Übersehen - Nataliya Deleva - E-Book

Übersehen E-Book

Nataliya Deleva

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Beschreibung

Delevas Debütroman „Übersehen“ bietet eine faszinierende literarische Erfahrung. Er wirft wichtige Fragen der sozialen Ungleichheit, Armut, körperlichen Behinderung, sexuellen Missbrauchs, Queerness und Altersdiskriminierung auf. Die bruchstückhafte fiktionale Erzählweise verwebt diese Themen zu Geschichten, die den Roman ausmachen und verbindet sie durch ein gemeinsames Thema - die soziale Unsichtbarkeit ihrer Charaktere. Der Text führt den Leser zu Orten und Situationen aus der Vergangenheit im Heimatland der Autorin, Bulgarien. Die rasante Erzählweise schafft Spannung in jeder der Geschichten des Buches und zeigt ein facettenreiches Patchwork wichtiger Anliegen der sozialen Eingliederung. Die Sprache des Romans bewahrt die Anmutung einer klassischen Erzählung, während die einzelnen Geschichten darin – bildhafte Episoden – den Leser einladen, sich auf eine postmoderne Dekonstruktion der übergreifenden Geschichte einzulassen.

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Nataliya Deleva І

ÜBERSEHEN

Aus dem Bulgarischen von

Elvira Bormann-Nassonowa

Roman

1. Auflage 2018

© eta Verlag

Alle Rechte vorbehalten

www.eta-verlag.de

kontakt @ eta-verlag.de

Schönhauser Allee 26

10435 Berlin

Titel der Originalausgabe:

„Невидими“ 2017

Janet-45 Verlag

Plovdiv, Bulgarien

Übersetzung aus dem Bulgarischen: Elvira Bormann-Nassonowa

Lektorat: Lore Horlamus

Titelgrafik und Satz: Ivo Rafailov

Designkonzept: Stefan Müssigbrodt

Druck: Abagar

Gesetzt aus der Moderato (www.moire.info).

Gedruckt auf Holmen Book Cream 80 g/m2.

ISBN 978-3-9818408-8-9

Noch sind die Seiten leer, aber auf wundersame Weise spürt man, wie die Wörter, in unsichtbarer Tinte geschrieben, alle schon vorhanden sind und sich darum reißen, sichtbar zu werden.*

Vladimir Nabokov

Ich verstehe nicht, weshalb die Leute so viel Wert darauf legen, ihr Privatleben zur Schau zu stellen; sie vergessen, dass Unsichtbarkeit eine Superkraft ist.

Banksy

Längst ist die Welt entzaubert. Man hat dich verlassen.**

Borges, 1964

Die berühmten gardinenlosen Fenster legten das Innere der Häuser frei. Die Interieurs legten die Abwesenheit des Privaten frei. Das heilige Recht auf Privatheit bestätigte sich paradoxerweise durch ihre Abwesenheit.***

Dubravka Ugrešić: Das Ministerium der Schmerzen

Den sichersten Unterschlupf, wenn du unbemerkt bleiben willst, findest du, indem du in deine Heimatstadt zurückkehrst.****

Georgi Gospodinov: Physik der Schwermut

Unsichtbare Menschen sind überall um uns herum. In der Bahn, auf der Straße, im Wohnblock, im Laden, in der Schule, auf der Arbeit, seltener in den Nachtclubs, aber auch dort tauchen sie ab und zu auf. Sie gehen in der Menge auf und beobachten die Leute ringsumher mit ihren traurigen, unsichtbaren Augen. Doch weil sie unsichtbar sind, bemerkt sie niemand.

* * *

»Komm schon, bitte, kauf mir ein Eis!«

»Es geht nicht, habe ich gesagt.«

»Warum?«

»Darum.«

»Aber ich will.«

»Hör bitte auf, mit dem Fuß zu stampfen!«

»Warum?«

»Weil es sich nicht gehört und weil du außerdem mit Stampfen nichts erreichst.«

»Das meinte ich nicht. Ich wollte wissen, warum ich kein Eis kriegen kann.«

»Ich habе dir doch schon gesagt, dass du nicht jeden Tag Eis essen darfst. Davon bekommt man Halsweh.«

»Aber du kaufst dir jeden Tag welches, das hab ich gesehen.«

»Red keinen Unsinn. Außerdem bin ich erwachsen.«

»Na und?«

»Erwachsene können selbst entscheiden.«

»Warum?«

»Weil Erwachsene ... erwachsen sind. Sie wissen, was richtig ist, und was nicht.«

»Weißt du immer, was richtig ist?«

»Ich glaube – ja. Zumindest hoffe ich das.«

»Auch bei mir?«

»Was – auch bei dir?«

»Weißt du auch bei mir, was richtig ist?«

»Bei dir auf jeden Fall.«

»Mama …«

»Was?«

»Kaufst du mir kein Eis, weil ich zu dick bin?«

»Wie kannst du nur so etwas denken!«

»Was gibt es da zu denken – ich BIN dick!«

»Wer sagt das?«

»Alle.«

»Wer sind alle?«

»Na alle in der Schule, im Block – einfach alle.«

»Hör nicht auf sie!«

»Aber ich bin wirklich dick. Und niemand will mit mir spielen. Und auch nicht mit mir reden. Mich nimmt einfach niemand wahr.«

»Wieso niemand? Du hast doch Freundinnen. Meggy?«

»Sie heißt Maggy. Und sie redet auch nicht mehr mit mir.«

»Warum?«

»Weil ich dick bin! Und … weil ich vor ein paar Tagen ihr Sandwich gegessen habe.«

»Und warum hast du ihr Sandwich gegessen?«

»Warum, warum! Weil ich Hunger hatte. Ich hatte Angst vor der Mathe-Kontrolle, und wenn ich Angst habe, kriege ich immer riesigen Hunger. Und Maggy hatte ihr Sandwich so eingepackt, dass es aus der Tasche schaute. Bestimmt, um mich zu provozieren. Und ich … wollte nur mal kosten, nur ein kleines Stück abbeißen … Aber dann … Es hat so gut geschmeckt, und die Mathearbeit kam immer näher … ich hatte Angst, war aufgeregt und … dann war das Sandwich plötzlich alle. Als Maggy das mitbekommen hat, hat sie vor der ganzen Klasse herumgebrüllt. Ich habe mich bei ihr entschuldigt, aber … jetzt redet sie nicht mehr mit mir.«

»Also hör mal, mein Sternchen. Du weißt, dass man so etwas nicht tut. Fremde Sachen nimmt man sich nicht einfach so, nicht wahr? Das ist Diebstahl, und Diebstahl wird bestraft.«

»Na ja, das weiß ich schon … Also gut, ich werde es nicht wieder tun.«

»Mama?«

»Was ist?«

»Warum bin ich dick?«

»Was ist denn das für eine Frage!«

»Eine ganz normale Frage. Sag schon, warum bin ich dick?«

»Ach, mein Sternchen … woher soll ich das wissen? Es sind wohl die Gene.«

»Aber du bist nicht dick.«

»Na und?«

»Also dann … war mein Vater dick?«

»Wie kommst du jetzt auf deinen Vater?!«

»Sag schon!«

»Na ja, dick … nein, eher kräftig. Und groß.«

»War er schön?«

»Lass uns das Thema beenden, okay?«

»Sag doch, Mama. Habe ich ihn mal gesehen?«

»Nein.«

»Warum?«

»Weil ich ihn selbst nicht mehr gesehen habe seit damals.«

»Seitdem der Unfall passiert ist?«

»Warum sagst du so etwas?«

»Du sagst so etwas. Ich habe gehört, wie du es einmal Tante Tanja erklärt hast.«

»Hör mir mal gut zu, mein Sternchen. Wenn das, dass du da bist, überhaupt Unfall genannt werden kann, dann ist das der aller-, allerschönste Unfall auf der Welt und ich bin unendlich glücklich, dass er passiert ist. Dass du passiert bist. Ist das klar?«

»Klar. Aber ...«

»Was aber?«

»Kaufst du mir jetzt ein Eis?«

»Nein.«

»Warum?«

»Darum.«

»Ooooch ……«

»Und weil ich dich lieb habe.«

01

Dieses Kind war ich.

Doch meine Mutter war nicht an diesem Gespräch über das Eis beteiligt. Sowohl meine Mutter als auch das Eis habe ich mir ausgedacht.

Ich wollte das einfach zu sehr – neben einer lieben und lächelnden Mutter gehen, meine Hand in ihrer geborgen, spüren, dass sie mich bedingungslos und grundlos liebt, was immer ich auch tat, einfach, weil ich da war, und sie mit kindlicher Hartnäckigkeit zu bitten, mir Eis zu kaufen. Und das nicht, weil ich so versessen auf Eis war, sondern weil ich den Gedanken toll fand, ein kleines, quengelndes, seine Mutter bettelndes Mädchen zu sein, wie ich es bei den anderen Kindern draußen gesehen hatte.

Ich wollte hineinspringen in dieses feierliche, in meiner Fantasie großartig gezeichnete Bild von nörgelnden und ständig nach etwas verlangenden Kindern und deren vorgeblich strengen, letztendlich aber immer nachgebenden Müttern, die auf Wegen gehen, die zu Parks führen, Parks mit gewaltigen schmelzenden Schokoladen-, Erdbeer- und Vanilleeisportionen, mit bellenden frisierten Pudeln, an denen ihre Frauchen mit silbrig glänzenden, aufgetürmten Frisuren rhythmisch zerren, mit Verkäufern raschelnder Heliumballons, auf denen Micky Maus und Pu, der Bär, abgebildet sind. Auch mich wollte ich hineinzeichnen in dieses Bild mit viel Zuckerwatte und plärrenden Babys, die von ihren Müttern mit unerklärlicher Ruhe auf Bänken geschunkelt werden und die einen eben diese vorbehaltlose Liebe zu diesen rotznäsigen, den Samstagnachmittag mit ihrem Gebrüll zerreißenden Babys spüren lassen.

Aber ich war nicht darauf. Dieses Bild hing sehr weit oben an der Wand, es hing an einem alten, verrosteten Nagel, verlockend und unerreichbar. Ich erträumte mir meine zärtliche und stets liebevolle Mutter, träumte sie sowohl lächelnd, als auch verärgert, heiter, müde, vorwurfsvoll und besänftigend. Meine Mutter. Ich erschuf diese Mutter in meinem zerbrechlichen siebenjährigen Bewusstsein und konnte nie begreifen, weshalb eine Mutter ihr Kind so bedingungs- und grundlos liebte, einfach, weil es da war.

Meine Mutter gibt es auch. Aber ja. Ganz sicher gibt es sie irgendwo, im Bild von jemand anderem, das jemand vorsichtig von der Wand nimmt, und dann werden alle Kinder, Eisportionen, frisierten Pudel, Ballons, Mütter und Zuckerwatte darin lebendig. Jeden Samstagnachmittag. Oder fast jeden. Doch Mama, meine Mutter, die mich doch so bedingungs- und grundlos liebte, hatte sich irgendwie dazu durchgerungen, mich aus diesem künftigen Aquarell zu löschen. Dies geschah an dem Tag, an dem fremde Hände mich ihrem Schoß entrissen und sie im selben Augenblick ihre Liebe zu mir aus sich herausriss.

Und wegging.

Ich blieb allein, in einem Brutkasten, mit meiner eben erst entfalteten Lunge zerriss ich die sterile Krankenhausruhe und schmerzhaft sog ich die Einsamkeit ein, die in jenem Augenblick meine Existenz brandmarkte. Schmerzhaft sog ich ein, dass ich diese ihr Kind bedingungs- und grundlos liebende Mutter, die am Tag meines Erscheinens wegging, nicht kennenlernte. Sie war geschmolzen wie Eis an einem heißen Sommertag.

Etwa zu der Zeit begann ich, mir mein Leben mit ihr auszudenken.

02

Meine erste bewusste Erinnerung: Ich sitze in einem mittelgroßen, dunklen Zimmer auf dem Boden, es riecht nach Staub und zugleich nach Schimmel, um mich herum zerren andere Kinder etwa in meinem Alter und etwas älter aneinander herum, schubsen sich und brüllen; ich schaffe es krabbelnd bis in die Ecke, wo ich mich wie eine Schnecke zusammenziehe und mein Kinn gegen die Knie presse. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, dass ich verschwinde, dass ich unsichtbar werde und diesen ganzen Tumult beobachte, ohne dass die anderen im Zimmer mich bemerken. Damals war ich vielleicht drei oder vier. In jenem Moment wünschte ich mir etwas, ohne mir bewusst zu werden, wie schwer dessen Unvermeidlichkeit belasten kann. Später würde ich mir Vorwürfe machen, dass ich selbst Schuld an dem trage, was mir widerfährt, dass ich mein Leben so, wie es ist, selbst so gewollt habe. Und vielleicht würde ich Recht haben.

03

Manchmal kamen die neuen Mütter, um sich einen von uns auszusuchen. Diese Tage waren ganz besondere – sowohl für die Mütter und uns als auch für die Erzieherinnen im Heim. Schon früh am Morgen fingen sie an, uns zu duschen, uns saubere Kleidung anzuziehen, den Kleineren die Pampers zu wechseln, unser Spielzimmer mit einem Lappen zu wischen und die auf dem Boden herumliegenden Spielsachen aufzuräumen. Überhaupt – es war ein Festtag. Wie ein erster Juni, den es bei uns mehrmals im Jahr gab. Wir hatten großes Glück, hieß es.

Wir lugten ungeduldig ins Büro der Direktorin und sahen, wie sich die Ordner mit unseren Akten auf dem riesigen Schreibtisch türmten, und auf den, so groß er auch war, doch nicht alle passten.

Dann kamen die Mütter und Väter. Sie öffneten die Tür zu unserem dunklen Zimmer, das vom Geruch nach Schimmel und Babykacke durchdrungen war, und schon brach der Sommer über unsere Spielsachen herein – lächelnd, staubig, keuchend und klebrig. Die Hitze staute sich und jeder von uns wollte einerseits hin zur Mutter stürzen und sie unter Tränen bitten, doch ihn auszuwählen, andererseits sich zurückhaltend und anständig benehmen, um ihr zu gefallen, wie es die Erzieherinnen uns beigebracht hatten. Am Ende blieben wir einfach steif und bewegungslos dort hocken, wo wir gerade waren, wie Steinkreuze auf einem alten Friedhof, und warteten. Alles lief in Zeitlupe ab und nur ein paar Fliegen flogen Schneisen in die Luft über einem Töpfchen in der Ecke.

Immer machte zuerst die Mutter einen Schritt auf uns zu; der Vater blieb für gewöhnlich an der Wand stehen und knetete seine schweißnassen Hände. Die Mutter. Sie würde die Wahl treffen. Die Mutter, die unfähig war, Mutter zu werden, war hergekommen, um einen von uns zu holen, um ihn bei der Hand zu nehmen und ihn mit sich in ihre Welt zu nehmen. Das Matrjoschka-Gesetz: Aus einer jeden wird die nächste geboren, das Mädchen wird Mutter und bringt ein Mädchen zur Welt, welches heranwächst und ein Mädchen zur Welt bringt, welches ein Mädchen zur Welt bringt, welches Mutter wird. Der nie aufhörende Faden der Familienreproduktion. Ich frage mich, ob die Mütter ins Heim kommen, um einen von uns zu retten, oder weil sie Rettung für sich selbst suchen.

Die Mutter fand zuerst Kraft, unseren bittenden Blicken zu begegnen, und ihr gingen die Augen über. Langsam ging sie umher, streichelte den Wuschelkopf eines von uns und ein angenehmer Hauch von Frische sprengte die abgestandene Luft. Wir bekamen unsere Portion Liebe von einer unbekannten, fremden Mutter und verschlangen sie gierig wie ein Stück Torte mit Karamellglasur.

Dann redeten die Mutter und die Direktorin eine Weile im Büro, blätterten in den staubigen Akten, die sich auf dem riesigen Schreibtisch häuften, und deren ganze Last entlud sich auf unsere Köpfe und zerbrach unsere Hoffnung, als wäre sie eine hohle Nuss.

SALIM

Salim eilt ins Krankenhaus, in das seine Mutter letzte Woche eingewiesen wurde. Er läuft barfuß und mit freiem Oberkörper über die von der Julisonne aufgeheizten Gehwegplatten in der Fußgängerzone. Der Schweiß rinnt ihm in Strömen über das dunkle Gesicht, aber er wischt nur kurz mit dem Handrücken darüber und läuft weiter. An anderen Tagen geht er im Schatten, sieht zu, dass sein Weg unter den Linden entlangführt, doch heute hat er etwas Dringendes zu erledigen und läuft deshalb mitten in der Glut.

Salim ist knapp sieben, doch schon seit Langem treibt er sich allein in den Straßen herum. An seinem fünften Geburtstag schnitt man ihm den Daumen der rechten Hand ab. Nun ist der Daumen zwar eigentlich nicht mehr da, aber an solch heißen Tagen wie heute juckt er ihn. Salim weiß nicht, wie das möglich ist, und noch schlimmer ist, dass er ihn nicht kratzen kann. »Wozu braucht er einen Daumen, in die Schule schicken wir ihn sowieso nicht«, sagte seine Mutter damals. »Es gibt genug Gebildete, was man braucht, ist ein Gewerbe!« Und sie brachte ihm bei, in die Taschen der Tanten zu greifen und deren Portemonnaies herauszuholen.

Dabei hatte Salim noch Glück gehabt. Seinem großen Bruder hatte man ein Bein bis zum Knie abgetrennt, und nun muss er vor der Parkanlage an der Hauptstraße betteln, egal ob es eisig kalt oder glühend heiß ist. Sein großer Bruder ist also Bettler, Salim dagegen Taschendieb, er betreibt sozusagen schon von klein auf ein Gewerbe. Außerdem bringt das Klauen viel mehr Geld ein. Manchmal ließ er auch schon die eine oder andere Kostbarkeit mitgehen, wie er das nannte – hier einen Taschenspiegel, da einen besonderen Kugelschreiber. Diese Kostbarkeiten zeigte er seiner Mutter nicht und hob sie zu Hause unter dem Bett auf.

Sein Vater ist schon zwei Jahre nicht mehr aufgetaucht, und außer ihm und seinem Bruder hat seine Mutter noch zwei Mädchen, drei und fünf Jahre alt. Auch seine Großmutter wohnt bei ihnen, denn sie ist schon alt und klapprig und kann weder Straßen kehren noch stehlen, und in dieser Hitze ist sie auch zum Betteln nicht zu gebrauchen. Seine Mutter putzt jeden Mittwoch die beiden Hauseingänge eines Wohnblocks in der Nähe des Zigeunerviertels, wofür sie alles in allem 48 Lewa bekommt, »für das Nötigste zum Leben«. Vor einigen Tagen jedoch wurde sie krank und sie ließen einen Arzt kommen. Als der ihr den Bauch abtastete, heulte sie laut auf. Man brachte sie sofort ins Krankenhaus, machte eine Tomografie, stach mit Nadeln in sie und schließlich hieß es, dass sich dringend eine neue Niere finden müsse, denn bei ihr würden beide nicht mehr funktionieren.

Salim stand eine Weile neben dem Bett seiner kranken Mutter, bevor er in Gedanken versunken aufbrach. So vieles hatte sie ihm beigebracht, einen so meisterhaften Taschendieb hatte sie aus ihm gemacht, doch nie hatte sie ihm gesagt, wie man eine fremde Niere stiehlt. Mit Daumen oder ohne – das würde keinesfalls leicht werden. Und Salim wusste nicht einmal, wie eine Niere aussah, noch, wo er eine suchen sollte. Schon fünf Nächte hat er nicht geschlafen und gegessen, hat immer nur dagesessen und überlegt, wo er eine Niere für seine Mutter bekommen könnte.

An diesem Morgen war er früh aufgestanden, zum Lebensmittelladen des Viertels gegangen – das seine Mutter »die Garage« nannte, doch Salim hatte drinnen nie Autos gesehen – und hatte vor der Tür gewartet. Irgendwann tauchte die Verkäuferin auf, die es offenbar nicht eilig hatte, und noch während sie das große Vorhängeschloss aufschloss, warf sie einen argwöhnischen Blick auf Salim.

»Worauf wartest du? Mach, dass du fortkommst!«

»Tante, kannst du mir ein Stück Pappe geben?«

»Pappe? Wozu brauchst du denn Pappe?«

»Naja … damit ich eine Anzeige darauf schreiben kann. Ich kann nicht schreiben, aber ich will dich bitten, dass du sie schreibst. Geht das, Tante? Ja?«

»Was denn für eine Anzeige, Jungchen? Ach lass mich doch mit diesem Quatsch in Ruhe!«

»Also, es soll darauf stehen, dass ich eine Niere brauche. Ich will mich auf die Straße neben das Einkaufszentrum setzen … und wenn jemand eine übrig hat, kann er sie mir geben.«

Die Verkäuferin sah ihn misstrauisch an, dann meinte sie wohl, dass der kleine Zigeuner sie auf dem Arm nehmen wollte, und beschloss, im gleichen Sinne zu antworten.

»Warum willst du die Leute anbetteln? Geh in die Metzgerei dort an der Ecke Botev-Straße und Zelena-Poljana-Straße und kauf dir eine.«

»Kann man Nieren denn im Laden kaufen?« Salims Augen begannen zu glänzen.

»Na klar, was dachtest du denn?«