich sonst keine Energie habe. Für den Anfang entscheide ich mich für leichte Lektüre: Mr. Globetrotter von Klaus Denart, dem Mitbegründer des gleichnamigen Outdoor-Ausrüstungsgeschäfts. Ich muss grinsen, denn gleich im ersten Kapitel berichtet Denart über seine Erlebnisse im hohen Norden von Norwegen. Somit ist meine Reiseroute nun komplett: Den fünften und letzten Monat möchte ich in Norwegen verbringen und bis hoch zum Nordkap wandern.

Diese Route hatte sich zufällig ergeben: Als ich im März 2020 nach dem Abbruch meiner Wanderung nach England zurückkehrte und alle Länder ihre Grenzen dichtmachten, fühlten Tiago und ich uns ein bisschen gefangen auf unserer Insel namens Großbritannien. Die Aussicht auf den Brexit 2021 gab uns den letzten Anstoß, im Herbst 2020 wieder nach Deutschland zurückzukehren. Sie löste eine neue Wertschätzung, man könnte fast sagen aufflammende Liebe zu Europa und vor allem zur EU aus. Ich hatte für kurze Zeit sogar den ambitionierten Plan, alle 27 Mitgliedsstaaten der EU zu besuchen. Oft und lang sah ich auf die Liste der Länder, die mit »B« wie Belgien begann und mit »Z« wie Zypern endete. So brannte sich dieser kleine Inselstaat irgendwie als unterster Zipfel Europas in mein Gedächtnis ein. Natürlich ist Zypern nicht der südlichste Punkt Europas und, geografisch betrachtet, gehört es – genauso wie der Großteil der Türkei – auch gar nicht zu Europa, sondern zu Asien. Doch nun hatte ich über diese »Insel der Götter«, auf der sogar im Februar schon herrlich warme Temperaturen herrschen, schon so viel gelesen und wollte unbedingt dorthin. Auch das Nordkap in Norwegen hatte sich als nördlichster Punkt Europas unwiderruflich als Ziel meiner Reise in mein Gedächtnis eingeschlichen und unauslöschlich eingenistet.

Und so stehe ich am 20. Februar 2022 – fast genau zwei Jahre nach Ausbruch der Pandemie – endlich an der wunderschönen Küste von Zypern und kann nicht fassen, dass ich auf dieselben türkisblauen Wellen blicke, aus deren Schaum Aphrodite, die Göttin der Liebe und der Schönheit, vor Jahrtausenden emporgestiegen sein soll. Die Marketingstrategie des Tourismusmanagements Zypern ist bei mir voll aufgegangen. Natürlich will ich zu Beginn meiner Reise unbedingt einmal um den Felsen der Aphrodite schwimmen. Dabei soll man ewige Schönheit und Jugend erlangen, was bestimmt nicht schadet, wenn man vorhat, monatelang einen schweren Rucksack durch die Gegend zu schleppen und die meisten Nächte unter freiem Himmel zu verbringen.

Das Problem ist nur, hier gibt es eine ganze Menge Felsen, die dafür infrage kämen. Das Tourismusamt muss es irgendwie versäumt haben, sich explizit einen davon auszusuchen.

Ein kleiner älterer Herr mit weißgrauen Haaren, buschigen Augenbrauen und einem gepflegten Schnurrbart, über dem eine große Nase ragt, klettert vom Strand auf meine kleine Anhöhe. Von hier oben aus hat man eine fantastische Aussicht auf die traumhafte Bucht, die im Licht der Morgensonne verführerisch glitzert. Auf Englisch frage ich den Mann, der außer einem kleinen Rucksack nur eine enge rote Badehose trägt, ob er vielleicht wüsste, um welchen dieser Felsen ich herumschwimmen müsste, um ein bisschen von Aphrodites legendärer Schönheit abzubekommen.

Er lacht wissend: »Es ist vollkommen egal, welchen Felsen man nimmt. Die meisten Leute schwimmen um den großen runden Felsen nahe der Küste herum. Noch ist es den meisten Touristen allerdings ein bisschen zu kalt, doch in ein paar Wochen wird hier der Bär los sein! Aber weißt du denn auch, wie dieser wunderschöne Ort hier auf Griechisch heißt?«

»Pedra tou Romiou, nicht wahr?«

»Genau! Das ist eigentlich nicht der Felsen der Aphrodite, sondern der Felsen des Romiou, des griechischen Bewachers der Insel. Der Legende nach beschützte Romiou die Insel und hat an dieser Stelle diese riesigen Felsbrocken ins Meer geworfen, um die Feinde aus dem Westen zu vertreiben.«

Mein Geschichtenerzähler stellt sich mir kurz darauf als Antonios vor. Echter Zypriot aus Kolossi. Sooft es geht, kommt er hierher an den Strand.

»Es ist die schönste Ecke von ganz Zypern!«

Na, da habe ich mir ja genau den richtigen Ort für den Beginn meiner Reise ausgesucht. Natürlich schwimme ich dann trotzdem noch um den Felsen herum, und zwar gleich zweimal, man kann ja nie wissen. Und tatsächlich habe ich das Gefühl, alle kleinen Fältchen in meiner über dreißig Jahre alten Haut glätten sich schlagartig. Was natürlich auch an dem eiskalten salzigen Wasser liegen könnte.

Ich fühle mich jedenfalls wie neugeboren, als ich nach meiner kleinen Felsumrundung zurück zu Antonios laufe, der mittlerweile nackt am Strand sitzt.

»Du kannst dich auch gerne ausziehen«, ermuntert er mich, »da fühlt man sich so herrlich frei! Wenn es dir allerdings unangenehm ist, kann ich meine Badehose auch gerne wieder anziehen.« Ich zögere einen Moment und schaue den Strand entlang auf die Handvoll Leute, die hier außer uns noch herumspaziert. Eigentlich fühle ich mich gerade pudelwohl, denke ich, und schwupps sitze ich oben ohne neben Antonios im Sand und genieße die frische Meeresluft auf meiner Haut. Ja, ich fühle mich frei!

Antonios stellt sich als toller Gesprächspartner heraus und fast drei Stunden erzählt er mir von seinem aufregenden Leben. Von den Jahren auf hoher See, als er als Navigator auf den großen Pötten mitgefahren ist, davon, wie er seine Frau kennenlernte und wegen ihr das wilde Seemannsleben aufgab und nach Zypern zurückkehrte. Und von seinen beiden Söhnen, die mittlerweile in Großbritannien leben, weil es hier auf der Insel so schwer ist, gute Jobs zu finden. Er holt weit aus und erzählt mir viel über die bewegende Geschichte Zyperns. Von der britischen Kolonialzeit und natürlich auch von der Besetzung durch die türkischen Truppen Mitte der 70er Jahre. Seitdem verläuft eine 180 Kilometer lange Grenze durch Zypern, die die Insel bis heute in einen Nord- und einen Südteil trennt. Sie wird Grüne Linie oder auch Pufferzone genannt und mittlerweile von Soldaten der Friedenstruppe der Vereinten Nationen kontrolliert. Trotz zahlreicher Gespräche, Annäherungen und Vermittlungsversuche konnte leider bis heute keine Einigung in der »Zypernfrage« gefunden werden. Zumindest gibt es mittlerweile drei Grenzübergänge. Einheimische und Touristen können die Grüne Linie zu beiden Seiten und ohne Visum überqueren. Ein freies Siedlungsrecht, Entschädigungen für die Enteignungen oder ein Rückzugsrecht für die Vertriebenen beider Seiten gibt es allerdings nicht.

Als meine Haut sich langsam rötet, verabschiede ich mich von Antonios und bedanke mich für die spannende Geschichtsstunde. Wir tauschen Nummern aus und er nimmt mir das Versprechen ab, mich von unterwegs zu melden und ihm unbedingt ein Foto zu schicken, wenn ich das Nordkap erreiche.

Dann mache ich mich in der erstaunlich heißen Februarsonne auf den Weg zu dem kleinen Holzpavillon, den ich in südlicher Richtung und in weiter Ferne auf einem der trockenen sandigen Hügel schon erahnen kann. Es ist das Kap Aspro, südwestlichster Punkt Zyperns. Zwei Wochen werde ich insgesamt auf Zypern bleiben und möchte erst die Westküste bis zum Kap Arnaoutis, dem nordwestlichsten Punkt, entlangwandern und danach per Anhalter oder Bus weiter ins Troodos-Gebirge fahren – zu den wunderschönen kaledonischen Wasserfällen und den berühmten Scheunendachkirchen. Die letzten Tage möchte ich auf der Nordseite der Insel im Kyrenia-Gebirge verbringen und dort verschiedene Tageswanderungen machen. Danach geht es mit der Fähre weiter in die Türkei. So der Plan. Und außer der gestrigen und der heutigen Nacht, für die ich mich in einem Hostel in Paphos einquartiert habe, möchte ich draußen schlafen. Unter freiem Himmel. Ohne Zelt. Ganz allein.

Der Ausflug zum Aphrodite-Felsen und dem Kap Aspro war mein Eingewöhnungstag, und als ich am Abend wieder im Hostel bin, versuche ich die letzten Stunden, in denen ich noch nicht obdachlos bin, zu genießen. Ich gehe mit Yassine, einem sympathischen Marokkaner aus meinem Viererzimmer, in ein kleines Restaurant und wir teilen uns eine riesige Meeresfrüchteplatte. Danach springe ich ein letztes Mal unter die Dusche, wasche mir die Haare, putze mir die Zähne und betreibe ausgiebige Körperpflege, bevor ich mich in mein erstaunlich bequemes Etagenbett kuschle und mich zwinge, alle Gedanken auszuschalten, um die letzte Nacht auf einer weichen Matratze einfach nur zu genießen. Doch viele Zweifel habe ich ohnehin nicht. Nach dem wunderbaren Tag mit Antonios und Aphrodite überwiegt die Vorfreude. Genauso habe ich es mir vorgestellt: unterwegs sein in wunderschöner Natur. Dazu spannende Begegnungen mit interessanten Menschen, Neues ausprobieren und ab und zu an meine physischen und psychischen Grenzen stoßen.

Am Morgen springe ich fast aus dem Bett. Ich kann es kaum erwarten, mir meinen Rucksack zu schnappen und loszuwandern! Das Meer zu meiner Linken und vor mir das große quadratische Kastell aus dem Mittelalter, laufe ich kurze Zeit später die palmengesäumte Strandpromenade von Paphos entlang. Jetzt geht es wirklich los, ich kann es kaum glauben! Am liebsten würde ich allen mir entgegenkommenden Menschen um den Hals fallen. Auch muss ich mich zusammenreißen, nicht die Strandpromenade entlangzuhüpfen, so aufgeregt bin ich.

Doch nicht sehr lang, und das breite Grinsen weicht einer gequälten Grimasse. Auch die Lust aufs Hüpfen ist schnell vergangen. Mit jedem Schritt wird dieser Rucksack schwerer. Die Schulterriemen schneiden sich tief in meine Haut und der Hüftgurt scheuert irgendwann so, dass ich die vordere Schnalle öffnen muss. Nun zieht mich das Gewicht so stark nach hinten, dass ich mich am liebsten – alle viere von mir gestreckt – wie ein Käfer auf den Rücken fallen lassen würde, um nicht mehr aufstehen zu müssen.

Fix und fertig komme ich nach nur drei Kilometern bei den berühmten Königsgräbern von Paphos an. Wie soll ich dieses dicke Ding auf meinem Rücken denn bis nach Norwegen schleppen?! Bevor Panik und Ärger sich ausbreiten können, atme ich tief durch: »Ganz ruhig«, rede ich mir gut zu, »es dauert ein paar Tage, bis man sich an das Gewicht gewöhnt hat. Einfach nicht weiter darüber nachdenken. Nicht darüber nachdenken, dass du dieses fünfzehn Kilo schwere Ding jetzt hundertfünfzig Tage lang jeden Tag mit dir herumschleppen wirst!« Ich trinke fast einen Liter Wasser und futtere eine Tüte Studentenfutter – erst dann bin ich wieder so weit hergestellt, dass ich mir die Gräber der Könige etwas genauer anschauen kann.

Zypern ist eine der ältesten Kulturstätten der Welt und schon vor zehntausend Jahren – als bei uns in Norddeutschland gerade erst die letzten Reste der eiszeitlichen Gletscher geschmolzen waren – haben hier wahrscheinlich Menschen gesiedelt. Auf der Insel gibt es deshalb viele interessante archäologische Ausgrabungsstätten. Die Königsgräber sind allerdings »nur« um die zweitausend Jahre alt. Und mit ziemlicher Sicherheit sind es auch gar keine Königsgräber, erfahre ich, sondern die Gräber von hohen Beamten, die mit ihrem ganzen Reichtum wohl nichts Besseres zu tun wussten, als sich im Stil der ägyptischen Pharaonen begraben zu lassen.

Beeindruckend sind die mit verzierten Säulen gestützten Grabkammern aber trotzdem. Ich hole meine Kamera heraus und mache ein paar Videos. Ich habe mir vorgenommen, diese Reise festzuhalten, um am Ende hoffentlich einen spannenden Film daraus zu machen. Ich knöpfe also die breite Krempe meines Stoffhuts an den Seiten nach oben, sodass er fast wie ein Cowboyhut aussieht, und lehne mich dann lässig an den Eingang einer Grabkammer. Jetzt fehlt nur noch eine braune Lederpeitsche in meiner Hand, dann könnte ich hier auch den nächsten Teil von Indiana Jones drehen. Ich drücke auf Aufnahme, grinse in die Kamera und will nun locker-flockig ein paar Fakten über die Grabkammer erzählen. Doch als ich meine unsichere, stotternde Stimme höre, komme ich mir ziemlich schnell ziemlich lächerlich vor und schalte die Kamera wieder aus.

Den Rest des Tages schleppe ich mich weiter entlang der Küste Richtung Norden, immer mit Blick auf ein großes rostiges Schiffswrack, das nur wenige Hundert Meter vom Strand entfernt auf Grund gelaufen ist und nun zwischen den Wellen thront und aussieht, als würde es jeden Moment wieder losfahren. Als ich das Wrack weit hinter mir gelassen habe, kehrt zögerlich ein wenig Selbstvertrauen zu mir zurück. Irgendwie, Schritt für Schritt, komme ich ja doch voran.

Doch als sich der Nachmittag dem Ende nähert, werde ich schon wieder nervös. Den ganzen Tag bin ich entlang der Steilküste an Häusern, Hotels und Ferienanlagen vorbeigelaufen und auch jetzt reiht sich ein schickes kleines Häuschen an das nächste. Wie soll ich hier einen Schlafplatz finden? Ich kann mich doch nicht in irgendeinen Garten legen?! Genau darum hatte ich mir im Vorfeld Sorgen gemacht: dass Europa zu dicht besiedelt ist und ich nicht jede Nacht draußen schlafen kann, weil fast alles in Privatbesitz ist.

Als es anfängt zu dämmern, komme ich an einer kleinen, felsigen Landzunge vorbei, die sich bogenförmig ins Meer erstreckt und so eine schöne Bucht zwischen Meer und Küste bildet. Am Rand entdecke ich einen breiten Grünstreifen, der mit hohem Gras bewachsen ist. Zwar ist direkt dahinter der Fußweg, doch das Gras sollte genügend Schutz bieten, dass mich kein Spaziergänger oder Jogger entdecken kann, wenn ich sitze oder liege. Ich warte ab, bis niemand mehr auf dem Weg ist, dann schlage ich mich ins hohe Gras, streife den Rucksack ab und ducke mich so weit hinunter, bis die Gräser meinen Kopf überragen. In dieser Hockstellung richte ich vorsichtig mein Lager her und halte immer wieder inne, sobald ich Schritte oder Stimmen näherkommen höre. Zum Schluss ziehe ich den olivfarbenen Bivy Bag über meinen orangefarbenen Schlafsack, und obwohl mein schwarz-grüner Rucksack schon gut getarnt ist, ziehe ich auch ihm eine olivfarbene Regenhülle über. Im Schlafsack stelle ich erfreut fest, dass ich nun – obwohl nur wenige Meter vom Fußweg entfernt – fast unsichtbar sein muss. Ich darf mich nur nicht zu viel bewegen, denn ich liege gefährlich nahe an der Abbruchkante ins Meer. Doch da mein Körper sich wie ein tonnenschwerer Sack anfühlt, bin ich sicher, mich in den nächsten Stunden nicht einen Zentimeter vom Fleck zu rühren.

Ich hole noch einmal meine Kamera hervor, um meinen ersten Schlafplatz zu dokumentieren. Vor lauter Müdigkeit habe ich keine Energie mehr, mir blöd oder lächerlich vorzukommen, deshalb klappt das Sprechen in die Kamera schon besser. Es fühlt sich sogar richtig gut an, fast als würde ich jemandem Gute Nacht sagen. Ich bin so erschöpft, dass mir sofort die Augen zufallen.

Ein Rascheln neben meinem Kopf lässt mich die Augen wieder aufreißen. Angespannt starre ich in die Nacht. Ein leises Maunzen und flüchtende Tapser verraten mir, dass es wohl nur eine Katze war. Erleichtert mache ich die Augen wieder zu, einschlafen kann ich nun allerdings nicht mehr. Ich schaue auf die Uhr und stelle ärgerlich fest, dass es erst viertel nach acht ist – abends! Mitte Februar liegen hier zwischen Abend- und Morgendämmerung über zwölf Stunden. Genervt wälze ich mich hin und her. Nach zwei Stunden Schlaf hat sich mein Körper anscheinend von den Strapazen des Tages erholt und ist nun in den alarmbereiten Zustand gewechselt. Das kleinste Geräusch lässt mich aufhorchen, jeder Windhauch die Augen aufschlagen. Ich habe zwar nicht wirklich Angst, trotzdem ist es ungewohnt, hier so ungeschützt herumzuliegen. Hoffentlich ist es wie mit dem Gewicht des Rucksacks: Es braucht einfach eine kleine Eingewöhnungsphase.

Die letzten Stunden vor Sonnenaufgang werden noch einmal besonders anstrengend, denn es wird kühler und ich finde keine bequeme Liegeposition mehr. Als es endlich dämmert, kann ich es kaum erwarten, aus dem Schlafsack zu kriechen!

Der Rucksack fühlt sich auch am zweiten Tag wie ein Sack Mehl auf meinem Rücken an. Doch ich verbiete mir das Selbstmitleid und zwinge mich zu guter Laune. Ich finde einen wunderschönen kleinen Strand und lege dort eine lange Frühstücks- und Badepause ein. Vor lauter Aufregung habe ich gestern kaum etwas gegessen und auch heute Morgen kriege ich nur ein paar Haferflocken mit Wasser und Trockenfrüchten herunter.

Später komme ich an beeindruckenden Meereshöhlen vorbei und abends laufe ich am Rand einer imposanten Steilküste entlang, deren weiß- und orangefarbene Kalksteinklippen spektakulär im Licht der Abendsonne leuchten. Doch so schön die Landschaft auch ist und sosehr ich mich anstrenge, positiv zu denken – insgeheim frage ich mich ständig, ob mein Rucksack nicht viel zu schwer für mich ist und ob ich heute Nacht einen Schlafplatz finde. War diese Reise vielleicht doch eine Schnapsidee?

Aber auch am zweiten Tag ist die Sorge wegen des Schlafplatzes unbegründet. Wie gestern befinde ich mich bei einsetzender Dämmerung zwar wieder zwischen Ferienhäusern und Hotelanlagen, doch ein schmaler Weg aus Beton führt mich aus dem Häuserwirrwarr direkt am Meer entlang auf einen felsigen Hügel und eine zerklüftete Bucht zu. Am Fuß des Hügels steht im hohen Gras einsam und verlassen ein mächtiger Wacholderbaum. Der Wind muss diesem Baum über die Jahre kräftig um die Ohren geweht sein: Sein Stamm hat sich so zur Seite geneigt, dass seine Krone fast vollständig den Boden bedeckt. Fasziniert schaue ich ihn mir genauer an. Die Äste, die neben dem Stamm den Boden berühren, bilden einen wunderbar windgeschützten Unterschlupf. Ich kann mein Glück kaum fassen: Was für ein schöner Schlafplatz, sogar mit Blick aufs Meer!

In dieser Nacht schlafe ich sogar zweimal drei Stunden am Stück. Morgens möchte ich meine geschützte Wachholderhöhle am liebsten gar nicht verlassen. Ich liege im Schlafsack und stelle mir vor, wie ich die nächsten fünf Monate unter diesem Wachholderbaum lebe. Ich könnte jeden Tag im Meer baden, hin und wieder auf den Hügel klettern, zum Einkaufen zurück in den Ort laufen und wäre meine Sorgen wegen des Schlafplatzes los.

»Mann, Johanna«, ermahne ich mich streng, »dann hättest du dir auch einfach für zwei Wochen eine Ferienwohnung auf Zypern mieten können! Aber du wolltest Abenteuer, schon vergessen?! Also kneif jetzt gefälligst die Arschbacken zusammen und mach nicht gleich am dritten Tag schlapp!«

Als ich zähneknirschend meine Sachen packe, fallen mir die Worte von Antonios wieder ein, die er mir nach unserem Treffen noch geschrieben hatte: »Remember, this is just the beginning of a long project. But as we say, beginning is half of the job!«

Das Schwierigste habe ich also schon geschafft: Ich bin losgelaufen. Alles andere wird sich finden.

Reiseweisheit Nummer 1:

Der Anfang ist die halbe Miete!

Meiner Erfahrung nach sind die ersten Tage einer Reise fast immer die härtesten. Nach der kurzen Anfangseuphorie setzt die Angst vor der eigenen Courage ein und man läuft Gefahr, von Zweifeln und Sorgen überwältigt zu werden. Da hilft nur eins: Augen zu und durch! Und vielleicht diese Erkenntnis: Eine Reise überhaupt erst zu beginnen, ist schon fast die halbe Miete.

Denn: Wie viele Leute sitzen zu Hause auf ihrem Sofa und schmieden große Reisepläne und verpassen den Moment, um sie in die Tat umzusetzen? Mal fehlt die Zeit, mal das Geld oder auch oft das letzte bisschen Mut, den sicheren Hafen zu verlassen und ins Unbekannte aufzubrechen. Die Erfahrung hat jedoch gezeigt: Man bereut vor allem die Dinge, die man nicht getan hat!

Und natürlich gibt es nach den ersten Startschwierigkeiten noch unzählige Momente der Mutlosigkeit, in denen die Zweifel anklopfen und man sich fragt: »Warum bist du dumme Nuss nicht einfach zu Hause geblieben?!« Doch darauf folgen so viele, in denen man feststellt: »Ja! All die Mühe, die Anstrengungen, der Schweiß, die Tränen haben sich gelohnt. All die Strapazen waren es wert, allein für diesen einen Moment!«

Rausch und tiefer Fall

Am dritten Tag erwartet mich hinter der ersten Kurve eine wunderschöne Kapelle, deren Kuppeldach mit terrakottafarbenen Ziegeln gedeckt ist. Die hellen Natursteine leuchten in der Morgensonne. »Agios Georgios in Pegeia«, weiß mein Handy. Hier beginnt die Akamas-Halbinsel. Einst britische Militärsperrzone, ist der nordwestlichste Zipfel Zyperns heute ein unberührtes Fleckchen atemberaubender Natur. Nur Offroad-Pisten führen über die 230 Quadratkilometer große Halbinsel, die neben Eukalyptus-, Kiefern- und Wachholderwäldchen vielen Pflanzen- und gefährdeten Tierarten einen ungestörten Platz zum Leben und zum Eierlegen bietet, zum Beispiel der Suppenschildkröte.

Mein Ziel heute ist die Avakas-Schlucht. Sie soll der imposanteste Canyon auf der Insel sein und ich will sie vollständig durchqueren.

Um acht Uhr stehe ich am großen Hinweisschild des Nature Trails und werde darauf aufmerksam gemacht, dass nach starken Regenfällen eine erhöhte Steinschlaggefahr bestehen könnte. Auch bei hohem Wasserstand des Avakas sollte man auf eine Begehung der Schlucht verzichten. Okay, zur Kenntnis genommen. Los geht’s!

Ich folge dem Trampelpfad und schaue bald auf hohe Kalksteinfelsen, deren helle Farbe einen schönen Kontrast zum üppigen Grün bildet. Als ich den schmalen Fluss erreiche, der sich über Jahrtausende seinen Weg durch den Fels gegraben hat, stehe ich wieder vor einem Hinweisschild. Diesmal wird der Zugang in die Schlucht ausdrücklich verboten, wegen hohen Wasserstands und Steinschlaggefahr. Na toll, was soll ich denn jetzt damit anfangen?! Unschlüssig sehe ich mir die steilen Felswände genauer an. Die machen doch einen ganz soliden Eindruck, und auch der Fluss plätschert allerhöchstens knietief neben mir dahin. Mithilfe des Wasserfilters fülle ich erst mal meine Trinkflasche auf, denn so richtig traue ich mich jetzt nicht mehr da rein.

Ich denke zurück an meine Wanderung auf Mallorca und erinnere mich an das Versprechen, dass ich mir und meiner Familie gegeben hatte, nachdem ich dort in einem Canyon, dem Torrent de Pareis, in Schwierigkeiten geraten war. »So einen Blödsinn machst du nie wieder!«, hatte ich mir damals eingeschärft.

Vielleicht liegt es daran, dass ich auf dem platten norddeutschen Land groß geworden bin, aber Berge, Täler und vor allem Schluchten hatten schon immer eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf mich, und nachdem ich damals gehört hatte, dass es einen spektakulären Canyon im Tramuntana-Gebirge geben soll, musste ich dorthin! Ich las, dass es eine der anspruchsvollsten Wanderungen auf ganz Mallorca sein sollte, doch nach ausgiebigen Recherchen traute ich mir die Tour durch den Torrent de Pareis durchaus zu: Sollte sie doch zu schwer werden, konnte ich ja jederzeit umkehren.

Ich bahnte mir also damals einen Weg durch dichtes Gestrüpp und folgte dem Felsgeröll, welches ich für das ausgetrocknete Flussbett hielt. Hin und wieder musste ich kleine Kletterpassagen überwinden, aber darauf hatte ich mich ja gefreut. Begeistert vom Weg, der meine volle Konzentration beanspruchte, merkte ich nicht, dass es unmöglich werden würde, die Felswände im Notfall wieder hinaufzuklettern. Bei einem besonders steilen, fast vertikalen Stück ließ ich den Rucksack einfach vier, fünf Meter in die Tiefe plumpsen und stieg hinterher. Unten angekommen, wurde mir bewusst, dass es mit meinem Rucksack kein Zurück gab. Umkehren war keine Option mehr.

Nachdem ich nach über vier Stunden immer noch nicht die Stelle erreicht hatte, an der der Torrent de Pareis beginnen sollte, machte ich mir ernsthaft Sorgen. Laut Beschreibung sollte man ihn spätestens nach zwei Stunden erreicht haben und die eigentliche Kletterei sollte dann erst richtig losgehen. Ich war jetzt schon fix und fertig! Doch fast wie im Rausch kletterte ich weiter. Anhalten bedeutete nachdenken und dann hätte ich mir eingestehen müssen, dass meine einzige Option – außer weiterklettern – darin bestand, einen Notruf abzusetzen. Und dafür müsste ich schon komplett verzweifelt und am Ende meiner Kräfte sein. Eine Stunde später fingen die Muskeln in meinen Armen und Beinen unkontrolliert an zu zittern, und ich merkte, dass ich kurz davor war, hysterisch in Tränen auszubrechen. Als Minuten später endlich der Torrent de Pareis in Sicht kam, schluchzte ich laut los.

Kurze Zeit später realisierte ich jedoch, dass ich nicht am richtigen Punkt gelandet war. Eigentlich sollte ich unten im trockenen Flussbett des Canyons stehen. Ich stand fast zehn Meter weiter oben an der Kante einer vertikalen Felswand – und der einzige Weg hinunter ging runter über diese Felswand. Das durfte doch nicht wahr sein!

Verzweifelt suchte ich einen Weg nach unten, doch den gab es nicht. Stattdessen fand ich, um einen dünnen Stamm geschlungen, eine Bandschlinge, die wohl andere Kletterer hier zurückgelassen hatten. Damit könnte ich es vielleicht schaffen! Ich steckte mir Handy und Messer in die Hosentaschen, dann ließ ich meinen Rucksack zehn Meter in die Tiefe sausen. Mir war völlig egal, ob mein Gepäck kaputtgehen würde, ich wollte nur noch hier raus! Die Bandschlinge zwischen die Zähne geklemmt, ließ ich mich vorsichtig an der Kante herunter. Hochkonzentriert tastete ich mit den Füßen nach kleinen Felsvorsprüngen und prüfte gewissenhaft, ob diese auch standhielten, bevor ich mein ganzes Gewicht darauf verlagerte. Mit zitternden Armen und Beinen kletterte ich hinab. Immer wieder musste ich stoppen, weil ich keine geeigneten Griffe oder Tritte fand. Ein paarmal musste ich die Bandschlinge zu Hilfe nehmen. Ich legte sie um kleine Bäume, die aus der Felswand herausragten, und betete jedes Mal, dass ihre Wurzeln meinen sechzig Kilo standhalten würden, dann ließ ich mich – die Finger um die Schlinge gekrallt und mit zitternden Armmuskeln – langsam nach unten.

So hatte ich die Hälfte der Strecke hinter mich gebracht, da passierte es: Ich tastete gerade mit meinem rechten Fuß trittsuchend an der Wand entlang, da ging ein Ruck durch meine rechte Hand. Bestürzt stellte ich fest, dass der Stein, den meine rechte Hand umklammerte, sich von der Felswand löste und nur eine Sekunde später flog meine Hand auch schon nach hinten durch die Luft und mit ihr riss es mich weg von der Felswand – ich fiel rückwärts in die Tiefe.

»Das war’s!«, schoss es mir noch durch den Kopf, dann prallte ich auf.

Ein stechender Schmerz zuckte durch meinen Rücken. Mir blieb die Luft weg. Meine Zähne bissen auf die Bandschlinge, als wollten sie sie zermalmen. Ein lautes, schmerzverzerrtes Knurren kam aus meinem Mund. Unkontrolliert und minutenlang stöhnte ich dort am Boden vor mich hin, und die Felswände der Schlucht warfen meine Laute nach allen Seiten zurück. Mein Rücken war gebrochen, da war ich mir sicher. Mit unerträglichen Schmerzen und nach Luft hechelnd, lag ich da und wagte nicht, mich auch nur einen Zentimeter zu bewegen.

Bewegungslos stehe ich auch jetzt vor dem Hinweisschild der Avakas-Schlucht und sehe mich vor meinem geistigen Auge wieder dort am Boden des Torrent de Pareis liegen – direkt neben einer dicken knorrigen Baumwurzel. Wäre ich damals nur einen halben Meter weiter links gelandet, wäre es wahrscheinlich wirklich aus gewesen. Zwei ältere Norweger, die plötzlich wie zwei Schutzengel auftauchten, halfen mir damals aus der Schlucht hinaus und so kam ich – mit mehr Glück als Verstand – fast unverletzt und nur mit einem Innenbandriss am linken Knöchel statt Querschnittslähmung davon.

Ein herannahendes Auto reißt mich aus meinen Gedanken. Ein roter Land Rover ruckelt über den kleinen Trampelpfad und kommt im Schatten einer großen Platane zum Stehen. Ein Mann in ausgewaschenen Arbeitsklamotten steigt aus und räumt große schwarze Schläuche auf den staubigen Boden. Meine Chance! Schnell laufe ich zu ihm herüber. »Entschuldigung, wissen Sie, ob der Zugang in die Schlucht wirklich verboten ist und ob es im Moment gefährlich wäre, dort hindurchzulaufen?« Der Mann sieht kurz auf, fährt fort, seine Schläuche abzuladen und winkt lässig ab: »Ach, heute ist doch bestes Wetter. Nur bei richtig starkem Regen könnte es gefährlich werden.«