Überhitzt - Claudia Traidl-Hoffmann - E-Book

Überhitzt E-Book

Claudia Traidl-Hoffmann

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Beschreibung

Nominiert für das "Wissensbuch des Jahres" (bild der wissenschaft) Was ist real, gesundheitsschädlich, schwer bekämpfbar, aber keine Pandemie? Hitzekollaps, Ambrosia-Asthma, Tigermücken und Corona - die Auswirkungen der globalen Klima- und Umweltkrise betreffen immer deutlicher nicht nur unser Wetter oder unsere Wälder, sondern ganz unmittelbar auch unsere Gesundheit, körperlich wie seelisch. Allergien nehmen zu, neue Erreger breiten sich aus, immer mehr Menschen entwickeln Ängste angesichts der Veränderungen ihrer Umwelt. Dieses Buch zeigt zum ersten Mal umfassend die gesundheitlichen Folgen des Klimawandels auf. Anschaulich und fundiert schildern die Autorinnen Symptome, Ursachen und Behandlungswege. Vor allem aber fragen sie, was getan werden muss, damit wir gesund bleiben. Dazu sprechen sie mit Expertinnen und Experten für Umweltmedizin und Stadtplanung, Hochwasserschutz und Psychologie, mit Landwirten, Architektinnen und anderen Vordenkern, die nach Wegen suchen, wie wir uns wappnen können. Ihnen allen ist klar: Wir haben keine Zeit zu verlieren. Denn unser Wohl hängt ab von dem unseres Planeten. Mit einem Vorwort-Gespräch mit Eckart von Hirschhausen.

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Die fünf Kerninfos zum Klimawandel in nur 20 Worten:

1. Er ist real.

2. Wir sind die Ursache.

3. Er ist gefährlich.

4. Die Fachleute sind sich einig.

5. Wir können noch etwas tun.1

Inhalt

Statt eines Vorworts: Ein Treffen im virtuellen Raum mit Dr. Eckart von Hirschhausen

1Hitze, Kollaps und kein Plan

Von Sommermärchen und Sommeralbträumen

Der Hitzeinsel-Effekt und seine Folgen

Tausende Hitzetote und kein Plan

Körper, Kopf und Hitze

Vom Baby zum Oldie: Wie uns die Hitze zusetzt

Das Verschwinden der Fluchtorte

Was tun?

2Allergien, Pollen und Luftverschmutzung

Neue Pollen, alte Probleme

Wie entstehen Allergien?

Die Erderwärmung verändert allergene Pflanzen und ihre Pollen

Pollen und COVID-19

Was tun?

3Viren, Bakterien und andere Mikroorganismen

Leben auf unserem Planeten

Von HIV bis Corona: Wie wir gefährliche Viren zu uns holen

Vibrionen in der Ostsee

Zerkarien in Badeseen

Blaualgen und andere Bakterien

4Mücken, Zecken und anderes Getier

Virus sucht Überträger/-in für gemeinsame Unternehmungen …

Rötelmäuse

Zecken

Stechmücken

Eichenprozessionsspinner

5Wasser, Wind, Fels und Feuer

Naturgefahren von oben: Klimalabor Tirol

Was genau schützen wir?

Welche Rolle spielt die Erderwärmung?

Dürren und Waldbrände

6Klima, Kopf und Seele

Die Klimakrise stresst uns auch mental

Trauma, Schock und (Un-)Sicherheit

Solastalgie, Klimatrauer, Klimaangst & Co

Die Klimakrise in der Psychologie

Verantwortung und Verdrängung

Raus aus der Starre

7Klimawandel im Gesundheitswesen

Der Gesundheitssektor als CO2-Schleuder

Jeder Weg beginnt mit dem ersten Schritt

Deutschland schleicht hinterher

Klimafreundliche Krankenhäuser

Klimafreundliche Praxen

Medizinische Forschung im (Klima-)Wandel

8Zum Schluss: Persönlicher wird’s nicht

Klimasprechstunde kompakt

Dank

Abbildungsnachweis

Anmerkungen

Sachregister

STATT EINES VORWORTS: EIN TREFFEN IM VIRTUELLEN RAUM MIT DR. ECKART VON HIRSCHHAUSEN

Eckart von Hirschhausen: Hallo Claudia, hallo Katja. Ich kenne euch ja beide einzeln schon länger, nun schreibt ihr zusammen ein Buch über Klimawandel und Gesundheit. Ich bin neugierig. Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt?

Katja Trippel: Klassisch – im Internet.

EvH: Wie jetzt? Parship? Insta?

Claudia Traidl-Hoffmann: Nein, ganz seriös über Duden! Der Verlag hat uns bei einer Videokonferenz wie dieser hier »verkuppelt«. Und es hat gleich gepasst.

EvH: Na, dann hätten wir das ja schon mal geklärt. Katja, du hast als Umweltjournalistin bereits viel zum Thema Klimawandel gearbeitet, aber hattest du schon mit Medizinern dazu Kontakt?

KT: Nie! Ich war mit Biologinnen, Gletscherforschern, Korallenexpertinnen und anderen Naturwissenschaftlern unterwegs oder habe sie interviewt, aber Claudia ist tatsächlich die erste Ärztin, mit der ich über das Thema spreche – und die auch selbst zum Thema Klimawandel forscht.

EvH: Claudia, wir sind uns über das Netzwerk KLUG begegnet. Das steht für die Allianz »Klimawandel und Gesundheit«, in der sich verschiedene Berufsgruppen aus dem Gesundheitswesen verbunden haben. Wie lange begleitet dich das Thema schon?

CTH: Schon eine Weile. Irgendwann hatte ich als Allergologin in meiner Ambulanz mit immer mehr Patientinnen und Patienten zu tun, deren Beschwerden nicht in das »normale« Lehrbuchschema passten. Auf einmal kam da im Januar ein Teenager mit schwerem Heuschnupfen zu mir. Und im März stellte sich ein Förster mit Zeckenstichen und Borreliose vor.

EvH: Was hast du dann gemacht?

CTH: Bei dem Heuschnupfen-Patienten war ich zuerst etwas erschrocken und dachte: Das kann eigentlich nicht sein, das ist doch viel zu früh im Jahr! Wir haben dann Pollenfallen aufgestellt und nachweisen können, dass die Pollen tatsächlich schon so früh flogen. Spätestens da war meine Neugier als Wissenschaftlerin geweckt. Und schnell war klar: Hier sind so komplexe Veränderungen im Gange, dass man sie am besten interdisziplinär erforscht.

EvH: Wie hat das Interdisziplinäre dann in diesem konkreten Fall ausgesehen?

CTH: Wir haben einen Aerobiologen um Hilfe gebeten, der kennt sich mit kleinsten organischen Partikeln in der Luft aus. Mit ihm haben wir Daten zum Pollenflug der letzten dreißig Jahre aus ganz Europa angeschaut. Und die zeigen sehr deutlich, dass die Pollensaison immer früher beginnt, länger dauert und dass auch die Menge an Pollen zunimmt.

EvH: Achtung, kein Wortwitz, aber der Versuch einer Überleitung: von den Pollen zu den Polen. Katja, lange Zeit wurde die Klimakrise fast ausschließlich mit Problemen verbunden, die weit weg sind, wie zum Beispiel schmelzenden Polkappen, Dürre in Afrika und vom steigenden Meeresspiegel betroffenen Inseln, die man vorher auch nicht kannte.

KT: Ja, diese Bilder haben wir alle im Kopf, aber keine Bilder von heiß geschwitzten Kindern oder von Senioren kurz vor dem Hitzekollaps. Viel zu lange wurde so getan, als hätte das Thema Klimawandel nichts mit uns in Europa, geschweige denn mit uns in Deutschland zu tun. Dabei betrifft es uns alle. Nicht im gleichen Maß, aber verschont bleibt niemand. Ich habe das in verschiedenen Weltregionen erfahren.

EvH: Vielfliegerin – oder wie meinst du das?

KT: Ich bin viele Jahre tatsächlich viel gereist, vor allem für den Job, aber auch privat. Mein Mann kommt aus Neukaledonien, das ist eine französische Insel im Pazifik. Dort haben sich die Jahreszeiten, seit er mit zwanzig Jahren nach Europa kam, total verschoben, und es ist, wie in Deutschland, viel trockener geworden. Dass die Sache mit den Pollen hier bei uns mit der Klimaerwärmung zu tun hat, war auch mir als Fakt neu. Gemerkt habe ich es aber schon, denn ich schniefe im Sommer deutlich länger als früher – wegen Ambrosia.

CTH: Ja, Ambrosia, das Traubenkraut. Da standen auf einmal Patienten vor mir, die ein schweres Asthma entwickelten, und das im Spätherbst! Das konnten wir uns auch erst nicht erklären, bis wir feststellten, dass da eine Pflanze dahintersteckt, die bisher nicht bei uns zu finden war: Ambrosia, eine Pflanze, die durch den Klimawandel bei uns eine Heimat gefunden hat.

KT: Und die von unseren Behörden bis heute nicht effizient bekämpft wird, wie wir im Kapitel »Allergien, Pollen und Luftverschmutzung« darstellen. Eckart, wann hast eigentlich du gemerkt, dass du um das Thema Klima nicht mehr herumkommst?

EvH: Mein Aha-Moment in Berlin war, als ich im Sommer 2018 meine Dachgeschosswohnung kaum mehr betreten konnte, weil es dort so heiß war, als wäre ich in einer Sauna. Dann will man das Fenster aufmachen, aber draußen ist es genauso heiß. Da spürte ich, wie mir die Klimaveränderung buchstäblich unter die Haut geht und körperlich zu schaffen macht. Auch geistig, denn wie will man bitte bei vierzig Grad einen kühlen Kopf behalten?

KT: Stimmt, den braucht man – zum Beispiel zum Schreiben. Aber selbst mit einem kühlen Kopf ist manches nicht zu verstehen. Ein Beispiel: Die Fachzeitschriften sind voll mit Studien oder Berichten über Hitzetote, über neue Insekten, die neue Viren übertragen, über das erwähnte Allergiethema. Oft werden da auch gute Lösungsideen vorgeschlagen. Wie kann es dann trotzdem sein, dass das alles bislang weder in der Öffentlichkeit noch auf der Ebene der politischen Entscheiderinnen und Entscheider als relevantes Thema angekommen ist?

EvH: In der Medizin auch noch nicht. In meiner Ausbildung zum Arzt spielte das Thema Klimawandel überhaupt keine Rolle. Wir lernten etwas über Tropenkrankheiten wie das West-Nil-Fieber, aber keiner hat uns darauf vorbereitet, dass wir das jemals in echt diagnostizieren würden – vor unserer Haustür. Ist das heute anders, Claudia?

CTH: Na ja. Der Ärztetag in diesem Jahr hat das Hauptthema »Klimawandel und Gesundheit«, und unsere Medizinabsolventen bekommen auch bereits Examensfragen zum Thema. Aber wir sind immer noch weit weg von einem verbindlichen Lehrplan, anders als etwa in Frankreich. Dort lernen junge Medizinerinnen und Mediziner wie auch das künftige Pflegepersonal, wie sie beispielsweise bei Hitzewellen Dehydrierungen vorbeugen oder wie sie die Dosis der Medikamente anpassen müssen, etwa beim Blutdruck.

KT: So ließen sich auch bei uns im Sommer viele Leben retten!

CTH: Ja, das stimmt. Immerhin tut sich an vielen Unis inzwischen etwas, angestoßen durch einzelne engagierte Kolleginnen und Kollegen. Bei uns an der Technischen Universität München konnten wir zum Beispiel eine Summer School zum Thema Umweltmedizin einrichten, und die Studierenden nehmen das super dankbar an. Wenn’s ums Klima geht, wissen viele Zwanzigjährige tatsächlich besser Bescheid als ihre Dozenten.

EvH: Das bestätigt meinen Eindruck von Klima-Aktionstagen und Seminaren, die KLUG neuerdings organisiert. Mich lässt das hoffen, dass das Klimathema zukünftig in den Gesundheitsberufen insgesamt eine viel größere Aufmerksamkeit erfährt als bisher. Vielleicht stimmt ja, was Victor Hugo mal gesagt hat: Nichts ist so machtvoll wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist!

KT: Absolut! Bei der Recherche für das Buch habe ich viele beeindruckende Leute kennengelernt, die diese Idee umtreibt. Damit meine ich Expertinnen und Experten aus verschiedensten Disziplinen, die sich alle aktiv darum bemühen, die gesundheitlichen Folgen der Klimaerwärmung in Schach zu halten: Botanikerinnen, Stadtplaner, Virologinnen, Umweltingenieure und so weiter. Denn wir stecken tatsächlich schon mittendrin, sprich, die Umwelt entwickelt sich in eine Richtung, die uns nicht guttut, womöglich sogar krank macht.

EvH: Um noch deutlicher zu werden: Wir müssen nicht »das Klima« retten, sondern uns. Die Erde hat Milliarden Jahre gut ohne Menschen existiert und wird uns auch nicht groß vermissen, wenn wir uns weiter derart selbstzerstörerisch verhalten. Als Arzt kenne ich die zentrale Reihenfolge: Erst muss die Diagnose stehen, dann entscheidet man über die Therapie. Und mein Gefühl ist, dass viele die Ernsthaftigkeit der Diagnose noch nicht begriffen haben. Und deshalb auch nicht verstehen, wie dringlich fundamentale Veränderungen jetzt sind.

CTH: Man muss eben auch mal über den Tellerrand schauen. Größere Zusammenhänge lassen sich besser erkennen, wenn man sich mit Forschenden aus anderen Disziplinen austauscht. Manchmal nenne ich mein Forschungsgebiet der Umweltmedizin auch »Suppenforschung«, weil man es mit so vielen Zutaten und Elementen gleichzeitig zu tun hat. Aber es wächst zum Glück auch bei den Institutionen das Bewusstsein für eine stärkere interdisziplinäre Forschung. Zum Beispiel haben die verschiedenen Helmholtz-Forschungsinstitute sich jetzt zur Klimaallianz zusammengetan, und in Augsburg entsteht ein Zentrum für Klimaresilienz.

EvH: Toll, dass ihr euch jetzt um diese Zusammenhänge mal im Zusammenhang kümmert! In eurem Buch versammelt ihr bereits jede Menge interessante Aspekte. Ich bin sicher, dass viele Leserinnen und Leser mit medizinischen Vorkenntnissen oder ohne daraus was lernen können. Ich jedenfalls habe beim Blättern einige Dinge entdeckt, von denen ich vorher nichts wusste. Zum Beispiel das Gewitter-Asthma. Oder die Tigermücken, die sich inzwischen auch im wärmer gewordenen Baden-Württemberg vermehren.

KT: Die Mücken kommen als blinde Passagiere mit Autos und Lastwagen aus dem Süden und machen den Leuten in betroffenen Gegenden das Leben echt zur Hölle – auch wenn sie noch keine gefährlichen Viren übertragen. Betonung auf »noch«. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Und gegen die Wärme.

CTH: Ein Wettlauf, den wir nur gewinnen können, wenn wir zwei Dinge hinkriegen: weniger Klimawandel und mehr Anpassung.

EvH: Und, was meint ihr? Kriegen wir’s hin?

CTH: Ja, wenn viele mitmachen – und das schnell! Um unserer eigenen Gesundheit und insbesondere der unserer Kinder willen sollten wir alles dafür tun, die im Pariser Klimaabkommen gesetzten Ziele zu erreichen. Jedes Zehntelgrad über dem Limit von 1,5 Grad mehr im Vergleich zu vorindustriellen Zeiten werden wir an Leib und Seele zu spüren kriegen. Wir spüren sie ja bereits heute.

KT: Daher gehen wir auch auf die Frage ein, wie wir uns an diesen Wandel anpassen können – als Einzelne und als Gesellschaft. Da wird’s im Buch dann psychologisch: Warum sind wir so verdammt gut darin, die Gefahren der Klimaerwärmung zu verdrängen, statt endlich zu handeln?

CTH: Apropos Verdrängen: Der Gesundheitssektor selbst ist für fast fünf Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes verantwortlich!

EvH: Das weiß kaum jemand. Aber auch da wächst langsam das Bewusstsein. Ich unterstütze gerade eine Initiative der Anästhesisten, auf besonders klimaschädliche Narkosegase zu verzichten, die in der Atmosphäre viel schlimmer wirken als C02. Der Energieverbrauch pro Krankenbett ist in der Größenordnung von einem Einfamilienhaus, da gibt es jede Menge zu tun, um energieeffizienter zu werden und auch weniger Müll zu produzieren.

KT: Und ebenso viel, um verletzliche Gruppen besser gegen Hitze zu schützen, also Kinder, Kranke und Ältere. Gerade in den Städten gibt es zum Glück bereits viele gute, praktisch erprobte Ansätze: Die einfachste lautet: Bäume pflanzen. Sie wirken in der Stadt wie lebendige Klimaanlagen.

EvH: Ich merke immer mehr, wie die drei großen Krisen unserer Zeit – die Pandemie, die Klimakrise und das Artensterben – zusammenhängen. Dafür gibt es sogar zwei neue Begriffe: »One Health« und »Planetary Health«. Damit ist gemeint, dass ein Problem wie beispielsweise antibiotikaresistente Keime nicht nur an einer Stelle auftritt, sondern sowohl bei den Tieren als auch bei den Menschen und in der Umwelt eine Rolle spielt – und auch nur durch eine gemeinsame Anstrengung gelöst werden kann.

CTH: Die aktuelle Corona-Pandemie war leider auch eine Katastrophe mit Ansage – dabei hatten wir genug Beispiele, aus denen wir schon etwas hätten lernen können. Zum Beispiel werden ja die sogenannten Zoonosen wie Corona, Ebola, SARS oder auch HIV deshalb häufiger, weil wir Menschen immer stärker in die Lebensräume der Tiere eindringen, die Wildtiere jagen, auf Märkten feilbieten und essen, statt sie in Ruhe zu lassen.

EvH: Einmal mehr bestätigt sich: Gesunde Menschen gibt es nur auf einer gesunden Erde.

KT: Schön gesagt. War das jetzt das Schlusswort?

EvH: Nein – das ist euer Vorwort!

KT: Danke für deine Neugier. Dir viel Glück mit deiner Stiftung »Gesunde Erde – Gesunde Menschen«. Und natürlich mit deinem neuen Buch Mensch Erde – Wir könnten es so schön haben, das ja praktisch zeitgleich mit unserem erscheint.

CTH: Wir wünschen dir und uns viele Leserinnen und Leser! Und dass wir gemeinsam die Kurve kriegen.

1HITZE, KOLLAPS UND KEIN PLAN

Von Sommermärchen und Sommeralbträumen

Juni 2006, erinnern Sie sich? Pünktlich zum Anpfiff der Fußballweltmeisterschaft wurde es hochsommerlich warm, geradezu subtropisch. Endlose laue Nächte beim Public Viewing, tagsüber Sonne satt. Am 9. Juli, vor dem Endspiel Italien – Frankreich im Olympiastadion, kletterte das Thermometer in Berlin zum sechsten Mal seit Monatsanfang auf über 30 Grad. Am Monatsende war klar: Italien ist Weltmeister, Deutschland kann WM – und der Juli hat wettertechnisch alle Rekorde gebrochen. Um 5,2 Grad lagen die Temperaturen über dem langjährigen Durchschnitt, gleichzeitig fiel nur die Hälfte des üblichen Regens, trotz heftigster Sommergewitter. Irgendein Wortkünstler taufte diese Wochen das »Deutsche Sommermärchen«.

Für den Seniorprofessor der Berliner Charité, Christian Witt, damals Leiter der Klinischen Abteilung Pneumologische Onkologie und Transplantationsmedizin, hatten sie nichts Märchenhaftes. »Wir erlebten eher einen ›Hitzesommer-Albtraum‹«, erzählt er.1 »Nicht nur für uns, die Belegschaft, war die extreme Hitze kaum erträglich. Es kamen auch deutlich mehr Patienten mit Beschwerden wie Luftnot oder Husten und Leistungsschwäche in die Notaufnahme und die klinischen Bereiche.« Vor allem Patienten, die auf eine Lungentransplantation warteten, und andere chronisch Kranke litten sehr an der Hitzebelastung, so Witt. »Das waren schwerkranke Menschen, aber klinisch so weit stabil.« Und obwohl es den meisten abends, beim Verabschieden, nach seinem Eindruck leidlich ging, erhielt er am Morgen vom Stationsleiter die Nachricht, dass mancher nicht überlebt hat. »Und wir wussten nicht, warum.«

Witt und seine Kollegen hatten einen Verdacht: Die kaiserlichen Altbauten der Charité im Herzen Berlins haben zwar dicke Backsteinwände. In die Patientenzimmer, im vierten Stock relativ hoch und nach Westen ausgerichtet, scheint jedoch ab dem späten Vormittag die Sonne in die Zimmer, heizt sie massiv auf. Und nachts kühlten sie kaum mehr ab. Lag es daran? »An unserem ärztlichen Handeln und der medikamentösen Therapie hatte sich nichts geändert. Könnte ein zusätzlicher Umweltfaktor wie Hitzestress hinzugekommen sein?«

Dass es für Kleinkinder, Ältere und Menschen mit Herz-Kreislauf-Problemen gefährlich werden kann, wenn sie in hohem Maße Hitze ausgesetzt sind, war seit langem Mediziner-ABC. Aber kann die Hitze auch bei Patienten mit Atemwegserkrankungen zu einer Verschlechterung des Krankheitsverlaufes führen? Dann wäre in Deutschland jeder Zehnte gefährdet: Rund acht Millionen Frauen, Männer und Kinder leiden unter schweren Formen wie Asthma, chronischer Bronchitis oder Lungenverengung (COPD).

»Ich dachte natürlich an Frankreich drei Jahre zuvor«, erinnert sich Witt an seine ersten Recherchen. 2003, noch so ein Jahrhundertsommer. Wochenlang strahlte das Hoch Michaela wie ein Heizpilz auf Mittel- und Südeuropa. Dauersonne und Temperaturen von bis zu fünf Grad über dem langjährigen Durchschnitt trockneten Flüsse aus, ließen Ernten verdorren, Stalltiere verdursten, fachten Waldbrände an – in Portugal etwa verwüsteten Feuer 40 Prozent der Waldfläche. Und sie wärmten die Städte auf.

In Freiburg kletterte das Thermometer an 53 Tagen über 30 Grad – es war dort wärmer als in Algier. Genf schwitzte zwei Wochen bei über 35 Grad. In Paris und im übrigen Frankreich pendelte sich die Augusthitze um die 40 Grad ein, nachts kühlte es nur noch selten unter 20 Grad ab. Kurzum: Große Teile Europas erlebten keine klassischen »Sommertage« mehr, bei denen nach meteorologischer Definition die Temperaturen über 25 Grad klettern, sondern ungewohnt viele »Hitzetage« mit Temperaturen über 30 Grad. Von einer Hitzewelle ist die Rede, wenn sich drei oder mehr Hitzetage aneinanderreihen; es gibt da keine allgemeingültige Definition, aber diese Wellen schlauchen umso mehr, wenn auch noch »Tropennächte« dazukommen: Nächte, die über 25 Grad warm bleiben und keinerlei Abkühlung bieten, weder den Körpern noch den Wohnungen.

Im Jahr 2003 nahm vor allem in Frankreich die Hitzewelle kein Ende. Medienberichte von damals erzählen von zwei Welten. An Atlantik und Mittelmeer herrschte super Ferienstimmung, im Landesinnern hingegen bahnte sich ein dramatischer Gesundheitsnotstand an. »Als die Temperaturen am 14. August erstmals 39 Grad überstiegen, brachen allein auf den Straßen von Paris 40 Menschen leblos zusammen«, schilderte ihn der Spiegel.2 Klimaanlagen versagten, in den Krankenhäusern fehlten Hunderte Betten. »Bei uns geht es zu wie in einem Kriegslazarett«, berichtete ein geschockter Notfallarzt der Zeitung Le Parisien. »Überall auf den Fluren liegen Patienten herum, wir untersuchen sie auf allen vieren.«3 Wenig später füllten sich die Leichenhallen so schnell, dass Hunderte Verstorbene in Kühllagern eines Lebensmittelgroßmarkts außerhalb von Paris untergebracht werden mussten, sogar in Kühllastern.

Bis das Ausmaß des Dramas europaweit erfasst wurde, dauerte es eine Weile. Inzwischen ist klar: Der Hitzesommer 2003 war die tödlichste Naturkatastrophe der vergangenen hundert Jahre in Europa. Über siebzig Studien versuchten danach die genauen Opferzahlen zu erfassen, genauer: die sogenannte Hitze-assoziierte Übersterblichkeit. Dafür wurden die Todeszahlen in jener Periode verglichen mit den Todeszahlen der Jahre 1998–2002. Im Jahr 2007 kam schließlich ein internationales Forschungsteam unter Federführung des französischen Gesundheitsforschungsinstituts INSERM4 zu folgendem Ergebnis: Allein im August 2003 waren in zwölf Ländern rund 70 000 Menschen an Hitzefolgen gestorben, darunter 15 251 Französinnen und Franzosen sowie 7295 Deutsche; überdurchschnittlich viele davon in Baden-Württemberg.

In der heißesten Augustwoche hatte sich die Zahl der Todesfälle in Frankreich im Vergleich zum langjährigen Mittel verdoppelt. In Italien betrug die sogenannte Übersterblichkeit 40 Prozent, in Deutschland rund 20 Prozent, wobei der Süden viel stärker betroffen war als der Norden; so kam Frankfurt am Main auf 78 Prozent Exzessmortalität. Europaweit hatte nur das Erdbeben im italienischen Messina im Jahr 1908 mehr Opfer gefordert als der Hitzesommer 2003 – doch für Erdbeben haben die Behörden seither Notfallpläne entwickelt, genau wie für Flugzeugabstürze oder Terrorangriffe. Nicht aber für Hitzekrisen.

»In Frankreich hieß es damals im ersten Schock, es seien vor allem alte Menschen gestorben, die ohnehin todgeweiht waren, also nur ein Harvesting-Effekt«, fährt Lungenarzt Witt fort. Von Harvesting-Effekt spricht man in der Medizin, wenn ein Ereignis vor allem die Reihen der Schwerstkranken lichtet und daher im Folgemonat durch den »Ernte-Effekt des Todes« die normalen Sterberaten sinken. Das stimmte in Frankreich jedoch nur zu 20 Prozent, tatsächlich starben viele der Älteren an den Folgen von Dehydrierung und Überhitzung – Todesfälle, die durch eine entsprechende Vorbereitung auf dieses Hitze-Extremwetter vermeidbar gewesen wären. »Doch danach ist man stets klüger«, sagt Witt. »Wir haben den Harvesting-Effekt in Berlin dann später zusammen mit der Forschergruppe ›Urban Climate and Heat Stress‹ vom Lehrstuhl Klimatologie