Über Morgen – Der Zukunftskompass - Verena Lütschg - E-Book
SONDERANGEBOT

Über Morgen – Der Zukunftskompass E-Book

Verena Lütschg

0,0
11,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Mit rasender Geschwindigkeit verändert die digitale und biotechnologische Revolution alle Lebensbereiche. Euphorisch begeistern sich die einen für vermeintlich ungeahnte Möglichkeiten einer glücklichen und sorgenfreien Zukunft – andere sind ratlos und verunsichert, weil vertraute Gewissheiten sich auflösen. Was passiert hier mit uns, wohin geht die Reise? Wie wollen wir in Zukunft leben, arbeiten, wohnen, essen, reisen, lieben und konsumieren? Welche Technologien erweisen sich als nützlich, realistisch und vertrauenswürdig? Welche Neuerungen sind gefährlich oder ineffizient und verstärken gesellschaftliche Ungleichheiten?

Verena Lütschg leitet uns durch den Dschungel an technologischen Neuerungen. Anschaulich und klar führt die Expertin für technologische Innovationen und deren gesellschaftliche Auswirkungen durch komplexe Sachverhalte. Und endlich verstehen wir, was dran ist an den digitalen Technologien, allen voran Big Data, Künstliche Intelligenz (KI) und das Internet der Dinge, wir erfahren, welche Chancen die Biowissenschaften und die Synthetische Biologie bieten und was es mit Blockchain, Robotik und Virtual Reality auf sich hat. – Eine faszinierende Entdeckungsreise in die Zukunft!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 410

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Der Guide durch den Dschungel der Technologien von morgen

Mit rasender Geschwindigkeit verändert die digitale und biotechnologische Revolution alle Lebensbereiche. Euphorisch begeistern sich die einen für vermeintlich ungeahnte Möglichkeiten einer glücklichen und sorgenfreien Zukunft – andere sind ratlos und verunsichert, weil vertraute Gewissheiten sich auflösen. Was passiert hier mit uns, wohin geht die Reise? Wie wollen wir in Zukunft leben, arbeiten, wohnen, essen, reisen, lieben und konsumieren? Welche Technologien erweisen sich als nützlich, realistisch und vertrauenswürdig? Welche Neuerungen sind gefährlich oder ineffizient und verstärken gesellschaftliche Ungleichheiten?

Verena Lütschg leitet uns durch den Dschungel an technologischen Neuerungen. Anschaulich und klar führt die Expertin für technologische Innovationen und deren gesellschaftliche Auswirkungen durch komplexe Sachverhalte. Und endlich verstehen wir, was dran ist an den digitalen Technologien, allen voran Big Data, Künstliche Intelligenz (KI) und das Internet der Dinge. Wir erfahren, welche Chancen die Biowissenschaften und die Synthetische Biologie bieten und was es mit Blockchain, Robotik und Virtual Reality auf sich hat. – Eine faszinierende Entdeckungsreise in die Zukunft!

VERENA LÜTSCHG

ÜBER MORGEN

Der Zukunftskompass

Wie wollen wir in Zukunft leben?

Alle wichtigen neuen Technologien

auf einen Blick

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag hat sich bemüht, alle Rechteinhaber*innen ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall aufgrund des Zeitablaufs und der schlechten Quellenlage bedauerlicherweise einmal nicht möglich gewesen sein, werden wir begründete Ansprüche selbstverständlich erfüllen.

Originalausgabe 01/2022

Copyright © 2022 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Evelyn Boos-Körner

Umschlaggestaltung: Favoritbüro, München,

unter Verwendung eines Motivs von: Stocksy / VALERIYA SIMANTOVSKAYA

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-28081-9V002

www.heyne.de

Für Moritz

Inhalt

Einleitung

Teil I Wie wollen wir geboren werden, wie altern und wie sterben?

Kapitel 1:Über Vererbung, Design und den erweiterten Menschen

Kapitel 2:Über Geburt, Gesundheit und Krankheit

Kapitel 3:Über Altern und Tod

Teil II Wie wollen wir zusammenleben?

Kapitel 4:Künstliche Intelligenz und Big Data

Kapitel 5:Allein, zu zweit und in Gesellschaft

Kapitel 6:Liberale Demokratie versus autoritäre Doktrin

Teil III Was (und wie) wollen wir konsumieren?

Kapitel 7:Nahrung

Kapitel 8:Energie

Kapitel 9:Konsum- und andere Güter

Teil IV Wie wollen wir unsere Zeit verbringen?

Kapitel 10:Sinn und Unsinn von Arbeit

Kapitel 11:Kunst, Kultur und Engagement

Teil V Wo wollen wir sein?

Kapitel 12:Die eigenen vier Wände

Kapitel 13:Stadt und Land

Kapitel 14: … und wie wir hinkommen, wo wir hinwollen

Danksagung

Anhang

Bonustrack

Bibliografie

Abkürzungsverzeichnis

Einleitung

»Man braucht im Leben nichts zu fürchten, man muss es nur verstehen. Jetzt ist es an der Zeit, mehr zu verstehen, damit wir weniger fürchten.«

Marie Skłodowska-Curie

Die Welt steht am Sprungbrett. Vergnügt nimmt sie Anlauf und hüpft in das erfrischende Nass. Taucht ein in die schöne neue digitale Welt, in der alles Lästige von Algorithmen und Künstlichen Intelligenzen erledigt wird. Die Welt braucht sich nur noch um ihr Vergnügen zu kümmern. Energiekrise? Erledigt, dank hocheffizienter Solartechnik, rückstandsloser Atomreaktoren und künstlicher Bäume mit Fotosynthesetechnologie. Umweltkrise? Im Griff, da neue Energietechnik das Problem an der Wurzel packt und die Fortschritte in Schadstoff-Rezyklierung und Umwelttechnologie die angerichteten Schäden wieder ausmerzen, während staubkörnchengroße Sensoren durch Luft und Wasser schwirren und deren Qualität in Echtzeit überwachen. Es muss keiner mehr arbeiten, der nicht will. Keine Burn-outs und Bore-outs, keine Arbeitsunfälle, keine lästigen Arbeitszeiten. Ein bedingungsloses Grundeinkommen garantiert jedem Bürger diese Freiheit. Pflanzliche Nahrungsmittel wachsen in perfekt abgestimmten, automatisierten Farmen, tierische entstehen in ebenso automatisierten Laboren, ohne dass Tiere leiden. Beide landen über autonome Lieferung auf unseren Tellern, wann immer wir es wünschen. Und während wir in süßem Nichtstun auf der digitalen Welle floaten, brauchen wir uns nicht einmal vor Krankheiten zu sorgen. Denn Nano-Roboter patrouillieren durch unsere Körper und warnen uns frühzeitig, sollte etwas außer Kontrolle geraten. Falls doch einmal ein Körperteil schwächelt, können wir uns immer noch ein maßgeschneidertes Ersatzteil drucken lassen. Und unsere lästige, fehlerbehaftete Genetik wurde längst durch die Genschere optimiert.

Schöne neue Welt, also – oder?

Die Welt steht am Sprungbrett. Ängstlich blickt sie über den Rand, sie will nicht springen, aber von hinten kommt ein kräftiger Stoß. Doch im Becken ist kein Wasser. Der Aufschlag ist hart. Wir haben es verpasst, unsere Industrie nachhaltig zu gestalten, und die Wirklichkeit erfüllt alle Schreckensszenarien. Weite Teile des Planeten sind unbewohnbar geworden, verwüstet, abgesoffen, überhitzt. Eine nie da gewesene Völkerwanderung findet statt, auf der Flucht vor Hunger, Flut und Dürre. Sie verschärft die ohnehin rasant zunehmende Spaltung der Gesellschaft. In der The-winner-takes-it-all-Ökonomie der digitalen Plattformen hat sich eine kleine Elite herausgebildet, die sich immer weiter von der Masse entfernt. Sie bestimmt, was die Menge zu sehen, zu lesen und zu kaufen bekommt. Während die meisten immer heftiger mit Krankheiten, wie durch Umweltgifte hervorgerufene Tumore oder Zivilisationskrankheiten, zu kämpfen haben und ihre Gesundheitsversorgung nicht mehr bezahlen können, erhält die Elite die neuesten Therapien. Sobald die Manipulation unseres Erbguts mit hoher Präzision und Sicherheit möglich ist, ist die Elite nicht mehr einzuholen. Sie leistet sich genetische Vorteile, die sie vom Rest der Menschheit abheben wird, verbessertes Gedächtnis, verfeinerte Sinne, stärkere Körper. Die breite Masse zerreibt sich im Kampf um immer weniger Ressourcen und Jobs auf den digitalen Märkten. Solidarität, Gleichberechtigung und ein zugewandtes Miteinander sind ferne Erinnerungen. Kreativität, Andersartigkeit und Freigeistigkeit bleiben in einer durch ein Sozialkreditsystem permanent überwachten Gesellschaft auf der Strecke. Fehlt nur noch die Designer-Droge, um diese Menschen ruhigzustellen – schöne neue Welt.

Wie wird die Entwicklung verlaufen? Werden wir die sonnige Utopie verwirklichen können oder in einer dystopischen Hölle unser Dasein fristen? Die Antwort ist zunächst recht simpel: weder noch. Nichts ist rein schwarz oder weiß. Warum wird es keine perfekte Utopie geben? Yuval Harari, brillanter Denker, beschäftigt sich in seinem faszinierenden Buch Homo Deus mit unserer Zukunft, doch so interessant seine Gedanken sind, es unterläuft ihm ein Kardinalfehler: Er erklärt die drei größten Geißeln der Menschheit, Hunger, Krieg und Krankheit, in absehbarer Zeit für erledigt. Obwohl wir unbestreitbar bei allen drei Themen immense Fortschritte erzielten, werden uns alle drei weiterhin begleiten und einen großen Teil unserer Aufmerksamkeit fordern. Hunger wird wohl am ehesten eines Tages verschwinden. Immer effizientere und nachhaltigere Produktionsmethoden mögen irgendwann die Menschheit ausreichend ernähren, ohne unseren Planeten zu ruinieren. Doch die Prognosen der steigenden Erdbevölkerung bei schwindenden Ackerflächen und Raubbau an der Natur lassen dies in den nächsten 100 Jahren als eher unwahrscheinlich erscheinen. Selbst die günstigsten Prognosen sehen keinen Bevölkerungsrückgang vor 2050, und bis dahin wird es locker neun Milliarden Menschen geben. Krankheit und Krieg allerdings werden uns heimsuchen, solange es Menschen gibt. Solange wir physiologische Körper haben, werden diese sich abnutzen und Ersatzteile brauchen. Angenommen, wir können uns diese Ersatzteile wortwörtlich auf den Leib schneidern lassen, müssen wir dennoch durch den Reparaturprozess gehen, der an keinem Körper spurlos vorbeigeht. Auch Infektionskrankheiten wird es immer geben, einerseits, weil sich auch die Mikroben fortentwickeln, andererseits, weil wir unsere Fortschritte im Kampf gegen Viren und Bakterien selbst boykottieren, was sich beispielsweise an den zunehmenden Antibiotikaresistenzen verfolgen lässt. Auch die Genschere wird nicht alle unsere genetischen Probleme lösen. Zunächst ist das Zusammenspiel unserer Gene so außerordentlich komplex, dass wir es erstens noch nicht durchblicken, zweitens lassen sich die wenigsten genetischen Krankheiten auf ein einzelnes Gen zurückführen, und drittens werden wir häufig in den Konflikt kommen, dass eine vermeintliche Reparatur bzw. Verbesserung unserer genetischen Ausstattung in anderen Bereichen heftigen Schaden nach sich zieht.

Und Krieg ist tief verankert im Menschsein. Gier, Wahn und Hybris werden weder magisch noch biotechnologisch aus unserem Charakter getilgt werden, ebenso wenig unsere Anfälligkeit für Ideologien aller Art. Es ist leicht vorstellbar, dass eine zunehmende und immer anspruchsvollere Bevölkerung nicht dazu beiträgt, Konflikte zu entschärfen. Und all diejenigen, die denken, dass in einer zukünftigen digitalen Welt materielle Ressourcen wie Öl, Gold und Land nicht mehr wichtig sind und als Kriegsgrund wegfallen, sollten sich fragen, worauf ihre digitale Welt eigentlich basiert. Denn sie steht bei aller Virtualität auf physischen Beinen: Wir werden enorme Energiemengen für unsere digitalen Visionen benötigen, seltene Erden und Metalle für unsere Rechner sowie sichere Standorte für unzählige Server. Die Gründe, Krieg zu führen, werden nicht ausgehen. Hunger, Krieg und Krankheit werden uns also weiterhin begleiten. Auch abseits davon ist viel Utopisches, was begehrenswert scheint, auf den zweiten Blick gar nicht so erstrebenswert. Wollen wir wirklich nicht mehr arbeiten? Was macht das mit uns? Woher kommen Sinn und Anerkennung? Wollen wir wirklich ewig leben? Wie sieht überhaupt eine Utopie für Milliarden von Menschen mit unterschiedlichen Vorlieben, Interessen und Voraussetzungen aus? Eine Utopie beschreibt eine ideale Gesellschaft, die das Glück aller Menschen zum Ziel hat, doch wie kann man das verwirklichen, ohne dass die Gesellschaft fragmentiert? Ist das alles wirklich lebenswert?

Was ist mit der Dystopie? Es gibt genügend Vordenker, die uns auf dem besten Weg dorthin sehen. Im Extremfall wird die Menschheit gleich ganz ausgerottet, sei es durch Naturkatastrophen, Nuklearkriege oder eine wild gewordene Künstliche Intelligenz. Auch wenn die Menschheit sich irgendwann selbst auslöschen wird, die Erde wird sie nicht vernichten. Der Planet wird sich vom Boden des leeren Beckens wieder aufrappeln, leicht deformiert zwar, aber lebendig klopft er sich den Staub ab und macht weiter, bis er sich in etwa 7,5 Milliarden Jahren in die Sonne stürzt. Aber gehen wir mal davon aus, unsere Spezies besteht weiter, findet sich jedoch in einer unwirtlichen Welt, einer egoistischen, hasserfüllten und dysfunktionalen Gesellschaft wieder. Es gibt einiges, was in diese Richtung deutet: der Klimawandel; die polarisierenden Nebenwirkungen digitaler Technologien; ein Auseinanderdriften in eine Zwei-, eventuell Dreiklassengesellschaft; die drohende digitale Überwachung, die nicht nur in China bereits begonnen hat. Und da ist die vollkommen mangelnde Vorbereitung auf eine starke allgemeine Künstliche Intelligenz (KI), die es mit dem menschlichen Geist aufnehmen kann – und immer weiter lernt. Die gute Nachricht: Wir können das alles noch beeinflussen. Aufhalten lässt sich der technologische Fortschritt nicht, aber wir können stärker denn je gestalten, mitreden und lenken, und wir als Gesellschaft, als Bürger, haben einen stärkeren Einfluss als je zuvor. Bei den bisherigen industriellen Revolutionen hatte die Mehrheit keine Einflussmöglichkeit. Weder gab es umfassende Informationen noch ein Mitspracherecht. Heute aber haben wir offenen Zugang zu Daten und Fakten, und nie war es einfacher, mit Experten aus den unterschiedlichsten Ländern ins Gespräch kommen, als über digitale Wege.

Nutzen wir diese Chance, unsere Zukunft aktiv mitzugestalten. Beim Klima, bei Biotechnologien und Künstlicher Intelligenz müssen wir jetzt die Weichen für eine technologische Entwicklung zum Wohle aller stellen. Um mitzugestalten, brauchen wir ein Grundverständnis der Schlüsseltechnologien. Wir müssen keinen Slow-Wave-Kernreaktor bauen oder die Basis einer KI programmieren können, um mitzureden. Aber wir sollten verstehen, warum dieser Reaktor kaum radioaktive Rückstände hinterlässt, um uns eine fundierte Meinung zum Thema »Atomkraft – ja oder nein« bilden zu können. Und wir sollten verstehen, warum eine mit schlechten Daten trainierte KI hochgefährlich ist. Nur dann können wir zu der Debatte etwas beitragen. Noch dazu ist dieses Wissen der beste Schutz gegen verführerische Appelle von Untergangspropheten und New-Tech-Jüngern. Überlassen wir das Feld nicht den Extremen, denn wahrscheinlich wird unsere zukünftige Welt irgendwo auf der Skala zwischen Schwarz und Weiß landen. Wo genau, das liegt ganz an uns.

Dieses Buch stellt die Frage, wie wir morgen mit all den neuen Technologien leben wollen. Dazu werfen wir einen offenen Blick auf die wichtigsten und faszinierendsten Innovationen mit ihren Chancen und Risiken an. Wir werden sehen, was sie für unser Leben bedeuten, für unser Arbeiten und Wohnen, für Freizeit und Altern, für Transparenz, Vertrauen und Gemeinschaft. Über jedes einzelne Kapitel kann man mehrere Bücher verfassen, wir werden also nicht den technischen Olymp erklimmen. Aber das Buch soll eine Grundlage bieten, um sich eine eigene Meinung zu bilden und sich selbst zu fragen: Wie will ich eigentlich leben?

Die Zukunft aktiv zu gestalten ist eine grandiose Chance. Reden wir also über morgen. Wie wollen wir dieses »Morgen« gestalten, als Einzelne und als Gesellschaft. Wer Interesse hat, findet auf der Website zum Buch www.zukunftskompass.org nicht nur kurze Steckbriefe der wichtigsten Technologien, sondern kann sich dort auch an der Debatte über ein positives Morgen beteiligen. Und wer weiß, vielleicht entsteht dort ja die eine oder andere wegweisende Idee …

Teil I

Wie wollen wir geboren werden, wie altern und wie sterben?

Im Zentrum der Frage, wie wir leben wollen, stehen wir selbst zwischen Zeugung und Tod. Die medizinischen und gesellschaftlichen Fortschritte der letzten 200 Jahre haben global zu einer Verdopplung der Lebenserwartung geführt.1 Wir können künstliche Befruchtungen durchführen, Organe verpflanzen, das humane Immundefizienzvirus (HIV) im Zaum halten und zumindest in einigen Ländern selbstbestimmt aus dem Leben gehen. Impfungen retten jährlich Millionen von Leben, und die Kinder- und Müttersterblichkeit ist beinahe weltweit gesunken. Bei all den Erfolgen gibt es auch neue Probleme. Neue Therapien, etwa gegen Krebs oder Erbkrankheiten, werden immer personalisierter. Das macht sie effektiver, aber auch erheblich kostspieliger. Das teuerste Medikament kostet derzeit rund zwei Millionen Euro – eine einzige Spritze, die Betroffenen ein qualvolles Leben mit spinaler Muskelatrophie erspart. Nur, wer kann das zahlen? Gleichzeitig treten neue Krankheiten auf, Pathogene wie SARS-CoV-2 und Zivilisationserkrankungen, die auf Bewegungsmangel und falsche Ernährung zurückgehen. Nicht zu vergessen unsere mentale Verfassung, die immer schlechter mit zunehmendem Stress, Überforderung und Einsamkeit zurechtkommt. Moderne Technologien suggerieren uns teils eine falsche Sicherheit, sie versprechen Lösungen, wo sie nur begrenzt helfen können. Die Corona-Pandemie hat uns vor Augen geführt, wie machtlos wir häufig sind, eine Kränkung, die vor allem hoch technologisierte Gesellschaften noch lange beschäftigen wird. Sie hat uns auch einige Themen wieder bewusst gemacht, die wir lieber verdrängen, allen voran den Tod. Gleichzeitig rückt die Forschung zur Lebensverlängerung bis zur Unsterblichkeit weiter ins Zentrum. Die Verschmelzung von Mensch und Maschine wird ebenso möglich wie der Eingriff in das Erbgut und das gezielte Steuern unserer Evolution. Doch bevor wir diese unumkehrbaren Schritte gehen, sollten wir uns zunächst überlegen, wer wir überhaupt sein wollen.

Kapitel 1

Über Vererbung, Design und den erweiterten Menschen

»Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das sich dagegen sträubt, das zu sein, was es ist.«

Albert Camus

Wenn Neil Harbisson vor einem Supermarktregal steht, sieht er all die Farben nicht, er hört sie. Rot, Grün und Pink verwandeln sich in eine Kakofonie der Töne. Neil wurde farbenblind geboren, doch nach 20 Jahren in einer monochromen Welt war es Zeit, etwas zu ändern. Mit Wissenschaftlern entwarf er eine Antenne, die per Kamera die Farben aufnimmt und in Vibrationen verwandelt. Ihren Sitz hat die Antenne in einem Knochen am Hinterkopf. Sie ragt bis vor seine Stirn, was Neil ein wenig wie einen Anglerfisch aussehen lässt. Über den Schädelknochen werden die Vibrationen in seinen Kopf übertragen, und Neil kann Picasso zuhören und die Gesichter von Bono und Nicole Kidman in Musik übersetzen. Inzwischen träumt er sogar mit dem Klangspektrum, das Gerät ist ein Teil von ihm geworden.2 Neil hat sich entschieden, wer er sein möchte. Er ist der erste offiziell anerkannte Cyborg.

Immer mehr erforschen nicht nur die Möglichkeiten neuer Sinne, sie suchen nach Wegen, ihre limitierten Fähigkeiten zu erweitern. Diese Verbesserung der Menschen – Human Enhancement – fängt bereits bei leistungssteigernden Medikamenten und individuell optimierter Ernährung und entsprechendem Training an. Wir versuchen, uns selbst zu quantifizieren, zu optimieren und unser Leben in Daten und Zahlen zu packen.

Die Vermessung des Selbst

Mein Armband vibriert, und ich wache auf. Zusammen mit meiner Matratze meldet es mir, dass ich gut geschlafen habe. Durch die Überwachung von Atemrhythmus, Herzfrequenz und Bewegung haben sie den optimalen Zeitpunkt für mein Aufwachen abgepasst. Ein in einem Headset verpacktes EEG (Elektroenzephalograf) misst die elektrische Aktivität meines Hirns und warnt, wenn ich mich nicht ganz entspanne, während mein Armband der Kaffeemaschine mitteilt, dass ich heute nur eine mittlere Dosis Koffein brauche und der Glukosesensor zum Frühstück mahnt. Also mische ich mir ein Müsli, fotografiere es mit der Nutrition-App, die registriert, wovon ich wie viel verspeist habe. Auf dem Weg zur Arbeit berichtet mein Auto, dass ich sehr konzentriert bin und schnell reagiere, perfekter Start in den Arbeitstag. Ein paar Stunden später registriert mein Computer, dass meine Konzentration gesunken ist, bespricht sich kurz mit meinem Glukosesensor und schickt mich zum Mittagessen. Danach darf ich kurz powernappen, was mein Armband rechtzeitig beendet. Am Nachmittag informiert mich mein Hausarzt, dass laut meinem Blutstromsensor alle Werte in bester Ordnung seien. Außerdem fragt er, ob er meine Blutwerte für eine klinische Studie freigeben darf. Ich stimme zu, was mir einen Bonus der Krankenversicherung einbringt. Kaum falle ich abends aufs Sofa, mahnt mein Armband, dass noch eine Sporteinheit ansteht. Ich rapple mich widerwillig auf und zappele meinem persönlichen, KI-gestützten Trainer nach, der per Kamera die korrekte Ausführung überwacht. Am Ende lobt mich das Armband, und ich bekomme 100 Punkte auf meine Krankenkassen-Bonus-App. Kurz vor dem Einschlafen teilt mir eine weitere App mit, dass die nächsten zwei Tage sehr günstig seien, um mich fortzupflanzen. Ich werde morgen darüber nachdenken.

Das mache ich natürlich alles nicht, dazu bin ich allein viel zu faul. Aber das meiste ist bereits möglich. Den Wunsch, uns selbst zu vermessen, haben wir Menschen schon lange, doch die moderne, durch digitale Technologien gestützte Quantified-Self-Bewegung gibt es erst seit 2007, als zwei Redakteure der Tech-Zeitschrift Wired den Namen prägten. Das Internet der Dinge (IoT), Big Data und präzise Sensorik haben das Thema aus dem Reich der Nerds geholt, nun kann sich jeder nach Lust und Laune selbst vermessen. Selbst das tragbare EEG gibt es bereits, die Firma Muse bietet quantifizierbare Entspannung, und SmartSleep von Philips erkennt Tiefschlafphasen und verlängert sie mittels eines akustischen Signals; Neurofeedback nennt man das. Brainbit geht noch weiter, neben kontrollierter Meditation und Schlaf verspricht es unter anderem einen Vorteil beim Online-Dating, denn »aufs Herz zu hören ist nicht genug«. Außerdem kann man mit dem dazugehörigen Kopfband seine momentane Laune direkt in die sozialen Netzwerke übertragen, herausfinden, wer gerade der glücklichste Mensch im Raum ist, und natürlich hilft das Ding auch Marketing-Menschen dabei, zu analysieren, worauf die Menschen am besten reagieren. Aus einem EEG kann man so einiges herauslesen, etwa tiefe Entspannung, für die Meditation funktioniert das Gerät also. Die exakte Stimmung dagegen lässt sich kaum feststellen, es ist also fraglich zu behaupten, man könnte seine Laune via EEG messen.

Für Vitalparameter wie Sauerstoffsättigung, Körpertemperatur und Blutdruck gibt es dagegen bereits Sensoren, die präzise und zuverlässig unsere Daten aufnehmen. Ein Gerät, wie die von Biovotion entwickelte Armbinde, registriert die physiologischen Werte und ermöglicht den direkten Zugriff auf die Daten für Patient und Arzt. Den Sensor von Coninuss kann man gar im Ohr tragen. Beides sind Beispiele für Mobile Health (mHealth), ein Bereich der digitalen Gesundheit, die auf mobile Geräte wie Wearables setzt, um etwa chronisch Kranken eine Versorgung zu Hause zu ermöglichen oder Prävention zu unterstützen. Verbaut werden die kleinen sensorischen Spione in praktisch allem, was mit uns in Kontakt steht, und sodann »smart« wird: es gibt smarte Ringe, smarte Windeln und sogar smarte Rosenkränze.

Nach der großen Welle der Wearables startete die Entwicklung von Tattooables, Ingestables, Implantables und Injectables – also der tätowierbaren, schluckbaren, implantierbaren und injizierbaren Sensoren. Tattooables werden als flexible Elektroden aufgeklebt oder sogar direkt auf die Haut gedruckt. Eine ganze Reihe Labore versucht, mittels solcher Tattoos den pH-Wert der Haut,3 den Vitamin-C-Gehalt des Schweißes4 und sogar kardiologische Parameter5 zu bestimmen. Eine Gruppe der TU München etwa verwendete statt traditioneller Tätowiertinte Indikatorenlösungen für pH, Glukose und Albumin, die durch Farbveränderung auf eine ungesunde pH-Verschiebung, erhöhten Zuckerspiegel oder Leber- und Nierenschäden hindeuten.6 Auch Sensoren, die dauerhaft implantiert oder tiefer ins Gewebe oder den Blutstrom injiziert werden, sind in der Entwicklung und teils bereits marktreif. Die erste smarte Pille, die misst, ob man als Schizophreniepatient auch zur richtigen Zeit sein Medikament eingenommen hat, wurde bereits Ende 2017 von der FDA zugelassen.7

So fantastisch das klingt, gibt es doch noch einige Hürden zu nehmen, darunter die dauerhafte und verlässliche Verwendung der Sensoren, ohne dass sie nach jeder Messung ausgetauscht werden müssen. Auch der medizinische Nutzen und die Aussagekraft der Messungen sind oft noch nicht wissenschaftlich belegt.

IoT treibt zwar die Entwicklung voran. Denn das Ganze hat nur einen Sinn, wenn man die Daten miteinander in Verbindung setzen und analysieren kann. Mein Matratzen-Sensor will mit meiner Uhr kommunizieren, ich will, dass meine Uhr mit meiner Kaffeemaschine redet, und meine Krankenversicherung will am liebsten alle Daten haben. Doch häufig passen die Schnittstellen nicht zusammen. Der Gerätemarkt ist das reinste Babylon, kein Gerät versteht das andere, geschweige denn, dass es mit dessen Daten etwas anfangen kann. Um in all den Daten relevante Trends zu finden, muss man also wieder neue Programme nutzen, die sämtliche Gerätesprachen verstehen und die Daten vereinheitlichen und analysieren können. Das ist mühsam für den Nutzer und funktioniert daher auf Dauer nicht. Es braucht einheitliche Standards, verlässliche Funktechnologie wie flächendeckende 5G-Netze und eine solide Datensicherheit. Trotz all dieser Herausforderungen sind mobile Sensoren stark im Kommen, vor allem im Konsumentenmarkt, auch weil die Selbstvermessung immer günstiger wird.

Das erste komplett entschlüsselte menschliche Genom wurde 2001 vorgestellt. Die ganze Sequenzierung kostete damals 2,7 Milliarden US-Dollar. Heute, gerade einmal 20 Jahre später, gibt es die genetische Datenanalyse bei der Firma 23andMe für gerade einmal 99 US-Dollar. Dadurch können und wollen wir jetzt auch wissen, was in unseren Genen steht. Wie hoch ist mein Risiko einer Herzerkrankung? Mein Krebsrisiko? Werde ich im Alter dick oder dement? Will ich das alles wirklich wissen? 2007 gegründet, versendete die Firma zunächst munter ihre Ergebnisse an die Kunden, die – wenig erstaunlich – von der Liste ihrer Mutationen und Risiken ein wenig überfordert waren. »Colitis ulcerosa: dein Risiko ist 1,1 Prozent, das durchschnittliche Risiko liegt bei 0,8 Prozent, du hast damit ein 1,42-fach höheres Risiko und wir sind uns mit 4 von 4 Sternen sehr sicher; Magenkrebs: dein Risiko 2,3 Prozent, Durchschnitt 0,3 Prozent, 7,7-faches Risiko, 4 von 4 Sternen«. Brustkrebs, Prostatakrebs, Zöliakie, bipolare Störung, Gallensteine, Parkinson – das können oft nicht einmal Experten einordnen.

Nun wurde also unzähligen Kunden die Liste aller Mutationen und Risiken vorgelegt und die Menschen mit den Ergebnissen allein gelassen. Offensichtlich keine gute Idee, dennoch brauchte die FDA sechs Jahre, um dieser Verantwortungslosigkeit Grenzen zu setzen und das Analyseangebot für genetische Krankheiten auf elf gut definierte und verstandene Genmarker zu kürzen. Seitdem fokussieren sich die Anbieter darauf, die Herkunft per Gentest festzustellen. Nun kann man sich bunte Karten anzeigen lassen, die einem erzählen, dass man zu 45,63 Prozent von Nord-Ost-Europäern abstammt, zu weiteren 14,05 Prozent aus dem Nordeuropäisch-Mesolithischen Bereich, und zu 0,09 Prozent aus dem Indisch-Tibetischen. Allerdings unterscheidet sich das Ergebnis oft von Firma zu Firma, je nach Datenbank. Auch hier liegt das Problem darin, dass den Menschen eine Genauigkeit und Sicherheit der Technologie suggeriert wird, die es so nicht gibt.

Dann ist da noch die Sache mit dem Datenschutz. Denn während mehr und mehr Leute ihre genetischen Informationen freigiebig im Netz teilen, sind auch die Firmen nicht untätig. FamilyTreeDNA kooperiert mit dem amerikanischen FBI auf der Suche nach Verbrechern,8 und 23andMe verkauft die Daten seiner Kunden an den Pharmariesen GlaxoSmithKline und diverse Konkurrenten.9 Ersteres ist extrem bedenklich, auch wenn dies zur Aufklärung von ein paar zusätzlichen Kriminalfällen beiträgt, denn das FBI hat somit Zugriff auf mehr als eine Million genetischer Datensätze. Die Zusammenarbeit mit der Pharmaindustrie (und akademischen Forschungsinstituten) indes ist grundsätzlich keine schlechte Idee, denn die Datenmengen liefern einen Schatz für die Entwicklung neuer Medikamente. Aber warum sollte die Firma mit meinen Daten doppelt kassieren?

Die Verbesserung des Selbst

Der Wunsch, sich selbst besser zu verstehen, ist alt. Heute können wir besser denn je vermessen, und der Slogan des Quantified Self Institute drückt diese Erwartung perfekt aus: Selbsterkenntnis durch Zahlen.10 In ihrer Definition dreht sich das quantifizierte Selbst um nicht weniger, als die persönliche Bedeutung in den persönlichen Daten zu finden. Das ist freilich eine sehr mechanistische Sicht auf das menschliche Wesen. Trotz aller Einwände bringt das Selbstmonitoring auch gesundheitliche Vorteile. Die Selbstvermessung hilft, positive oder negative Muster im eigenen Verhalten zu erkennen und darauf zu reagieren. Allerdings ist oft nicht nur ein gesundes Leben das Ziel. Der Wunsch nach Selbstoptimierung ist immer tiefer in unseren Alltag vorgedrungen. Fitness, sowohl körperlich als auch mental, ist zum Leitbild geworden, Healthstyle ist das neue Zauberwort für gesunden Lebensstil. Viele haben Spaß daran, sich per App immer neue Ziele zu setzen, auf die sie hintrainieren. Diese Motivationsschiene nutzt ein Konzept, das sich auf Neudeutsch Gamifizierung nennt. Apps sind weniger oberlehrerhaft und langweilig aufgebaut, sondern interaktiv und wie Computerspiele (games). Auch wissenschaftliche Neugier spielt bei vielen eine Rolle. Citizen-Science-Projekte finden immer größeres Interesse. Dabei unterstützen Laien Forscher bei ihrer Arbeit oder führen selbst Experimente durch und teilen ihre Ergebnisse auf Websites wie quantified-mind.com mit der Community.

Andere Auswüchse der Selbstoptimierung bringen dagegen zutage, dass viele aus äußerem Druck handeln. Die Erwartungshaltung, immer und überall Bestleistungen abrufen zu können, ist immens. Forbes nannte LSD-Microdosing, also die Einnahme von einer geringen Menge LSD, um Kreativität und Produktivität zu steigern, den nächsten Job-Enhancer.11 Nachdem schon Steve Jobs dafür bekannt war, gerne mal auf einen kleinen psychedelischen Pilz-Trip zu gehen, ist Microdosing von diversen psychoaktiven Substanzen der neue Weg, um mitzuhalten.

Der Trend zur Selbstoptimierung steigert sich bis hin zu Human Enhancement (HE). Dabei geht es nicht nur darum, das Beste aus sich herauszuholen, sondern über das hinauszugehen, was »normal« oder »natürlich« ist, indem man »wissenschafts- oder technologiebasierte Modifikationen am menschlichen Körper vornimmt«.12 Viele Methoden wurden ursprünglich entwickelt, um Mängel auszugleichen. Plastische Operationen helfen Brand- und Unfallopfern, ihrem alten Selbst wieder ähnlicher zu sehen. In-vitro-Fertilisation hilft unfruchtbaren Paaren, Eltern zu werden. Doch man kann mit diesen Technologien auch Menschen über ein natürliches Maß hinaus verbessern. Die feine Linie zwischen Therapie und Enhancement verwischt. Betrachten wir die Prothetik, die inzwischen nicht mehr nur Behelfs-Gliedmaßen liefert. Vor allem Beinprothesen sind so gut geworden, dass eine Diskussion darüber entsprang, ob Sprinter mit diesen Prothesen in Wettbewerben zugelassen werden, und zwar weil sie einen unlauteren Vorteil hätten. Natur und Technologie sind hier also offensichtlich gerade in einem Kopf-an-Kopf-Rennen, doch wenn man sich die rasante Entwicklung etwa in der Materialkunde anschaut, dann fällt es nicht schwer, sich vorzustellen, dass es in Zukunft Prothesen gibt, die den menschlichen Extremitäten deutlich überlegen sind. Sogenannte Exoskelette, quasi eine unterstützende Hardware um unseren Körper herum, leisten heute schon Übermenschliches.

Auch unsere Sinne werden im Rahmen von HE intensiv erforscht. Warum zum Beispiel sollten wir nur den Lichtbereich von Blau bis Rot sehen? Warum nicht auch Infrarot wie einige Schlangen? So weit sind wir noch nicht, aber es gibt Labore, die daran arbeiten, erblindeten Patienten ihr Augenlicht wiederzugeben. Durch Netzhautimplantate, die mit elektrischer, optischer, magnetischer oder Ultraschallstimulation des Sehnervs arbeiten, versuchen die Forscher, zumindest einen Teil der Sehkraft wiederherzustellen; erste Ergebnisse sind vielversprechend.13 Sobald die Implantate grundsätzlich funktionieren und verträglich sind, sollte es auch möglich sein, das Sehen über das normale menschliche Maß hinaus zu erweitern.

Wie bei Neil Harbisson wird auch versucht, einen defekten Sinn durch einen anderen zu ersetzen. Blinde etwa lernen, sich über Echoortung im Raum zu bewegen. Dabei hilft ihnen das Tappen des Stockes oder Klickgeräusche der Zunge.14 Sie können dadurch nicht nur Objekte verorten, sondern auch erstaunlich genau Größe, Form und Material bestimmen. Das Projekt BATEYE arbeitet daran, die menschliche Echoortung durch ein Wearable nutzerfreundlicher und zuverlässiger zu machen. Die Forscher verbauen einen Ultraschallsensor in Brillen, der alle fünf Millisekunden misst und die Distanz zum nächsten Objekt als Ton angibt.15

Neil Harbisson und Kollegen kann man zur Gemeinschaft der Biohacker zählen. Biohacker, oder Do-it-yourself-Biologen, finden, dass nicht nur in institutionellen Laboren wissenschaftlich gearbeitet werden kann, sondern auch in der Garage. Sie unterstützen eine offene, zugängliche und kostengünstige Wissenschaft und teilen bereitwillig Protokolle und Unterstützung. Während sich viele mit Zellkulturen, Mikroben und Bioinformatik beschäftigen, basteln Grinders an ihren eigenen Körpern. Sie versuchen, Technologie und menschliche Körper zu verschmelzen. Der Vorreiter Ken Warwick setzte sich bereits 1998 einen RFID-Chip ein, mit dem er Türen öffnen und Lichter ein- und ausschalten konnte. Wer jetzt meint, Warwick sei ein einsamer Spinner – mag sein. Er ist aber auch emeritierter Professor und Vize-Kanzler der Coventry and Reading Universities. Und allein ist er auch nicht. Inzwischen haben sich mehrere Tausend Menschen chippen lassen; in Schweden kann man sogar sein Zugticket mit seinem Implantat zahlen.16

Andere sind skeptischer. PositiveID, die ihren VeriMed-Chip von der FDA zulassen und unter anderem die Gesundheitsdaten der Träger über den Chip zugänglich machen wollten, gaben 2010 auf, da niemand ihren Chip wollte.17 Einige US-Staaten schützen ihre Bürger per Gesetz davor, unfreiwillig oder durch Anreize gedrängt gechipt zu werden.18 Die Sorge ist verständlich, denn ein Chip im Körper gibt einem das Gefühl, erfassbar und auffindbar zu sein. Viele befürchten, dass ihre Daten von unbefugten Personen ausgelesen werden können. So einfach ist das alles jedoch nicht. Die Mikrochips selbst haben einen winzigen Speicher, der meist nur zur Authentifizierung der Person taugt. Der Chip lässt sich nicht über GPS oder anders tracken, denn er muss sich erst mit einem aktiven Transponder, zum Beispiel einem Smartphone, verbinden. Der Kontakt funktioniert nur über ein paar Zentimeter, kann also nicht aus der Ferne kompromittiert werden. Allerdings kann jedes Mal, wenn mit dem aktiven Transponder Kontakt aufgenommen wird, über dessen GPS der Standort ermittelt werden. Dennoch ist das Smartphone wesentlich einladender und ergiebiger für potenzielle Datendiebe. Wer sich also wegen eines Mikrochips in der Hand sorgt, sollte sich erst einmal Gedanken um den Spion in der Hosentasche machen.

Neben den Identifikationschips werden Implantate wie Temperatursensoren, LEDs und Neodymium-Magnete unter Biohackern beliebter.18 Letztere sollen dem Träger einen Magnetsinn ermöglichen und auf diese Weise wohl die Sinneswelt der Zugvögel oder Wüstenameisen nahebringen. Die Biohackerin Lepht Anonym weiß jetzt dank ihrer implantierten Magnete, wo Norden ist. In guter Do-it-yourself-Manier führt sie ihre experimentellen Operationen an sich selbst aus. Warum sie das macht? »Die körperliche Gesundheit hat einen verdammten zweiten Platz nach der Neugier.«19 Lepht ist für die praktische Umsetzung des Transhumanismus: HE auf die Spitze getrieben, ein Außer-Kraft-Setzen der natürlichen Evolution und die gezielte Erweiterung und Perfektionierung des Menschen durch Technologie. Der Prozess hat längst begonnen, auch wenn sich die meisten dessen wahrscheinlich nicht bewusst sind.

Auch die elektronischen Tattoos von Google und MIT, mit denen man sein Smartphone bedienen könnte, kann man als transhumanistische Spielerei abtun.20, 21 Ebenso fallen viele Technologien in diese Kategorie, die bereits erfolgreich bei der Behandlung von Kranken oder in der biomedizinischen Grundlagenforschung angewendet werden und die zunächst weit weg von der Übermenschlichkeit scheinen, aber: »Die Menschheit tritt in eine ›transmenschliche‹ Ära ein, in der die Biologie als etwas behandelt wird, das nach Belieben manipuliert werden kann, abhängig von den Interessen des eigenen Lebensstils und nicht von den gesundheitlichen Bedürfnissen«, so Andy Miah vom MIT Technology Review.22 Ging es zunächst um die Selbstoptimierung durch Apps, mechanische Prothetik, die Einnahme stimulierender Pharmazeutika oder ein kleines, passives Implantat, werden die Technologien zunehmend invasiv und greifen nach dem Innersten des Menschen. Dass dieser Prozess eine Flutwelle an ethischen, gesellschaftlichen und regulatorischen Fragen auslöst, ist offensichtlich. Betrachten wir daher die beiden Technologien genauer, die mit Abstand die größte Macht haben: die Verbindung von Gehirn und Maschine und die Manipulation unserer Gene.

Die Schnittstelle zum Gehirn

Cathy trinkt Kaffee. Nichts Besonderes, könnte man sagen. Doch Cathy hat seit 15 Jahren nicht mehr allein aus einem Becher getrunken. Sie ist querschnittsgelähmt, und der Arm, der den Becher hält, ist der eines Roboters. Allein durch Gedanken bewegt sie die mechanische Hand, dirigiert sie zum Becher, lässt sie diesen greifen und an ihren Mund führen. In einer sensationellen Studie von 2012 war sie eine von zwei Patientinnen, denen das Team um John Donoghue von BrainGate ermöglichte, zum ersten Mal seit Langem wieder ein Fünkchen Autonomie zu erleben.23 Dazu wurden den Probanden Platten mit 96 haarfeinen Elektroden in den Bereich des Gehirns eingesetzt, der für die bewusste Koordination unserer Bewegungen zuständig ist, dem Motor-Kortex. Diese Elektroden hören den Neuronen bei ihrer Kommunikation zu, indem sie die elektrische Erregung der Zellen registrieren, und leiten die Befehle zur Bewegung an einen Computer. Der Computer übersetzt die Nervensignale in eine Sprache, die der Roboterarm versteht, und voilá, Cathy trinkt Kaffee.24 Inzwischen ist es den Forschern sogar gelungen, dass Cathys Leidensgenossen keinen Roboterarm brauchen, sondern über den Umweg von Elektroden und Computer ihren eigenen Arm wieder benutzen können.25 Möglich macht das Ganze eine Gehirn-Maschine-Schnittstelle (BMI), die die biologische Aktivität des Nervensystems über Computer les- und steuerbar macht. Komplexe Sache, denn bei einer Bewegung spielt sich viel mehr ab, als man meint: Wir müssen den dreidimensionalen Raum und unsere Position darin erfassen, die Geschwindigkeit unserer Gliedmaßen kontrollieren und die Kraft, die wir einsetzen. Um diese Wahrnehmung des eigenen Körpers, die Proprioperzeption, zu stärken, wird an »fühlenden« Prothesen geforscht. Ein Team der Universität in Utah entwickelte eine neuromyoelektrische Prothese, die die Nervenenden an einer Amputationsstelle mit Kontaktsensoren an der Prothese verbindet. Werden die Kontaktsensoren aktiviert, senden sie elektrische Signale zu den Nerven, welche den Reiz an das Gehirn weiterleiten. Das Gehirn interpretiert diesen Reiz korrekt als haptisches Gefühl, und so konnte der Proband der Studie präziser zugreifen, fragile Gegenstände handhaben und sogar Größe und Härte eines Gegenstandes identifizieren.26 Ein Team aus Singapur verbesserte derweil die taktilen Fähigkeiten der elektronischen Haut. Diese kann nun auch Temperatur wahrnehmen und die Signalweiterleitung beschleunigen27.

Doch unserem Gehirn zuzuhören ist schwierig. Schneidet man ein Gehirn durch, lässt sich graue und weiße Masse unterscheiden. In der grauen Masse sitzen vor allem die Zentren der Nervenzellen, ihre Zellkörper. Hier strecken sie auch ihre Fühler, die Dendriten, aus, um sich mit anderen Nervenzellen über Synapsen zu vernetzen. Das funktioniert in der Regel mittels chemischer Botenstoffe und, wenn’s wirklich schnell gehen muss, direkt über elektrisches Potenzial. Im Schnitt holen sie sich den Input von rund 1000 anderen Neuronen, im Extremfall von bis zu 10.000. Das sind ziemlich viele Verbindungen. Ihr Axon, eine spaghettihafte Leitbahn mit bis zu einem Meter Länge, reicht die Informationen weiter. Stellen wir uns vor, wir schauen in einen einen Kubikmeter großen Karton und sehen darin 40.000 Kügelchen, die Zellkörper der Neuronen. An jedem einzigen hängen nun 1000 Fäden mit etwa drei bis vier Meter Länge, die Dendriten, und jeweils eine Schnur mit 100 bis 1000 Meter Länge, dem Axon. Jetzt kommen noch einmal rund 40.000 Kügelchen als Helferzellen hinzu, und ein Kilometer an Blutgefäßen und der Kubikmeter ist ziemlich voll, dabei repräsentiert er dennoch nur ein 500.000stel der Großhirnrinde.28 So, und jetzt viel Spaß damit, aus diesem Wirrwarr irgendetwas herauszulesen.

Dazu braucht man direkten Zugriff auf die Neuronen, was heißt, die Schädeldecke der Probanden zu öffnen. Das führt zu einigen Problemen, allen voran ein erhebliches Infektionsrisiko, was am Gehirn selten gut ausgeht. Nicht nur die Operation, auch die Verkabelung, die derzeit noch notwendig ist, um die Elektroden am Laufen zu halten und die Information abzugreifen, erhöhen das Risiko. Also forscht man an kabellosen Transmittern und Applikationen, die komplett auf eine OP verzichten könnten. Ein solches Gerät ist die Stentrode, eine Mischung aus Elektrode und Stent. Sie kann durch eine Arterie im Nacken bis in den Motorkortex geschoben werden, sodass zumindest nicht gesägt und gebohrt werden muss.29 Allerdings ist auch dieses Gerät verkabelt und erst in Tierversuchen erprobt.

Das salzige, nasse Innere unseres Kopfes ist außerdem nicht das natürliche Biotop von Elektronik – sie korrodiert dort. »Der Versuch, die Sensoren im Gehirn am Laufen zu halten, ist, als würde man sein faltbares, flexibles Smartphone in den Ozean werfen und erwarten, dass es 70 Jahre lang funktioniert«, beschreibt es der Forscher John Vivendi.30

Für die Funktionalität von BMIs sind drei Kriterien wichtig: geringe Invasivität, hohe Skalierbarkeit und räumliche wie zeitliche Auflösung. Die ersten beiden sind nicht die Stärke von Implantaten, sie sind maximal invasiv, und derzeit kann man lediglich ein paar Quadratmillimeter des Gehirns belauschen. Bei der Auflösung sind sie allerdings unschlagbar. Dadurch, dass sie direkt an den Neuronen ansetzen, lässt sich recht genau sagen, woher das Signal kommt, und dieses ohne große zeitliche Verzögerung weitergeben. Stellt man sich das Gehirn als Fußballstadium vor, dann sitzen Implantate mitten im Fanblock, hören allerdings nur die Jubelgesänge in der unmittelbaren Umgebung. Ein EEG, bei dem Elektroden außerhalb des Schädels angebracht werden, ist dagegen ein Mikrofon außerhalb des Stadions, das zwar die Erregung der Fans bei einem Tor mitbekommt, im Zweifelsfall aber nicht einmal sagen kann, welche Mannschaft gepunktet hat. Zwischen EEG und Mikroelektroden liegt der Elektrokortikograf, im Prinzip ein EEG, das zwischen Schädeldecke und Hirnrinde geschoben wird. Damit gilt es als weniger invasiv als ein Mikroarray, ist aber deutlich näher am Geschehen als das EEG und hat damit eine bessere Auflösung, sowohl räumlich also auch zeitlich.

Der heilige Gral der BMI ist also ein Gerät, welches direkt mit den Nervenzellen interagiert, aber nicht invasiv eingesetzt werden muss, das bestenfalls das gesamte Geschnatter unserer geschätzt rund 100 Milliarden Hirnneuronen mitschneidet, aber gut unterscheiden kann, wer was sagt, und dies umgehend an den Computer schickt.

Ab 2010 gab es einen Boom in den Neurowissenschaften, auch dank massiver Investitionen von Regierungen, wie etwa das Human Brain Project, mit 256 Millionen Euro das größte je von der EU finanzierte Wissenschaftsprojekt. Dabei befinden sich nicht nur Wirtschaftsmächte im Wettrennen, sondern auch Mensch und Maschine, wie Stephen Hawking warnte: »Es besteht die reale Gefahr, dass Computer Intelligenz entwickeln und die Vorherrschaft gewinnen werden. Wir müssen dringend direkte Verbindungen zum Gehirn aufbauen, damit Computer die menschliche Intelligenz verbessern können, bevor wir in der Opposition enden.«31 Also zurück ins Labor. Dort wird etwa Neural Dust entwickelt, neuraler Staub. Die Idee ist, Miniatur-Geräte im Nervensystem zu verteilen, die in einem geschlossenen System kabellos kommunizieren und ihre Batterien wieder aufladen. Diese Geräte können rein theoretisch die Größe eines Nervenzellkörpers haben und sich problemlos in ihr biologisches Umfeld einfügen. Eine Gruppe der University of California, Berkeley, bastelt seit einigen Jahren daran, diese Vision eines verstaubten Hirns zu realisieren.32 Dongjin Seo, der Doktorand, der maßgeblich an der Entwicklung von Neural Dust beteiligt war, ist Mitgründer von Neuralink, einer Firma von Elon Musk. Neuralink setzt dabei nicht auf intelligente Staubpartikel, sondern will das Gehirn mit unzähligen optischen Fasern durchsetzen, einem Neural Lace. Über dieses Fasernetz soll eine »Symbiose mit den Maschinen« entstehen, wie Musk mitteilte.33 Derweil träumt Mark Zuckerberg davon, dass man eines Tages nicht nur Fotos und Texte mit seinen Freunden teilen kann, sondern »vollkommene sensorische und emotionale Erfahrungen«.34 Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Schön für Zuckerberg ist natürlich, dass sich ein solcher Austausch über seine Plattform wunderbar abgreifen lässt.

Nicht nur Lauschen, auch Nervenstimulation funktioniert mit implantierten Elektroden deutlich besser als mit solchen außerhalb des Kopfes. Diese sogenannte tiefe Hirnstimulation wird bereits seit rund 25 Jahren für die Behandlung von Bewegungsstörungen wie Parkinson angewandt. Lediglich ein bis zwei lange dünne Elektroden werden tief in das Hirn eingebracht, die über Kabel mit einem im Brust- oder Bauchbereich implantierten Impulsgeber verbunden sind. Was diese Elektroden im Gehirn bewirken, weiß man nicht so genau. Vermutlich blockieren die Elektroden die Aktivität der Nerven, regen sie an oder wirken auf die Synapsen selbst ein.35 Jedenfalls funktioniert es und ist mittlerweile nicht nur bei Parkinson eine anerkannte Therapie, sondern auch bei essenziellem Tremor mit weiteren Erkrankungen wie Epilepsie und Depression in der Studienphase.36 Auch der Gedächtnisverlust durch Alzheimer steht auf der Liste, und hier wird es im Kontext von HE wieder spannend, denn wenn wir eine Methode finden, die Gedächtnisleistung unseres Hirns zu steigern – wäre das nicht der Wahnsinn? 2018 zeigten Forscher in den USA, dass sie mithilfe implantierter Elektroden nicht nur in der Lage waren, den individuellen Gedächtnis-Code von Probanden zu identifizieren und aufzunehmen; sie konnten über die Elektroden diesen Code auch wieder in das Gehirn zurückspielen und so die kurzzeitige Gedächtnisleistung der Teilnehmer um bis zu 37 Prozent verbessern.37 Heißt das nun, dass man bald Informationen direkt aus unserem Gehirn abgreifen kann, womöglich sogar, ohne dass wir es mitbekommen? Nein, das wird, wenn überhaupt, wohl noch lange dauern. Aber mit unserer freiwilligen Beteiligung werden Dritte in absehbarer Zeit einiges mehr aus unseren neurologischen Prozessen herauslesen können, als uns wahrscheinlich lieb ist. 2019 veröffentlichten Forscher der University of California, San Francisco, eine Studie, in der sie entziffern konnten, was die Teilnehmer hörten und sprachen.38 Gesponsert wurde die Forschung von Facebook. Noch Fragen?

Miguel Nicolelis will gar Gehirne direkt verbinden und so organische Computer schaffen, die er Brainets nennt. 2015 verband er die Gehirne von vier Ratten, indem durch implantierte Elektrodenarrays die Aktivitäten in allen vier Kortices abgegriffen, analysiert und die Signale an die Rattenhirne zurückgegeben wurden. Bei den daraufhin zu lösenden Aufgaben erzielten die Tiere in Kollaboration über ihr Brainet bessere Ergebnisse als einzelne Ratten.39 Forscher um Rajesh Rao verbanden drei menschliche Probanden über ein EEG und ließen sie Tetris spielen. Dabei sahen immer nur zwei Probanden in einem Trio den Bildschirm und schlugen Spielzüge vor, die an den Dritten übermittelt wurde, der dann letztendlich entschied – und das tat er mit einer Genauigkeit von durchschnittlich 81 Prozent.40

Wir können also über unsere Gedanken Roboter steuern, gelähmte Glieder bewegen und elektronischer Haut haptisches Gefühl geben. Wir können tauben Menschen eine Basisversion ihres Gehörs und Blinden ihrer Sehkraft wiedergeben. Wir können in der Erinnerung herummischen, neurologische Leiden lindern und auf neue Weise mit Computern kommunizieren. Wir können derzeit jedoch weder die physiologischen Leiden vollständig heilen noch unsere normale Leistung in einem Umfang steigern, der Sinn macht. Am weitesten sind wir bei den Exoskeletten, die Arbeitern eine physische Tätigkeit wohl bald deutlich erleichtern werden, aber sie befähigen nicht dazu, auf dem Klavier Beethoven zu spielen. Auch bei anderen Anwendungen hapert es an Geschwindigkeit, Genauigkeit und Sicherheit. Die Herausforderungen bei der Weiterentwicklung der BMI sind vielfältig. Wir müssen am Elektrodendesign feilen, die Geräte verkleinern, die Sensitivität verbessern und einen Weg finden, mehr Neuronen mit möglichst wenig invasiven Geräten zu erreichen, und das mit höherer Kommunikationsgeschwindigkeit.

Eines Tages wird KI unsere Gedanken und neuronalen Befehle wohl automatisch vervollständigen können, ähnlich wie Smartphones beim Texten. Das würde unsere Kommunikationsgeschwindigkeit signifikant erhöhen. Aber auch besserer Austausch unter Forschern würde BMI einen Schub geben, Stichwort Open Science. Die Bewegung möchte wissenschaftliche Erkenntnisse für alle zugänglich machen. Plattformen wie Neurodata without borders tragen dazu bei, indem sie einheitliche Datenstandards verbreiten. Nicht nur wissenschaftlich, auch regulatorisch sind noch massive Hürden zu nehmen, gerade beim Einsatz von Hirnimplantaten in gesunden Menschen. Die Zulassung solcher Implantate ist schon bei Schwerkranken problematisch. Bei Gesunden, die zum Beispiel per Gedanken eine E-Mail senden wollen, ist das noch undenkbar.

Überdies haben wir noch keine Idee, wie das Gehirn als Ganzes eigentlich funktioniert. Sicher, wir wissen um den Motorkortex, das pubertäre Verhalten des limbischen Systems und die Stimme der Vernunft hinter unserer Stirn. Wir wissen auch, wie ein einzelnes Neuron aussieht und wie es seine Erregung weitergibt. Aber wie das alles zusammenarbeitet, wissen wir nicht. Andererseits, wie genau müssen wir das Gehirn verstehen, um in Sachen BMI weiterzukommen? Andrew Jackson, Professor für Neurale Schnittstellen an der Newcastle University, bringt es auf den Punkt: »Die Hoffnung vieler Menschen ist, dass es bis zu einem gewissen Grad keine Rolle spielt, ob wir die Informationen nicht perfekt entschlüsseln können. Wichtig ist, dass der Benutzer und das Gehirn selbst lernen können, das zu steuern, mit dem wir es verbunden haben.«41 Schließlich ist mit unserem begrenzten Wissen von heute schon Erstaunliches möglich, und all die Innovationen in der Schnittstellentechnologie bringen auch wieder wichtige Erkenntnisse für die Grundlagenforscher der Neurowissenschaften.

Nichtsdestotrotz sollten wir nicht leichtfertig an komplexen Systemen herumschrauben, ohne zu wissen, was wir tun. Doch das passiert derzeit auch an einem ähnlich komplexen System wie unserem Gehirn, nämlich unserer DNA. Wir können mittlerweile unser Genom nicht nur lesen und für Organismen wie Bakterien neue Gene schreiben, wir können unser Genom seit Kurzem auch editieren. Auftritt CRISPR/Cas9.

Der Griff an die genetische Substanz

Am 17. August 2012 veröffentlichten Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna einen Artikel im Fachjournal Science, der eine Lawine lostrat. Mit ihren Teams hatten sie einen Mechanismus entschlüsselt, den Bakterien nutzen, um sich gegen Viren zu wehren: CRISPR/Cas9. Doch warum sollte der Kleinkrieg zwischen Bakterien und Viren unsere Welt bewegen? Nun, das liegt an der Eleganz und Einfachheit des Mechanismus sowie an der Brillanz der Autorinnen, die erkannten, dass man den Mechanismus dafür nutzen kann, Gene zu bearbeiten.42 Bakterien sind ebenso wie wir einer Flut an Viren ausgesetzt. Mit den meisten leben sie in friedlicher Koexistenz oder sogar nützlicher Symbiose. Aber ab und zu treten Viren auf, die der Bakterienzelle nicht guttun. Überlebt das Bakterium, dann hilft es, wenn es sich dauerhaft an die Viren erinnert, um sie abzuwehren. Bei uns machen das die Antikörper. Doch während die kurzlebigen Antikörper nicht über Generationen weitergegeben werden können, sind die Bakterien so schlau, die Erinnerung im Genom zu speichern, indem sie kurze Abschnitte des Virengenoms an eine bestimmte Stelle in ihrem eigenen Genom kleben. Daraus entsteht mit der Zeit eine Most-Wanted-Liste an unerwünschten Besuchern, und eben das ist CRISPR (kurz für clustered regularly interspaced short palindromic repeats).

Von diesen repeats als Vorlage erstellt das Bakterium nun RNA-Fragmente (RNA ist die instabilere, aber vielseitigere Schwester der DNA), die wie Suchhunde die Bakterienzelle nach DNA-Abschnitten durchkämmen, die komplementär zu ihrer eigenen Sequenz sind, sprich: die zu jenen Viren gehören, die das Bakterium in schlechter Erinnerung hat. Hat ein RNA-Fragment seine Viren-DNA gefunden, ruft es Cas9 zu Hilfe, ein Protein, das die unerwünschte DNA zerschneidet und die Viren somit unschädlich macht. Zusätzlich fanden Charpentier, Doudna und Kollegen heraus, dass nicht nur Bakterien Cas9 befehlen konnten, wo es schneiden soll, sondern, dass man künstlich erzeugte und frei designte RNA-Fragmente in die Zelle schleusen kann. Aber was bringt das? Da kommt ein weiteres molekulares System ins Spiel, das zelluläre Reparatursystem. DNA kommt immer wieder mit schädlichen Sachen wie UV-Strahlen oder Chemikalien in Berührung, die unter anderem zu Brüchen im DNA-Strang führen. Das Reparatursystem flickt diese Brüche wieder zusammen, entweder, indem es die Enden zusammenklebt, oder, indem es ein anderes DNA-Stück einfügt. Hier wird es spannend. Denn nun kann ich gezielt Teile eines Gens ausschneiden und eine neue Sequenz einfügen, Punktmutationen ins Gen schreiben oder entfernen und Gene komplett ausschalten. Das alles ist nicht weniger als die Editierung des Genoms.

Geneditierung gab es auch schon vor CRISPR/Cas9, nur waren die Methoden entweder nicht für große Genome wie etwa von Säugetieren geeignet, unheimlich umständlich und langwierig, ungenau oder teuer. Meist waren sie alles zusammen. CRISPR/Cas9 dagegen ist fast lächerlich einfach und billig. Bei der Firma The Odin gibt es für 169 US-Dollar ein Do-it-yourself-Kit, mit dem ich Bakterien am Küchentisch eine Antibiotikaresistenz einbauen kann.43 Wer sein professionelles Labor um CRISPR/Cas9-Technologie erweitern will, kommt mit 2000 US-Dollar aus.44 Die Non-Profit-Organisation Addgene hat es sich zur Aufgabe gemacht, alle möglichen CRISPR/Cas9-Werkzeuge zu sammeln und Laboren in der ganzen Welt zum geringen Preis zur Verfügung zu stellen. Statt in jahrelanger Forschung ein einziges neues transgenes Mausmodell herzustellen, kann man die Tiere nun dank CRISPR/Cas9 binnen drei Wochen mutieren. Kein Wunder, dass die Zahl der Anwendungen dieser Technologie explodierte. Innerhalb weniger Jahre wurde ein ganzer Zoo an CRISPR-Tieren kreiert: Schwarze Mäuse wurden weiß, Beagle bekamen die doppelte Muskelmasse, Schweine wurden auf Mikrogröße geschrumpft und teuer als Haustiere verkauft, und asiatische Elefanten sollen zum Mammut werden.45, 46, 47

Genomeditierung von Tieren wird auch in der Medizinforschung als große Chance gesehen, etwa um Tiere in Lieferanten von Medikamenten oder Organe zu verwandeln. In der EU sind bereits transgene Ziegen und Hühner zugelassen, die ein Blutverdünnungsmittel beziehungsweise ein Cholesterol-modifizierendes Medikament für uns herstellen.48 Schlaue Werbeleute nennen solche Medikamente Farmaceuticals. Doch die bisherigen Methoden sind kosten- und zeitintensiv. CRISPR/Cas9 ändert alles.

Noch viel weitreichender sind all die neuen Tiermodelle, die durch Genomeditierung entstehen, um menschliche Krankheiten besser erforschen zu können. Die Hoffnung ist, dass man gezielt Krankheitsbilder erzeugen kann, um diese besser verstehen und neue Therapien testen zu können.49 Inzwischen kann man mittels CRISPR/Cas9 auch Gene ein- und ausschalten,50, 51 Diagnostik entwickeln und vieles mehr. CRISPR/Cas9 wird häufig als Genschere bezeichnet, Jennifer Doudna findet jedoch, dass es durch diese Multifunktionalität eher einem Schweizer Taschenmesser gleicht.52

Allerdings zeigen die Tiermodelle auch, was bei CRISPR/Cas9 schiefgehen kann, und das ist nicht unerheblich. Wurde anfangs noch die hohe Effizienz und Präzision der Genschere gepriesen, hat sich die Begeisterung inzwischen abgekühlt. Ein großes Problem ist der sogenannte Mosaizismus, was bedeutet, dass Cas9 zwar in einigen Zellen des Organismus sein Werk verrichtet, in anderen jedoch nicht. Das Ergebnis sind Tiere, die sowohl editierte als auch nicht editierte Zellen in sich tragen. Besonders gut konnte man dies bei Mäusen beobachten, deren schwarzes Fell durch das Ausschalten eines an der Herstellung von Melanin beteiligten Proteins weiß werden sollte. Dem war nicht so, 89 Prozent der Mäuse waren meliert statt reinfarbig.53 Die Effizienz wird natürlich nicht besser, wenn man gleich zwei Gene modifizieren möchte, wie die Erschaffer einer supermuskulären Shannbei-Ziegenart mit extra viel Cashmere-Wolle feststellen mussten, nur 10 von 98 Lämmern trugen beide Merkmale.54 Ein weiteres großes Problem sind sogenannte off-target-Effekte, sprich, CRISPR/Cas9 sucht und schneidet nicht nur, was es soll, sondern auch noch andere Gensequenzen, die man lieber intakt gelassen hätte. Mehrere Studien zeigten massive Nebeneffekte in Tiermodellen und Zellkultur. 2020 fanden drei Studien große Deletionen, verkehrt herum eingebaute Gensequenzen und andere Fehler nach der Genomeditierung von humanen Embryos.55 Mit Hochdruck sind Wissenschaftler nun daran, die Technologie präziser und effizienter zu machen.56, 57