Tango in der Dunkelheit - Sonja Bethke-Jehle - E-Book

Tango in der Dunkelheit E-Book

Sonja Bethke-Jehle

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Beschreibung

Felix und Fiona wollen bei der Hochzeit ihrer kleinen Schwester tanzen. Es gibt nur drei Probleme: Felix ist blind und hat zwei linke Füße. Das größte Hindernis aber ist: Die beste Freundin seiner Schwester soll die Tanzlehrerin sein, allerdings hat er sich nie gut mit ihr verstanden.

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Fernando, danke für die Einblicke, die Du mir gewährt hast.

Euch, den Leserinnen und Lesern meiner Bücher, immer wieder meine Dankbarkeit!

Sonja Bethke-Jehle wurde am 07.11.1984 im Odenwald geboren und lebt heute an der Bergstraße. Das Lesen und Schreiben ist bereits seit ihrer Kindheit eine große Leidenschaft von ihr.

Mit dem ersten Teil der Umdrehungen-Trilogie veröffentlicht sie 2015 erstmals ein Buch. Ein großer Traum erfüllt sich. Die beiden Nachfolgebände, diverse Kurzgeschichten, die erfolgreiche Gesamtausgabe sowie der eigenständige Roman Kontaktaufnahme folgen. Nach Tango in der Dunkelheit sind weitere Romane und eine Anthologie geplant.

Zusätzliche Informationen zu der Autorin finden Sie im Internet unter

www.sonja-bethke-jehle.de

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Cha-Cha-Cha

Rumba

Samba

Langsamer Walzer

Salsa

Foxtrott

Paso Doble

Wiener Walzer

Tango Argentino

Quickstepp

Streetdance

Slowfox

Discofox

Blues

Danksagung

Weitere Informationen

Vorwort

Auch wenn ich keine herausragend gute Tänzerin bin, tanze ich sehr gerne, zunächst als Jugendliche, später nach einer langen Unterbrechung auch mit meinem Mann. Die Kombination aus körperlicher Bewegung, Musik und der Tatsache, dass man gemeinsam etwas erarbeitet und erlernt, fasziniert mich dabei vermutlich am meisten.

Nachdem ich die Umdrehungen-Trilogie beendet hatte, bestärkten mich viele Menschen darin, auch weiterhin über Behinderungen zu schreiben. So kam ich auf die Idee, mich dem Thema Blindheit zu widmen, doch wollte ich nicht einfach nur ein Buch über eine blinde Person schreiben, ich wollte eine Geschichte aus der Perspektive einer blinden Person schreiben. Das ist das Besondere an diesem Buch.

Ihr werdet hier Beschreibungen finden, wie die Stimme einer Person klingt, wie die Umgebung riecht, welche Geräusche auszumachen sind, nicht jedoch, wie der Raum oder die agierenden Charaktere aussehen. Das Aussehen seiner Mitmenschen muss sich mein Protagonist erst erfragen. Das war nicht immer leicht, stellte für mich aber eine besondere Übung dar.

Ich besuchte als Vorbereitung für diesen Roman das Dialogmuseum in Frankfurt (sehr zu empfehlen!), versuchte mich blind in der Wohnung zurechtzufinden und ließ mich in einem Dunkelrestaurant verköstigen. Alles wertvolle Erfahrungen.

Auch hilfreich war meine Begegnung mit Fernando, der eine frühe Version des Manuskripts gelesen hat und mir Einblicke in sein dunkles Alltagsleben gewehrt hat. Durch ihn konnte ich sehr viele Vorurteile meinerseits ablegen. Anfangs war ich zwar noch erstaunt, als er mir ein Worddokument mit Markierungen und Kommentaren zurückschickte, inzwischen weiß ich, dass blinde Menschen am Computer arbeiten, mit dem Zug fahren, TV schauen und arbeiten gehen.

Danke für Deine Hilfe!

Euch lieben Leserinnen und Lesern wünsche ich viel Spaß mit Felix und Lena. Eure Begeisterung für Ben und Zita hat auch dazu geführt, dass die beiden nun endlich das Licht der Welt erblicken können.

Vielleicht wird dem einen oder anderen die Augen geöffnet, so wie es mir während des Schreibprozesses passierte, denn manchmal sehen wir nur sehr wenig, obwohl wir dazu in der Lage sein könnten.

Eure Sonja.

Cha-Cha-Cha

An den Autogeräuschen im Hintergrund erkannte Felix, dass sie an einer Hauptstraße waren. Sie liefen auf einem Bürgersteig. Rechts von ihm spürte er einen kleinen Temperaturunterschied auf der Haut, also liefen sie wohl teilweise im Schatten.

»Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob das so eine gute Idee ist. Sind wir da?« Felix spürte Fionas warme Finger auf seiner Hand und atmete erleichtert aus, als sie auf einen kühlen Gegenstand gelegt wurde. Das Treppengeländer.

»Wir sind gleich da. Warte – vier, nein, drei Treppenstufen«, antwortete Fiona routiniert und trat neben ihn.

Felix hatte kein gutes Gefühl, während er die Treppenstufen hinaufstieg. Zunächst war er begeistert gewesen, als Fiona ihm von Lars‘ Angebot erzählt hatte, ihnen beiden das Tanzen beizubringen. Er war ein ehemaliger Schulkamerad von Fiona und seit der Jugend leidenschaftlicher Tänzer. Warum also nicht? Felix war davon ausgegangen, dass Lars alleine bei den Unterrichtsstunden sein würde.

Doch dann hatte Lars Fiona erklärt, dass er sich das nicht zutrauen würde. Ohne eine geübte Tanzpartnerin würde er niemandem das Tanzen beibringen können – schon gar nicht Felix. Es bräuchte eine Frau, die Felix am praktischen Beispiel zeigen könnte, wie man tanzt. Immerhin könne er ja nicht sehen, wie er mit Fiona die Figuren vortanzte. Also müsse er mit jemandem tanzen, der auch den Damenschritt beherrsche.

Die Sache war Felix unangenehm, besonders weil Lars zwar nie sagte, dass er seine Blindheit als Schwierigkeit ansah, es aber immer wieder andeutete. Außerdem mochte er die Tanzpartnerin nicht, die Lars für ihn ausgesucht hatte.

»Macht keiner auf«, murmelte Fiona.

»Dann können wir ja wieder heimgehen«, schlug Felix vor und spürte Erleichterung in sich aufsteigen.

»Ich klingel noch mal«, teilte Fiona ihm energisch mit.

Frustriert schob sich Felix eine Haarsträhne hinter das Ohr. Ein heftiger Wind trieb ihm ständig die Haarspitzen ins Gesicht, und das nervte sehr. Ihn nervten auch die Kinder, die irgendwo hinter dem Haus mit einem Ball spielten und dabei einen Lärm veranstalteten, wie – Felix fiel kein Vergleich ein. Jedenfalls waren sie laut.

Wenn Felix ehrlich zu sich wäre, würde er zugeben, dass weder der Wind noch die Geräusche der Kinder sein Problem waren, sondern das, was ihn hier erwartete.

»Also – ist keiner zu Hause?«, fragte Felix ungeduldig und hielt sich weiterhin am Treppengeländer fest. Solange er im vertrauten Terrain war, hielt er sich nie irgendwo fest. Doch dieser Ort war ihm unbekannt, außerdem war er nervös.

»Es wird bestimmt gleich einer aufmachen«, antwortete Fiona. Sie klingelte erneut. »Und sei nicht so miesepetrig. Wir tun es für Flavia.« Kurz schwieg sie, dann hakte sie nach: »Oder?«

Missmutig seufzte Felix auf und wollte gerade etwas erwidern, als die Tür tatsächlich geöffnet wurde.

»Ihr seid es«, sagte eine Männerstimme. »Kommt rein.«

Bevor Felix eintreten konnte, beugte sich Fiona vor, und Felix hörte das typische Geräusch, das entstand, wenn sich jemand umarmte und auf die Wange küsste.

»Hallo, Felix«, begrüßte Lars ihn dann freundlich und gab ihm die Hand. Felix atmete erleichtert aus, denn Lars hatte nicht lange gezögert, sondern einfach seine Hand gepackt, ohne ihm den Moment der Unsicherheit zu geben, seine Hand durch Tasten suchen zu müssen. »Geht ihr den Flur hinunter? Lena ist schon im Wohnzimmer.«

»Machen wir euch auch wirklich keine Umstände?«, fragte Felix und ertastete Fionas Ellenbogen, um sich einzuhaken. Es gab nur wenige Menschen, die ihn führen durften. Fiona gehörte dazu. Sie war nicht nur seine Schwester, sondern ebenso seine Gefährtin. Auch wenn sie zu der Zeit ihr eigenes Trauma hatte bewältigen müssen, war Fiona diejenige gewesen, die in erster Linie sein Halt in den grauenhaften, orientierungslosen Wochen am Anfang der Dunkelheit gewesen war. Sie hatte ihm geholfen, wieder Mut zu fassen.

»Ach nein, natürlich nicht«, erwiderte Lars irgendwo hinter ihm.

»Doch, sicherlich ist das so, aber wir tun euch den Gefallen«, erklang eine spöttische Stimme vom anderen Ende des Flurs, und das Lachen, das daraufhin folgte, klang nicht freundlich, sondern überheblich.

Obwohl er ihre Stimme seit Ewigkeiten nicht mehr gehört hatte, erkannte Felix Lena sofort wieder. Das letzte Mal, als er ihr, ihrer Stimme und ihrem Lachen begegnet war, hatte er noch sehen können, und sie waren alle jünger gewesen. Das Hören war ihm damals noch unwichtig erschienen. Lena war während der Schulzeit die beste Freundin seiner Schwester gewesen. Er hatte sie noch nie gemocht, und er wusste, dass das auf Gegenseitigkeit beruhte. »Ich sehe, eure Freundin ist immer noch eine Ausgeburt an Sympathie«, kommentierte Felix trocken und drehte sich ein wenig nach hinten, weil er dort Lars vermutete.

»Sie meint es nicht so«, korrigierte Lars eilig und lachte nervös. Seine Stimme klang viel zu hoch und zitterte ein wenig. »Es macht uns wirklich keine Umstände.«

»Wieso sollten wir nicht ehrlich sein, Lars? Wir tun ihnen gerne diesen Gefallen, aber dass es uns keine Umstände macht, würde ich jetzt nicht behaupten.« Lenas Stimme klang nun näher. Felix stieg der Geruch nach Frauenparfüm in die Nase, das nicht Fiona gehörte. »Hallo, Fiona. Hallo, Felix.« Ein fester Händedruck.

Erschrocken zuckte Felix zusammen, da er nicht damit gerechnet hatte, dass Lena schon so nahe war. Außerdem war er davon ausgegangen, dass Lena zunächst seine Schwester umarmen würde. Er mochte es nicht, wenn er so überrumpelt wurde. Ein wenig verärgert drückte er Lenas Hand und ließ sie dann eilig los. Er meinte, Vanille und Zitrone zu riechen. Es war nur unterschwellig erahnbar unter dem Frauenparfüm. Ob das von Lena kam, oder hatte Lars Kuchen gebacken? Eigentlich konnte sich Felix nicht vorstellen, dass Lena nach Kuchen roch. Andererseits war es ebenfalls schwer vorstellbar, dass Lars backte.

»Ich bin gespannt auf das Experiment«, fügte Lena hinzu.

»Wir auch.« Fiona drückte Felix' Ellenbogen. Es war Felix nicht ganz klar, ob das eine tröstende Berührung sein sollte oder eher eine Warnung davor, sich nicht mit Lena anzulegen. Vermutlich zweites.

Dann hörte er wieder das typische Geräusch von raschelnder Kleidung. Jemand lief an ihm vorbei, aber er hatte keine Ahnung, ob es Lars oder Lena war.

Nein, er war überhaupt nicht begeistert gewesen, als Fiona ihm von Lars‘ Vorschlag erzählt hatte, Lena bei dem Tanzunterricht hinzuzunehmen. Lena hatte laut Lars schon als Jugendliche sehr gut tanzen können. Nun, Felix zweifelte nicht daran, dass Lena eine gute Tänzerin war. Aber er war sich nicht sicher, ob sie auch eine gute Lehrerin war, vor allem, wenn man an die besondere Situation dachte, in der Felix und Fiona steckten, und die Vergangenheit, die sie alle verband.

»Es ist kein Experiment. Wir wollen es lernen, um auf der Hochzeit unserer jüngeren Schwester zu tanzen. Nichts anderes ist das hier«, betonte Felix und ärgerte sich über sich selber, als er merkte, dass sich seine Stimme ebenfalls zu hoch anhörte.

»Meine Güte. Musst du immer so verdammt theatralisch sein, Felix?«, kommentierte Lena amüsiert.

Behutsam teilte Fiona ihm durch eine kleine Bewegung am Arm mit, dass sie nun weiterlaufen würde, und Felix ließ sich von ihr weiter in die Wohnung hineinführen, auch wenn ihn das hilflos erscheinen ließ. Aber wenn er sich wehrte und alleine herumstolperte, würde das seinen Eindruck nicht unbedingt verbessern. Es war ihm nicht möglich, Lena zu antworten. Laufen und Reden gleichzeitig ging bei ihm zu Hause, aber nicht in Lars' Wohnung, die er noch nie betreten hatte, selbst wenn er jetzt an Fiona klebte.

»Wir haben die Möbel zur Seite geschoben«, informierte Lars eifrig. »Es ist also Platz genug.«

Platz war wichtig. Keinesfalls wollte Felix sich die Blöße geben, irgendetwas zu zertrümmern, nur weil er dagegen lief. Besonders nicht, wenn Lena zusah, die in seiner Erblindung bestimmt eine Schwäche sah.

»Rechts von dir steht ein Wohnzimmerschrank, links ein Sofa und zwei Sessel«, murmelte Fiona in sein Ohr und führte ihn etwas weiter in den Raum. Sie ignorierte sowohl Lars als auch Lena, die ebenfalls in den Raum kamen, und nahm sich die Zeit, Felix eine kleine Orientierungshilfe zu geben. »Kein Teppich. Keine Vasen. Keine Gegenstände auf dem Boden. Lars hat alles freigeräumt.«

»Wie groß?«, fragte Felix leise und zog seine Hand unter Fionas Arm hervor. Er versuchte, irgendein Geräusch wahrzunehmen, das im Raum immer an der gleichen Stelle sein würde, und das Ticken einer Uhr war schnell gefunden. Das konnte er als Orientierungspunkt nehmen. Erleichtert atmete er ein. Nur selten war er in fremden Wohnzimmern, da er sich meist bei sich zu Hause, bei Fiona und ihrem Mann oder bei seinen Großeltern aufhielt. In seiner Arbeit kannte er sich ebenso gut aus. Und selbst wenn er mal irgendwo war, wo er selten oder noch nie gewesen war, trug er meist seinen Blindenstock bei sich. Doch der würde ihm beim Tanzen hinderlich sein, also hatte er ihn zu Hause gelassen. Für den Blindenstock schämte er sich seit Jahren nicht mehr, auch wenn er wusste, dass die Menschen ihm hinterherstarrten. Jetzt, wo er Lena ausgeliefert war, störte es ihn plötzlich, Hilflosigkeit zu präsentieren. Etwas, was Lena nicht zum ersten Mal verspotten würde. Aber warum war es ihm so wichtig, was sie von ihm dachte?

Er musste auf Fiona vertrauen und seine vorhandenen Sinnesorgane nutzen. Ihm blieb sonst nichts anderes übrig. Es war sein großer Wunsch, tanzen zu lernen und zusammen mit Fiona ihre Eltern auf Flavias Hochzeit würdig zu vertreten.

»So 4 x 8 Meter etwa. Es ist genug Platz da«, fügte Fiona beruhigend hinzu und strich ihm kurz über den Rücken.

Gequält verzog Felix das Gesicht und fragte sich, ob er nicht doch besser nach Hause gehen sollte. Es war bereits eine große Herausforderung, tanzen zu lernen, ohne etwas zu sehen, aber das alles wurde noch schrecklicher, da ausgerechnet Lena ihm das beibringen musste. Vielleicht könnten sie jemand anderen finden? Jemand, der sich nicht über Felix lustig machen würde?

Sicher, seit ihrer Schulzeit waren mehr als 15 Jahre vergangen. Es wäre albern, so zu tun, als seien sie noch Kinder. Sie waren erwachsen, und er war ja nicht alleine mit Lena im Raum. Lars hatte er früher gerne gemocht, und auch seine Stimme klang sympathisch. Also musste er doch nichts befürchten?

Dennoch … Er wollte einfach nicht als Schwächling vor Lena dastehen. Doch … Warum eigentlich nicht? Was war an Lena schon so wichtig? Was wollte er Lena denn beweisen?

»Kennt ihr den Cha-Cha-Cha?«, erkundigte sich Lars neugierig, und Felix hatte keine Zeit mehr, darüber nachzudenken, ob er lieber fliehen wollte. Es ging jetzt los.

»Nein«, antwortete Fiona. Sie stand immer noch neben Felix, aber sie berührten einander nicht mehr. Er konnte ihren Duft nach Sommerblumen wahrnehmen und das war für den Moment genug Orientierung. Mit Sicherheit würde Felix nicht damit anfangen, sich an seine Schwester zu klammern, nur weil er Angst hatte, dass er wie ein Idiot gegen eine Wand lief.

Fiona hatte ihm gesagt, wie groß der Raum war. Und er war sich sicher, dass sie ihn genau in die Mitte geführt hatte, so wie sie es zu Hause abgemacht hatten. »Aber du warst doch auch mit uns im Tanzkurs«, meinte Lars erstaunt. »Du musst doch wenigstens den Grundschritt kennen.«

Fiona hob die Schultern, zumindest glaubte Felix das aufgrund der zarten Bewegung an seiner Seite. »Ich kann mich gar nicht mehr erinnern.«

»Und du, Felix? Warst du im Tanzunterricht?«, fragte Lars.

»Ich glaube nicht, dass er lange genug von seinem Computer weggekommen ist, um einen Tanzkurs zu besuchen«, spottete Lena.

Hatte sich diese Frau in den letzten Jahren gar nicht verändert? Wollte sie nicht endlich auch mal erwachsen werden? Wohl wissend, dass Lena es nicht sah, da er seine Sonnenbrille trug, verdrehte Felix die Augen.

»Jetzt sei doch mal freundlich«, zischte Lars und klang dabei wirklich empört.

»Ich bin doch freundlich, ich sag nur wie es ist und red nicht drum herum«, erwiderte Lena und klang dabei tatsächlich nett und etwas erstaunt.

Aus irgendeinem Grund musste Felix plötzlich lachen. Irgendwie hatte sie ja auch recht. Er hatte während seiner Jugend viel zu viel vor dem Computer gesessen und hockte auch jetzt noch viel zu lange davor.

»Ich habe den Grundkurs gemacht, aber ich habe dann irgendwann aufgehört«, berichtete Fiona, vielleicht um von der Diskussion abzulenken. »Meine Eltern haben den Kursbeitrag nicht mehr gezahlt, nachdem ich in Chemie eine 5 geschrieben habe.«

»Oh, das wusste ich nicht mehr. Du hast wirklich eine 5 geschrieben?«, fragte Felix und griff nun doch wieder nach Fionas Arm. Allerdings nicht, weil er ihre Hilfe brauchte, sondern weil er ihr Trost anbieten wollte. Ihre Eltern waren schon so lange tot, aber der Verlust machte ihnen manchmal immer noch zu schaffen.

Doch Fionas Stimme klang nicht sehr traurig, während sie erzählte: »Ich war halt verliebt und dachte, Schule sei nicht wichtig. Habe einfach nicht gelernt und die 5 in Kauf genommen.« Lachend drückte sie Felix' Hand.

Vielleicht waren sie wegen des Todes ihrer Eltern so eng miteinander verbunden. Der körperliche Kontakt zwischen den Geschwistern war für Außenstehende vermutlich eher befremdlich, doch sie hatten viel miteinander erlebt und Felix‘ Erblindung erforderte manchmal sogar Körperkontakt.

Es war Felix nicht mehr möglich, ihre Gesten und ihre Mimik zu sehen, aber er konnte spüren, wenn sie mit ihrer Hand an ihm zupfte, ihn drückte und streichelte.

»Das war dieser Mirco, oder?«, fragte Lars. Er musste sich ein wenig durch das Zimmer bewegt haben, denn er stand nicht mehr vor Felix, sondern seitlich zu ihm.

Fiona zuckte die Achseln, zumindest vermutete Felix das, da sich der Arm, den er immer noch umfasste, leicht nach oben bewegte. »Ich hatte zu dieser Zeit generell keine Lust, viel für die Schule zu tun. Ganz im Gegensatz zu Felix.«

»Na ja, ich hatte aber nur bei bestimmten Fächern Lust zu lernen«, protestierte Felix. Er hoffte, dass man ihm seinen Ärger nicht ansah, aber warum schlug Fiona jetzt in die gleiche Kerbe und stellte ihn als Streber dar? »Ich hatte viel Spaß am Programmieren, aber ich habe auch viel Zeit mit Zocken verbracht und deswegen einige schlechte Noten eingefahren.«

Ob ihn das besser dastehen ließ, bezweifelte er. Er hoffte, niemand würde es kommentieren.

Schon wieder Kleiderrascheln. Einer lief im Raum umher. Lena? Lars? Solange sie schwiegen, konnte Felix nicht erahnen, wo sie waren.

»Also«, meinte Lars dann schließlich. Er schien nicht derjenige gewesen zu sein, der sich durch den Raum bewegt hatte. Dann also Lena.

»Ja, also?«, fragte Felix, weil Lars nicht weiterredete.

»Lena und ich planen, mit dem Cha-Cha-Cha anzufangen. Eigentlich ist er ziemlich einfach. Was meint ihr?« Lars klang unsicher.

»Ihr werdet es wohl am besten wissen«, murmelte Felix. Wo war Lena? Wieso sagte sie nichts? Befand sie sich überhaupt noch im Zimmer?

»Der Cha-Cha-Cha kommt aus Kuba und hat einen sehr leichten Grundschritt. Am besten stellt ihr euch einfach mal in die Grundstellung. Also einander gegenüber«, fuhr Lars fort.

Das war einfach. Lächelnd drehte Felix sich zu Fiona um.

»Und jetzt nehmt ihr eure Hände und haltet sie hoch, und den Arm schiebt ihr … Nein, Fiona, den anderen Arm. Nein, nein, das ist nicht richtig … Kannst du dich wirklich an gar nichts mehr erinnern? Ihr müsst doch wenigstens die Grundhaltung kennen. Schaut doch mal her …« Lars brach ab. Rascheln von Stoff. Er lief. Oder lief Lena? »Oh«, meinte er schließlich nach einer Sekunde. »Das ist schwerer, als ich dachte. Wir können es euch ja nicht zeigen. Fiona, geh’ mal etwas zur Seite.«

Verlegen räusperte sich Felix. Es war also schwieriger, als Lars geahnt hatte? Was hatte er sich dabei nur gedacht, sich das zuzutrauen? Warum hatte er Fiona zugesagt, als diese bei ihm angefragt hatte?

Vielleicht würde Felix nicht auf der Hochzeit seiner jüngeren Schwester tanzen. Was war schon dabei? Fiona und ihr Mann würden ein wundervolles Paar auf der Tanzfläche abgegeben, dessen war er sich sicher. Weder Flavia noch ihr Verlobter würden es ihm übelnehmen, wenn er nicht auf ihrer Hochzeit tanzte.

Erneut überlegte er, dass es ein Fehler gewesen war mitzukommen.

»Wie soll das funktionieren?«, fragte Lena plötzlich von links. Scheinbar hatte sie einen Drang dazu, sich lautlos im Raum zu bewegen. »Wenn wir bereits jetzt Schwierigkeiten haben? Wie können wir ihm das Tanzen beibringen? Wie hast du dir das vorgestellt, Lars?«

»Du hast es doch noch nicht einmal versucht«, erwiderte Fiona verärgert. Sie stand nicht mehr vor Felix, sondern schräg neben ihm.

»Ich bezweifle eben, dass es klappt«, entgegnete Lena. »Du wirst dich daran gewöhnen müssen, dass ich immer noch ehrlich bin, Fiona. Ich bin nicht sehr gut darin, gefühlsduselig oder mitleidig zu sein. Das müsstest du doch wissen.«

»Das hat auch niemand von dir verlangt«, fauchte Felix und erntete dafür von jemandem einen Stoß in die Rippen. Vermutlich Fiona, weil Lars sicher zu höflich war, um Gewalt anzuwenden. »Ich will kein Mitleid, okay?«

»Es war mir klar, dass du kein Mitleid möchtest«, entgegnete Lena kühl. »Aber sei dir bewusst, dass ich dich nicht besonders behandeln werde. Diese Art von Rücksichtnahme kannst du dir in die Haare schmieren, wenn du mit mir zusammenarbeiten willst.«

»Ja, wir wissen, dass du ein rücksichtsloses, egoistisches Arschloch bist«, erwiderte Felix und schüttelte empört den Kopf. Hatte er nicht gleich geahnt, dass es nicht gut gehen würde? Sie brachte ihn ja jetzt schon auf die Palme, obwohl sie nicht mal angefangen hatten.

»Verdammt, Felix.« Fiona stöhnte. »Wie kannst du nur solche Worte in den Mund nehmen und dann verlangen, dass jeder andere höflich ist?«

»Rücksichtsloser, egoistischer Esel«, korrigierte Felix sich schnell.

»Gut.« Das war die Stimme von Lena, und jetzt klang sie nicht mehr so spöttisch, sondern eher zufrieden. »Das wollte ich nur noch einmal klarstellen.«

»Hast du«, entgegnete Felix ihr schnippisch.

»Seid nicht so kindisch«, fauchte Lars plötzlich. »Ihr seid keine pubertären Teenies mehr.«

Verlegen räusperte Felix sich. »Wir können auch jemanden fragen, der mehr Geduld hat«, schlug er vor. »Lena hat wahrscheinlich für so etwas keine Zeit, weil sie für irgendein schwarzmagisches Ritual ein Huhn opfern muss.«

»Echt witzig, Felix, wirklich echt witzig«, kommentierte Lena sarkastisch. »Wie wir ja von früher wissen, warst du noch nie eine Humorkanone.«

»Das wird schon«, meinte Lars resolut, schnappte sich plötzlich Felix' Hand und tippte ein seltsames Muster auf deren Innenfläche. »In Ordnung?«, erkundigte er sich nach zwei Sekunden.

»Häh?« Verwirrt runzelte Felix die Stirn.

»Das sind die Schritte. Meine Finger sind die Füße. Diese Strategie habe ich mir nämlich überlegt«, erklärte Lars erfreut. »Das ist so einfach. Vor, seitwärts, Cha-Cha-Cha, rück, seitwärts, Cha-Cha-Cha.«

»Das kapiert er doch nicht«, kommentierte Lena die Versuche ihres Kumpels. »Er kann das ja nicht einmal sehen.«

»Er kann es aber fühlen«, zischte Lars und bohrte seine Finger in Felix' Fleisch.

Entsetzt riss Felix die Hand aus seiner Umklammerung. »Ich kann es fühlen«, betonte er und rieb sich die Handinnenfläche. »Sehr sogar.«

»Jetzt tanzt einfach. Lena, zeig ihm, wie die Grundhaltung geht«, bat Lars und ergriff erneut Felix' Hand. Er zog ihn etwas zur Seite.

»Ich tanze doch mit Fiona, oder?«, fragte Felix beunruhigt.

»Ja, nur jetzt kurz mit Lena.« Lars drängte ihn nach vorne, und Felix blieb nichts anderes übrig, als ihm zu vertrauen. Lars schnappte sich seine Hand und zog sie zu Lenas Fingern. Sie waren kalt. Sehr kalt. »So, deine linke, ihre rechte Hand. In Ordnung? Okay, deine linke Hand auf ihren Rücken.«

Gehorchend schob Felix seine Hand auf Lenas Rücken. Sie musste eine Bluse tragen, denn der Stoff fühlte sich dünn an. Er konnte die Kontur ihrer Knochen spüren und überlegte, dass sie vermutlich immer noch genauso dünn war wie damals als Jugendliche. Es fühlte sich gar nicht so schlecht an, solange Lena und er noch stehen bleiben konnten. Sie hielt ihn mit der rechten Hand fest und ihre linke ruhte auf seiner Schulter, was ihm weitere Sicherheit gab. Leider war er überzeugt, dass er diese Sicherheit später verlieren würde, wenn die Figuren hinzukämen.

»Höher, Felix«, kommentierte Lena. »Als ob du mir den BH aufmachen wolltest. Jetzt sei nicht so ein schüchterner Nerd.«

»Lena, du bist überhaupt nicht hilfreich«, regte Lars sich auf. »Und du, Fiona, schau gefälligst zu. Die Zeitschrift kannst du später noch lesen.« Er seufzte, und Felix musste grinsen, da die Situation total absurd war. »Also«, wandte Lars sich wieder an ihn, »wir fangen mit einem Cha-Cha-Cha an. Du gehst nach rechts und nach hinten und dann Cha-Cha-Cha.«

»Verdammt!«, rief Lena.

»Ich bin dir auf den Fuß getreten.« Enttäuscht schüttelte Felix den Kopf und ließ sie los. »Ich glaube nicht, dass ich das lernen kann. Fiona, vielleicht solltest du doch mit Philipp tanzen.«

»Nein, Felix, Flavia ist unsere kleine Schwester«, protestierte Fiona. »Du solltest tanzen. Zusammen mit mir. Wir waren die beiden Menschen, die Flavia hauptsächlich durch ihre Jugend begleitet haben. Philipp kam doch erst dazu, als Flavia schon studiert hat.«

»Es gibt Grenzen für mich«, erwiderte Felix empört. Zwar wünschte er sich, er müsste diese Diskussion nicht vor Lena und Lars führen, aber es war die Wahrheit, und das wollte er klarstellen. Er konnte nicht mehr alles tun, was er gerne wollte. Es war sinnlos, ständig dagegen ankämpfen zu wollen.

»Jetzt mach nicht so ein Drama draus, Felix. Wir sind alle deswegen hergekommen, dann können wir es auch versuchen«, meinte Lena streng.

Felix fiel auf, dass er immer noch ihre Hand hielt. Verlegen löste er sie, doch sie presste ihre Finger auf seine Handfläche.

»Deine Grenzen hättest du vorher abstecken müssen. Jetzt hast du Pech gehabt«, fügte sie unbarmherzig hinzu.

»Lass es uns versuchen«, bat auch Fiona. Ihre Stimme kam von hinten.

Felix fand es schrecklich irritierend, mit drei anderen Menschen im Raum zu sein, die sich ständig bewegten. Meist saß er mit seinen Freunden an einem Tisch, und niemand lief hin und her.

»Lars, mach schon. Gib ihm die Bewegung vor.« Lena klang ungeduldig. Erneut bezweifelte Felix, ob Lena überhaupt eine gute Lehrerin sein konnte. Dann stockte ihm der Atem, da er eine Hand an seiner Taille spürte. Es musste Lars' Hand sein, denn die Person, die hinter ihm stand, roch nicht nach seiner Schwester, und Lena stand immer noch vor ihm und berührte ihn an der Schulter und der Hand.

»Lars steht jetzt hinter dir und wird dir helfen, mit mir zu tanzen, ja?«, erklärte Lena. Sie begann sich zu bewegen, aber Felix wusste nicht, wohin er gehen sollte.

»Seitlich, oder wie?«, fragte er verunsichert. Das war ihm alles so peinlich.

»Lars führt dich, du führst mich«, sagte Lena leise. Dann verfestigte sie den Druck ihrer Hand auf Felix' Schulter und packte seine Hand mit ihrer anderen. Ihre Hand war klein und schmal. Warum war ihre Haut so kühl? Sie musste entsetzlich frieren. »Lass dich führen, Felix. Entspann dich. Einfach nicht zu viel nachdenken. Tanzen ist ein wenig intuitiv und nicht so mathematisch, wie du es gerne hättest.«

Schnell nickte Felix, biss sich auf die Lippen und versuchte, mit Lars‘ Bewegung mitzukommen.

»Klappt doch«, meinte Lars, und Felix wünschte sich, er würde dabei nicht so überrascht klingen. »Ich gebe die Schritte vor, und so kannst du Lena führen.«

Motiviert befolgte Felix Lenas Rat und hörte auf zu denken. Er stand zwischen Lena und Lars, und sie gaben ihm Halt durch ihre Hände. Es war nicht so schwer, Lars‘ Bewegungen zu folgen und sie an Lena weiterzugeben. Und mit der Zeit fühlte sich der Grundschritt gewohnt an und nicht mehr so fremd.

»Das ist der Cha-Cha-Cha«, meinte Lena schließlich, und als sie lachte und sich vorbeugte, bemerkte Felix, dass sie richtig gut roch. Tatsächlich irgendetwas mit Vanille.

»Super«, lobte Lars.

»Das sieht wirklich toll aus«, fügte Fiona hinzu.

Er tanzte. Etwas, was er nie hatte tun wollen und was nach seiner Erblindung für ihn unmöglich geworden war. So zumindest hatte er vor zehn Jahren gedacht. Damals war ihm vieles unerreichbar vorgekommen. Doch Stück für Stück hatte Felix sich seine Selbstständigkeit zurückerobert. Es gab Dinge, die er niemals lernen würde. Dinge, die er niemals wieder tun könnte. Das Tanzen allerdings schien nicht dazuzugehören. Denn das würde er lernen. Felix konnte nicht verhindern, dass er sich ein wenig stolz fühlte.

»Nun ja«, meinte Lena eilig. »Es ist nur der Grundschritt. Und auf der Hochzeit wird er uns beide nicht mehr dabei haben. Ich finde nicht, dass es sehr gut ist.«

Felix versuchte, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Das war Lena. Was hatte er denn erwartet?

Rumba

»Fiona, du tanzt viel zu dominant«, sagte Lena genervt. Schon seit einer Stunde moserte sie herum und betonte immer wieder, Fiona würde Felix zu viel führen und mehr helfen, als notwendig war.

»Ist das so wichtig, dass er führt? Wir gehen doch nicht zu einem Turnier«, protestierte Fiona und zerrte weiter an Felix, welcher eifrig seine Schritte machte.

»Du bist die Frau, er ist der Mann. Es sieht nicht gut aus, wenn du führst«, erläuterte Lena streng.

Stöhnend blieb Fiona stehen und ließ Felix los. »Hast du vergessen, dass wir nur in einem privaten Rahmen tanzen wollen?«, fragte sie laut. Erneut nahm sie Felix' Hand in ihre, und Felix erkannte daran, dass sie wieder bereit war, in die Tanzhaltung zu gehen. Doch ihr leichtes Zittern verriet ihm auch, dass sie innerlich sehr aufgewühlt war.

Schützend zog er sie etwas näher zu sich. Die ständigen Bemerkungen von Lena waren wirklich nervtötend, aber einige entsprachen der Wahrheit. Fiona glaubte, durch ihren dominanten Führungsstil seine Blindheit zu kompensieren, aber er konnte sich vorstellen, dass das einfach scheiße aussah. Lena versteckte in ihrer Kritik häufig ein wenig Humor. Zu Felix' Erstaunen konnte er manchmal ein Grinsen nicht verhindern.

»Du übertreibst es, Fiona. Lass ihm seine Männlichkeit«, begann Lena erneut.

»Meinst du nicht, so etwas kann man später noch korrigieren?«, fragte Lars vorsichtig. »Lass ihn doch erstmal Sicherheit bekommen.«

Nun war es Felix wirklich zu blöd. Ruckartig drehte er sich in die Richtung, in der Lars und Lena standen, und fauchte: »Hört auf, über mich zu reden, als wäre ich gar nicht da.«

»Sei nicht so laut«, zischte Fiona. »Wir sind hier Gäste, Felix.«

»Felix, sei nicht empfindlich«, antwortete Lena prompt. »Du brauchst meine Kritik an deinem Tanzstil nicht immer so persönlich nehmen.«

»Sei nicht so streng mit den beiden«, schnaubte Lars. »Ich meine, so übel ist es doch gar nicht.«

»Tanzen«, bat Fiona leise und zog Felix zu sich. »Bitte«, fügte sie mit heiserer Stimme hinzu.

Wütend biss Felix seine Zähne fest zusammen und begann den Cha-Cha-Cha erneut. Nach dem zweiten Grundschritt hob er seinen linken Arm leicht nach oben; Fiona erkannte sein Signal sofort und drehte sich in seinem Arm um ihre eigene Achse. Ihre erste Figur, die sie tanzten. Felix war so stolz gewesen, als sie das erste Mal geklappt hatte.

»Siehst du«, rief Lena, und Triumph war ihrer Stimme anzuhören. »Er führt nicht. Fiona behält ständig die Kontrolle.«

Sofort blieb Fiona stehen und ließ Felix erneut los. Zwar hasste Felix es, wenn sie das tat, doch er konnte auch verstehen, dass sie erbost war. »Ich mache doch gar nichts«, betonte sie hitzig.

Frustriert schüttelte Felix den Kopf. »Lena, du hast doch gesagt, dass wir ehrlich miteinander umgehen sollen, oder? Also können wir es auch ansprechen. Warum kritisierst du Fiona, obwohl ich das Problem darstelle, beziehungsweise meine Behinderung?«

»Du bist nicht das Problem«, protestierte Fiona laut. »Sie ist das Problem und zwar ein …«

Hastig unterbrach Felix seine Schwester und fuhr fort: »Ich bin blind und kann Fiona nicht richtig führen. Ich bin darauf angewiesen, dass sie mich führt. So einfach ist das. Los, Fiona, lass uns weitermachen.« Verärgert griff Felix nach Fionas Hand, erwischte sie aber erst beim zweiten Mal richtig und zog sie am Handgelenk zu sich.

»Nein, Felix.« Lenas Stimme klang nah, viel näher als zuvor. Wahrscheinlich hatte sie sich mit ihrer bescheuerten, schleichenden Art durch den Raum bewegt.

Am liebsten wäre es Felix gewesen, wenn Lena und Lars sich auf zwei Stühle setzen und sich nicht wegbewegen würden, während Fiona und er vortanzten. Es war ihm einfach zu mühsam, sich ständig umzuorientieren.

»Was, nein?«, fragte Felix gereizt. »Sprichst du inzwischen nicht mehr in ganzen Sätzen? Komm schon, Fio.« Seufzend packte er ihre Hand fester.

»Nein, Felix, das sehe ich einfach nicht ein. Du hast dich dazu entschlossen, trotz deiner Blindheit zu tanzen. Gut. Dann mach es aber auch richtig.« Der Stimme nach zu urteilen lief Lena um sie herum. Vielleicht hoffte sie, so mehr Fehler entdecken zu können.

Lars seufzte. »Mensch, Lena! Das sind kleine Mängel. Hauptsache sie können überhaupt tanzen. Sei nicht so streng.«

»Tanz jetzt«, knurrte Felix, als Fiona wiederholt stehen blieb. Ganz dringend wollte er tanzen und nicht mehr länger Lenas schnarrender Stimme zuhören. Hatte er nicht von Anfang an gewusst, dass Lena eine miserable Lehrerin darstellen würde?

»Du weißt, dass ich kein besonders konservativer Mensch bin, Lars. Aber was das Tanzen angeht, bin ich anderer Meinung. Hier muss es konservativ zugehen. Das heißt, dass eine Frau und ein Mann zusammen zu tanzen haben, und der Mann hat dabei zu führen. Ganz egal, ob er blind oder taub oder blöd ist«, meinte Lena erbost.

Ihre Stimme kam schon wieder aus einer anderen Richtung. Scheinbar war es der Idiotin nicht möglich, einfach mal irgendwo stehen zu bleiben.

Dann sickerte Felix eine andere Erkenntnis in den Kopf. Sie hatte ihn als dumm bezeichnet, oder es zumindest angedeutet. Er räusperte sich, um etwas zu sagen, aber Fiona und Lars kamen ihm zuvor.

»Und diese Regel kennt keine Ausnahme?«, fragte Lars.

Fast gleichzeitig betonte Fiona: »Du hast wirklich keine Ahnung, Lena. Überhaupt keine Ahnung.«

»Lasst doch Felix mal sprechen.« Lena klang schnippisch.

Felix zuckte zusammen und spürte, wie das Blut in seine Wangen schoss.

»Ich halte mich raus«, meinte er eilig. Zwar ging es um ihn, aber er wusste, dass es egal war, was er sagen würde.

»Schade.« Lena seufzte.

Anscheinend legte sie plötzlich Wert auf seine Meinung, und das war etwas, was Felix' schlechte Laune sofort vertrieb. Nur in letzter Sekunde konnte er sich das Grinsen verkneifen. Hastig biss Felix auf seine Lippen und fragte sich, warum ihn das so freute.

Fiona stieß ihm mit dem spitzen Finger gegen die Rippen. Sie musste ihm die Freude angesehen haben. Verdammt! Wieder hatte er vergessen, dass andere ihn sahen, auch wenn es um ihn herum dunkel war.

Lars schien fassungslos zu sein. »Was hast du denn für ein Problem? Fiona tanzt die Dame und er den Herrn. Vielleicht ist Fiona dabei die Führende, aber …«

»Beim Tanzen hat der Herr die Dame zu führen. Nicht anders herum. So einfach ist das«, unterbrach Lena ihren Kumpel kühl.

Lars seufzte hörbar. »Du musst mir nicht die Grundsätze erklären, Lena. Ich tanze genauso lange wie du. Wir haben hier jedoch einen speziellen Fall und …«

»Ich wüsste nicht, warum das hier anders sein sollte«, betonte Lena hastig, bevor Lars weiterreden konnte.

»Nein, Lena, so einfach ist das leider nicht«, mischte sich Felix müde ein.

Während er dem Streitgespräch gelauscht hatte, war seine kurzzeitige Freude darüber, dass Lena Wert auf seine Meinung legte, komplett verflogen. Erneut ließ er Fiona los, denn er hatte das alles plötzlich so satt. Der Tanzunterricht war einfach zu anstrengend, er kannte sich hier nicht aus und war ständig auf Fionas Hilfe angewiesen. Selbst zur Toilette müsste er geführt werden. Und Lena und Lars rannten ständig wie aufgescheuchte Hühner durch die Gegend, was ihn total verunsicherte. Letzte Woche war er noch optimistisch nach Hause gegangen, weil er erkannt hatte, dass es vielleicht eine Lösung geben könnte, doch nun war ihm klar geworden, dass Lena zu viel verlangte. Während es ihm genügte, einfach nur zu tanzen, wollte sie aus ihm einen Profi machen. Ihm machte das Tanzen einfach kein Spaß, und er war nicht gemacht für diese Art von Sport. Dafür fehlte ihm Rhythmusgefühl und die Lust an eleganten Bewegungen. Dass er blind war, kam noch oben drauf. Es war erst ihr zweites Treffen, doch er empfand bereits jetzt Resignation.

Plötzlich spürte er tiefe Sehnsucht danach, in seinem eigenen Haus zu sein, in dem er sich unabhängig und selbstständig bewegen konnte, da er jeden Zentimeter darin in- und auswendig kannte. Dort konnte er tun und machen, was er wollte. Niemand verlangte von ihm irgendwelche Dinge, die er nicht liefern konnte.

»Du wolltest tanzen lernen, Felix«, erinnerte Lena ihn.

»Ich hasse den Cha-Cha-Cha«, murmelte Felix frustriert und rieb sich über die Stirn.

»Dann versuchen wir es mal mit Rumba«, rief Lars fröhlich und klatschte in die Hände, als hätte er entschieden, mit purer Willenskraft die schlechte Laune der Anwesenden zu vertreiben.

»Verdammt noch mal, Lars, die können nicht einmal den Cha-Cha-Cha. Wir können ihnen nicht ständig neue Tänze beibringen, wenn sie den ersten nicht beherrschen.« Lena schien sich richtig aufzuregen, und Felix fragte sich, ob man ihr die Empörung im Gesicht ansehen konnte. Wie sie wohl inzwischen aussah? Dass sie kaum zugenommen hatte, wusste er, seit er sie berührt hatte. Doch was war mit ihren langen Haaren? Und die spitze Nase? Hatte sie immer noch so blasse Haut?

Auf einmal wieder Körperkontakt. Im ersten Moment wusste Felix nicht, wer seine Hand ergriff. Fiona war es nicht, denn sie fasste ihn nie ohne Vorwarnung an. Ihre Berührungen waren immer behutsam, weil sie genau wusste, dass Felix erschrak, wenn er aus heiterem Himmel angefasst wurde.

»Na gut, dann tanzen wir jetzt eben Rumba«, verkündete Lena bestimmt.

Es war Lena. Gut. Wenigstens wusste Felix das jetzt. Ihre Art und Weise machte ihn wütend, und er atmete scharf aus der Nase.

»Wie passt dieses Verhalten zu deiner Meinung, dass Männer die Frauen zu führen haben?«, fragte er sauer und versuchte, seine Finger aus ihrer Umklammerung zu ziehen.

Lena zögerte. Das spürte er in ihrer Bewegung, aber sie ließ ihn nicht los. Als sie ihm antwortete, hörte sich ihre Stimme heiter an. »Jetzt wirst du ausnahmsweise mal geführt, Felix. Und Fiona, du wirst zusehen.«

»Vielleicht solltest du uns doch erst nochmal den Cha-Cha-Cha zeigen. Ein neuer Tanz verunsichert uns sicher«, protestierte Fiona.

»Wir schaffen das schon irgendwie«, murmelte Lena und trat etwas näher. Felix bemerkte, dass sie lange Haare hatte, als einzelne Strähnen seine Hand kitzelten, die auf ihrem Rücken lag. In der letzten Woche hatte er zwar auch mit ihr getanzt, aber die Haare waren ihm nicht aufgefallen. Vielleicht hatte sie sie hochgesteckt gehabt? Er erinnerte sich daran, dass sie ihre Haare gerne gefärbt hatte, aber ihre Naturfarbe war braun gewesen. Welche Farbe ihre Haare jetzt wohl hatten?

»Bist du sicher?«, erkundigte er sich und schob die Haare zur Seite, damit er sich nicht darin verfangen konnte. Sie waren weich und fühlten sich seidig an.

»Nein, überhaupt nicht«, antwortete Lena und lachte leise. »Die Tanzhaltung ist dieselbe, und auch der Grundschritt ist ähnlich. Auch der Rumba ist ein kubanischer Tanz.«

»In Kuba tanzen sie viel, was?«, warf Felix ein.

Lena ignorierte ihn und erzählte weiter. »Zwar gibt es viele Ähnlichkeiten, aber die sind nur oberflächlich. Der Cha-Cha-Cha stammt vom Mambo ab, während der Rumba seine Quelle in der Habanera hat. Startklar?«, fragte sie und strich ermutigend über seine Schulter.

Vielleicht war die Berührung nicht so gemeint, aber sie beruhigte Felix dennoch ein wenig. Er schöpfte wieder ein wenig Mut, und um ihr das zu zeigen, lächelte er und nickte. „Was auch immer dieses Habana ist“, meinte er.

Lena lachte. „Habanera“, korrigierte sie. »Statt des Cha-Cha-Cha in der Mitte tanzt du einen langsamen, schleifenden Schritt seitwärts. Merkst du das?« Lena trat zur Seite und zog ihn mit.

Erneut nickte Felix, antwortete aber nicht, weil er sich darauf konzentrierte, die Schritte in die richtige Reihenfolge zu bringen. Ja, jetzt wusste er wieder, warum er hier war: Er wollte tanzen lernen, und er wollte wirklich gut darin sein.

Da der Grundschritt dem des Cha-Cha-Cha wirklich ähnlich zu sein schien, fühlte Felix sich schnell sicher. Das Einzige, was ihn verunsicherte, war, dass er nicht wusste, wie Lena und er beim Tanzen aussahen. Ständig grübelte er, ob er einen sehr seltsamen Eindruck machte.

Schnell stellte er fest, dass Lena zufrieden mit seinem Fortschritt war. Überhaupt war sie jetzt weniger zynisch und bissig. Er fühlte sich nicht mehr so hilflos. Es schien, als könnte er nun viel besser zu seiner Schwäche stehen. Lenas schnippische Art hatte ihn mehr verunsichert als erwartet. Erneut fragte er sich, ob er wirklich so unbeholfen tanzte, wie Lena die ganze Zeit behauptete.

Schließlich verkündete Lars, dass er nun auch Fiona den Schritt zeigen wolle. Felix war über die Pause, die er nun haben würde, mehr als dankbar. Seine Beine schmerzten und seine Füße brannten. Tanzen war ermüdender als geahnt. Zunächst wollte er in dem Wohnzimmer warten, aber als Lena den Raum verließ, entschied er, dass er ihr folgen würde.

Inzwischen wusste er, wo das Esszimmer war. Er tastete sich seinen Weg zum Tisch und ließ sich erleichtert auf die Bank fallen. Seufzend streckte er die schmerzenden Beine aus.

Wenn er mit Lena Einzelunterricht hatte, war es natürlich für Fiona sinnvoll, ihnen zuzusehen, aber für ihn selber war es mehr als zwecklos dabeizubleiben, wenn Fiona und Lars zusammen übten. Deswegen konnte er sich eine Pause gönnen.

Er genoss es, einen Moment alleine zu sein und lauschte entspannt der Musik, die er aus dem Wohnzimmer vernehmen konnte. Er dachte darüber nach, was er einem Freund zum Geburtstag schenken könnte und was er am Wochenende essen wollte. Er fragte sich, wann er seine Großeltern wieder mal besuchen würde und überlegte, ob er nächsten Monat an der Reihe war, das Grab seiner Eltern zu gießen.

»Wasser?«, fragte Lena plötzlich, und Felix zuckte zusammen.

»Schleich dich doch nicht so an«, bat Felix verärgert und nickte dann, weil er wirklich Durst hatte.

»Ich schleiche mich nicht an, Felix. Du kannst nur nicht sehen, wenn ich komme«, korrigierte Lena und hörte sich dabei sehr altklug an. »Das ist das Problem.«

»Oh, Lena. Du wirst immer ein Kotzbrocken bleiben, oder?« Leicht schmunzelte Felix. Nicht alle von Lenas Bemerkungen waren wirklich verletzend gemeint, davon war Felix überzeugt. Es war nicht zu übersehen, dass Lena lediglich versuchte, mit ihren Sprüchen ihre eigene Unsicherheit zu überspielen. Einige Menschen reagierten seltsam auf seine Behinderung. Von Personen, die ihn über die Straße führten, obwohl er gar nicht über die Straße wollte, bis hin zu Leuten, die laut sprachen, da sie Blindheit mit Schwerhörigkeit verwechselten, hatte Felix alles erlebt. Und Lena hatte ihren Sarkasmus und diese ruppige Art schon als Jugendliche dafür verwendet, um Selbstsicherheit vorzutäuschen. Damals hatte Felix das nur nicht so leicht erkannt, weil er sich provoziert gefühlt hatte. Er selber war nie einer der Coolen gewesen und damit eingeschüchtert von Fionas Freunden.

Anstatt einer Antwort von Lena konnte Felix hören, dass sie eine Flasche öffnete, Wasser in ein Glas goss und es ihm schließlich zuschob.

»War der Anblick von Fiona und Lars so grauenhaft, dass du fliehen musstest?«, erkundigte Felix sich schließlich unwirsch, nachdem er einen Schluck getrunken hatte. Es war ein herrliches Gefühl, als das Wasser seine trockene Kehle hinabfloss. Erneut antwortete Lena nicht, stattdessen hörte Felix, dass sie einen Stuhl rechts von ihm zurückschob und sich setzte. Der Tisch wackelte leicht, als Lena ihre Arme darauf positionierte.

»Ich war rauchen«, erzählte Lena schließlich. »Das brauche ich manchmal. Gerade wenn ich mit Lars so lange in einem Raum bin.«

»Du rauchst?«, fragte Felix erstaunt. »Zigaretten?«

»Nein, Felix, ich rauche mitten am Tag einen Joint«, erwiderte Lena ironisch. »Natürlich rauche ich Zigaretten, was denn sonst?«

Grinsend nahm Felix einen weiteren Schluck von dem Wasser. Dann lehnte er sich zurück und merkte, wie er sich langsam entspannte. Dass Lena immer noch rauchte, verwunderte ihn. Damals hatten alle in Fionas Freundeskreis geraucht, aber die meisten hatten irgendwann damit aufgehört. Außerdem hatte Lena nie nach Zigarettenqualm gerochen.

»Ja, ich rauche tatsächlich. Ich rauche, trinke, esse, habe ständig andere Männerbekanntschaften und genieße das Leben in vollen Zügen. Also kurz, ich tue alles, was du wahrscheinlich verabscheust«, zählte Lena auf und klang dabei gar nicht so glücklich, wie sie es wahrscheinlich wollte.

Da Felix mehr als sehende Menschen darauf angewiesen war, Gefühle aus der Tonlage und der Stimme herauszuhören, war er inzwischen recht talentiert darin, auch Dinge zu hören, die andere Menschen vielleicht nicht unbedingt offenbaren wollten.

»Das ist doch schön für dich«, antwortete Felix nachdenklich. Er überlegte, warum Lena nicht glücklich war, aber vorgab, es zu sein. Letztendlich kam er zu dem Schluss, dass ihn das nichts anging und auch nicht sonderlich interessieren sollte.