Umdrehungen - Sonja Bethke-Jehle - E-Book

Umdrehungen E-Book

Sonja Bethke-Jehle

4,8

Beschreibung

Ben und Zita sind frisch verliebt. Doch sie dürfen nur wenige Wochen der Unbeschwertheit erleben. Das Schicksal zwingt sie von heute auf morgen dazu, sich neu zu orientieren. Ein Unfall stellt sie auf eine harte Probe, als Ben schwer verletzt und mit einem Leben im Rollstuhl konfrontiert wird. Bei der Aussicht darauf, sich mit einer bleibenden Behinderung arrangieren zu müssen, reagiert er überfordert. Er zweifelt, ob Zita diese Herausforderung mit ihm bestehen und die Beziehung dieser Belastung standhalten kann. Zu seiner Überraschung verspricht Zita, bei ihm zu bleiben. Allerdings ahnen die beiden nicht, welch steiniger Weg vor ihnen liegt, und was er ihnen abverlangen wird.

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Ich bedanke mich bei meinen Eltern, die mich zum Lesen gebracht haben,

und bei meinem Ehemann und meiner Schwester, die mich zum Schreiben gebracht haben.

Sonja Bethke-Jehle wurde am 07.11.1984 im Odenwald geboren. In Mannheim studierte sie Wirtschaftsinformatik. Heute lebt sie in der Bergstraße. Das Lesen und Schreiben ist bereits seit ihrer Kindheit eine große Leidenschaft von ihr. Die Umdrehungen-Trilogie ist ihre erste Roman-Reihe. Am liebsten schreibt sie über Menschen, die Grenzen überwinden, für Barrierefreiheit kämpfen oder eine große Herausforderung bestehen müssen. Wenn sie nicht gerade am Schreiben ist, hilft sie ehrenamtlich in einer Bücherei bei der Ausleihe oder versucht ihre Bücher an die Frau (oder manchmal an den Mann) zu bringen, was ihr deutlich schwerer fällt als das Schreiben.

Oder aber sie liest …

Weitere Informationen zu der Autorin finden Sie im Internet unter www.sonja-bethke-jehle.de

Inhaltsverzeichnis

Roland

Ben

Zita

Ben

Roland

Nachwort

— Roland —

Der Anblick ihrer abgebissenen Fingernägel verursachte einen Kloß in seinem Hals. Sein Bedürfnis zu weinen, war groß.

Eigentlich weinte Roland nie. Benny war derjenige, der sensibel war und hin und wieder Tränen in den Augen hatte. Doch im Gegensatz zu Roland war er auch cool genug, um sich das leisten zu können. Niemand würde ihn deswegen als schwach bezeichnen. Dafür war er einfach zu lässig, zu selbstbewusst. Im Gegenteil: Die Mädchen standen darauf. Sein Kumpel war ein Kerl, der auf den ersten Blick hart erschien, eigentlich aber sehr einfühlsam war. Wenn Roland derjenige gewesen wäre, dem man drei Kugeln in den Rücken geschossen hätte, dann würde Benny wahrscheinlich jetzt weinen.

Doch Roland fiel das nicht so leicht. Zwar hatte er das Gefühl, unbedingt weinen zu müssen, aber die erlösenden Tränen kamen einfach nicht.

Wieder fiel sein Blick auf die abgekauten Nägel von Zita. Dass Zita viel Wert auf ihre Nägel legte und regelmäßig zu ihrer sogenannten ‚Nageltante‘ ging, wusste er von Benny. Jetzt waren sie alle abgekaut. Irgendwie traurig.

Sie saßen hier nun schon seit Stunden in einem großen Raum voller Plastikstühle und Zeitschriften, sowie einem Fernseher, in dem fortwährend immer wieder dieselben Nachrichten liefen. Auch wenn sie sich nicht ausstehen konnten, saßen sie dicht beieinander, obwohl es hier so viele Stühle zur Auswahl gab. Es war der Warteraum für Angehörige. Sie waren alleine.

Am Anfang war alles schnell gegangen. Eben hatte Roland noch neben dem angeschossenen Benny auf dem Boden gekniet, schon war der Notarzt da gewesen und hatte sich um seinen Kumpel und Kollegen gekümmert. Auch um ihn hatte man sich gekümmert. Man hatte ihm ein Glas Wasser in die Hand gedrückt und ihm ein Tuch angeboten, mit dem er sich Bennys Blut von den Händen hatte wischen können, während der Arzt versucht hatte, die Blutung von Benny zu stillen. Er hatte so viel geblutet, dass sich unter ihm eine Blutlache gebildet hatte. Diesen Anblick würde Roland vermutlich nie wieder vergessen. So viel Blut …

Gemeinsam waren sie mit dem Krankenwagen ins Krankenhaus gefahren. Bevor Roland sich von Benny hatte verabschieden können, hatte man diesen von ihm weggebracht. Wahrscheinlich war Benny sowieso nicht mehr bei Bewusstsein gewesen. Während der Fahrt mit dem Krankenwagen hatte er nicht mehr gesprochen und die Augen geschlossen gehalten.

Danach hatte das Warten angefangen. Zu Beginn waren noch die anderen beiden Kollegen bei ihm gewesen, doch irgendwann waren sie nach Hause gegangen und Roland war einsam zurückgeblieben. Er hatte seine Freundin angerufen, um ihr alles zu erzählen, aber Helena war aus beruflichen Gründen weit weg und konnte nicht zu ihm ins Krankenhaus eilen. Mit ihr an seiner Seite wäre es ihm besser gegangen, aber er wollte nicht, dass Helena so spät am Abend überstürzt losfuhr. Er hatte sie darum gebeten, bis zum nächsten Tag zu warten und hatte ihr versichert, dass er sich melden würde, sobald er etwas von Benny in Erfahrung bringen könnte.

Vielleicht hatte Roland deswegen seinen älteren Bruder angerufen und hatte ihn darum gebeten, Zita herzufahren. Er hatte es nicht mehr ertragen alleine zu warten.

Zita war die neue Freundin von Benny. Obwohl sie sich schon seit längerem mit Benny traf, waren sie erst seit Kurzem offiziell zusammen. Roland mochte sie nicht und konnte sich einfach nicht an sie gewöhnen. Zwar war Benny frisch verliebt und sehr glücklich mit Zita, aber Roland trauerte dennoch Bennys alter Partnerin hinterher. Mit ihr war er sehr gut klar gekommen und Helena war mit ihr befreundet gewesen. Zu Zita fand auch sie keinen Zugang.

Doch das alles zählte im Moment nicht.

Wenn Roland schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert worden wäre, hätte er sich auch gewünscht, dass Helena bei ihm wäre, wenn er aufwachte. Er ging davon aus, dass Benny Helena abholen würde, weil man in solch einem Moment nicht Auto fahren sollte. Also hatte Roland alles organisiert und hatte Zita von seinem älteren Bruder herbringen lassen. Er selber hatte Zita nicht abholen wollen. Was, wenn Benny ihn brauchte und er nicht da war?

Seitdem waren Stunden vergangen.

Zuerst hatten die Ärzte nicht gewusst, ob sie Benny operieren sollten, irgendwann hatten sie sich aber doch dazu entschieden. Sie hatten etwas von Rückenmarksverletzung gesagt, von Wirbelbrüchen und schweren inneren Blutungen. Hatten davon gesprochen, dass Benny kein Gefühl in den Beinen hätte. Eine Ärztin hatte erwähnt, dass sie seine Verletzung möglicherweise nicht heilen konnten, doch ein anderer Arzt hatte gemeint, dass man noch abwarten müsse, bevor man Diagnosen stellen könne. Immerhin sei der gesamte Bereich verletzt. Es sei schwer sich einen Überblick zu verschaffen. Alle waren sich aber einig gewesen, dass es sehr ernst um Benny stand.

Roland wurde übel, wenn er darüber nachdachte, was das für seinen Kumpel bedeuten könnte.

Benny und behindert schien überhaupt nicht zusammenzupassen. Benny und Rollstuhl ebenfalls nicht. Als Roland vorhin auf der Toilette gewesen war, hatte er zu seinem Spiegelbild geredet. »Mein Kumpel ist gelähmt«, hatte er gesagt und hinzugefügt: »Benny ist behindert. Mein Kumpel Benny ist ein Behinderter und sitzt hilflos und unfähig sich zu bewegen im Rollstuhl.« Es hatte wehgetan und ihn dazu gebracht, die Hand zu einer Faust zu ballen und gegen seine Lippen zu pressen, um zu verhindern, dass er laut losschrie.

Daran würde er sich noch weniger gewöhnen können als an Zita.

Wenn er doch nur etwas gesagt hätte … wenn er Benny vorgewarnt hätte … Das würde er sich niemals verzeihen können. Damit würde er niemals leben können.

Erneut sah Roland zu den abgekauten Fingernägeln auf den Boden und schluckte schwer. Wie viele kleine Halbmonde, glitzernd mit funkelnden Steinen darauf, blau und silber angemalt. Ein krasser Gegensatz zu dem eierschalenfarben Boden.

Zaghaft richtete Roland sich auf und betrachtete Zita, die in sich zusammengesunken neben ihm auf dem Stuhl kauerte. Seufzend hob er seine Hand und legte sie vorsichtig auf Zitas Rücken genau zwischen ihren Schulterblättern. Sie war dünn und knochig, ihre Muskeln verkrampft.

Kurz zuckte sie zusammen, dann schloss sie die Augen und drückte sich gegen Rolands Hand. »Danke«, flüsterte sie.

Gerade als Roland glaubte, dass er es nicht mehr aushalten konnte, öffnete sich die Tür und einer der Ärzte trat erneut herein. Er zog einen Stuhl zu sich und setzte sich ihnen gegenüber. »Die Operation ist gut verlaufen«, sagte er, bevor Roland fragen konnte. »Wir haben die Blutung stillen können und die gebrochenen Wirbel stabilisiert, um weitere Schäden zu vermeiden. Jetzt müssen wir Geduld haben.«

»Ist er wach?«, fragte Roland und strich ein letztes Mal über Zitas Rücken, bevor er die Hand zurückzog.

»Nein, noch nicht, aber Sie werden ihn in ungefähr zwei Stunden sehen können, sobald er auf der Intensivstation ist«, antwortete der Arzt. »Ob er sofort ansprechbar ist, wissen wir noch nicht, aber er wird in der Aufwachphase sein. Wir halten es für eine gute Idee, wenn Sie bei ihm sind, wenn er zu sich kommt. Versuchen Sie vorerst keine Vermutungen über eine Diagnose zu äußern, denn das würde ihn sicherlich beunruhigen.«

»Und wird er laufen können?« Roland wusste, dass er sich flehend anhörte, doch das war ihm egal. Es hing so viel von der Antwort ab, weswegen er die Luft anhielt.

»Wir müssen abwarten bis die Schwellung zurückgegangen ist. Momentan können wir noch keine endgültige Aussage treffen. Vielleicht muss Ihr Kollege auch nochmal operiert werden.« Der Arzt lächelte aufmunternd. »Noch sollten wir die Hoffnung nicht aufgeben. Gehen Sie jetzt erst einmal etwas zusammen essen, damit Sie gestärkt sind. Er wird Sie brauchen, denn er wird verwirrt sein und Schmerzen haben.«

»Aber …«

Der Arzt unterbrach Roland sofort wieder. »Es tut mir leid, Herr Weber, dass ich Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr sagen kann. Wir müssen dem ganzen jetzt Zeit geben. Für den Moment haben wir alles getan, was wir tun konnten. Ich möchte nicht ausschließen, dass Ihr Freund wieder komplett gesund wird, aber ich kann es Ihnen leider auch nicht versprechen.« Er hielt inne. »Es tut mir leid.«

»Aber er stirbt nicht, oder?«

Roland drehte seinen Kopf und sah zu Zita. Ihre Stimme klang brüchig und sehr müde, ihre Augen waren rot, weil sie geweint hatte. Sie sah grausam aus, besonders weil ihre Schminke verlaufen war.

Ihre Eltern hatten mehrmals auf ihrem Handy angerufen und hatten sie darum gebeten, nach Hause zu kommen, weil sie im Krankenhaus sowieso nichts tun konnte, aber sie war standhaft geblieben. Am nächsten Tag musste sie eine Prüfung ablegen, aber sie hatte ihren Eltern gesagt, dass es ihr egal war, ob sie die Prüfung antreten konnte oder nicht. Die Eltern hatten so oft angerufen, dass Roland Zita am liebsten das Telefon aus der Hand gerissen und gegen die Wand geschleudert hätte. Am Telefon hatte Zita geweint, aber sie hatte sich nicht von ihrem Vater überreden lassen. Ihre Sorge war echt, das musste Roland anerkennen, auch wenn er bisher überzeugt davon gewesen war, dass Zitas Gefühle für Benny oberflächlich waren.

»Er ist außer Lebensgefahr«, bestätigte der Arzt. »Er wird auf der Intensivstation bleiben müssen, aber er ist stabil.«

Zita stieß erleichtert Luft aus und schloss die Augen, während sie sich gegen die Stuhllehne drückte.

Für einen Moment blinzelte Roland. Daran, dass Benny sterben könnte, hatte er gar nicht gedacht. Jemand wie Benny starb doch nicht einfach. Seine Präsenz war dafür viel zu überwältigend. Das Schlimmste an was Roland gedacht hatte, war eine bleibende Behinderung. Wenn Benny gestorben wäre … das war nicht auszudenken, das könnte Roland einfach nicht ertragen.

Er ist außer Lebensgefahr«, wiederholte der Arzt freundlich. »Das ist jetzt vorerst das Wichtigste.«

— Ben —

Eigentlich hätte er sich der Gefahr bewusst sein müssen. Immerhin war er einer der besten Polizisten in seiner Abteilung und bereits vor einigen Wochen mit der spektakulären Aufgabe betraut worden, Friedelmann hinter Gitter zu bringen.

An einem normalen verregneten Montag im Herbst hatte Ben sich dazu entschieden, den Drogendealer endlich festzunehmen. Zuvor hatten sie ihn mehrere Tage lang observiert und das Labor, in dem Friedelmann sich verschanzt hatte, umstellt. Es war alles so glatt gelaufen, wie man es sich als Einsatzleiter wünschte. Die Sicherheit seiner Leute war Ben sehr wichtig, weswegen er erleichtert gewesen war, als Friedelmann endlich mit erhobenen Händen auf dem Boden gekniet hatte, und seine Kollegen Roland Weber, Adrian Zantig und Erwin Michael sowie er selber wohlauf gewesen waren.

Ben hatte die Kugeln nicht kommen sehen, die direkt in sein Rückenmark eingeschlagen waren, weil er mit dem Rücken zu Friedelmann gestanden hatte. Aber er hatte gespürt, dass ihm die Beine einfach weggeknickt waren. Er hatte gesehen, dass Roland auf ihn zugelaufen war, und hatte es irgendwie geschafft, sich auf dessen Arme zu stützen. Hinter Roland war es Adrian und Erwin irgendwie gelungen den Kriminellen erneut zu entwaffnen und zu Boden zu werfen, doch das wusste er nur aus Erzählungen. Seine Sicht war seltsam verschwommen gewesen. Der entsetzte Blick von Roland hatte er allerdings sehr genau wahrgenommen und es hatte ihm große Angst gemacht.

Erst danach waren die Schmerzen gekommen.

Ein Anfängerfehler! Natürlich hatten sie den Drogendealer entwaffnet, aber sie hatten es nicht für nötig befunden, ihn daraufhin zu untersuchen, ob er noch eine weitere Waffe bei sich trug. Wie sich später herausgestellt hatte, hatte er eine zweite Pistole bei sich getragen, von der die Einheit nichts gewusst hatte. Diese hatte er dazu genutzt, um Ben zu Fall zu bringen.

Ben war nicht lange genug bei Bewusstsein geblieben, um seinen Transport in die nächste Klinik mitzuerleben, aber die wenigen Minuten, in denen er in Rolands Armen gelegen war, hatten gereicht, um sich klar zu werden, dass etwas fürchterlich schiefgegangen war. Er war dankbar dafür gewesen, dass es Roland gewesen war, der ihn gehalten hatte, denn Roland war nicht nur ein Kollege, sondern auch sein bester Freund seit sie gemeinsam zur Polizeiakademie gegangen waren und während ihrer Ausbildung zusammen gewohnt hatten. Sie hatten so viel miteinander geteilt. Gemeinsam waren sie in Urlaub gefahren, hatten Hobbys wie das Snowboarden und ihre Bikes geteilt und hatten diverse Probleme zusammen bewältigen müssen. Es gab niemand auf der Welt bei dem Ben in diesen schrecklichen Minuten lieber gewesen wäre. Als er in die blauen Augen seines besten Freundes geblickt hatte, war ihm bewusst geworden, dass auch Roland schreckliche Angst um seine Gesundheit hatte. Danach war Ben in Ohnmacht gefallen.

Die ersten Tage im Krankenhaus erlebte Ben in einem Schockzustand. Gefangen zwischen der Angst vor der Zukunft, den schlimmen Schmerzen und den Medikamenten, die ihn lange dämmern ließen, fühlte er sich wie in Watte gepackt und sah alles wie durch Nebel. Erst nach ungefähr einer Woche wurden seine Sinneswahrnehmungen wieder klarer. Und damit wurde ihm auch bewusster, in welche schreckliche Lage er geraten war. Noch nie im Leben hatte er größere Panik vor seiner Zukunft gehabt.

Zuerst hielten sich die Ärzte bedeckt und meinten, dass die Zeit zeigen würde, wie ernst die Verletzung war; doch Ben benötigte keinen Arzt, der ihm erklärte, was es bedeutete, wenn man seine Beine und einen Großteil des Oberkörpers auch nach zwei Operationen nicht mehr spüren oder kontrollieren konnte.

Helena, die Freundin von Roland, war überzeugt davon, dass die Ärzte eine Möglichkeit finden und seine Wirbelsäule wieder heilen würden. Sein Chef Rettig schickte ihm Blumen und seine Teammitglieder Adrian und Eddie baten ihn darum, die Hoffnung nicht aufzugeben. Als sie den Raum verließen, wirkten sie erleichtert. Vermutlich weil er solch ein jämmerliches Bild abgab, wie er da in seinem Bett lag und sich kaum rühren konnte.

Lediglich Roland sagte nichts und saß tagelang stumm bei Ben. Zwar besuchte er Ben regelmäßig, doch er war keine wirkliche Hilfe. Seine Verzweiflung machte es Ben unmöglich, sich zu entspannen. Wenn Roland da war, fiel es ihm manchmal schwer zu atmen.

Es vergingen Wochen und Ben konnte seine Beine immer noch nicht bewegen. Von der Brust abwärts gab es in ihm einfach kein Leben mehr. Vermutlich sollte er dankbar dafür sein, dass er wenigstens seine Arme noch steuern konnte, aber es gelang ihm nicht, sich darüber zu freuen. Was für ihn zählte, war die Tatsache, dass er nicht laufen konnte und nicht spürte, wann er auf die Toilette musste.

Eine Windel zu tragen gehörte zu den schlimmsten Erfahrungen seines Lebens, und immer wenn die Schwestern kamen, um sie ihm zu wechseln, spürte er ein Brennen in seinen Augen und manchmal sogar Bedauern, dass Friedelmann ihm nicht in den Kopf geschossen hatte. Den Dauerkatheter hatte er leider nicht vertragen, weil er zu Blasenentzündungen und Harnwegsinfektionen neigte. Zum Glück verschmutzte er die Windel jedoch nur selten, weil er regelmäßig einen Pfleger rief und ihn bat, ihm auf die Toilette zu helfen. Dort konnte er nur durch eine spezielle Massage der Bauchdecke urinieren. Oft brauchte er dafür länger als eine Viertelstunde, was beschämend war.

Fast genauso schlimm war die Tatsache, dass er sich weder auf der Toilette noch aufrecht im Bett alleine halten konnte. Ohne Rückenlehne war er verloren. Selbst im Rollstuhl konnte er nur kurz sitzen, weil es für ihn so irritierend war, nicht fühlen zu können, dass er saß, und dass sein Oberkörper einfach wegknickte, wenn er nicht aufpasste. Deswegen klammerte er sich meist fast hysterisch an den Armlehnen fest. Er fühlte sich erbärmlich.

Wenn es etwas gab, das ihn heilen konnte, dann wäre das schon versucht worden, oder?

Und dennoch: Niemand sprach es aus. Die Ärzte schwiegen, die Blumen von seinem Chef kamen unregelmäßiger und Roland lächelte ihn weiterhin gequält an. Die Eltern von Roland, die für Ben eine Ersatzfamilie gewesen waren, seit sie erfahren hatten, dass seine eigenen Eltern bei einem Autounfall gestorben waren, sprachen ihm Mut zu und versicherten ihm, dass sich sein Rücken erholen würde. Es war als würde sich keiner trauen, dieses Grauen in Worte zu fassen. Auch Ben nicht; er versuchte gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Darin, seine Angst und Qual zu verbergen, war er ziemlich gut.

Auch Zita hoffte noch immer auf Heilung. »Ich hatte wirklich gehofft, dass sie dich wenigstens an Weihnachten rauslassen«, sagte sie seufzend, während sie in einer Frauenzeitung herumblätterte.

»Ja, das wäre schön gewesen«, bestätigte Ben betroffen und betrachtete verlegen seine Finger. »Was liest du da gerade?«

»Einen Artikel über Abenteuer, die Paare unbedingt mal zusammen machen sollten«, erzählte Zita und hielt ihm den Artikel vor die Nase.

Auf einem Bild war ein glückliches Paar zu sehen, die sich in einem Heißluftballon küssten. Ben wurde übel, als er daran dachte, dass er Zita so etwas nicht mehr bieten konnte. Wieso musste sie ausgerechnet bei diesem Artikel hängen bleiben? »Möchtest du etwa mit mir Heißluftballon fliegen?«, hakte er entsetzt nach.

Zita schob sich einen Kaugummi in den Mund und hob lässig die Schulter. »Habe nie darüber nachgedacht, aber wenn du mich so fragst, wäre das schon mal eine romantische Sache. Würdest du mir einen Heißluftballon organisieren?«

»Wenn ich es könnte, würde ich es tun«, fauchte Ben gereizt und hatte Mühe seine Tränen zurückzuhalten. Wie sollte er seiner Freundin nur all das bieten, was sie verdiente? Er war nutzlos. Nein, schlimmer noch: Er war eine Last. Wütend verschränkte er die Arme vor der Brust und starrte an die Decke.

Dass Zita an seiner Seite war, war für ihn immer noch wie ein Wunder. Manchmal fühlte es sich selbst nach den drei gemeinsamen Monaten noch fremd an, weil es von Anfang an so unmöglich erschienen war. Durch dieses Ereignis war es natürlich nicht unbedingt einfacher geworden. Instinktiv wusste Ben, dass ihre Beziehung bald ein Ende haben würde.

Es hatte alles vor mehr als einem Jahr damit begonnen, dass Zita und ihre Freundin Zeuginnen einer Prügelei geworden waren und Ben die Aussagen der beiden Frauen aufgenommen hatte. Zu diesem Zeitpunkt war Ben noch mit seiner Exfreundin glücklich gewesen und hatte sich eigentlich bereits überlegt, sie zu heiraten und mit ihr Kinder zu bekommen. Gaby und Zita waren unterschiedlicher als Tag und Nacht und umso erstaunlicher war es, dass Ben sich in Zita verliebt hatte und sogar ziemlich schnell bereit gewesen war, Gaby zu verlassen, obwohl er mit ihr fast fünf Jahre in einer Beziehung gelebt hatte.

Dafür, dass ihre Beziehung an sich schon ziemlich spektakulär war, weil sie sowohl äußerlich als auch charakterlich überhaupt nicht zusammenpassten und Zita im Gegensatz zu Ben aus gutem Hause kam, hatte es eigentlich relativ normal angefangen.

Sie hatten sich bei einem Kaffee nach der Zeugenaussage unerwartet gut verstanden. Danach hatten sie sich weiterhin getroffen und sich immer besser kennengelernt. Mit Gaby hatte er Schluss gemacht, bevor sich wirklich etwas zwischen ihm und Zita entwickeln konnte, denn es war ihm nicht möglich erschienen, weiterhin mit Gaby zu leben. Es wäre weder Gaby noch Zita gegenüber fair gewesen. Kurz nachdem Zita damit begonnen hatte, Ben offen anzuflirten, hatte sie ihm gesagt, dass er für sie wahrscheinlich nicht mehr war, als eine stille und heimliche Rebellion gegen ihre konservativen Eltern. Wenig später hatte Zita ihn geküsst.

Die ersten Wochen ihrer Beziehung waren von heimlichen Treffen geprägt gewesen. Sie waren sich einig gewesen, dass niemand von ihrer Liebelei erfahren durfte. Eigentlich hatte nur Zita sie verheimlichen wollen, aber Ben hatte ihr einfach keinen Wunsch ausschlagen können.

Zita konnte sich gegen ihre Eltern nicht behaupten – vor einem Jahr als sie sich kennengelernt hatten, war ihr das noch schwerer gefallen als heute – und für die war es ausgeschlossen gewesen, dass ihre Tochter jemanden wie Ben als Partner wählen würde.

Eines Tages war es dann allerdings doch passiert: Obwohl sie sich nur direkt in der Innenstadt getroffen hatten, wo sie relativ anonym waren, hatte der ältere Bruder von Roland sie entdeckt, als sie turtelnd in einem Café gesessen hatten. Dass Ben eine neue Freundin hatte, hatte anschließend schnell die Runde in der Familie und dem Freundeskreis gemacht. Daraufhin war in Ben immer mehr der Wunsch erwacht, sich endlich offen zu Zita bekennen zu können, und schließlich hatte sie nachgegeben und auch ihren Eltern von der heimlichen Beziehung erzählt.

Danach waren einige schwere Wochen gefolgt. Obwohl Ben ein wenig Angst gehabt hatte, dass Zita ihn verlassen würde, hatte sie zu ihm gehalten. Auch heute noch musste sie um die Akzeptanz ihrer Eltern kämpfen, die nicht tolerieren wollten, dass ihre Tochter mit ihm zusammen war. Regelmäßig hatte Zita davon gesprochen, aufgeben zu wollen, doch Ben hatte sie immer davon überzeugen können, standhaft zu bleiben. Doch auch in Bens Umkreis war es nicht leicht gewesen, denn Roland hatte enorme Schwierigkeiten mit Bens Partnerwahl und war der Meinung Zita sei oberflächlich und würde ihn sowieso bald wieder verlassen. Alle Webers waren nicht begeistert gewesen, nicht nur weil Gaby, die sie sehr gerne hatten, darunter litt, dass Ben eine neue Freundin hatte, sondern auch, weil Zita so gar nicht zu Ben zu passen schien.

Erst vor wenigen Wochen hatte es sich langsam entspannt. Sukzessive begann die Umgebung sich daran zu gewöhnen, dass sie glücklich miteinander waren und zusammenbleiben wollten – egal welche Vorbehalte es gegen die Beziehung gab. Entgegen aller Widerstände waren sie zusammen geblieben und hatten sogar Pläne gemacht, gemeinsam in Urlaub zu fahren.

Doch jetzt, wo sie endlich zur Ruhe hätten kommen können, musste das passieren. Ben wischte sich energisch über seine Augen, um zu verhindern, dass er anfing loszuheulen. Das würde ja gerade noch fehlen.

»Also«, sagte Ben laut und gestellt heiter, »was machst du an Weihnachten so ohne mich?«

Ein wenig gelangweilt blickte Zita auf. »Ich komme hier her, was sollte ich sonst tun?«

Verblüfft starrte Ben sie an und konnte nicht verhindern, dass ein Blitz durch seinen Körper fuhr. Er meinte sogar, ihn in den Fußspitzen zu spüren, was natürlich Einbildung war. In den Fußspitzen konnte er gar nichts mehr fühlen.

»Was hast du denn geglaubt, Benny?«, fragte Zita mit einem empörten Unterton, schlug die Zeitschrift zu und überkreuzte ihre Beine auf eine elegante Art und Weise.

Rasch schüttelte Ben den Kopf und biss sich auf die Lippen. Wieder war er kurz davor zu weinen. Diesmal nicht aus Verzweiflung, sondern vor lauter Freude darüber, dass seine Freundin an den Feiertagen bei ihm sein würde. Momentan war er psychisch sowieso nicht sonderlich stabil. Wegen seiner Lage war er ziemlich gestresst, konnte nachts nicht gut schlafen und bekam viel zu viele Medikamente. Man hatte ihm auch Psychopharmaka empfohlen, aber Ben wollte die Dinger nicht nehmen. Jedes Medikament hatte unerwünschte Nebenwirkungen. Doch vermutlich hatte man ihm doch etwas untergejubelt. Er nahm so viele Pillen, längst hatte er den Überblick verloren.

»Was würdest du denn tun, wenn ich an Weihnachten krank und verletzt im Krankenhaus liegen würde?«, fragte Zita interessiert.

»Ich würde dich auch besuchen«, gab Ben zu. Seine Stimme zitterte, weil er immer noch versuchte die Tränen zurückzuhalten.

Es war einfach zu viel. Nicht nur die Tatsache, dass er sich so verdammt hilflos fühlte mit diesem Körper, der ihm nicht mehr gehorchte, sondern auch die Verlegenheit wegen dieser Windeln und der Verletzlichkeit auf andere angewiesen zu sein, machte ihm zu schaffen. Er hatte außerdem sehr große Angst vor der endgültigen Diagnose. Er wollte wieder gehen, laufen, springen. Wollte selbstständig sein und auf Toilette gehen, ohne dass ihm eine Schwester die Windeln wechseln musste. Außerdem wollte er auch weiterhin als Polizist arbeiten. Doch am allermeisten wollte er jetzt endlich das Leben mit Zita genießen und ihr der starke Partner sein, den sie sich wünschte.

Obwohl sie einander bereits seit über einem Jahr kannten, war Ben sich nicht sicher, ob Zita bei ihm bleiben würde, wenn seine schlimmsten Befürchtungen wahr werden würden. Ben wäre erfolglos auf allen Ebenen und zu nichts mehr zu gebrauchen. Und damit, dass Zita oberflächlich war, hatte Roland vielleicht auch ein wenig recht. Das war sie schon irgendwie. Sie war nicht der Typ Frau, der bei einem beschädigten Mann blieb.

»Du bist heute ein wenig unruhig«, stellte Zita fest und schaute Ben prüfend an, während sie die Zeitschrift sanft gegen ihren Oberschenkel klopfte.

»Was denkst du denn?«, schnappte Ben unbeherrscht. »Ich liege hier seit Wochen rum. Ich will endlich aus diesem beschissenen Bett raus. Ich will nach Hause.« Nun konnte er nicht mehr verhindern, dass die Tränen über sein Gesicht liefen. Wütend beugte er sich zum Nachttisch und sah Zita böse an, als sie ihm helfen wollte. Mühsam angelte er sich ein Tuch aus der halboffenen Schublade. Wenn er das schon nicht mehr alleine hinbekommen würde … dann wäre er wirklich verloren. Energisch putzte er sich die Nase und trocknete seine Augen. »Tut mir leid«, murmelte er nach einem Moment.

»Das ist okay.« Verunsichert sah sie ihn an. »Nimmst du die Antidepressiva, die der Arzt dir empfohlen hat?«

Ruckartig schüttelte Ben den Kopf. »Ich will das Zeug nicht nehmen. Ich bin einfach nur so aufgewühlt, weil mir hier fast die Decke auf den Kopf fällt. Wenn ich hier weg kann, wird es mir besser gehen.«

»Du wirst bestimmt bald wieder nach Hause kommen, Benny«, versprach Zita. Sie legte ihre Hand auf Bens Oberschenkel und strich mit einer Bewegung, die ihn wohl beruhigen sollte, über den Stoff des Lakens.

Doch Ben hasste es, wenn Zita das tat, oder wenn ihn irgendjemand anfasste – und die Schwestern machten das ständig, wenn sie ihn wuschen – und er es nicht spüren konnte. Es war einfach zu surreal, zu sehen, wie er berührt wurde, ohne es zu fühlen. Vielleicht war es nicht so erbärmlich wie die Windeln oder die Tatsache, dass er in sich zusammenfiel, wenn er keine Lehne hatte und ihn niemand festhielt, aber es war alles andere als angenehm. »Bitte, hör auf damit«, sagte er leise und klang so bedrohlich, dass er sich sogar selbst erschrak. Wütend starrte er auf die Hand, die ihn geistesabwesend streichelte.

»Sorry«, murmelte Zita und hob ihre Finger. Stattdessen strich sie Ben damit durch die Haare und küsste ihn vorsichtig, als würde sie befürchten, dass er auch das nicht genießen könnte. »Ich liebe dich, Benny«, fügte sie leise hinzu.

Ben schluckte und wandte den Kopf von Zita ab, um wieder an die Decke zu starren. Würde Zita das immer noch sagen, wenn Ben nicht mehr gesund werden würde? Könnte sie ihn wirklich noch lieben, wenn er ein körperliches Wrack war? Konnte er ihr das überhaupt zumuten?

Die Weihnachtstage vergingen zu langsam und fühlten sich genauso zäh wie die anderen Tage an. Nicht nur Zita kam ihn besuchen, sondern natürlich auch Helena und Roland. Am ersten Weihnachtsfeiertag belagerten ihn die Webers. Nicht nur der Bruder von Roland und dessen Frau kamen bei ihm vorbei, sondern auch Marie und Alfred, die Eltern von Roland.

Der einzige Besuch, bei dem Ben wirklich das Gefühl hatte, sich ein wenig entspannen zu können, war der von Rolands kleinem Neffen, der Ben aus irgendeinem Grund ziemlich anhimmelte. Björns Vater hatte sich von Rolands Schwester getrennt, bevor der Kleine geboren worden war, und hatte keinen Kontakt mehr zu der Familie. Vielleicht fehlte Björn eine männliche Bezugsperson.

Obwohl dem Jungen auffallen musste, dass Ben sich nur sehr langsam und begrenzt bewegen konnte und seine Mutter ihm bestimmt erzählt hatte, dass Ben sehr verletzt war, hielt er daran fest und bewunderte Ben, was ihm ziemlich gut tat.

Den Freunden verbot Ben die Besuche und verweigerte auch sämtliche Anrufe. Glücklicherweise akzeptierten sie das und verzichteten darauf, ihn vom Gegenteil überzeugen zu wollen. Doch Roland brachte regelmäßig Post, Geschenke und Grüße von der Motorradclique mit. Sogar Gaby schrieb ihm einen Brief und teilte ihm mit, dass es ihr leid tun würde, was mit ihm passiert war.

Am zweiten Weihnachtsfeiertag kamen sogar Zitas Eltern. Obwohl es Ben ein wenig unangenehm war, dass er im Bett saß, freute er sich dennoch ein wenig. Die Pfleger hatten ihm angeboten, ihm in den Rollstuhl zu helfen, doch das wäre für Ben noch beschämender gewesen. Zumindest für Zita bedeutete dieser Besuch sehr viel, denn es war das erste Mal, dass ihre Eltern sich wirklich für ihn interessierten, und deswegen gab Ben sich auch Mühe, auch wenn der Besuch sehr anstrengend für ihn war.

Zitas Vater verhielt sich distanziert, aber ihre Mutter war nicht nur höflich, sondern sehr freundlich, was ziemlich überraschend war. Sie brachten ihm Geschenke mit und Zita nahm sogar seine Hand, obwohl sie genau wusste, dass ihre Eltern damit Schwierigkeiten hatten. Aber sie wollte anscheinend zeigen, dass sie zu Ben gehörte und das machte Ben ein wenig Mut.

Ludwig, Zitas Vater, schaute während des ganzen Besuchs aus dem Fenster. Ben war sich sicher, dass er dies nicht wegen der wunderschönen Aussicht tat, sondern weil er nicht auf die Hand seiner Tochter starren wollte, deren Finger mit Bens Finger verflochten waren. Oder vielleicht war es auch einfach nur der armselige Eindruck, den Ben auf ihn machen musste, weil er so hilfsbedürftig im Bett lag.

Die ganze Zeit ließ Ben sich von Zitas Mutter versichern, dass die moderne Medizin für fast alles eine Heilung kannte, und lächelte sie tapfer an, auch wenn er ihr kein Wort glaubte. Diese Zuversicht konnte er leider nicht teilen. Dass die Ärzte ihn nicht ein weiteres Mal operieren wollten, sprach schon sehr dafür, dass sie aufgegeben hatten.

Trotzdem machte der Besuch Ben ein wenig Mut. Vielleicht – ja vielleicht, war ihre Beziehung stark genug, die Behinderung von Ben ertragen zu können. Immerhin musste Zita ihn wirklich lieben, wenn sie sich schon so vor ihren Eltern öffnete und ihre Liebe für ihn so deutlich zeigte. Vielleicht … vielleicht auch nicht.

»Ja, Mutter, das sage ich ihm auch immer«, meinte Zita irgendwann und unterbrach damit den Vortrag ihrer Mutter. Zuversichtlich drückte sie Bens Hand.

»Es würde mich wirklich wundern, wenn das nicht wieder in Ordnung kommt«, wiederholte Charlotta. »Man hört immer wieder, dass solche Verletzungen Zeit brauchen. Du musst Geduld haben und hart arbeiten. Doch das wird schon, Benjamin.«

Seufzend biss Ben sich auf die Lippen. Alle machten sich Hoffnung, alle glaubten daran, dass er gesund werden würde. Waren sie sich denn nicht bewusst, welchen Druck sie damit aufbauten? Langsam folgte Ben Ludwigs Blick und schaute nach draußen. Die Schneeflocken fielen sanft auf die Erde, was das Herz von Ben schmerzhaft zusammenziehen ließ. Seit acht Wochen hatte er dieses Gebäude nicht mehr verlassen. Er hatte keine Sonne auf seinem Gesicht gespürt und er war nicht durch den Schnee gestapft. Vielleicht würde er das auch nie wieder tun. Dabei liebte er das Knirschen des Schnees unter seinen Schritten.

Obwohl Ben damit gerechnet hatte, war es dann doch ein Schock als die Ärzte ihm einige Tage danach von der Befürchtung berichteten, dass sich sein Rückenmark nicht mehr erholen würde. Glücklicherweise war Zita nicht bei ihm. Dafür aber Roland und Helena.

Helena war wie erstarrt und versuchte immer noch eine Lösung zu finden, in dem sie den Ärzten vorschlug, ihn erneut zu operieren. Eigentlich würde es Ben nicht wundern, wenn Helena später den Ärzten hinterherlaufen würde, um ihnen Ratschläge zu geben. Sie war eine gute Freundin und Ben mochte sie alleine deswegen, weil sie seinen besten Freund glücklich gemacht hatte, aber manchmal ging sie ihm mit ihrem Aktionismus auf die Nerven.

Roland allerdings war Ben wirklich eine Stütze. Während Ben etwas überfordert mit der Diagnose war und alle möglichen Gedanken auf ihn einstürzten, sorgte Roland dafür, dass er ein paar Tage bis zum Jahreswechsel nach Hause durfte, indem er den Ärzten versicherte, dass Zita oder er und Helena übergangsweise bei ihm zuhause einziehen würden. Ein Pflegedienst konnte ihm außerdem helfen, zuhause klarzukommen. Als Ben das hörte, lief es ihm kalt den Rücken runter. Nun würde er also einen Pflegedienst benötigen, um die alltäglichen Herausforderungen bewältigen zu können.

Im neuen Jahr würde Ben in eine Rehaklinik gehen, wo man ihm beibringen wollte, wie er mit einem Rollstuhl zurechtkommen konnte, und wo er nützliche Tricks lernen würde, die ihm helfen sollten, trotz seiner Behinderung zurechtzukommen.

Während die Informationen in seinem Kopf durcheinanderwirbelten, lächelte Ben und hoffte, dass es zuversichtlich aussah, aber er glaubte den Ärzten nicht, als sie ihm versprachen, dass sich an der Situation zumindest teilweise noch etwas bessern konnte.

»Benny sollte an Silvester nicht alleine sein«, erklärte Roland erneut dem Arzt. »Seine Freundin und er müssen sicherlich noch einige Dinge klären und benötigen ein wenig Zeit zusammen. Benny wird nicht mehr als Polizist arbeiten können und seine Wohnung muss umgebaut werden. Es gibt jetzt so viele Dinge, die organisiert werden müssen.«

Verwirrt starrte Ben seinen besten Freund an und schüttelte den Kopf. Glaubte sein Freund denn wirklich daran, dass Zita bei ihm bleiben würde? Ausgerechnet er, der Zita immer als unreif, naiv und zickig bezeichnet hatte? Vielleicht war es besser, wenn er in ein Pflegeheim ziehen würde … Immerhin war er ganz alleine. Seine Eltern waren tot, Zita konnte er das nicht zumuten und von Helena und Roland wollte er auch nicht gepflegt werden. Wenn sie weiterhin mit ihm befreundet bleiben würden, wäre das schon viel.

Was für eine schreckliche Zukunft!

»Wir werden dafür sorgen, dass er am zweiten Januar in der Rehaklinik ist«, versprach Roland schließlich dem Arzt. »Wir werden uns um alles kümmern.«

»Herr Asare, ist das denn auch in Ihrem Interesse?«, wandte sich der Arzt schließlich an Ben. »Wir können für Sie kurzzeitig einen Pflegedienst organisieren, der Ihnen helfen wird, aber ihre Wohnung ist nicht behindertengerecht und Sie haben keine Erfahrung mit dem Rollstuhl. Sie werden viel auf dem Sofa liegen und kaum Möglichkeiten haben, die Wohnung zu verlassen.«

»Das kann ich hier auch nicht, oder?« Ben schluckte und versuchte tapfer die Augen offen zu halten. Ihm würde schwindelig werden, wenn er sie schließen würde. Pflegedienst, behindertengerechte Wohnung, Rollstuhl … Das war alles so grausam. Die Informationen, die auf ihn einströmten, überforderten ihn. Er wollte alleine sein.

»Wie gesagt, wir können das organisieren. Vielleicht hat Ihr Freund recht und es wird Ihnen gut tun«, meinte der Arzt geduldig.

Ben räusperte sich und nickte. »Ja, bitte. Ein paar Tage zuhause – mit Zita – das brauche ich.« Seine Zunge fühlte sich wie ein dicker Klumpen an und er war sich sicher, dass jeder Anwesende in diesem Raum hörte, wie sehr ihn das alles schockierte.

Er war gelähmt. Für immer. Er würde nie wieder laufen.

»Sollen wir auf Ihre Lebensgefährtin warten? Vielleicht hat sie auch noch Fragen an uns?«, fragte der Arzt.

Rasch schüttelte Ben den Kopf. »Nein, nein, bringen Sie den Stuhl schon her. Helena und Roland helfen mir nach Hause.«

Eine Schwester half ihm dabei sich anzuziehen und erklärte Helena und Roland einige wichtige Dinge für die Bedienung des Stuhls. Anschließend forderte die Schwester Roland auf, dabei zuzusehen, wie sie Ben auf der Toilette half. Es war schwierig, dort zu sitzen, sich an Rolands Schultern festzukrallen und gleichzeitig die Hose auszuziehen, doch es klappte, was ein gutes Gefühl war, wenn es auch unangenehm war, dass Roland und die Schwester ihm dabei zusahen und sogar festhielten.

»Sie können das üben«, meinte die Schwester. »Ihr Oberkörper wird kräftiger werden und Sie werden sich daran gewöhnen. Lassen Sie sich nicht entmutigen. Sie werden sich irgendwann ganz leicht rüberheben können. Wenn Sie immer dieselbe Menge trinken und immer regelmäßig zur Toilette gehen, dann können Sie vielleicht sogar tagsüber ohne Windeln auskommen.«

»Und nachts?«, fragte Roland laut, was Bens Gesicht heiß werden ließ.

»Es ist auch möglich, das zu kontrollieren, aber das geht meistens erst, wenn sich der Patient mit dem veränderten Körper vertraut gemacht hat«, betonte die Schwester und half Ben in den Stuhl, den Helena durch die Tür geschoben hatte.

»Und das andere?«, fragte Roland weiter und spülte für Ben als wäre es normal, dass Ben das nicht selber machte. »Ich meine, was ist mit seinem Darm?«

Vor Verlegenheit hätte Ben sich gerne in der Toilette versenkt, aber er hatte keine Ahnung, wie er sich mit seiner beschränkten Möglichkeit sich zu bewegen hineinstürzen konnte.

»Hier gibt es Medikamente, mit denen Ihr Freund abführen kann. Wenn er das in einem bestimmten festgelegten Rhythmus macht, kann er auch den Stuhlgang kontrollieren.« Die Schwester lächelte, als ob das ein Grund zum Jubeln wäre, und klopfte Ben auf die Schulter, weswegen er fast das Gleichgewicht verloren hätte und vorne über gekippt wäre. Es war einfach nur schrecklich sich aufrecht zu halten, wenn einem die Bauchmuskeln nicht mehr gehorchten. »Das werden Sie alles nach Silvester in der Reha lernen«, fügte sie hinzu.

Der Stuhl fühlte sich komisch an und Ben hätte am liebsten laut aufgeschrien, als Roland ihn durch den Gang des Krankenhauses schob. Der Rollstuhl – sein Gefängnis. »Sollen wir bei euch bleiben, wenn du es Zita sagst?«, fragte Helena und sah ihn ernst an, bevor Roland Ben in den Wagen hob und ihm half, sich anzuschnallen.

»Wieso denn?«, fragte Ben erschrocken und war ein wenig erleichtert, dass Helena mit ihm redete, während er von seinem besten Freund angeschnallt wurde wie ein kleines Kind. Es lenkte ihn ein wenig ab und gab ihm das Gefühl, dass die Situation für seine Freunde normal war.

»Wir haben heute doch vieles erfahren«, erwiderte Helena vorsichtig. »Es gibt einiges, das Zita wissen sollte, oder?«

»Nein, nein, ich sag es ihr alleine. Keine Sorge, das schaffen wir schon«, sagte Ben eilig.

»Wirklich?« Helena sah besorgt aus. »Sie war so voller Hoffnung. Ich meine, wir alle – wir alle waren davon überzeugt, dass du wieder gesund wirst.«

»Ich nicht«, sagte Roland schlicht und legte Ben eine Hand auf die Schulter. »Sag es der Prinzessin sofort«, bat er ernst. »Das Püppchen soll jetzt endlich mal beweisen, dass sie nicht aus Zucker ist und dich unterstützen kann, ja? Trau ihr mal was zu. Hör auf, das nur mit dir selber ausmachen zu wollen, Benny.«

»Ja«, meinte Ben und schloss entsetzt die Augen. Er hatte Angst davor, Zita von der Diagnose zu berichten, besonders weil er plötzlich wieder glaubte, dass Zita tatsächlich nicht mit einem Krüppel zusammenbleiben wollen würde. Plötzlich fiel Ben ein, dass er nicht gefragt hatte, ob er überhaupt noch zeugungsfähig war. Vielleicht sollte das seine geringste Sorge sein, aber es fühlte sich auf einmal nach einer sehr dringlichen Frage an.

Da Zita sich so sehr darüber freute, dass er endlich wieder da war, verschwieg ihr Ben die Diagnose. Er brachte es nicht übers Herz seine Freundin zu enttäuschen, zumal sie immer noch daran glaubte, dass er bald wieder gesund werden würde.

Seine Wohnung war nicht eingerichtet für Rollstuhlfahrer und Ben kam nicht von einem Raum zum anderen. Aber das musste er auch nicht. Ein vom Krankenhaus eilig organisierter Pflegedienst in Form eines beneidenswerten fitten Zivildienstleistenden half ihm auf das Sofa und Zita las ihm jeden Wunsch von den Augen ab. Ihre Freude darüber, dass er zuhause war, war so groß, dass sie sogar beschloss, etwas zu kochen, obwohl sie sonst nur selten in der Küche stand. Sie aßen im Wohnzimmer, damit Ben nicht vom Sofa in den Stuhl und dann ins Esszimmer musste. Ausnahmsweise, wie Zita betonte. Mit gerunzelter Stirn nickte Ben, denn er wusste, dass seine Freundin es hasste, wenn man nicht am Tisch saß und dort aß.

Allerdings wusste er nicht, wie er ihr diesen Wunsch erfüllen sollte, denn das Esszimmer war zu sperrig. Ben kam nicht von dem Rollstuhl auf den Stuhl. und selbst wenn er es schaffen konnte, wusste er nicht, ob er die Balance halten konnte, denn auf einem normalen Stuhl hatte er weder Lehnen noch Stützen für die Beine, und er weigerte sich zu essen, während er in seinem Rollstuhl saß. Das wäre wirklich zu erbärmlich gewesen.

»Also?«, fragte Zita dann beim Essen. »Haben die Ärzte endlich mal gesagt, wie lange das noch dauert, bis sich dein Rückenmark wieder erholt hat? Bisher gab es ja wirklich noch keinen Fortschritt.«

»Ja, so ungefähr noch vier Wochen«, erwiderte Ben prompt. Die Lüge ging ihm so leicht über die Lippen, dass er über sich selbst verwundert war.

Zita hob die Augenbraue. »Vier Wochen? Oh, das ist optimistisch.«

Ben nickte und erzählte von der Reha. Dass er dorthin kommen würde, um sich an das neue Leben zu gewöhnen, verschwieg er allerdings. »Dort werden dann meine Muskeln wieder aufgebaut. Mein Körper hat sich zu sehr ans Liegen gewöhnt. Ich muss erst wieder fit werden«, log er.

Sofort griff Zita nach seiner Hand und drückte sie. »Ich finde deine Geduld wunderbar, du schaffst das schon. Hast du denn manchmal schon ein Gefühl in deinen Beinen?« Sie streichelte zaghaft über seinen Oberschenkel.

Ben starrte auf die streichelnde Hand und schluckte fest. Wie gerne würde er diese tröstende Berührung spüren können … Wenn er sich konzentrieren würde…? Er versuchte es, aber er spürte rein gar nichts. »Ein bisschen«, behauptete er jedoch und zwang sich dazu zu lächeln.

»Wirklich?«, fragte Zita freudestrahlend und küsste Ben stürmisch.

Die Tage bis Silvester konnte Ben nicht wirklich genießen. Es fühlte sich nicht gut an, Zita zu belügen und die Angst saß ihm im Nacken, dass seine hübsche perfekte Freundin ihn dann schließlich doch noch verlassen würde. Irgendwann würde sie es ja erfahren müssen.

Noch dazu kam dieses schreckliche Gefühl der Hilflosigkeit. Eigentlich war er ein Mann der Tat und immer aktiv gewesen, seit er denken konnte. Er war es weder gewöhnt noch genoss er es sonderlich, sich von Zita bedienen zu lassen. Am Telefon ließ er sich verleugnen und öffnete mit Absicht nicht sein Mailpostfach. Das Letzte, was er wollte, war Mitleid von Menschen, mit denen er schon Jahre keinen Kontakt mehr gehabt hatte. Auf seiner Facebookseite hatten ihm Menschen Kommentare gepostet, die er seit der Schule nicht mehr gesehen hatte. Zwar hatte er sich von Zita den Computer ins Wohnzimmer bringen lassen, doch den benutzte er ausschließlich zu Recherchezwecken.

In einem Forum für Querschnittsgelähmte fand er Tipps für den Umgang mit seiner Blase und dem Darm. Wenn er regelmäßig abführen würde, würde nichts schief gehen, denn sein Schließmuskel war noch vollkommen intakt. Schwerer war es mit seiner Blase, denn er bemerkte nicht, ab wann sie voll war, und wenn das der Fall war, entleerte sie sich ohne Vorwarnung. Um den Windeln zu entgehen, begann Ben nach Plan zu trinken und kämpfte sich unter großer Anstrengung auf die Toilette. Dort konnte er nur sitzen, wenn Zita ihn festhielt, aber wenigstens tat sie ihm den Gefallen und schaute aus dem Fenster, während sie über Belangloses redete. Das gab ihm das Gefühl, dass es nicht so seltsam war, sich als erwachsener Mann von seiner Freundin während des Pinkelns stützen zu lassen.

Zita wurde nicht müde, seine Beine zu streicheln und die Muskeln zu massieren, und ihn ständig zu fragen, ob er etwas fühlte. Manchmal bejahte Ben das, manchmal aber auch nicht. Er hasste es immer noch, wenn Zita ihn an den Beinen berührte, doch das wollte er ihr nicht sagen. Dann hätte er auch zugeben müssen, dass er nie wieder laufen würde, weil sie sich wundern würde, warum es ihm so unangenehm war. Unangenehm war es ja ihm deswegen, weil er nichts spürte und dadurch daran erinnert wurde, was für ein Wrack er geworden war.

Als Helena und Roland einen Tag vor Silvester bei ihnen vorbeikamen und er hörte, dass Zita seinen Freunden begeistert darüber berichtete, dass das Gefühl in Bens Beine immer mehr zurückkam, bekam er Panik. »Er spürt jetzt sogar schon, wenn ich seine Füße massiere«, erklärte sie lebhaft, obwohl sie sonst immer ziemlich reserviert war, wenn es um Bens Freunde ging. Bisher war sie nicht im Raum geblieben, wenn sie zu Besuch waren, was es Ben einfach gemacht hatte, sein Lügengebäude aufrechtzuhalten. Doch nun zerbrach es vor seinen Augen in tausend Stücke.

»Aha«, sagte Roland und sah Ben verärgert an.

»Wirklich?«, fragte Helena schleppend. »Das ist ja wunderbar.«

Glücklich lächelte Zita, nahm ihre Handtasche und trippelte auf ihren hochhackigen Schuhen an Helena vorbei, um Ben zu küssen, bevor sie sich von Roland und Helena verabschiedete. Sie wollte für den morgigen Silvesterabend Besorgungen machen.

Als sie weg war, stürmte Helena auf Ben ein. »Du hast es ihr nicht gesagt?«, fragte sie zischend.

»Kannst du mir mal sagen, warum sich diese arrogante Tussi für etwas Besseres hält?«, fragte Roland verärgert und tänzelte im Wohnzimmer auf ab und imitierte die typische Bewegung von Zita, wenn sie ihre Handtasche in den Ellenbogen hängte. »Was glaubt sie, wer sie ist? Die Fürstin von Dummhausen?«

»Darum geht es doch gar nicht«, erklärte Helena barsch und sah Roland böse an. »Außerdem war sie gerade ausnahmsweise ganz nett.«

E nickte, hob die Hände und sagte beschwichtigend: »Du hast recht, Liebes. Also, warum hast du es ihr nicht gesagt, Benny? Was soll dieser Blödsinn?«

Erschöpft hob Ben die Schultern. Er lag auf dem Sofa und betrachtete voller Wut den Rollstuhl, der in der Ecke des Zimmers direkt ihm gegenüberstand. Wie oft hatte er Zita schon gesagt, dass sie ihn in den Gang stellen sollte? Er wollte dieses Ding nicht ansehen.

»Irgendwann wird sie es doch eh erfahren, Kumpel«, sagte Roland und ließ sich schnaufend in den Sessel fallen. Die Beine streckte er weit aus. Es sah so einfach aus. So alltäglich. Aber für Ben war so eine Bewegung kein Alltag mehr. »Ich meine, sie ist vielleicht nicht immer die Hellste, aber selbst sie dürfte es raffen, wenn es nicht besser wird.«

»Genau«, rief Helena. »Was hast du ihr denn gesagt, dass sie glaubt, du würdest irgendwas spüren? Oder spürst du wirklich etwas?« Wieder diese Hoffnung in ihrer Stimme.

Verzweifelt schloss Ben die Augen und schüttelte gequält den Kopf. Er wollte so gerne auch daran glauben, wollte seine Beine wieder haben, aber das war vorbei. Sie waren nutzlos. Zu nichts zu gebrauchen. Ben würde sein Leben lang hier auf dem Sofa sitzen. Ohne Zita wohlgemerkt. Mit einer leisen Stimme erzählte er Helena und Roland, dass er Zita mitgeteilt hatte, dass die Reha dazu diente, seine Muskeln wieder aufzubauen.

»Du musst es ihr sagen«, sagte Roland ernst, nachdem Ben geendet hatte.

»Du kannst ja wohl schlecht zur Reha gehen, ohne ihr vorher zu erklären, was die Ärzte uns gesagt haben. Sie erwartet dann ja, dass du laufen kannst, wenn du wieder da bist«, ergänzte Helena.

»Was hindert dich daran, es ihr zu sagen?«, erkundigte Roland sich und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Warum sollte sie … ich meine, wenn sie geht, was dann?«, flüsterte Ben und biss sich auf die Lippen. »Ihr kennt sie doch. Sie ist … ich glaube nicht, dass sie mit jemanden wie mir zusammenbleiben will.«

»Die ganze Zeit habe ich dir gesagt, dass sie oberflächlich ist«, brummte Roland und drückte mit seiner Hand Bens Schulter. »Sie ist eine verwöhnte Prinzessin, nicht fähig – «

»Hör auf.« Die Stimme von Helena war ungewöhnlich scharf. Erschrocken musterte Ben sie und kniff die Augen zusammen, als Helena um den Tisch herumging und vor Ben auf die Knie ging. Sie legte ihre Hände auf seine Oberschenkel und sah ihn ernst an. »Sie ist mit dir zusammen, Benny, obwohl sie dafür einige Schwierigkeiten in Kauf nehmen musste. Denk doch einmal an ihre Eltern und wie hörig sie ihnen ist. Doch als es darum ging, ob sie dich weiterhin treffen wird, hat sie sich durchgesetzt. Warum sollte sich das jetzt ändern?«

»Mit einem dunkelhäutigen Mann zusammen zu sein, der ärmer ist als sie, ist vielleicht noch ganz cool, aber mit einem Behinderten, der so … schwach ist ...«, flüsterte Ben und schlug mit seiner Faust fest auf die nutzlosen Beine.

Fest umschloss Helena mit ihrer Hand seine Faust und schüttelte den Kopf. »Du hast überhaupt kein Vertrauen in sie. Immer wenn Roland und die anderen Jungs ihre blöden Sprüche darüber gemacht haben, dass du dir ein vornehmes Püppchen ausgesucht hast, hast du drüber gestanden, und jetzt glaubst du es selbst? Das kann nicht dein Ernst sein, Benny.«

»Sieh mich doch an«, hauchte Ben und drückte Helenas Hand, weil es der einzige Halt war, den er gerade hatte.