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Malerische Landschaften und tiefe Abgründe – ein Krimi, der Wanderherzen höherschlagen lässt. Cosy Crime mit Schmunzelfaktor. Privatdetektivin Ellen Engels soll bei einer Gruppenwanderung auf dem Eifelsteig den Ehemann einer Auftraggeberin ausspionieren. Deren Verdacht: Ihr Gatte will sich mit seiner Geliebten und gestohlenen Diamanten absetzen. Gleich am ersten Abend erwischt Ellen ihn mit einer Frau, doch noch in der Nacht stürzt er in den Tod. Ein Unfall? Aber wo sind die Diamanten? Inmitten einer Horde Wanderlustiger macht Ellen sich auf die Suche nach dem Diebesgut. Doch da ist noch jemand, der hinter den Edelsteinen her ist – und sich nicht scheut, über Leichen zu gehen.
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Seitenzahl: 373
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Carla Capellmann wurde 1963 in Jülich geboren. Nach Stationen in Trier, Regensburg, Koblenz und Darmstadt hat sie zurück ins Rheinland gefunden, wo sie in der Nähe von Bonn lebt. Neben ihrer Arbeit als Informatikerin gilt ihre Leidenschaft dem Schreiben. Ob Krimi oder Liebe, ein Augenzwinkern darf nie fehlen. Die besten Ideen kommen ihr beim Wandern in der Natur, auf dem Rad und beim Wäscheaufhängen.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2025 Emons Verlag GmbH
Cäcilienstraße 48, 50667 Köln
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer
Lektorat: Julia Lorenzer
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-235-2
Ein Wanderkrimi
Originalausgabe
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DER AUFTRAG
»Hast du ein Date mit Max?«
Als hätte sie auf der Lauer gelegen, war Macy aus dem Haus auf sie zugeschossen gekommen, hatte sich direkt vor Ellen aufgebaut und versperrte ihr den Weg zum Auto.
Ellen seufzte. So schön es war, einen Unterschlupf auf Nickis umgebautem Hof gefunden zu haben, und sosehr sie die Tochter ihrer besten Freundin liebte – manchmal konnte die Achtzehnjährige echt die Pest sein. Vor allem, wenn ihr langweilig war, und seit Macy die Abi-Prüfungen hinter sich gebracht hatte, passierte das ziemlich oft. Zu allem Übel hatte sie sich neuerdings in den Kopf gesetzt, wie sie Privatdetektivin zu werden.
»Wie kommst du darauf, dass ich Max treffe?« Ellen zog die Augenbrauen hoch. »Noch dazu mitten am Tag?«
»Warum nicht? Soll ich dich fahren? Mach ich gern. Dann kannst du was trinken.« Macy steuerte die Fahrertür an.
Ellen beeilte sich, ihr zuvorzukommen. Wenn Macy einmal drinsaß, würde es schwer werden, sie wieder loszuwerden. »Kein Treffen mit Max. Ich hab einen Termin.«
Das war das falsche Stichwort.
»Mit einem Kunden?« Macys Augen leuchteten auf.
»Ja, aber du bleibst hier.« Ellen öffnete die Tür, setzte sich ins Auto und ließ die Fensterscheibe herunter. »Und jetzt mal im Ernst. Für Max richte ich mich doch nicht so her. Gib’s zu. Das hast du nur so gesagt.«
»Hab ich nicht.« Macy schob die Unterlippe vor, wie sie es schon als Fünfjährige gemacht hatte, wenn sie Ellen rumkriegen wollte.
Ein Trick, der leider allzu oft funktionierte. Heute nicht. Ellen ließ den Motor an, hupte und fuhr los. Manchmal war Flucht die einzige Lösung. Nur gut, dass sie standhaft geblieben war und sich kein Büro auf Nickis Hof eingerichtet hatte. Da würde sie Macy niemals raushalten können.
Ihr reichte es, wenn sie ihre potenziellen Auftraggeberinnen – ja, die meisten waren Frauen – im Café traf. Oft genügte auch ein Videocall. Und falls nicht, war es unverfänglicher, sich bei Kaffee und Kuchen zusammenzusetzen. Zwei Frauen, die sich austauschten. Die eine klagte der anderen ihr Leid. Dass es sich dabei um eine Auftragsklärung handelte, darauf kam garantiert niemand.
Ellen war neugierig auf Margot Feldmann. Am Telefon hatte sie ihr nicht viel verraten. Den Mann oder Partner zu observieren, darum ging es so gut wie immer. Die Details wollte ihre mögliche Auftraggeberin lieber bei einem Treffen besprechen. Und das bitte sofort. Daher hatte sich Ellen nur oberflächlich über die Frau informieren können. Etwas, das sie sich in ihrer Zeit als Personenschützerin angewöhnt hatte. Die Augen offen zu halten war das eine, das Umfeld und die Hintergründe zu kennen das andere. Es half dabei, zu entscheiden, in welche Richtung man schauen sollte.
Am Treffpunkt angekommen, parkte Ellen das Auto und ging zum Café. Wie immer war sie etwas früher dran, wählte einen ruhigen Tisch im hinteren Bereich und setzte sich so, dass sie den Eingang im Blick hatte. Dann rief sie sich ins Gedächtnis, was sie über Margot Feldmann in Erfahrung gebracht hatte. Mit siebenundfünfzig war die Goldschmiedin sieben Jahre älter als Ellen, sie war verheiratet und besaß einen Juwelierladen in Kornelimünster. Deswegen hatte Ellen das »Kaffeehaus« für ihr Treffen vorgeschlagen. Die stuckverzierten Decken, die stilvollen Kronleuchter und nicht zuletzt die Macarons würden der eleganten Frau, deren Foto Ellen auf der Website der Goldschmiede gesehen hatte, hoffentlich gefallen. Das passende Ambiente half gerade zu Beginn des Gesprächs. Fühlten sich ihre Kundinnen wohl, erzählten sie offener. Und je mehr Ellen erfuhr, desto besser war das später für die Arbeit.
Eine Frau trat ein. Das feine graublonde Haar fiel ihr in einem asymmetrischen Bob weich über die linke Stirnseite, apart und natürlich. Das war sie. Margot Feldmann trug eine klassische weiße Bluse, Jeans und Sneaker. Sportlich clean und ohne übertrieben viel Schmuck. Sympathisch sah sie aus, frisch und energiegeladen. Mit ihren circa hundertfünfundsechzig Zentimetern war sie etwa einen halben Kopf kleiner als Ellen und auch deutlich schmaler. Ellen stand auf und winkte ihr.
Mit raschen Schritten kam Margot Feldmann auf sie zu. Sie begrüßten sich. Ein fester Händedruck, genau wie Ellen es mochte. Eine Frau, die zupacken konnte. Kleine und zugleich kräftige Hände mit gepflegten kurzen Fingernägeln, die die Nagelringe an den Fingerspitzen wunderbar in Szene setzten. Wenn das der Schmuck war, den die Goldschmiedin anfertigte, würde Ellen sich glatt mal in ihrem Geschäft umgucken wollen.
Sie ließen sich nieder, bestellten und warteten mit dem Geschäftlichen, bis Kaffee und Tee vor ihnen standen.
»Sie möchten also, dass ich Ihren Mann observiere.« Ellen musterte ihr Gegenüber. Margot Feldmann erwiderte ihren Blick offen. Auch das gefiel Ellen. »Was versprechen Sie sich davon?«
Margot strich sich die Haare hinter das rechte Ohr. »Ich weiß, es hört sich an wie in einem schlechten Film, aber ich bin mir sicher, dass Jörg mir etwas verheimlicht. Zuerst dachte ich mir nichts dabei, als seine Vereinstreffen immer häufiger wurden, doch dann …« Sie hob die Schultern.
»Um was für einen Verein handelt es sich denn?« Ellen nahm einen Schluck Kaffee und beobachtete, wie Margot das Teesieb aus der kleinen Kanne zog und sich eingoss, bevor sie antwortete.
»Es ist ein ortsansässiger Verein zur Förderung von Natur, Kultur und Literatur: NaKuLi. Jörg ist Gründungsmitglied und sehr engagiert. Zum fünfjährigen Bestehen wollen sie ein Buch herausbringen und müssen dafür angeblich ständig zusammensitzen und obendrein noch auf diese mehrtägige Wandertour gehen.« Margot probierte den Tee, stellte die Tasse wieder ab und schaute Ellen an. »Dazu die verstohlenen Telefonate. Sogar den Laptop hat er neulich hastig zugeklappt, als ich hereinkam.«
»Eine Überraschung zum Geburts- oder Hochzeitstag?«
Margot schüttelte den Kopf. »Die liegen beide noch nicht lange zurück. Abgesehen davon ist er auch nicht der Typ für so was.«
»Was für ein Typ ist er denn?«
»Einer, der nichts für sich behalten kann. Wenn ihn etwas begeistert, dann stürzt er sich mit Herz und Seele hinein und reißt die anderen mit. Er kann sehr überzeugend sein. Das hat sich auch bei diesem Buchprojekt gezeigt. In null Komma nichts hat er einen Verlag gefunden, was wohl normalerweise nicht so einfach ist. Auch deswegen habe ich anfangs nichts Böses vermutet, aber inzwischen …« Margot berührte ihren Ehering. Zwei verschiedene Goldtöne, in der Mitte veredelt durch einen schmalen Streif aus Diamanten. Zwei Menschen, die durch die Verbindung, die sie eingingen, das Beste in sich hervorbrachten.
Wenn es doch nur wirklich so wäre. Ellen unterdrückte ein Seufzen.
»Eines unserer wertvollsten Stücke. Gefällt er Ihnen?« Margot hatte wohl ihren Blick bemerkt. »Jörg findet, wir dürfen ruhig zeigen, was wir haben.«
»Selbst angefertigt?« Ellen beugte sich vor.
»Ja. Genauso wie die Nagelringe.« Margot hob die Hand und wackelte mit dem kleinen Finger. »Der hier wäre was für Sie, oder?«
Der Knöchelring saß auf dem obersten Glied. Wie eine Flamme bog er sich zu beiden Seiten des Nagels und wölbte sich über die Fingerkuppe. In der Mitte schimmerte ein gelblicher Edelstein.
Ellen nickte. »Sind Sie beide schon lange verheiratet?«
»Etwas über fünf Jahre. Die meiste Zeit davon glücklich. Aber jetzt … Vielleicht bin ich ja paranoid. Jörg ist mein zweiter Mann. Mein erster hat mich jahrelang betrogen, ohne dass ich etwas bemerkt habe. Ich begreife bis heute nicht, warum.« Margot senkte den Kopf, ihre linke Hand ging zum Ehering und bedeckte ihn. Dann richtete sie sich wieder auf und sah Ellen an. »Mag sein, dass ich jetzt zum anderen Extrem neige, aber ich will so etwas nicht noch einmal erleben.«
»Das verstehe ich. Könnte denn eine andere Frau etwas mit dem merkwürdigen Verhalten Ihres Mannes zu tun haben?«
»Genau darum geht es ja. Dass alle Bescheid wissen, nur ich nicht. Dass er mehrere Tage wandern und vor aller Augen fremdgeht. Das würde ich nicht ertragen. Ich trau mich gar nicht mehr aus dem Haus. Was, wenn ich jemanden aus dem Verein treffe? Ich muss einfach Gewissheit haben.«
»Sie kennen die Leute aus seinem Verein?«
»Das kann man wohl sagen. Durch mich hat er Rita und Philipp doch erst kennengelernt. Diese Wandertour ist keine Ausrede. Er fiebert richtiggehend darauf hin. Dabei haben wir weiß Gott gerade andere Sorgen.«
Ellen hob die Augenbrauen.
»Vor einem Monat ist bei uns im Laden eingebrochen worden. Die Diebe haben Diamanten gestohlen, und jetzt streiten wir mit der Versicherung. Ein Alptraum.«
»Könnte es nicht sein, dass Ihr Mann einfach mal etwas Abstand braucht? Eine kleine Auszeit von all dem Ärger?«
»Wer braucht das nicht?« Margot atmete durch. »Nein, ich bin mir sicher. Irgendetwas hat er vor. Deswegen bitte ich Sie: Beobachten Sie ihn. Nehmen Sie an der Tour in zwei Tagen teil und stellen Sie fest, ob er sich heimlich abseilt oder sich mit einer anderen Frau trifft.«
Jetzt verstand Ellen auch, warum Margot Feldmann auf einen schnellen Termin gedrängt hatte. Sie zückte ihren Kalender. »Wie lange dauert die Tour? Und wo geht es überhaupt hin?«
»In die Eifel. Sie wollen eine Woche lang ausgesuchte Etappen des Eifelsteigs laufen. Deswegen habe ich mich an Sie gewandt. Privatdetektivin, Eifel – da stehen Sie ganz oben. Außerdem …« Margot rückte ihr Teegeschirr zurecht. Dann hob sie den Kopf und lächelte verlegen. »Ihr Name hat mir gefallen. Ellen Engels. Das klingt wie ein Künstlername. Ist es einer?«
»Nein.« Ellen lachte. »Aber das ist gar keine schlechte Idee. Für die Wanderung werde ich mir einen zulegen.«
»Dann übernehmen Sie den Auftrag?«
Ellen nickte. »Wollen wir die Details bei Macarons oder einem Stück Kuchen besprechen?«
»Nur zu gern.« Margot deutete zur Kühlvitrine. »Die Kuchen sehen phantastisch aus.«
»Der Cheesecake ist ein Traum.« Ellen winkte der Bedienung und bestellte ein Stück mit Salzkaramellsoße.
Margot schloss sich ihr an, entschied sich aber für das Himbeertopping.
Dieser Auftrag geriet mehr und mehr nach Ellens Geschmack. Allerdings würde sie Max erneut absagen müssen. Was ihr ganz recht war. Er schien auf mehr aus zu sein, und Ellen wusste nicht, ob sie das wollte. Während sie sich den Kuchen schmecken ließen, bewunderte Ellen erneut Margots Nagelringe.
»Versuch den mal.« Schon hatte Margot den Ring abgenommen und hielt ihn Ellen hin. »Tut mir leid, das Du ist mir so herausgerutscht. Wahrscheinlich, weil du, sorry, weil Sie auch ein Nagelringtyp sind.«
»Wir können gern beim Du bleiben.« Ellen nahm den Ring und schob ihn sich aufs Gelenk. Wider Erwarten passte er. Sie spreizte den kleinen Finger ab und grinste. Das Teil hatte was.
»Steht dir.« Margot lächelte sie an.
»Führ mich nicht in Versuchung.« Ellen streifte den Ring ab und entdeckte eine kleine Gravur an der Innenseite. MF7. Sie gab Margot das Schmuckstück zurück. »Lass uns weitermachen.«
Gemeinsam tüftelten sie das weitere Vorgehen aus. Margot würde sie in die Gruppe einschleusen. Die Wanderwütigen hatten die Suche nach einem professionellen Fotografen schon fast aufgegeben, dabei sollte gerade die Tour im Buch abgebildet werden. Jetzt würden sie doch noch Glück haben, denn wer wäre dafür besser geeignet als Ellen? Zukünftige Naturfotografin und passionierte Wanderin, eine Bekannte einer Bekannten von Margot.
»Und schick mir bitte die Teilnehmerliste zu. Meine E-Mail-Adresse hast du ja.« Ellen erhob sich.
Zufrieden schüttelten sie einander die Hände. Ab Montag würde Ellen wandern. Undercover auf dem Eifelsteig.
TAG 1
AUS DER NAKULI-TOURENBESCHREIBUNG:
Auf unserer ersten Etappe geht es von Roetgen durchs Hohe Venn nach Monschau.
Laut Wanderführer sind das achtzehn Kilometer. Circa fünf Stunden. Stellt euch darauf ein, dass wir länger unterwegs sein werden. Gruppen brauchen immer länger. Zudem wollen wir ja die Eindrücke in uns aufnehmen und wirken lassen.
NULLPUNKT
An der Wanderstation Roetgen stieg Ellen aus dem Bus. Von hier waren es nur wenige Schritte zum Hotel, wo die Gruppe neben einem Transporter mit dem Schriftzug »EIFELwanderungen LEICHT gemacht« auf sie wartete. Vier Frauen und vier Männer sollten außer ihr an der Tour teilnehmen, doch es waren mehr Personen, die ihr Gepäck vor dem Wagen abstellten. Fünf Männer und fünf Frauen zählte Ellen, während sie ihren Koffer auf die Ladefläche verfrachtete. Das fing ja gut an.
Ein Mädel mit Pixie-Cut und eifelgrünen Strähnen im blonden Haar, das ein zum Wagen passendes T-Shirt trug, sah Ellen fragend an.
»Ellen van de Duiveltjes.«
»Cooler Name.« Die junge Frau grinste und hakte sie auf ihrer Liste ab. Dann wandte sie sich an die versammelten Wanderer, wartete, bis der Verkehrslärm auf der nahe gelegenen Bundesstraße etwas weniger wurde, und legte los. »Willkommen bei EIFEL LEICHT. Mein Name ist Tina, und ich bin euer Engel für alles in den nächsten Tagen. Zur Begrüßung gibt’s ein kleines Willkommensgeschenk. ›Juckt-mich-nicht‹ hilft gegen Mückenstiche. Einfach den Stick ans Handy anschließen, dann öffnet sich die Steuer-App. Ich hab sie für Apple- und für Android-Smartphones.«
Ellen runzelte die Stirn. Mal abgesehen davon, dass sie keinem technischen Gerät traute, das sie nicht vorher hatte prüfen lassen, fragte sie sich, was diese App denn steuern sollte. Die Mücken würden sich ja wohl kaum kontrollieren lassen. Widerstrebend ließ sie sich einen der Sticks in die Hand drücken. Ihre Mitwanderer schienen keine Bedenken zu haben. Allen voran Jörg. Ellen hatte ihn sofort erkannt: breite Schultern, Sommersprossen im Gesicht, die ehemals roten Haare überwiegend grau, aber immer noch voll. Kaum hatte er den Stick in Händen, steckte er ihn auch schon ins Handy. Sofort überlegte sie, ob sie ihre Babyfon-Software darauf installieren sollte. Eigentlich wollte sie nur im Notfall zu solchen Mitteln greifen. Doch wer wusste, wann es zu einem Notfall kam? Und sie würde die Daten ja nicht missbrauchen, sondern lediglich mithören beziehungsweise -lesen, sollte er sich mit jemandem verabreden. Etwas, das sie mit ein bisschen mehr Mühe auch auf die herkömmliche Art herausfinden würde.
»Die Viecher stehen auf mich«, sagte er achselzuckend, als er ihren Blick auffing.
»Typisch Mann. Denkt immer, er wäre unwiderstehlich.« Eine Frau trat neben Ellen und lächelte ihr zu. »Hallo, ich bin Rita. Du musst Ellen sein. Schön, dass du uns begleitest.«
»Ist es in Ordnung, wenn ich gleich loslege?« Ellen hob die Kamera vors Auge, was ihr die Gelegenheit gab, Rita in Ruhe zu betrachten, während sie sich in den Kopf rief, was sie über die Teilnehmer recherchiert hatte. Vor ihr stand die Vorsitzende des Vereins. Sechzig Jahre, Dichterin, verheiratet, eine Tochter. Mann wie Tochter im Verein, sogar im Vorstand und mit auf der Wanderung. Obwohl es heute warm werden würde, trug Rita Schwarz, von den Wanderschuhen über die Hose bis hin zur Bluse. Um den Hals hatte sie ein rotes Tuch gebunden, Ton in Ton zu der rot-schwarzen Brille, die sie sich gerade in die silbergraue Kurzhaarfrisur schob. Ellen zoomte auf das Gesicht. Kleine Augen, die größer geschminkt waren, schmale Lippen, ein energisches Kinn.
»Sicher kannst du loslegen. Wir wollen hauptsächlich Naturaufnahmen, aber ein paar Fotos von uns dürfen schon auch dabei sein.« Rita kniff die Augen zusammen, als sie ihrerseits Ellen musterte.
Vielleicht hatte Ellen es übertrieben, als sie sich für ihre Rolle als Undercover-Naturfotografin angezogen hatte. Eine naturverbundene Amazone hatte sie sich vorgestellt und sich einen Rock gekauft. Weit und bequem wurde er oben von einem Gummizug zusammengehalten. Dazu trug sie eines ihrer T-Shirts, die seit einigen Monaten alle eng saßen, aber anders als in ihre Hosen kam sie wenigstens noch hinein.
»Endlich mal eine Frau mit Mut zum Wanderrock.« Jörg nickte ihr anerkennend zu, bevor er sich an Rita wandte. »Lass uns ein erstes Gruppenfoto an der Wanderstation machen. Tag eins, Seite eins. Überschrift: ›Frisch und fröhlich‹.«
Rita verdrehte die Augen. »Überlass das Texten lieber mir.« Sie klatschte in die Hände. »Auf geht’s, Leute! Ich sage gleich was, wenn wir im Grünen sind.«
Gehorsam machte sich die Gruppe auf den Weg. In dem letzten verbleibenden Tagesrucksack auf der Bank vor dem Hotel brummte es. Anscheinend hatte Ellen das Geräusch falsch verortet, denn Margots Mann fingerte sein Handy aus der Hosentasche, warf einen Blick darauf, schüttelte den Kopf und steckte es wieder weg, als er bemerkte, dass Ellen ihn beobachtete.
»So ist sie, unsere erste Vorsitzende.« Jörg zwinkerte ihr zu und griff nach dem Rucksack. »Muss immer das Sagen haben, aber keine Bange, sonst ist sie eigentlich ganz in Ordnung.«
»Oh, verflixt, geht es schon los? Ich hatte gehofft, mir vorher noch schnell einen Kaffee auf die Hand holen zu können.« Ellen nickte zum »Coffee to go«-Schild im Fenster der Hotelgaststätte. Hastig schwang sie ihren offenen Rucksack vor den Bauch, sodass sich der Inhalt über die Bank ergoss. Sie stöhnte auf. »Das kann ich dann jetzt wohl vergessen.«
»Soll ich dir eben einen holen?«
»Das wäre super. Willst du auch einen? Ich geb ihn dir aus.« Sie kramte einen Zehn-Euro-Schein aus dem Portemonnaie.
Jörg nahm das Geld und ging in das Lokal. Seinen Rucksack ließ er wie erhofft auf der Bank zurück. Rasch zog Ellen einen Mini-GPS-Tracker aus ihrem Ausrüstungsset und versteckte ihn in Jörgs Rucksack. Bis sie herausgefunden hätte, wie er sein Handy entsperrte, würde sie sich damit behelfen. Ein Sicherheitsfanatiker schien er nicht zu sein, sonst hätte er den Juckt-mich-nicht-Stick nicht, ohne zu zögern, in sein Handy gesteckt. Wenn sie Glück hatte, war er so sorglos, dass er zum Entsperren des Smartphones auch nur eine PIN oder ein Muster verwendete. Neben ihr hupte es. Ellen winkte Tina zu, die mit dem Gepäck abfuhr, und verstaute ihre Sachen wieder im Rucksack.
Mit je einem Kaffeebecher in der Hand folgten Jörg und sie den anderen in die nächste Querstraße, und Ellen fragte Jörg nach den Mitwanderern aus. Anscheinend waren kurzfristig noch zwei dazugestoßen, was erklärte, warum sie nicht auf der Liste standen, die Margot ihr geschickt hatte. Doch bevor er zu den beiden kam, die Ellen nicht einordnen konnte – einer rothaarigen Frau und ihrem Begleiter –, machte die Gruppe hinter einer Unterführung halt an einer stillgelegten Bahntrasse, die zum Radweg ausgebaut worden war. Vor einem großen Schild mit dem Eifelsteig-Symbol versammelten sie sich.
»NaKuLi auf dem Nullpunkt«, sagte ein schlaksiger Mann Anfang vierzig mit Grabesstimme, was ihm sogleich böse Blicke der älteren Garde einbrachte.
»Florian ist unser Witzbold«, raunte Jörg Ellen zu und verzog das Gesicht. »Etwas spezieller Humor. Er ist Professor für Germanistische Mediävistik.«
»Oh, sich mit der älteren deutschen Literatur zu beschäftigen färbt auf den Humor ab?« Mit übertrieben aufgerissenen Augen schaute Ellen Jörg an und verkniff sich ein Grinsen, als er sie überrascht ansah. Damit hatte er nicht gerechnet, dass sie mit dem Begriff etwas anfangen konnte. Konnte sie nur dank der Vorbereitung, aber sie würde ein duiveltje tun und ihm das verraten.
»Diese Farben werden uns begleiten.« Rita deutete auf die Wandermarkierung und nickte Ellen zu, was wohl hieß, dass sie fotografieren sollte, während Rita ein paar Worte zur Einführung sprach. »Grün, Blau, Gelb, die Farben des Eifelsteigs stehen für Wald, Wasser …«
Ellen blendete die Stimme aus, entsorgte ihren Kaffeebecher und kletterte ein kleines Stück den Bahndamm hinauf, wo sie so tat, als würde sie sich aufs Fotoschießen konzentrieren. Unauffällig behielt sie Jörg im Blick. Er schob sich an den Rand der Gruppe, griff erneut nach seinem Handy. Rasch richtete sie die Kamera auf sein Telefon und machte eine Videoaufnahme, schwenkte das Objektiv erst, als er sein Gerät wieder wegsteckte. Mit ein bisschen Glück hatte sie seine Eingabe erfasst. Und ansonsten gab es ja noch Geduld und Spucke.
Sie scannte die anderen Teilnehmer, fokussierte sich auf die Frauen. Wenn sie die Paare sowie die Vereinsvorstandstochter aussortierte, blieben zwei Frauen, Jette und Katja, mit zweiundfünfzig und neunundvierzig waren sie fünf beziehungsweise acht Jahre jünger als Jörg, die eine geschieden, die andere getrennt lebend. Die beiden standen weiter vorne und schienen Rita aufmerksam zuzuhören.
»Auf eine wunderbare Kreativwanderung!«, sagte die gerade. »Ich freue mich schon auf die Wortskizzen, Gedichte und Naturprosa, die auf dieser Wanderung entstehen werden. Ellen wird sie mit Fotos unterlegen. Bittet sie einfach, wenn ihr einen Eindruck festgehalten haben möchtet.«
Die Wanderer wandten sich zu ihr um. Ellen lächelte freundlich in die Runde.
»Schließen möchte ich mit einem Haiku«, fuhr Rita fort. »Und verzeiht mir bitte, wenn es aus meiner Feder stammt.«
Wie wohl beabsichtigt, lachten die anderen.
Rita hob die Hände, wartete, bis Stille einkehrte, und richtete ihren Blick in die Ferne, bevor sie anhob: »Weicher Flügelschlag. Auf dem Schmetterlingsflieder. Goldgelb ein Weißling!«
Die Gruppe applaudierte. Ellen war froh, dass sie nur fotografieren und nicht dichten musste. Doch so einfach kam sie nicht davon. Auf dem nächsten Wegstück führte Rita sie in die hohe Kunst der japanischen Haiku-Tradition ein. Das Silbenzählen war noch das Geringste. Den Moment sollte sie einfangen, ein jahreszeitlich typisches Merkmal verwenden und ein überraschendes Element am Ende. Rita gab nicht eher Ruhe, bis Ellen es versuchte.
»Im Grünen rauschen. Automotoren nonstop. Ruhe, wo bist du?«
Ihre Finger zählten mit. Die Silben stimmten, fünf, sieben, fünf. Grün deutete die Jahreszeit an, zumindest, dass es sich nicht um Winter handelte. Und der Schluss war, wenn auch vielleicht nicht überraschend, so doch wenigstens anders. Ellen gefiel ihr erstes Haiku. Von Ritas Feedback verstand sie allerdings nur Bruchstücke, denn der Weg wurde zum Trampelpfad zwischen zwei Hecken, und sie mussten hintereinandergehen, was ihr nur recht war.
Ellen bildete das Schlusslicht der Gruppe und nutzte die Gelegenheit, ungestört einen Blick auf das Video zu werfen, das sie von Jörgs Händen gemacht hatte. Bingo! Sieben, vier, neun, drei – nein, zwei. Noch eine Zwei, dann eine Eins. Zufrieden steckte Ellen die Kamera weg und freute sich schon jetzt auf die erste Rast.
RUHE
»Wasser?« Ein hagerer, hochgewachsener Mann in kakifarbener Wanderkleidung und mit einer Schirmmütze auf dem kahlen Schädel ließ sich neben sie zurückfallen, als der Weg wieder breiter wurde, und hielt ihr eine Edelstahlflasche hin. »Ich bin Günther.«
»Ellen. Und nein, danke. Ist ganz schön warm, oder?« Sie zog ihren Fächer aus der für die Trinkflasche vorgesehenen Seitentasche des Tagesrucksacks, öffnete ihn schwungvoll aus dem Handgelenk heraus und wedelte sich Luft zu, während sie sich vergegenwärtigte, was sie über Günther wusste. Fünfundsechzig, Richter im Ruhestand, Witwer. Ein Sohn, Florian, der Professor, der vorhin den dummen Spruch losgelassen hatte. Beide ohne besondere Rolle im Verein.
Günther steckte seine Flasche wieder weg, blieb stehen und betrachtete den Himmel. Weil sie gesagt hatte, dass es warm war? Es gab doch noch nicht mal Wolken, die man bewundern konnte. Jetzt ließ er vom Himmel ab und wandte sich wieder ihr zu.
Ellen bewegte den Fächer schneller. Sie schwitzte, als wäre sie die ganze Strecke gerannt und bräuchte dringend eine Pause. Darauf, dass sie mal Leistungssportlerin gewesen war, würde wohl heute keiner mehr kommen. Dass Günthers Blick auf ihr ruhte, machte es auch nicht besser.
»Wollen wir weitergehen?«, fragte sie.
»Gern.« Ein wenig verlegen nahm er die Mütze vom Kopf, fuhr mit der Hand über seinen braun gebrannten Schädel und setzte sie wieder auf.
Sie erreichten eine Wohnsiedlung. Nach einem Stück über Asphalt führte ein Weg in den Wald. Federnder Boden, kühle Luft. Ellen atmete durch und genoss die Frische. Sie klappte den Fächer zu und steckte ihn weg.
»Wild und urwüchsig.« Günthers Stimme klang sehnsüchtig. Er deutete zur Seite, wo ein Baum quer über einem anderen lag. »Warte mal einen Augenblick.« Als wollte er nach dem Puls der Bäume tasten, beugte er sich über die Stämme.
Ellen schmunzelte. Sie blieb stehen, setzte den Rucksack ab, nahm die Kamera und schoss ein Bild von Günther. Dann richtete sie das Objektiv auf die Gruppe, die wenige Meter vor ihnen offenbar vergeblich nach der Markierung suchte. Die Wanderer gestikulierten wild, bis es Jörg wohl zu bunt wurde. Entschlossen stapfte er auf einem der schmalen Pfade weiter. Eine junge Frau lief ihm nach. Das musste Frieda sein, die Tochter von Rita und deren Mann Philipp. Dreiunddreißig, Sozialpädagogin, Single. In ihrer Freizeit engagierte sie sich im von ihr ins Leben gerufenen »Weltkulturencafé«. Im Verein war sie für den Bereich Kultur zuständig. Jetzt hatte sie Jörg eingeholt, und die beiden marschierten einträchtig nebeneinander. Hatten sich da etwa gerade ihre Hände berührt?
Ellen drückte auf den Auslöser, senkte die Kamera und wandte sich Günther zu. »Darf ich dich ein bisschen was zum Verein und seinen Mitgliedern fragen? Ich kenn euch ja noch nicht. Das da neben Jörg ist Frieda, richtig?«
Günther richtete sich auf und warf einen Blick nach vorn. »Genau, die Tochter von Rita und Philipp.«
»Ups.« Ellen lachte. »Ich dachte, sie ist Jörgs Tochter.«
»Könnte man vom Alter her meinen. Aber sag mal, du kennst doch Jörg und seine Frau, oder?« Seine Stirn wies eine steile Furche auf, die einem Richter alle Ehre machte.
Ellen strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Nein, eine gemeinsame Bekannte hat mich weiterempfohlen.«
Der gestrenge Richter nickte, wurde wieder zum hilfsbereiten Mitwanderer und erklärte ihr im Polizeiaktenstil, wer wer war. Nannte Fakten, die sie schon kannte. Über die einzigen zwei, die nicht auf ihrer Liste standen, wusste er nur zu sagen, dass Kevin nicht im Verein war und seine Frau Sophie begleitete. Die gehörte seit einem Dreivierteljahr dazu. Sparte Literatur, insbesondere Märchen. Im wirklichen Leben Empfangsdame in einem Autohaus. Es folgten ein paar Worte über den Verein. Auch hier nichts Neues. Günther selbst ging es um die Natur. Er wollte sie wieder natürlich werden lassen.
»Also so wie hier …« Rasch machte Ellen einige Aufnahmen, das Licht fiel so schön zwischen die Bäume. Dann verstaute sie die Kamera. »Fertig. Bereit zur Aufholjagd?«
Sie hängte sich den Rucksack über die Schulter. Prompt fiel ihr Fächer heraus. Ellen bückte sich und sammelte ihn wieder ein.
»Lass dir Zeit.« Günther nahm ein Blatt in die Hand und betrachtete es, zeichnete die Adern nach. Er lächelte und ließ das Blatt wieder los. »Wir machen eine Wanderung, kein Rennen.«
Ellen erwiderte sein Lächeln. »Ich will nur vermeiden, dass jemand sauer wird, weil er auch ein Profifoto möchte. Schließlich habt ihr mich genau deswegen mitgenommen.«
Auch wenn sie nicht glaubte, dass Jörg es hier mitten im Wald trieb, wollte sie ihn dennoch nicht zu lange aus den Augen lassen. Und deshalb lief sie jetzt lieber los. Erneut plumpste der Fächer aus dem Seitenfach. Ellen stöhnte. Eilig setzte sie ihren Rucksack noch einmal ab, holte Kabelbinder und Kordel heraus und befestigte den Fächer so am Rucksack, dass sie ihn benutzen, aber nicht verlieren konnte.
Günther hatte sie beobachtet und nickte anerkennend.
Ellen grinste. Ob er sie jetzt für eine Pfadfinderin hielt? Allzeit bereit und gut ausgerüstet war sie ja.
DIE REINARTZHÖFE
Auch nachdem sie den Wald verlassen hatten, stieg der Weg weiter an. Die offene Landschaft wich erneut. Zwischen hohen Kiefern kamen Sophie und ihr Mann in Sicht. Das rote Haar der Frau leuchtete in der Sonne. Wild und erotisch. Gerade als Ellen und Günther sich an die beiden herangearbeitet hatten, hörten sie die Stimmen der Wanderer vor ihnen.
Neben einem Gedenkstein am Wegesrand schwenkte Philipp – es musste Philipp sein, Ritas Mann und Friedas Vater, Lehrer, seit Kurzem im Ruhestand, buschige Augenbrauen, runde Nickelbrille, Grübchen am Kinn – seinen Wanderstock. Ein Spazierstock, der vom Griff bis zur Spitze – oder von der Spitze bis zum Griff? – mit Wanderplaketten übersät war.
»Da seid ihr ja. Wir wollten schon einen Suchtrupp losschicken.« Philipp lachte und warf einen Blick auf seine Uhr, die gar nicht so smart aussah, wie sie anscheinend war. Denn er verkündete, dass sie die ersten fünf Kilometer für heute geschafft hätten. »Hunderteinunddreißig Meter bergauf, zweiundfünfzig wieder hinunter, siebentausendzweihundertsechsundfünfzig Schritte.«
»Siebentausendzweihundertsechsundfünfzig zu viel.« Kevin stöhnte und blieb stehen. »Ich versteh echt nicht, was am Wandern Spaß machen soll.«
»Na, ich!« Sophie schob ihren Arm hinter seinen Rücken und schmiegte sich an ihn.
»Was zu essen wär mir lieber.«
»Keine Bange. Die anderen haben sich schon an den Reinartzhöfen niedergelassen. Das sind nur noch wenige Meter.« Philipp wies zum Weg und nickte dann zum Gedenkstein. »Kannst du bitte ein Foto von dem Spruch machen, Ellen?«
»›Wanderer, sei eingedenk der Abgeschiedenheit‹«, las Sophie die Anfangsworte und rieb sich die Unterarme. »Wenn das nicht nach einer Geschichte schreit. Da stellen sich mir sofort die Haare auf.«
Günther nahm seine Mütze ab, strich über den kahlen Schädel und zwinkerte Ellen ganz unrichterlich zu. Sie erwiderte sein Lächeln, zückte die Kamera und lichtete den Stein ab.
»Kommst du, Soph? Ich hab Durst.« Kevin war erst weitergegangen, wartete nun aber doch auf Sophie, die gerade noch für ein Foto posierte.
Ellen drückte ab und packte die Kamera weg. Ihr ging es wie Kevin. Sie hatte Durst, und hungrig war sie auch. Und vielleicht würde sich während der Rast ja eine Gelegenheit ergeben, auf Jörgs Handy »aufzupassen«. Entschlossen marschierte sie los und erreichte mit den anderen zusammen die Lichtung, wo der Rest der Gruppe sich ausgebreitet hatte.
»Was? Hier gibt’s ja nix.«
Ellen wäre beinahe in Kevin hineingelaufen, der abrupt vor ihr stehen geblieben war und offensichtlich nicht wahrhaben wollte, was er sah. Eine Schutzhütte, Bänke, eine kleine Kapelle. Ein großes Kreuz. Wenn Ellen die Unterlagen nicht gründlich studiert und sich im Netz sämtliche Details der Etappe angeschaut hätte, hätte sie vielleicht auch einen Gasthof erwartet, aber den hatte es hier allenfalls vor langer Zeit mal gegeben.
Während Sophie Kevin zum Picknicktisch zog, schlenderte Ellen zu Jörg hinüber, der sich ein paar Schritte entfernt auf einer Bank mit Rückenlehne niedergelassen hatte.
»Darf ich?«, fragte sie, stellte ihren Rucksack neben seinen, als er nickte, und setzte sich. Lehnte sich zurück. Streckte die Beine. »Ah, das tut gut.«
Den unschlüssigen Blick von Günther, der sich wohl fragte, ob er sich zu ihnen gesellen sollte, ignorierte Ellen. Sie packte ihre Brotzeit aus und erkundigte sich bei Jörg nach seinen Fotowünschen. Der schob sich gerade den letzten Rest seines Brötchens in den Mund, kaute und zuckte mit den Achseln. Und das sollte der Mann sein, der alle mit seiner Begeisterung mitriss?
»Entschuldige mich bitte. Muss mal ums Eck«, nuschelte er und verzog sich ins Gebüsch.
Ellen vergeudete keine Zeit und beugte sich über die Rucksäcke, als würde sie etwas in ihrem suchen, während sie das vordere Fach von Jörgs Rucksack öffnete. Sie tastete. Eine Packung Papiertaschentücher, ein Taschenmesser, Hustenbonbons, eine Dose mit Kaugummis. Sie schloss den Reißverschluss wieder und warf einen Blick in das Hauptfach. Ein Innenfach mit Portemonnaie und Handy. Rasch nahm sie das Gerät, tippte. Falsche PIN. Verflixt. War die drittletzte Ziffer doch eine Drei? Sie tippte erneut. Dieses Mal klappte es. Ellen verband das Smartphone mit ihrem und installierte die Babyfon-App auf Jörgs Handy. Die würde dafür sorgen, dass sie mitbekam, wenn Jörg auch nur einen Mucks machte. Heimlich, still und leise würde sie im Hintergrund laufen und alle Aktivitäten an ihre Nummer senden. Zufrieden ließ Ellen das Gerät zurück in Jörgs Rucksack gleiten.
Gerade noch rechtzeitig, denn Rita war im Anmarsch. Und die nächste Hitzewallung. Schon spürte Ellen das Kribbeln auf der Stirn, die Schweißtropfen bildeten sich immer erst oben am Haaransatz. Nicht schon wieder! Rasch zerrte sie den Fächer aus dem Seitenfach ihres Rucksacks. Wehret den Anfängen, das galt auch für Hitzewellen. Wobei diese ihr gar nicht so ungelegen kam.
»Alles in Ordnung?« Rita sah sie besorgt an.
»Ich denke gerade nach«, sagte Ellen, was nicht einmal gelogen war. Ein Haiku auf die Schnelle, um Rita vollends abzulenken. Nur worüber? »Erster Wandertag«, sie fächelte sich Luft zu. »Das Eis brechen, Sonne satt.« Sie machte eine Pause, damit Rita auch mitbekam, dass es sich um ein Gedicht handelte. »Sekt oder Selters?«
Rita schloss die Augen.
Ellen wedelte erneut mit dem Fächer und zählte still. »Soll ich es noch mal wiederholen?«
»Ja, bitte. Am besten sagst du es zweimal, und beim zweiten Mal drehst du die Zeilen um, also erst die dritte, dann die zweite, dann die erste. Das erhöht die Wirkung.«
Ellen blieb die Spucke weg. Rita nahm ihr Gedicht ernst.
»Ich bin für Sekt.« Jörg setzte sich wieder neben sie. »Eine Genussdichterin. Wenn du so weitermachst, kommen nicht nur deine Bilder ins Buch.«
»Wenigstens kommt von ihr was rein.« Rita zog ihre Sonnenbrille aus dem Haar und schob sie auf die Nase, sodass Ellen den Blick, den sie Jörg zuwarf, nicht deuten konnte. Wütend, sauer, enttäuscht? Was auch immer es war, es prallte an ihm ab. Ungerührt sammelte er seinen Müll ein.
»Möchte noch jemand Kaffee?« Philipp schwenkte seine Thermoskanne und guckte fragend zu ihnen herüber.
»Ja gern!«, rief Ellen. Ihr Mund war wieder einmal schneller als das Gehirn, die Gewohnheit – oder die Sucht? – stärker als die Vernunft. Es würde sich rächen, aber hey, hieß es nicht, dass Schwitzen gesund war? Und jetzt war es eh zu spät. Philipp stand bereits vor ihr und reichte ihr einen Becher.
Sie nahm einen Schluck. »Mmh, danke dir, Philipp. Sag mal, ist NaKuLi eigentlich so eine Art Familienverein? Rita, Frieda und du, dann Günther und Florian«, sie nickte zu Sophie rüber und schaute zu Jörg. »Seid ihr beide etwa auch verwandt?«
»Was? Nein. Wie kommst du denn darauf?« Jörg warf ihr einen entrüsteten Blick zu.
Philipp hingegen grinste breit. »Unsere Fotografin hat ein verflixt gutes Auge. Unter all dem Grau kann man doch gar nicht mehr erkennen, dass deine Haare mal rot waren.«
»Haha.« Jörg fuhr sich mit der Hand über den Kopf. »Immerhin hab ich noch welche.«
War das nur harmloses Geplänkel, oder steckte da mehr dahinter? Ellen sah von einem zum anderen.
»Hallo.« Eine Frau grüßte vom Weg her. Lockiges Haar, eng anliegendes Top, Stretch-Minirock, lange braun gebrannte Beine und ein dicker, fetter Rucksack auf dem Rücken, den sie mit einer Leichtigkeit trug, die einen vor Neid glatt abheben ließ.
»Sollen wir Platz machen?« Philipp deutete auf die Bank.
»Bedankt. Das ist nett, aber so lange bin ich noch nicht unterwegs.« Sie lächelte. Ruhte ihr Blick etwa einen Tick länger auf Jörg, als es normal gewesen wäre?
Ellen schaute zu ihm. Er hatte den Kopf gesenkt und sah wieder mal auf sein Handy.
»Noch eine schöne Tag«, wünschte die Wanderin – der Sprache nach zu urteilen, war sie Niederländerin oder Belgierin – und zog mit ausholenden Schritten weiter.
Ein leiser Pfiff war zu hören. Von Kevin? Nicht nur Ellen sah zu ihm rüber.
Er hob die Schultern. »Was denn?«
»Seid ihr fertig mit dem Essen? Wollen wir dann unsere erste kleine Loslass-Zeremonie machen?« Schwungvoll stand Frieda auf und hielt einen kleinen Jutesack in die Höhe. »Ihr habt euren Beutel doch alle dabei und mit etwas gefüllt, das ihr hinter euch lassen wollt, oder?«
Während die anderen in ihren Rucksäcken, Westen- oder Hosentaschen wühlten, griff Ellen zur Kamera.
»Nein, Ellen, bitte keine Fotos.« Frieda hob die Hand. »Ich möchte, dass wir jetzt innehalten und ganz bei uns sind. Bilder lenken die Aufmerksamkeit nach außen.«
»Kein Problem.« Ellen zuckte mit den Achseln und packte die Kamera wieder weg. »Ich warte einfach, bis ihr fertig seid.«
»Nichts da. Du machst selbstverständlich mit. Du gehörst doch dazu.« Frieda konnte genauso energisch sein wie ihre Mutter. Sie ging zu ihrem Tagesrucksack, kramte darin und zog einen leeren Jutebeutel heraus. »Hier. Ich habe extra Ersatzbeutel mitgenommen. Fülle ihn mit etwas, das du loslassen möchtest. Das kann was ganz Kleines sein, was immer bei dir Thema ist. Du kannst auch was auf einen Zettel schreiben oder malen, wenn du keinen geeigneten Gegenstand dabeihast. Nur denk bitte daran, dass der Inhalt umweltverträglich sein sollte.«
Also durchsuchte nun Ellen ihren Rucksack, bis sie im Bodensatz etwas Passendes entdeckte. Klein genug und ohne die Plastikverpackung kompostierbar. Wollte sie das wirklich loswerden? Definitiv. Mit einem Gefühl von innerer Genugtuung, das sie selbst erstaunte, befüllte sie ihren Beutel. Einen Vorteil hatten die Wechseljahre ja doch.
Mit dem Beutel in der Hand gesellte sie sich zu ihren Mitwanderern, die bereits einen Kreis gebildet hatten. Was die wohl in ihren Jutesäckchen hatten?
»Vielen Dank, dass ihr bereit seid, die Loslass-Übungen mit mir auszuprobieren. Ich bin gespannt auf eure Eindrücke und würde mich riesig über Feedback freuen, damit ich die Übungen anpassen kann, bevor ich sie im Café anbiete.« Frieda nahm die Hände vor die Brust und schaute dankend in die Runde, ehe sie nach ihrem Beutel griff. »Bevor wir gleich unseren ersten Beutelmoment haben werden, gebe ich euch einen kurzen Überblick, was euch in den kommenden Tagen erwartet. Wenn man etwas loslässt, durchläuft man mehrere Phasen. Passend zu unserer Wanderung könnte man auch sagen, dass es sieben Schritte oder Etappen sind, bis wir am Ende der Tour, wortwörtlich auf dem Höhepunkt, unserer Ballonfahrt, symbolisch unsere Beutel abwerfen und die Leichtigkeit genießen werden. Tragt den Beutel daher bitte immer bei euch, damit wir die Übungen dort, wo es passt, abhalten können. Und damit kommen wir auch schon zu unserem ersten Beutelmoment.«
»Beutelmoment.« Florian ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. »Klingt irgendwie … ich weiß auch nicht. Ich habe einen Beutelmoment.«
»Hast du eine andere Idee? Ich suche noch nach einem besseren Begriff.« Frieda hatte ihr Jutesäckchen auf die Bank hinter sich gelegt und hielt nun Kabelbinder in der Hand. »Im ersten Schritt geht es darum, sich das, was wir loslassen möchten, noch mal genau anzusehen. Dazu möchte ich euch bitten, eure Beutel zu öffnen und hineinzuschauen. Wenn ihr so weit seid, verschließt den Beutel bitte mit einem Kabelbinder. Der erste Schritt ist also ein Abschiednehmen. Ein bewusstes letztes Betrachten dessen, was ihr loswerden wollt. Alles klar so weit?«
»Machen wir den Kabelbinder dann wieder ab, bevor wir unseren Beutel loswerden?« Philipp sah mit gerunzelter Stirn auf die schmalen dunklen Teile in Friedas Hand. »Ist trotzdem nicht schön. Müll zu produzieren, meine ich. Schon mal so als erstes Feedback.«
»Stimmt. Deswegen gebe ich euch natürlich biobasierte Binder.« Gelassen zählte Frieda für jeden einen Kabelbinder ab und reichte sie herum. »Wenn ihr keine Fragen mehr habt, lasst uns loslegen.«
Frieda wandte sich zur Bank und schwang einen Klöppel gegen die Klangschale, die sie dort bereitgestellt hatte. Nachdem der Ton verklungen war, führte sie die Teilnehmer in eine Art Meditation.
Beutelmeditation. Hörte sich auch nicht besser an. Überhaupt musste Ellen immer an »Beute« denken, wenn sie das Wort hörte. Sie öffnete ihr Jutesäckchen wie angewiesen und betrachtete die Tampons. Es freute sie, sich darüber keine Gedanken mehr machen zu müssen. Rasch schloss sie das Säckchen und zurrte den Kabelbinder fest. Wenn es nach ihr ginge, könnten sie auch gleich zum Ende springen. Oder kurz davor. Auf eine Ballonfahrt konnte Ellen gut verzichten. Seit Patricks Tod mied sie sämtliche Aktivitäten, bei denen sie in die Luft musste.
EIFELBLICK
Nach der Pause zog sich der Trupp rasch auseinander. Ellen hatte an der Spitze begonnen und sich dann von Grüppchen zu Grüppchen zurückfallen lassen, um mit allen zu plaudern und sich nach den jeweiligen Fotowünschen zu erkundigen. Gerade sprach sie mit Jette und Katja. Sie hätten sich vor Jahren über die Kinder kennengelernt, sähen sich inzwischen nicht mehr so oft und hätten sich dann umso mehr zu erzählen, erklärten sie Ellen und fragten nach Margot. Jette wollte wissen, wer sie denn vermittelt habe. Als Immobilienmaklerin umfasste ihr Adressbuch Gott und die Welt, die ja bekanntlich eh klein war, in diesem Fall dann aber doch größer als gedacht, denn der Name Antje Winkel sagte ihr nichts. Katja hatte sich auf dem Kunsthandwerkermarkt mit Margot angefreundet. Frisch getrennt, die Kinder aus dem Haus, gab sie neuerdings Online-Handarbeitskurse und bat Ellen um möglichst viele Nahaufnahmen von Blumen, Blättern, Schmetterlingen und Vögeln, die sie als Motive in ihren Kursen nutzen wollte.
»Aber pst, Rita muss das nicht wissen.« Sie zwinkerte Ellen zu.
»Klingt spannend.« Ellen schob ihre Daumen unter die Tragegurte. »Jedenfalls mal was anderes als einfarbige Schals oder Socken. Daran versuche ich mich, allerdings mit mäßigem Erfolg.«
Nachdenklich ließ Ellen die beiden Frauen weiterziehen. Beide schienen mit Margot befreundet zu sein. Was natürlich nichts heißen musste. Sie wären nicht die Ersten, die einer Freundin oder Bekannten den Mann ausspannten.
Ellen seufzte und schaute sich nach Sophie und Kevin um. Neben Frieda waren sie die Jüngsten in der Gruppe, weshalb Ellen gedacht hatte, dass sie ein Dreiergespann bilden würden, doch bislang hatten sie kaum ein Wort miteinander gewechselt.
Dahinten kamen sie. Still trotteten sie nebeneinanderher und gaben kein Werbebild fürs Wandern ab. Jetzt entdeckte Sophie Ellen und winkte ihr zu. Sie angelte nach Kevins Hand, doch er entzog sie ihr. Wenn das Liebe war, dann war sie gerade im Tief und schien immer weiter abzustürzen, je höher sie kamen.
Ellen hob die Kamera vors Auge. Im Unterschied zum Rest der Truppe trugen die zwei keine Funktionskleidung. Sophies Blümchenkleid hätte auch als Strandfummel durchgehen können. Dazu billige Stoffsneaker, knöchelhoch, vorne eine Gummikappe über die Zehen, was sie von Weitem wie Retrowanderschuhe wirken ließ. Die roten Wollsocken waren auf Wadenhöhe umgeschlagen. Ihre langen Locken hatte sie in der Pause zusammengebunden und einen schützenden Strohhut aufgesetzt. Kevin war etwa einen halben Kopf größer als seine Frau. Auch er hatte wilde Locken, allerdings waren seine dunkel. An den Seiten kurz geschoren, fielen sie ihm über die Stirn und fast bis in die Augen. Er hatte einen süßen kleinen Ziegenbart, den er sich garantiert männlicher vorstellte, als er war. Seine hippe Hose, eine Mischung aus Jogging- und Cargohose, war karamellbraun. Dazu trug er ein Muscleshirt. Seine Oberarme konnten sich sehen lassen.
Kaum hatten die beiden Ellen erreicht, beugte er sich auch schon vor und zerrte an den unter einer Lasche versteckten Schnürsenkeln seiner High-Top-Sneaker, die ehemals weiß gewesen waren, jetzt aber einen von Staub und Dreck verursachten dunklen Grauton aufwiesen. Er zog seinen rechten Fuß heraus, drehte den Schuh um und klopfte ihn aus, steckte den Fuß dann wieder in den Sneaker und stöhnte.
Der Mann konnte leiden.
Sofort spürte Ellen ihre eigenen Füße. Die fühlten sich an, als wären ihre Wanderschuhe mindestens eine Nummer zu klein. Was sie nicht waren. Mit einem Seufzer lockerte sie die Schnürung. Reichte es nicht, dass ihr keine Hose mehr passte? Selbst der neue Rock zwickte am Bauch, obwohl das nicht sein konnte. Gummizüge zwickten nicht. Und an den Füßen zunehmen konnte man auch nicht, oder?
»Hast du extra auf uns gewartet, um Fotos zu machen?« Sophie strahlte Ellen an. »Das ist aber lieb.«
»Dafür bin ich ja da. Hast du besondere Wünsche? Suchst du bestimmte Motive? Hast du ein Thema, das sich auf allen Bildern wiederfinden soll?«
Aus dem anfänglichen Kopfschütteln wurde ein Nicken. »Moos, das im dunklen Wald geheimnisvoll leuchtet, wäre cool, speziell geformte Steine, bizarre Bäume, alles, was mysteriös wirkt. Ich schreibe Märchen, weißt du.« Sie stupste Kevin in die Seite. »Hey, jetzt guck doch nicht so finster.«
»Du hast gut reden. Ich hab bestimmt ’ne Blutblase am kleinen Zeh, und hinten scheuert auch alles.«
»Mein armer Mausebär. Soll ich sie dir wegpusten?«
»Das ist nicht lustig.«
»Weiß ich doch.« Sophie stellte sich auf die Zehenspitzen, aber Kevin drehte sich unwillig weg, sodass ihr Kuss auf seiner Wange landete.
»Soll ich auch Fotos von euch machen? Tu ich gern.« Erneut griff Ellen zur Kamera. »Ihr seid noch nicht lange verheiratet, oder?«
»Oh, sieht man das?« Sophie schmiegte sich an ihren Liebsten, der verlegen etwas in sein Ziegenbärtchen murmelte.
»Wie habt ihr das denn mit dem Nachnamen geregelt?« Plump, aber so könnte sie sich vielleicht ein unerlaubtes Nachsehen bei der Anmeldung im Hotel sparen.
»Ganz klassisch.« Sophie machte es ihr leider nicht so leicht.
Ellen verstaute die Kamera. »Und wie habt ihr euch kennengelernt? Ich liebe romantische Geschichten.«
»Ich auch.« Sophie kicherte. »Es war einmal … so fangen die besten Geschichten an, und unsere ist die allerbeste, nicht wahr, mein Mausebär?«
Kevin Mausebär brummte genervt, aber Sophie hatte ja jetzt Ellen als Zuhörerin, was ihr zu genügen schien.
Während Sophie erzählte, wurde der Weg schmaler, schlängelte sich um Büsche, vereinzelte Bäume und kleine Heidestücke. Immer noch ging es bergauf, doch jetzt waren sie gezwungen, hintereinander zu gehen, was die Unterhaltung einschlafen ließ. Kurz darauf gelangten sie in ein Waldstück und erreichten eine Weggabelung, an der Günther auf sie wartete.
»Für dich.« Er hielt Ellen einen kleinen Stein hin, der grün, blau und gelb angemalt war. »Zur Erinnerung an unsere Tour.«
»Och, wie schön. Sieh nur, Kevin. Kaufst du uns auch einen?« Sophie begutachtete die Exemplare, die in einem an einem Baum befestigten Holzkasten lagen, suchte sich einen aus, entschied sich um und verwarf erneut.
Kevin lehnte sich gegen den Stamm und schloss die Augen. Ein leidender Mann in Perfektion.
»Wo steckt denn der Rest der Truppe?« Ellen sah sich um, aber die dicht stehenden Bäume verwehrten ihr die Sicht.
»Auf dem Weg zum Steling. Dem höchsten Punkt auf unserer Wanderung.« Günther hielt ihr immer noch den Stein hin.
Kinderwerk. Ellen dankte ihm und stopfte das Andenken in das vordere Fach ihres Rucksacks. »Na, dann auf zum Höhepunkt. Ganz schön früh, gleich am ersten Tag.«