Umwege mit Joris - Sonja Bethke-Jehle - E-Book

Umwege mit Joris E-Book

Sonja Bethke-Jehle

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Beschreibung

Nach dem Tod seines Vaters bricht Joris mit dem Rucksack nach Norwegen auf. Er benötigt dringend Antworten, damit er sein altes Leben wieder aufnehmen kann. Bereits in Kiel trifft er auf Charlie, Fabio und Pete, die mit ihrem verrosteten Camper unterwegs sind. Sie wollen den Sommer in Skandinavien verbringen. Um Zeit und Geld zu sparen, willigt Joris ein, sich ihnen anzuschließen. Schon bald wird ihm klar, dass er viel mehr braucht als Antworten und stellt sogar sein bisheriges Leben in Frage. Können ihm die anderen dabei helfen, wieder zu sich selbst zu finden? Ein emotionaler Roadtrip zwischen Wasserfällen und Fjorden durch die raue Landschaft Norwegens.

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Ich widme das Buch denen, die mit mir Schweden und Norwegen bereist haben.

Sonja Bethke-Jehle wurde 1984 im Odenwald geboren und studierte in Mannheim Wirtschaftsinformatik. Heute lebt sie an der Bergstraße. Das Lesen und Schreiben ist seit der Kindheit ihre große Leidenschaft. Dabei rückt sie vor allem Menschen in den Vordergrund, die Grenzen überwinden, gegen Ungerechtigkeit kämpfen oder Herausforderungen bestehen müssen und dabei über sich selbst hinauswachsen. Wenn sie nicht gerade schreibt, arbeitet sie ehrenamtlich in einer Bücherei oder jagt während ihrer Joggingrunden nach neuen Plot-Ideen hinterher.. Weitere Informationen finden Sie auf: www.sonja-bethke-jehle.de

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Umwege mit Joris

Nachwort

Vorwort

Ich war gerade mitten im Schreibprozess an einem Buch, welches bisher noch nicht erschienen ist. Es geht um eine Gruppe von Menschen, die sich durch eine dystopische Welt kämpfen und damit umgehen müssen, dass die Zivilisation, wie wir sie kennen, nicht mehr existiert. Ein düsterer Roadtrip.

Dann kam der März 2020 und damit eine Pandemie. Zwar stand es nicht ganz so schlimm um unsere Welt, aber dennoch waren die leeren Supermarktregale, die flatternden Absperrbänder an den Spielplätzen und die erschreckenden Bilder in den Nachrichten so tiefgreifend für mich, dass ich eine Schreibblockade entwickelte.

Es lag nicht daran, dass ich auf einmal nicht mehr schreiben konnte, stellte ich irgendwann fest, sondern dass mich die dystopische Umgebung meines Buches lähmte. Ich entschied, das Manuskript zur Seite zu legen, und mich einer etwas hoffnungsvolleren Variante eines Roadtrips zuzuwenden.

So erblickte Joris das Licht der Welt. Und mit ihm Charlie, Fabio, Pete und einige andere, die ihr im vorliegenden Buch alle noch kennenlernen werdet. In dem Jahr, in dem das Reisen nicht oder nur schwer möglich war, machte ich mich zumindest in Gedanken auf den Weg in den Norden nach Skandinavien.

Gewissermaßen habe ich Umwege mit Joris der Corona-Pandemie zu verdanken. Und Joris habe ich zu verdanken, dass ich die manchmal nervenaufreibende Zeit gut überstanden habe. Nach Joris entwickelte ich mit Alex und Viola weitere Figuren, die ihr in den beiden nachfolgenden Bänden noch kennenlernen werdet - wenn ihr das wollt. Die drei Bände der Trilogie können allerdings auch gut getrennt voneinander gelesen werden.

Ich wünsche euch viel Spaß mit Joris, Charlie, Fabio und Pete und eine wunderbare Reise zu den Fjorden Norwegens,

eure Sonja. PS.: Mittlerweile konnte ich mein abgebrochenes Manuskript zu Ende schreiben, und irgendwann werde ich euch auch die dystopische Variante eines Roadtrips vorstellen.

Umwege mit Joris

Mit einem Seufzen schloss Joris die Augen. Er lehnte sich zurück und versuchte sich zu entspannen. Nachdem er sich nahe am Hafen ein Hotel genommen und dort geduscht hatte, fühlte er sich zwar etwas besser, sein Rücken schmerzte jedoch immer noch. Die Zugreise quer durch Deutschland war anstrengender gewesen, als er erwartet hatte. Er wollte nicht gleich am Anfang seiner Reise zu viel Geld ausgeben, deswegen hatte er darauf verzichtet, mit dem ICE zu fahren und sich stattdessen für die Regionalbahn entschieden. Das Ergebnis waren fünf Umstiege und über 12 Stunden Fahrt. Zum Glück war das Hotel auch nahe am Bahnhof, und er hatte den schweren Rucksack nicht so weit tragen müssen.

Während er den anstrengenden Tag Revue passieren ließ, konnte er das laute Rufen einiger Jugendlicher hören, die auf den Stufen einer großen Treppe saßen, eine Flasche herumreichten und daraus tranken. Etwas entfernt waren Skater, deren Skateboards zusammen mit den Möwen am Hafen eine weitere Geräuschkulisse bildeten.

Nun war es viel zu spät, um sich noch eine Fahrkarte für die Fähre nach Schweden zu besorgen, also hatte er sich hier in Kiel ein Zimmer genommen. Geplant war dieser Zwischenhalt nicht. Geplant war an dieser Reise sowieso fast gar nichts. Aus diesem Grund wusste er nicht, ob er überhaupt die Fähre nach Schweden nehmen wollte. Es fuhr auch eine Fähre nach Norwegen. Er hatte noch genug Zeit, sich zu überlegen, welche Route er lieber nehmen wollte. Er war frei und ungebunden. Er konnte tun und lassen, was er wollte. Wenn ihm danach war, konnte er sogar noch eine Nacht in Kiel bleiben und sich die Stadt ansehen. Immerhin trieb ihn nichts an.

Jetzt wollte er erst mal den Abend genießen und versuchen, den Stress der Zugfahrt abzuschütteln. Er hatte sich von Anfang an vorgenommen, auf der Reise wieder zu sich selbst zu finden, wieder zu dem zu werden, der er vor noch einigen Monaten gewesen war. Dazu gehörte auch, dass er sich Zeit für sich nahm und wieder zu seiner früheren Stärke fand.

Er atmete tief ein und grinste, als ihm der vertraute Geruch von Gras in die Nase stieg. Es erinnerte ihn an die Anfangsjahre seines Studiums, als er am Wochenende ab und zu gekifft hatte. Als er Lisa kennengelernt hatte, hatte er irgendwann damit aufgehört. Nicht weil es sie gestört hatte, sondern weil sie immer häufiger am Wochenende zu Hause geblieben waren, statt wegzugehen. Sie waren bequem geworden.

Plötzlich hörte er eine Gitarre unmittelbar neben sich und eine Frau, die lachte. Ein sehr angenehmes Lachen, tief und leise, aber dennoch ehrlich und offen. Joris öffnete träge die Augen und drehte sein Kopf.

Auf der Bank neben ihm saß ein Pärchen, ungefähr in seinem Alter. Sie machten einen anderen Eindruck, als er vermutlich vermittelte, obwohl er sich nach der langen Zugfahrt mit dem Rucksack und seinen Plänen, Skandinavien auf unbestimmte Zeit zu bereisen, sehr alternativ, cool und hippiehaft fühlte. Ihm war sehr wohl bewusst: Das waren die echten Aussteiger.

Der Typ hatte Dreadlocks mit bunten Holzkugeln und auffällige Tattoos an den Armen. Er spielte die Gitarre. Obwohl es bereits kühl war, trug der Mann halblange Stoffhosen und ein grünes Shirt, das ziemlich ausgeleiert und verwaschen aussah. Seine Freundin saß im Schneidersitz zu seinen Füßen, mit dem Rücken an sein Bein gelehnt und mit einem Notizblock und einem Bleistift vor sich. Sie lachte über irgendwas, was der Typ sagte. Joris konnte nicht verstehen, was das war, aber es musste sehr lustig sein, so wie sich das Mädchen amüsierte. Sie hatte die rechte Seite ihres Schädels rasiert, auf der linken waren lange, glatte und blau gefärbte Haare. Auf einmal kam er sich langweilig vor, er, der sich zwei Monate unbezahlten Urlaub genommen hatte, aber ansonsten einen sicheren Job hatte, in den er wieder zurückkehren würde. Andererseits konnte er nicht wissen, ob die beiden auch auf Reisen waren. Vielleicht lebten sie hier und entspannten sich nach einem anstrengenden Arbeitstag? Alles, was er hatte, war ihr Aussehen, und aus dem sollte er eigentlich nicht vorschnell urteilen.

Ihm wurde bewusst, wie groß die Unternehmung war, die er sich vorgenommen hatte. Auf einmal zweifelte er, ob er am nächsten Tag überhaupt auf die Fähre steigen sollte. War er der Typ, der so eine große Reise alleine unternahm? Hatte er den Mut, den es dafür brauchte, oder würde er kneifen und doch schneller als erwartet in sein langweiliges Leben zurückkehren?

Kurz zuckten seine Finger, und er war versucht, auf sein Smartphone zu schauen. Er wollte Lisa anrufen, wollte wissen, ob sie auch weiterhin der Meinung war, dass er das Richtige tat. Sie hatte ihn bestärkt, hatte ihm Mut zugesprochen, während er die Reise grob geplant hatte. Erst am Tag vor seiner Abreise hatte sie Zweifel bekommen. Sie hatten den Abend zusammen verbracht, auf ihrer Terrasse gesessen und ein Bier zusammen getrunken. Als ihr neuer Partner die gemeinsame Tochter ins Bett gebracht hatte, hatte sie ihn gefragt, ob er sich sicher sei.

Er war sich sicher gewesen.

Er war sich die ganze Zeit sicher gewesen. Bis jetzt.

Wieder sah er zu dem Pärchen. Er konzentrierte sich auf das Gitarrenspiel, während sie eine Zigarette rauchte und auf das Wasser starrte.

So wie die beiden war nicht. Und er würde es auch niemals sein. Er benötigte Halt. Sicherheit. Einen Rahmen, in dem er sich wohl fühlte. Joris bemerkte, dass er Hunger hatte. Den ganzen Tag über hatte er sich nur von Snacks und den Stullen ernährt, die er sich eingepackt hatte. Jetzt hatte er Appetit auf Nudeln mit Tomatensoße. Auch wenn er das Gitarrenspiel schön fand und die Atmosphäre im Hafengebiet wunderbar war, sollte er sich was zu essen besorgen. Das Pärchen machte ihn nervös, und er fühlte sich in deren Gegenwart wie ein konservativer, sesshafter Mensch, der einmal in seinem Leben für kurze Zeit als Aussteiger leben wollte. Und genau das war er ja auch.

Als er aufstand, hob die Frau den Kopf und lächelte ihn an. Sie hatte ein bezauberndes Lächeln, es wirkte auf ihn genauso ehrlich und offen wie das Lachen zuvor. Auch der Typ sah Joris an. Seine Augen hatten einen besonderen Glanz. Er zwinkerte, dann schaute er weiter auf seiner Gitarre. »Ciao«, rief das Mädchen und hob lässig den Arm, als er an ihnen vorbeiging.

Joris spürte, dass er rot wurde, und ging eilig davon. Ihm war nicht bewusst gewesen, dass er dem Pärchen aufgefallen war, dass sie seine Anwesenheit überhaupt bemerkt hatten. Fröstelnd steckte Joris seine Finger in die Hosentasche und wich einigen Jugendlichen aus, die mit ihren Skateboards an der Hafenkante entlangfuhren und dabei so laut waren, dass sie die Gitarrenklänge übertönten. Joris spürte Bedauern, doch er ging weiter und drehte sich auch nicht mehr um, obwohl ihm danach war. Auf der anderen Kai-Seite war ein großer Parkplatz, und direkt danach folgten Wohnblöcke, die schicker aussahen als die auf der Seite, wo sein Hotel war. Der Parkplatz war fast leer, nur vereinzelt standen dort Autos. Direkt vor dem Schild, das auf das Verbot von Camping hinwies, stand ein alter Camper mit zwei aufgebauten Zelten, einem Tisch mit drei Stühlen und einem Grill davor. Der Anblick beinhaltete so viel Leichtigkeit und Reisefreudigkeit, dass er sich für einen kurzen Moment wieder auf seine Reise freute. Das Gefühl verschwand, als er die riesigen Gebäude und Zufahrten vor sich sah. Er wusste, hier würde die Fähre nach Norwegen anlegen, und es sah aus, als wäre sie größer als ein Mehrfamilienhaus, zumindest vermittelte ihm das die riesige Anlegestelle. Joris lief schneller. Er spürte den Hunger jetzt noch mehr, außerdem fror er. Wie konnte der Gitarrenspieler nur mit Shirt draußen sitzen, ohne zu frieren? Als Joris weit genug entfernt war, ließ er seinen Widerstand fallen und drehte sich um. Er konnte das Pärchen immer noch sehen, auch wenn sie jetzt klein wirkten. Aus dieser Entfernung sahen sie wie normale Touristen aus, die ihre Zigarette an diesem lauen Sommerabend im Hafenambiente genießen wollten. Joris schüttelte über sich selbst den Kopf und zog sein Handy aus der Hosentasche. Nicht viele Leute wussten, wohin er unterwegs war und was er vorhatte. Er hatte es seinen Großeltern gesagt und sie gebeten, sich zu melden, wenn sie ein Problem hatten. Seine Oma machte sich große Sorgen um ihn, und sein Opa war sauer, dass er diese Reise machte und dafür seine Anstellung in dem IT-Unternehmen aufs Spiel setzte. Außerdem wusste Lisa von seinen Plänen und hatte es ihren Eltern und natürlich ihrem neuen Partner erzählt. Allen anderen hatte er zwar gesagt, dass er unbezahlten Urlaub genommen hatte, um wieder den Boden unter den Füßen zu spüren, aber er hatte ihnen nicht gesagt, dass er verreiste. Demzufolge war seine Abwesenheit wohl noch keinem aufgefallen. Niemand fragte, wo er steckte. Keine Nachricht. Kein Anruf.

Seine Großeltern würden sich an die Abmachung halten, sich nicht zu häufig bei ihm zu melden. Im Gegenzug hatte er ihnen versichert, dass er sie regelmäßig anrufen und ihnen schreiben würde. Nur Lisa hatte er nichts davon gesagt, dass er seine Ruhe wollte. Sie hatte ihm trotzdem nicht geschrieben. Das verstärkte seine Sehnsucht nach seinem Zuhause. Wie konnte er sie jetzt schon vermissen, obwohl sie sich auch sonst nicht so oft trafen? Erst am gestrigen Abend hatten sie sich gesehen, hatten miteinander geredet und sich herzlich voneinander verabschiedet.

Joris lief schneller und schneller und kam schon bald außer Atem. Er ignorierte die riesigen Anlegestellen, von wo die Fähren nach Schweden und Norwegen abfuhren, und beeilte sich, über die Brücke zu marschieren. Dort wo sein Hotel lag, war es touristischer, und Restaurant reihte sich an Restaurant in einer langen Straße den Kai entlang. Joris entschied sich für den erstbesten Italiener und beschloss, draußen zu essen, obwohl es eigentlich zu kalt dafür war. Doch draußen fiel ihm weniger auf, dass er alleine war.

Während er auf das Essen wartete, entsperrte er sein Smartphone und schrieb Lisa. Er teilte ihr mit, dass er ein schönes, günstiges Hotel direkt am Fähranleger gefunden hatte. Er widerstand der Versuchung, seine Großeltern anzurufen. Stattdessen öffnete er eine App mit einem Kartenspiel und begann, Solitär zu spielen, um sich die Zeit zu vertreiben. Es lenkte ihn gut genug ab, dass er ruhiger atmen konnte. Als Lisa ihm antwortete und eine gute Nacht wünschte, war er wieder entspannter. Er war sich sicher, er würde nach der langen, anstrengenden Zugfahrt gut schlafen können.

*

Diese Annahme war leider falsch gewesen. Stundenlang wälzte er sich im Bett herum und grübelte, ob er sich richtig entschieden hatte. Er verfluchte Lisa, dass sie ihn nicht aufgehalten hatte. Sie kannte ihn von allen Menschen auf dieser Welt am besten. Sie hätte wissen müssen, dass eine wochenlange Reise mit einem Rucksack zu viel für ihn werden würde. So ganz alleine. Er fühlte sich bereits jetzt einsam.

Immer wieder war er versucht, seine Großeltern anzurufen, doch das wäre albern gewesen. Seine Großeltern würden sich nur Sorgen machen, wenn er sie mitten in der Nacht störte.

Er war fest entschlossen, am nächsten Tag den Zug nach Hause zu nehmen, egal wie sinnlos diese Reise nach Kiel dann sein würde. Er suchte sogar bereits die Zugverbindungen heraus. Nachdem er das getan hatte, konnte er sich augenblicklich entspannen. Als würde es ihn beruhigen, dass er einen Ausweg aus seiner Lage gefunden hatte, und er schlief dann doch noch ein.

Als er durch die Helligkeit in seinem Hotelzimmer erwachte, blinzelte er. Er fühlte sich gerädert und unglaublich müde, aber er musste über seine lächerlichen Ängste lachen und schüttelte den Kopf, als er sich beim Zähneputzen im Spiegel betrachtete. Natürlich würde er nach Skandinavien reisen, so wie er es sich vorgenommen hatte. Was war schon dabei? Die Grenzen waren offen, er konnte jederzeit zurückfahren, sobald er die Einsamkeit nicht mehr aushielt. Er hatte genug Geld, um über die Runden zu kommen, hatte eine Auslandskrankenversicherung, und bei der Arbeit war auch alles geklärt. Es war ja nicht so, als wäre er ein echter Aussteiger.

Er duschte und frühstückte ausgiebig. Danach fühlte er sich etwas besser. Er checkte noch nicht aus, für den Fall, dass er für diesen Tag keine Fahrkarte mehr bekommen würde, und packte den Geldbeutel mit dem Bargeld ein. Zunächst lief er zu der Kai-Seite, an der die Fähre nach Schweden stand und ging zum Schalter. Als die Dame ihm sagte, dass die Fähre bereits ausgebucht war, war er erleichtert, und als sie ihm eine Fahrkarte für den nächsten Tag anbot, lehnte er ab. Erst nachdem er den Schalter verlassen hatte, begann er sich über sich selbst zu ärgern. Er starrte das riesige Schiff an und fluchte laut, während er sich mit der Handfläche auf den Oberschenkel haute, was eine Familie mit drei Kindern dazu veranlasste, den Abstand zu ihm zu vergrößern. Joris fragte sich, ob er am Ende seine zwei Monate unbezahlten Urlaub einfach im Hafenviertel von Kiel verbringen würde, weil er sich nicht traute, alleine auf eine Fähre zu gehen. Zusammen mit Lisa hatte er große Urlaube unternommen. Sie waren nach Kreta geflogen, waren mit dem Auto nach Spanien gefahren, und einmal waren sie für eine Woche in New York gewesen. Doch damals hatte er Lisa bei sich gehabt. Jetzt war er alleine.

Und er musste jetzt wohl oder übel mit der Fähre nach Norwegen fahren. Diese Fähre war teurer und fuhr viel länger, dafür würde er Skandinavien aber auch an einem nördlicheren Punkt erreichen. Somit sparte er sich immerhin eine weitere lange Zugfahrt. Aber wie sich am Tag zuvor herausgestellt hatte, hatte er wohl keine Probleme, mit dem Zug zu fahren, dachte er ironisch. Es schienen die Fähren zu sein, die ihn innerlich beunruhigten. Vielleicht weil das Lösen eines Tickets so endgültig war.

Auf dem Weg zur anderen Seite des großen Hafenbeckens lief er wieder an dem Parkplatz vorbei und stellte erstaunt fest, dass vor dem Camper das Pärchen von gestern zusammen mit einem weiteren Typen saß, der für deren Verhältnisse recht unauffällig aussah.

Weniger unauffällig war das Fahrzeug. Es war verbeult, hatte Schrammen und an der seitlichen Schiebetür jede Menge rostige Stellen. Die zweiflüglige hintere Tür stand offen, und er sah, dass im Inneren weder ein Bett noch eine Küchenzeile eingebaut waren, wie man es bei einem solchen Fahrzeug erwarten würde, sondern nur eine teilweise mit Kisten vollgestellte Ladefläche. Das Polster an der hinteren Sitzbank war eingerissen. Eine seitliche Markise, die über der rostigen Schiebetür verankert und ausgezogen worden war, sah hingegen neu aus und hatte sogar ein halbwegs modisches Muster, das aber überhaupt nicht zu dem altertümlichen Stoff der Sitze im Inneren passte. Der Gesamteindruck war suspekt, und Joris musste grinsen, als er den Blick senkte und stattdessen den Menschen vor dem Fahrzeug Aufmerksamkeit schenkte.

Der unauffällige Typ und der Dreadlocks-Typ diskutierten über etwas, während die junge Frau am Tisch saß und eifrig etwas auf ihren Notizblock schrieb, den sie auch am gestrigen Abend bei sich gehabt hatte.

Joris spürte wieder mehr Zuversicht, als er die drei mit ihrem Camper und den beiden Zelten davor sah. Wohin sie wohl unterwegs waren? Was sie vorhatten? Er lief langsamer und grinste, als er erneut den Geruch von Gras erneut wahrnahm.

Die beiden Kerle hatten ihre Diskussion beendet, der Normalo schüttelte den Kopf und stieg in den Camper und ließ die Tür hinter sich offen. Joris konnte aber trotzdem nicht erkennen, was er machte. Er fragte sich auch, wie die drei zusammenpassten. Der unauffällige Typ trug Jeans und ein normales Shirt, hatte braune kurze Haare und einen Bart. Keine Tätowierungen, keine Piercings, keine Besonderheiten. Er schien ein normaler Typ zu sein, so wie Joris. Wie passte er zu dem anderen Kerl, der ein Piercing in der Augenbraue hatte – was Joris jetzt erst auffiel – und auffällig tätowiert war? Wie hatten sich die drei gefunden? Waren sie nur Freunde, oder war die Frau mit einem von beiden zusammen? Joris schätzte, dass sie mit dem Tätowierten liiert war und der Unauffällige sich ihnen angeschlossen und unabsichtlich in ein Abenteuer gestürzt war. Ungefähr so wie Joris das getan hatte. Ein Abenteuer, das sich zumindest für Joris als zu groß erweisen könnte.

»Hey!«

Die Frau war aufgestanden und lächelte ihn freundlich an. Sie hatte ihren Arm erhoben und winkte.

Joris fühlte sich sofort gestresst. Was wollte sie von ihm? Fühlte sie sich von ihm verfolgt? Störte sie sich daran, dass er so neugierig zu ihnen hinübergestarrt hatte.

»Komm doch her, Kumpel«, fügte sie hinzu. Ihre Stimme war wunderbar. Etwas tiefer als für eine Frau gewöhnlich, sanft und beruhigend. Wenn sie lächelte, sah sie hübsch aus, auch wenn sie auf dem ersten Blick zu verlottert wirkte, um als schön auf die herkömmliche Art zu gelten.

»Hey, wir haben dich doch gestern Abend schon gesehen«, meinte der Dreadlocks-Typ. Er winkte. »Komm her, erzähl uns deine Geschichte. Wir wollen sie hören.«

Joris zögerte.

»Na komm, sei nicht schüchtern, Süßer.« Er kam ihm entgegen und lachte leise, vermutlich über Joris, weil er sich so stumm und starr stehenblieb.

»Ich … äh … muss.« Joris zeigte hinter sich, in die Richtung, wo das Hotel war.

»Nimm dir ein Bier«, rief die Frau. Sie schmunzelte.

»Hast du Angst?«, fragte der Mann, blieb direkt vor ihm stehen und amüsierte sich weiter. Aus der Nähe sah Joris, dass er nicht nur in der Augenbraue ein Piercing hatte, sondern auch drei kleine Sterne seitlich am Hals tätowiert waren. Joris erstarrte, er hatte noch nie mit jemandem gesprochen, der sich so sehr darum bemühte, anders zu sein. Warum es ihn so sehr irritierte, konnte er sich selbst nicht erklären, vielleicht, weil er sein Leben damit verbracht hatte, sich jede Mühe zu geben, so wie alle anderen zu sein.

Ja, er hatte Angst. Die beiden wirkten etwas aufdringlich, aber auch neugierig auf ihn, als würden sie erwarten, dass er eine großartige Geschichte zu erzählen hatte.

Joris nickte und folgte dem Typ zu dem Tisch, an dem die Frau saß. Sie drückte ihm ein billiges Dosenbier in die Hand, bevor der Kerl seinen Arm hob und ihn lässig mit der flachen Hand in den Stuhl schubste. Breitbeinig setzte er sich neben die Frau und legte ihr den Arm um die Schulter, während er grinsend Joris betrachtete.

Nun saßen sie beide vor ihm, musterten ihn erwartungsvoll und schienen auf etwas zu warten.

»Also, was führt dich nach Kiel, Kumpel«, fragte die Frau nach einem Moment der Stille. Sie schloss das Notizbuch und öffnete sich selbst ein Bier. Sie trank einen Schluck, ohne den Blick von ihm zu nehmen.

»Ich … äh … will nach Norden«, meinte Joris nervös und fragte sich, wie er sich nur in diese Situation hineinmanövriert hatte. Warum saß er bei diesen fremden Menschen, statt sich eine Fahrkarte zu besorgen? Was war nur in ihn gefahren? Er hatte Angst davor, alleine mit einer Fähre zu fahren, und hing lieber mit einem kiffenden Aussteigerpärchen ab? Denn das waren sie, da war er sich jetzt sicher.

»Ah, Norden.« Der Typ beugte sich vor, riss ihm das Bier aus der Hand und öffnete es, dann drückte er es ihm wieder in die Hand. Er selbst trank kein Bier, sondern nahm einen großen Schluck aus einer Plastikflasche, die mit Wasser gefüllt schien.

»Du musst das Bier nicht trinken.« Die Frau lächelte sanft.

»Ich … ähm.« Joris sah auf das Bier. Es war billig, warm und würde ihm nicht schmecken, außerdem kam er gerade erst vom Frühstück. Trotzdem nahm er einen Schluck und schüttelte sich innerlich. Nichts im Vergleich zu einem gut gekühlten Markenbier. »Ich mag Bier«, log er.

Der Typ lachte und schüttelte den Kopf. »Süßer, du bist ein Blender.«

Ja, vielleicht, dachte Joris. Und du bist ein bisschen seltsam, wenn du Fremde mit solchen Kosenamen ansprichst, fügte er in Gedanken hinzu.

»Fabio, jetzt sei kein Arsch«, bat die Frau und schlug dem Typen mit der flachen Hand auf den Hinterkopf.

Ihre Stimme war besonders. Joris glaubte, er könnte ihr stundenlang zuhören, während er diesem Fabio ins Gesicht sah. Irgendwas faszinierte ihn an ihm. Und es waren nicht nur die Tätowierungen und das Piercing oder die Dreads, die ihm frech ins Gesicht fielen, wenn er sich bewegte. Nein, seine Augen waren … speziell. Einerseits überheblich amüsiert, andererseits neugierig und freundlich – so blickten sie Joris an.

»Ich hasse Bier«, meinte Fabio schließlich und löste den Blick von Joris. »Ich halte mich lieber an mein Gras.«

»Hi.«

Der unauffällige bärtige Typ stieg aus dem Camper.

»Hey, Pete. Wir haben Besuch«, sagte Fabio und zeigte auf Joris.

»Hallo, ich bin Peter«, sagte der Typ und kam auf Joris zu. Er streckte ihm die Hand hin und schüttelte sie. Er lächelte Joris an und zeigte dann auf Fabio und seine Freundin. »Die sind harmlos, lass dich von ihnen nicht nervös machen.«

»Ich bin nicht nervös«, behauptete Joris. Wieder eine Lüge. Und er war sich sicher, dass die anderen es genau wussten.

Die Frau lache, und es hörte sich an, wie ein Sonnenuntergang nach einer schlaflosen Nacht aussah. Freundlich, hoffnungsvoll und strahlend.

»Blender«, murmelte Fabio und schüttele den Kopf, dann lachte auch er.

»Ich … äh … sitze auf deinem Stuhl, Peter«, meinte Joris und stand rasch auf. »Entschuldige bitte.«

»Och, bleib ruhig sitzen«, sagte Peter und winkte lässig.

»Nein, ich … ähm… muss sowieso weg«, sagte Joris. Die Anwesenheit von Peter hatte ihm dabei geholfen, aus seiner Lethargie herauszukommen. Er musste sich eine Fahrkarte nach Norwegen besorgen. Er sah auf die Uhr. Verdammt, hoffentlich war es dafür nicht zu spät. Wie hatte er nur herumtrödeln können?

Er sah auf das Bier und zögerte. »Du musst es nicht trinken«, sagte Fabio und verdrehte die Augen. Er wirkte enttäuscht.

»Ich trinke es«, bot die Frau an und stand auf, gab aber Joris nicht die Hand zum Abschied, wie er im ersten Moment erwartete. Stattdessen schenkte sie ihm wieder ein strahlendes Lächeln. »Kein Problem, Kumpel, ich übernehme das.«

»Wie heißt du?«, fragte Joris.

»Charlotte, aber Freunde nennen mich Charlie.«

»Charlotte«, sagte Joris und nickte. Sie runzelte die Stirn. »Charlie«, korrigierte sie und sah das erste Mal nicht mehr freundlich aus.

»Charlie«, wiederholte Joris eilig und hoffte, dass man ihm die heißen Wangen nicht zu sehr ansehen konnte. Der Name passte zu ihr. »Also … tschüss dann«, fügte er hinzu, drehte sich um und ging schnellen Schrittes zu der großen Treppe, wo er Charlie und Fabio am Abend zuvor das erste Mal getroffen hatte. Erst als er einige Meter gelaufen war, fiel ihm auf, dass sie wie selbstverständlich erwartet hatte, dass er ihren Spitznamen verwendete, der laut ihrer Aussage für Freunde bestimmt war.

*

Als er beim Ticketschalter der riesigen Norwegenfähre endlich an der Reihe war, schüttelte die Dame lediglich den Kopf, als er nach einer Fahrkarte fragte. Er war also auch für die Fähre nach Norwegen zu spät gekommen, weil er viel zu viel Zeit mit den Campern und seinen Spaziergängen im Hafengebiet verbracht hatte.

Sie bot ihm eine Fahrkarte für den nächsten Tag an, doch da ihm die Fähre nach Schweden grundsätzlich sympathischer war, weil sie nicht so lange benötigte, um das Festland zu erreichen, bedankte er sich, ohne eine Fahrkarte zu kaufen.

Also wieder zurück zum Schalter der Schwedenfähre. Wieder vorbei an Charlie, Fabio und Pete, die gemütlich ein Bier trinken, das ihm nicht schmeckte, dachte er ironisch. Er fühlte sich frei und gut gelaunt, als würde er sich innerlich darüber freuen, dass es mit der Fähre nicht funktioniert hatte.

Er setzte sich auf eine Steinbank und entsperrte sein Smartphone. Er rief Lisa an und erzählte ihr, dass er keine Fahrkarte bekommen und sich entschieden hatte, noch eine Nacht in Kiel zu bleiben. Er brach das Telefonat rasch ab, als er im Hintergrund Lisas Tochter hörte. Dann öffnete er das erste Mal seit seiner Abreise die sozialen Netzwerke, doch noch immer schien keiner bemerkt zu haben, dass er weg war. Andererseits war er auch erst seit einem Tag unterwegs, obwohl es ihm länger vorkam. Nur seine Cousine hatte ihm eine Nachricht geschrieben und fragte, wo er war. Sie hatte es sicherlich von seiner Oma erfahren. Wann würden die Fragen der anderen kommen? Schon bald würde Lisa damit beginnen, den Freundeskreis zu informieren, sofern die mal nach ihm fragten.

Jetzt gab es keinen Weg mehr zurück, er musste weiter nordwärts, sonst würde er sich lächerlich machen, wenn er einfach so wieder zurückkam.

Er machte ein Foto von der Fähre und stellte das Bild als neues Profilbild in den sozialen Netzwerken ein – vielleicht als kleiner Ansporn, wirklich weiterzureisen und es sich nicht anders zu überlegen.

Joris machte sich auf den Weg zum Hotel. Unterwegs kaufte er sich etwas zu essen. Er aß in seinem Hotelzimmer, schaute fern, langweilte sich und wurde immer enttäuschter darüber, dass er es nicht geschafft hatte, zumindest eine der Fähren zu erreichen.

*

Gegen Abend hielt er es in seinem Hotelzimmer nicht mehr aus, zog seine Jacke an und lief zu der Stelle, an der er am Abend zuvor auf Charlie und Fabio getroffen war. Doch sie waren nicht da. Er war versucht, zum Parkplatz zu laufen, schämte sich aber für seine seltsame Faszination und wollte sich nicht noch lächerlicher machen, als er es sowieso schon getan hatte.

Er aß ein paar Chips und trank eine Bio-Limo, während er die Jugendlichen mit den Skateboards beobachtete. Die Sonne ging unter, es wurde kälter, und der gesamte Hafen wirkte orange im Dämmerlicht. Es sah wunderbar aus. Joris machte ein Bild, diesmal nur für sich, als Erinnerung daran, dass er sich zu Beginn der Reise selbst so viele Steine in den Weg gelegt hatte.

»Hey.«

Joris zuckte zusammen, dann sah er auf. Charlie stand da. Sie lächelte ihn an und zeigte auf den Platz neben ihn. »Darf ich mich setzen, Kumpel?«

Joris spürte, wie sein Herz einen Sprung vor Freude machte. Er rutschte zur Seite. »Klar, natürlich.«

Hatte sie ihn gesucht? War sie aus Zufall hier? Er betrachtete sie und erwiderte ihr Lächeln.

Nach einem Moment des Schweigens sagte Charlie: »Du hast nach meinem Namen gefragt, aber nie deinen Namen verraten.«

»Joris.«

Sie boxte ihm mit dem Ellenbogen in die Seite. »Freut mich, dich kennenzulernen, Joris.«

Wieder schwieg sie, und Joris tat es genauso, weil er nicht wusste, was er mit der fremden Frau reden sollte. »Also, wohin willst du?«, fragte Charlie.

Joris zögerte. Dann schüttelte er den Kopf. Er würde ihr den Ort nicht verraten. Er würde vage bleiben. Nicht mal Lisa oder seinen Großeltern hatte er den genauen Ort gesagt. Er hatte einen Zettel mit allen Daten auf seinen Esszimmertisch gelegt, und erst wenn einer von ihnen seine Wohnung betrat, würden sie es wissen. »Erst mal nach Skandinavien«, sagte Joris. »Aber ich habe keine Fahrkarte bekommen.«

»Du wolltest mit dem Luxusdampfer fahren?« Charlie lachte und sah ihn vergnügt an. »Abgefahren, ich würde es da nicht mal eine Stunde aushalten. Fabio würde sich eingesperrt fühlen und so viel rauchen, bis er vollkommen zugedröhnt wäre und nichts mehr anstellen könnte, aber ich … Ich glaube nicht, dass ich mich da wohl fühlen würde.«

»Ich glaube, ich auch nicht«, sagte Joris und musste innerlich die Augen darüber verdrehen, dass er sich tatsächlich mit Charlie verglich.

Charlie lachte und schüttelte den Kopf. »Warum willst du es dir dann antun?«

»Hast du eine andere Idee, wie ich da rüberkomme?«, fragte Joris und zeigte aufs Meer.

Charlie schwieg und zog Zigaretten aus der Hosentasche. Sie zündete sich eine an und hielt Joris die Packung hin. Er hatte vor Jahren aufgehört zu rauchen und wollte nicht wieder damit anfangen. E schüttelte den Kopf.

»Wir reisen eigentlich zu viert«, erzählte Charlie. »Es war nicht geplant, dass wir momentan nur zu dritt sind.«

»Ihr … äh … Reist ihr viel zusammen?«, fragte Joris. Er hatte jede Menge Fragen, aber keine davon war nicht peinlich.

»Wir leben zusammen«, korrigierte Charlie schmunzelnd. Machte sie sich über ihn und seine Unbeholfenheit lustig?

»Und wo ist der Vierte?«

Charlie sah ihn an, dann hob sie eine Augenbraue. »Warum denkst du, dass es ein Kerl ist?«

Joris sah sie fasziniert an, und erneut kam ihm die Erkenntnis, dass sie eine schöne Frau war, die mit aller Macht versuchte, nicht hübsch zu sein durch die abgenutzten Klamotten, die unsauber gestochenen Tattoos auf dem Unterarm und die eigenwillig gefärbten Haare mit einem bereits rauswachsenden Ansatz.

»Ich weiß nicht. Weil Frauen dieses Leben vielleicht … nicht so gerne leben?«

»Alter, was hast du denn für Vorstellungen?« Charlie schüttelte grinsend den Kopf.

»Also … doch eine Frau?«, fragte Joris und hoffte, dass seine Wangen nicht so rot leuchteten, wie sie brannten.

»Ja, Nicky bleibt dieses Mal zu Hause. Familienangelegenheiten. Das erste Mal seit fünf Jahren, dass sie nicht mit uns im Norden herumreist«, erzählte Charlie, und ihr Blick verdüsterte sich etwas. Dann hob sie die Schultern. »Wir treffen uns in Flensburg mit einer befreundeten Gruppe, die haben ihre eigene Karre und sind zu viert, aber wir …« Charlie sah aufs Wasser.

Joris spürte eine nervöse Freude in sich aufsteigen, als ihm bewusstwurde, was sie nun vorschlagen würde. Er war über sich selbst erstaunt, dass er sich das mehr zutrauen würde, als auf eine dieser verdammten Fähren zu gehen.

»Wir bräuchten noch einen Begleiter für die Reise. Die Maut ist teuer, und es ist Verschwendung, den Camper nur zu dritt über die Brücken zu fahren. Wir könnten dich nach der Öresund-Brücke in Malmö rauswerfen«, erzählte Charlie weiter und sah ihn an.

»Ihr wollt, dass ich euch begleite?«, fragte Joris erstaunt. Hatte er Fabio oder Charlie mit seinem unsicheren Verhalten tatsächlich beeindrucken können?

»Also … Pete hat sich für dich ausgesprochen. Fabio und ich hatten jemand anderes in Aussicht, aber naja … Der will jetzt doch nicht. Also hat sich Pete durchgesetzt. Wir wollen morgen los und haben keine Zeit mehr, jemand anderes zu suchen.«

Geschockt sah Joris sie an, dann musste er lachen. »Also Pete, der mich gar nicht kennt, hat sich für mich ausgesprochen?«, fragte er erstaunt. Er war gleichzeitig wie elektrisiert und voller Vorfreude über diese aufregende Möglichkeit, andererseits enttäuscht, dass die beiden Cooleren des merkwürdigen Trios ihn wohl zu langweilig fanden. Aber wer konnte es ihnen auch verdenken? Immerhin hatte er sich bisher auch eher langweilig benommen.

»Also kommst du mit?«, frage Charlie ungeduldig.

Joris runzelte die Stirn. So etwas musste gut überlegt sein. Er dachte an Fabio, der gerne kiffte, und dann dachte er an seine Oma, die sich um ihn sorgte. »Wer von euch fährt denn?«, fragte er, in der Hoffnung, dass die Antwort Pete lauten würde.

Charlie runzelte die Stirn. »Alter.« Sie seufzte und verdrehte die Augen, dann lachte sie. »Wir wechseln uns ab.«

Joris sah sie an und biss sich auf die Lippen.

»Ich kiffe immer nur in den Pausen, und Fabio kann sich mit Gras besser konzentrieren als ohne – also alles kein Problem«, sagte Charlie und hob die Schultern. Dann fügte sie lächelnd hinzu: »Und richtige Drogen nehmen wir grundsätzlich nicht. Viel zu teuer der Kram.«

Joris sah zum Meer hinaus. »Wie beruhigend«, sagte er mit matter Stimme. Dann erinnerte er sich daran, dass Charlie und Fabio lieber jemand anderes gewollt hatten. Bestimmt genau wegen solcher Fragen.

»Schaffen wir es an einem Tag?«, fragte er und hoffte, dass die Frage nicht genauso dumm war.

Charlie sah ihn verdutzt an, und Joris spürte, dass die Frage in der Tat dumm gewesen sein musste.

»Sag mal, wirst du von der Polizei gesucht? Bist du auf der Flucht?«, fragte Charlie neugierig und sah ihn lächelnd an, als wäre das für sie kein besonders großes Ding.

»Ich?«, fragte Joris und trank einen Schluck seiner Limo.

»Du hast es ja offensichtlich eilig. Natürlich werden wir zwischendurch wild campen. Ist doch logisch. Es gibt keinen Grund, möglichst schnell zu reisen. Wir sind da eher gemütlich unterwegs.«

»Ist wild campen dort erlaubt?«, fragte Joris und biss sich auf die Zunge. Gerne hätte er die Frage zurückgedrängt, doch sie war ihm schneller durch die Lippen geschlüpft, als er hatte nachdenken können.

Charlie sah ihn irritiert an, dann berührte sie mit der Hand seine Schultern. »Pack einfach dein Zeug und sei morgen früh gegen zehn Uhr am Camper. Und bring Geld mit. Um alles andere kümmern wir uns. Okay?« Sie sah ihn ernst an. »Und lass uns bitte nicht hängen, wir wollen alle Kosten durch vier statt durch drei teilen. Klar?«

Joris nickte, und noch bevor er sich verabschieden konnte, hatte sie ihm erneut mit der Hand auf die Schultern geschlagen und war aufgestanden. Sie drehte sich im Laufen um und lachte. »Wir werden uns schon noch aneinander gewöhnen.«

Joris war sich sicher, dass er am nächsten Tag am Check-In der Schwedenfähre stehen würde, um ein langweiliges Ticket zu ziehen. Alles andere war ihm zu kompliziert, zu riskant und zu aufregend.

Er trank seine Limo leer und ging in sein Hotelzimmer zurück. Diesmal konnte er bedeutend besser einschlafen.

*

Natürlich war er aufgeregt, als er das Hotelzimmer bezahlte und mit seinem großen Rucksack ein letztes Mal das Hafengebiet durchquerte, doch es war eher eine freudige, fiebrige Aufregung, keine panikartige Nervosität. Auch wenn es vielleicht etwas riskant war, freute er sich dennoch darauf, mit dem Camper nach Malmö zu reisen. Er machte es nicht, weil er das Geld für die Fähre sparen wollte, sondern weil es ihm nicht behagte, alleine auf diesem Kreuzfahrtschiff zu bleiben. Er wollte mehr über Charlie, Fabio und Pete erfahren. Er freute sich darauf, in diesem alten verbeulten Camper mitzufahren. Er lächelte, dann schüttelte er den Kopf. Er war von sich selbst überrascht.

Doch war es nicht auch schön, dass er eine neue Seite an sich kennenlernte? Er lief über den Platz, wo er am Abend zuvor mit Charlie gesprochen hatte, und folgte dem Weg zum Parkplatz.

Die Zelte waren abgebaut, nur noch ein einsamer Stuhl stand vor dem Camper. Darauf hockte Fabio.

»Hey, da ist ja unser Mann«, rief Fabio und stand auf, als Joris auf ihn zulief.

Er war lediglich mit einem Handtuch bekleidet, welches er mit der Hand festhielt. Sein Oberkörper wies deutlich weniger Tattoos auf, als Joris erwartet hatte. Mit Sicherheit hatte Fabio über jedes Einzelne eine Geschichte zu erzählen. Über seiner rechten Brust hatte er eine dicke Narbe. Von einer Verbrennung? »Hi«, sagte Joris und setzte den schweren Rucksack ab. Er rang nach Luft. In den Tagen zuvor war er mit Leichtigkeit hier entlanggelaufen, doch mit schwerem Gepäck wurde einem erst bewusst, wie weit die Strecke um den Kai herum war.

»Schön, dass du da bist«, meinte Fabio und setzte sich wieder. Er nahm einen tiefen Zug seiner selbstgedrehten Kippe. Joris war sich sicher, dass es ein Joint war.

Fabio betrachtete ihn, ohne etwas zu sagen. Langsam formten sich seine Lippen zu einem süffisanten Grinsen. »Davon wird man nicht high«, meinte er.

»Ach?« Joris hob die Augenbraue. »Nicht?«

»Neeeee.« Fabio winkte ab. »Das ist besonderes Gras, eine harmlose Sorte. Biologisch angebaut und mild in der Wirkung.« Er streckte den Arm aus und hielt Joris den Joint hin.

Joris schüttelte abwehrend den Kopf. »Mild in der Wirkung?«

»Joris, mein Sonnenschein, denkst du wirklich, ich würde bekifft fahren, wenn du unser Gast bist?«, fragte Fabio und schüttelte den Kopf. Er nahm beide Hände in die Höhe, als würde er von der Polizei verhaftet werden. Dabei verrutschte sein Handtuch und enthüllte dunkle, zart gekrauste Haare unterhalb seines Bauchnabels. Er sah Joris ernst an. »Charlie hat uns erzählt, dass du besorgt bist.«

»Wirst du fahren?«, erkundigte sich Joris und fragte sich gleichzeitig, was mit ihm los war, dass ihn Fabios bekiffter Zustand weniger Sorgen bereitet, als er es müsste.

»Nein, wir dachten, du übernimmst erst mal.« Fabio grinste. »Du kannst doch fahren, oder?

»Ja, ich fahre zwar nicht regelmäßig, aber ich habe einen Führerschein. Doch ich bin mir nicht sicher, ob ich den Camper fahren kann. Sollte ich nicht erst mal außerhalb der Stadt üben oder hier auf dem Parkplatz ein paar Runden drehen, um zu schauen, ob ich mit eurem Wagen klarkomme. Oder …«

»Joris?«, unterbrach Fabio ihn.

Joris runzelte die Stirn. »Ja?«

»Hat Charlie dir eigentlich gesagt, dass du ein Zelt brauchst? Wo wirst du schlafen? Wir werden zwischendurch Halt machen und steuern dabei keine Hotels an«, erläuterte Fabio. Er drückte den Joint auf dem Boden aus. Dabei wurde seine Körpermitte endgültig entblößt.

Worauf hatte Joris sich da nur eingelassen? »Also?«, fragte Fabio und faltete mit Sorgfalt das Handtuch zusammen. »Hast du ein Zelt?«

»Ich … äh … wusste nicht, dass wir …«

»Hey.« Fabio legte die Finger auf seinen Arm. Seine Fingerspitzen waren kalt. Kein Wunder, wenn er an einem herbstlichen Vormittag nackt vor seinem Camper saß und kiffte. »Hey«, wiederholte er beruhigend und zwinkerte. Dabei drehte er seinen Kopf, und die bunten Kugeln seiner kinnlangen Dreads schlugen ihm gegen die Wange. »Du kannst mein Zelt haben.«

Joris errötete. »Das musst du nicht. Macht euch keine Umstände. Ich kaufe mir ein Zelt.«

Fabio machte eine ausufernde Geste. »Du bist unser Gast. Du erinnerst dich, oder?«

Joris nickte und nahm sich vor, in Flensburg dennoch ein Zelt zu kaufen. »Wo willst du schlafen, wenn du mir dein Zelt gibst?«

»Ich geh zu Charlie. Oder willst du bei ihr schlafen?«, fragte Fabio und stand auf.

Sofort wurde Joris heiß. »Äh. Ich kaufe einfach ein Zelt«, murmelte er peinlich berührt.

»Keine Umstände. Du nimmst mein Zelt, und ich geh zu Charlie. Wir haben schon so manche Nacht miteinander verbracht. Irgendwie muss man sich im Winter warm halten, oder?« Fabio zwinkerte erneut, dann sah er an sich hinab und schüttelte den Kopf, als wäre ihm erst jetzt aufgefallen, dass er nicht angezogen war. »Ich zieh mich mal an«, brummte er.

»Okay«, sagte Joris und war irgendwie froh, dass er sich an den Gedanken gewöhnen konnte, den Camper nach Flensburg fahren zu müssen. Er wusste nicht, was sicherer war: Selbst zu fahren, obwohl er den Wagen nicht kannte, oder Fabio fahren zu lassen, der durch seinen regelmäßigen Konsum von Marihuana wohl tatsächlich ganz gut klarkam. Andererseits hatte er doch recht zugedröhnt gewirkt.

*

Zum Glück gab es eine Möglichkeit, sie nach Flensburg zu bringen, ohne sich zwischen diesen beiden Möglichkeiten entscheiden zu müssen. Pete bot an, zu fahren. Er bot Joris auch an, vorne auf dem Beifahrerplatz zu sitzen, damit sie sich besser kennenlernen konnten.

Joris war ihm außerordentlich dankbar. Er wusste nicht, ob er ein weiteres Gespräch mit Fabio überstehen würde und ob Charlie ihn nicht zu nervös machen könnte.

Zu Beginn der Fahrt erzählte Pete, dass das mit dem Wildcampen kein Problem darstellte, weil sie innerhalb von Deutschland und Dänemark die geheimen Plätze kannten, wo es geduldet wurde. In der Nähe von Flensburg würden sie auf einem Grundstück campen, das einem Landwirt gehörte, bei dem sie vor drei Jahren Erntehelfer gewesen waren. Joris erfuhr, dass sowohl Schweden als auch Norwegen für unbesorgtes Wildcampen standen, und die Gruppe sich dort besonders frei fühlte. Sie waren schon im Süden gewesen, doch das bedeutete immer große Vorbereitungen und Sorgfalt, um die richtigen Plätze herauszusuchen, wo sie ohne Strafe davonkamen.

Während Pete redete, starrte Joris ihn an und musste feststellen, dass er wohl doch genauso verrückt war, wie die anderen beiden und das Trio ganz gut zueinander passte.

Laut Navi sollten sie von Kiel nach Flensburg lediglich eine Stunde brauchen, doch Fabio musste zweimal aufs Klo, also fuhr Pete alle zwanzig Minuten auf einen Rastplatz. Während Fabio gegen den Baum pinkelte und Charlie sich zum Rauchen draußen auf einen Stein setzte, hatte Joris die Gelegenheit, sich mit Pete zu unterhalten, ohne das Gefühl zu haben, ihn dabei vom Fahren abzulenken.

»Kennt ihr euch schon lange?«, fragte er und beobachtete die beiden anderen, die sichtbar ihren Spaß in der Pause hatten, die bösen Blicke ignorierend, die ihnen von anderen Menschen zugeworfen wurden.

»Fabio kennt Charlie und mich schon ewig, aber er hat uns erst vor fünf Jahren miteinander bekannt gemacht. Seitdem ist auch Nicky dabei«, erläuterte Pete.

»Und ihr lebt … ähm … Charlie erzählte, ihr lebt zusammen. In einer WG, vermute ich?«

»So ungefähr. Hier im Camper«, antwortete Pete.

Joris verschluckte sich und musste husten. »Im Camper?«

»Meistens«, antwortete Pete und lächelte, schien aber kein Interesse zu haben, mehr darüber zu erzählen.

»Und mit wem treffen wir uns?«, fragte Joris. »Charlie erwähnte da was.«

»Eine andere Gruppe. Mit denen reisen wir häufiger, aber den Winter über gehen wir getrennte Wege«, erzählte Pete. Bevor Joris weiterbohren konnte, fügte er hinzu: »Hannah und Fiefie kennen wir schon ewig. Die ziehen jetzt mit einem Paar herum: Anita und Sven. Ich kenne die kaum. Ich kann dir also nur wenig von ihnen erzählen.«

Joris nickte. Er hatte tausend weitere Fragen, aber Pete wirkte so reserviert, dass er sich nicht traute, nachzuhaken. Schon bald stiegen Fabio und Charlie wieder ein, und Pete startete den Motor. Joris sah aus dem Fenster und fragte sich, wie er Lisa seine Reisebegleiter und die Umstände, die sie zusammengeführt hatten, erklären konnte.

»Gut, dass wir gleich da sind«, sagte Fabio kurz vor Flensburg. »Ich muss schon wieder pissen.«

»Du hast eine Blasenentzündung, Kollege«, meinte Charlie und wirkte amüsiert. »Das ist, weil du nachts immer nackt kiffst. Das tut dir nicht gut.«

»Meine Blutwerte sind nahezu perfekt, Liebes«, konterte Fabio.

Joris runzelte verwundert die Stirn und fragte sich, ob Fabio der Typ dafür war, regelmäßig zum Hausarzt zu gehen, um sich ein Blutbild machen zu lassen. Irgendwie passte das nicht ganz zusammen. Außerdem konnten seine Werte bei diesem Haschischkonsum kaum nahezu perfekt sein.

»Auch wenn deine Werte irgendwann mal gut waren, kann es trotzdem sein, dass du jetzt eine Blasenentzündung hast«, widersprach Charlie.

»Soviel ich weiß, diagnostiziert man eine Blasenentzündung über einen Urintest«, mischte Joris sich ein. »Nicht über ein Blutbild.«

Fabio zeigte mit weit aufgerissenen Augen auf ihn. »Hör auf den Mann. Er hat bestimmt Medizin studiert. Oder?«

Joris grinste. »Informatik.«

»Hör auf den Mann, Charlie«, wiederholte Fabio. »Er weiß, von was er spricht.«

»Wir sind gleich da«, teilte Pete mit und drehte das Radio lauter, wunderbare Gitarrenklänge hinterlegt mit Klaviertönen, sehr beruhigend und ausgleichend. Sein Musikgeschmack gefiel Joris. Er dachte, dass er sich mit Pete gut verstehen würde. Leider war er nicht sehr gesprächig.

»Gut«, wiederholte Fabio. »Ich muss pissen. Beeil dich bitte.«

Pete verdrehte die Augen. Er manövrierte sie gekonnt durch die Stadt an einen abgeschiedenen Platz, wo bereits ein Wohnmobil mit drei Zelten stand. Joris seufzte. Er wusste nicht, ob er schon bereit war, neue Leute zu treffen.

*

»Komm, lass mich dich vorstellen«, rief Charlie, als sie die Tür öffnete und freudig aus dem Camper sprang, noch bevor Pete den Motor abgestellt hatte. Sie riss die Beifahrertür auf und nahm Joris' Hand. Ihre Augen glänzten, und ihr Strahlen war so gigantisch, dass es ihr komplettes Gesicht erhellte. Sie freute sich sichtlich darüber, die andere Gruppe wieder zu treffen.

Auch Fabio hatte seinen Drang zu pinkeln vergessen und stürmte auf die dunkelhaarige Frau zu, die ihn sofort in den Arm nahm. Und auch Pete, den er für reserviert und ruhig gehalten hatte, rannte auf einen hageren Typen mit dunkler Haut und blondierten Haaren zu und umarmte ihn so herzlich, dass Joris erstaunt blinzelte.

Er hatte keine Zeit, über die herzlichen Begrüßungen nachzudenken, denn Charlie zog ihn hinter sich her, direkt zu dem Pärchen, das laut Pete neu in der anderen Gruppe war.

»Hey, schön, dass ihr euch Hannah und Fiefie angeschlossen habt«, sagte Charlie und umarmte zunächst die Frau, dann den Mann. Dann zeigte sie auf Joris. »Das ist unser Welpe Joris.«

Joris schluckte seine Empörung runter. Er hatte es wohl nicht anders verdient, mit all den Anfängerfragen, die er gehabt hatte. Er streckte dem Paar die Hand hin, die wurde jedoch ignoriert, und die Frau nahm ihn ebenfalls in den Arm. Joris versuchte, sich an die Namen zu erinnern, die Pete ihm im Auto gesagt hatte.

»Anita und Sven, richtig?«, fragte er, nachdem die Frau ihn losgelassen hatte.

»Das ist korrekt, Joris«, meinte der Mann und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schultern und ignorierte weiterhin seine Hand trotz seines grundsätzlich freundlichen Verhaltens.

Das Paar wirkte ähnlich wie Pete den anderen nicht zugehörig. Sie sahen vollkommen normal aus. Beide waren ungewöhnlich blond, Sven war etwas kräftiger als Joris mit breiten Schultern und muskulösen Oberarmen, Anita hatte ihr langes blondes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Mit der hellen Haut sah sie fast klischeehaft wie eine Schwedin aus. Ihre Klamotten waren sauber und wirkten teuer, und das Zelt, vor dem sie standen, war größer, professioneller und ordentlicher als die zwei kleinen Zelte, von denen Joris vermutete, dass sie den anderen gehörten.

»Komm, du musst Fiefie kennenlernen.« Charlie zog ihn von Anita und Sven weg und ging zu dem hageren, großen Typen mit der dunklen Haut und den kurzen, gebleichten Haaren. Er und Pete unterhielten sich aufgeregt, und Pete wirkte dabei so lebendig, dass Joris abermals verwundert war.

Dann konzentrierte er sich auf Fiefie. Er hatte sich unter dem Namen eine Frau vorgestellt. Er war verwirrt.

Da Charlie und Fiefie sich innig und lang umarmten, hatte Joris genug Zeit, sich den Kerl anzusehen. Er war sich nicht sicher, ob er jemals einen so riesigen Menschen gesehen hatte, der gleichzeitig so dünn war. Es wirkte seltsam auf ihn. Fiefie hatte keine Tätowierungen, dafür war sein Gesicht übersäht mit silbernen Steckern und Ringen. »Ich bin so froh, euch wieder bei uns zu haben«, flüsterte er Charlie ins Ohr.

Joris schluckte. Er fühlte sich unwohl, bei dieser intimen Begrüßung wie ein Idiot nebendran zu stehen. Er drehte sich um und betrachtete die Frau, die von Fabio immer noch im Arm gehalten wurde. Die Mitglieder der anderen Gruppe wirkten älter als Charlie, Pete und Fabio. Die Frau, die Hannah sein musste, wirkte im Vergleich zu Fabio richtig erwachsen, trotz des hippieartigen Aussehens. Sie hatte die gleichen Sterne am Hals tätowiert wie Fabio. Die gleiche Anzahl, an genau derselben Stelle. Fabio sah entspannt aus, nicht mehr so aufgedreht wie noch im Auto, er genoss die Nähe der anderen Frau mit geschlossenen Augen. Als Hannah ihn losließ, legte sie beide Hände auf seine Schultern und redete mit ihm, während Fabio immer wieder nickte und sehr ernst aussah.

»Also, du bist Joris?«, fragte Fiefie.

Joris wandte sich rasch um. Er verzichtete darauf, Fiefie die Hand hinzuhalten, er würde es wohl genauso ignorieren wie die anderen.

»Der Frischling?«, hakte Fiefie nach.

Joris war sprachlos.

Fiefie lachte. »Kein Grund beleidigt zu sein. Willkommen in unserer Familie.« Er zog Joris in den Arm.

»Hannah«, rief Charlie neben ihm, und aus dem Augenwinkel sah Joris, dass Hannah und Fabio Hand in Hand auf sie zu kamen. Wieder war er verwirrt. Er hatte angenommen, Fabio und Charlie waren ein Paar, und da Fabio geplant hatte, bei Charlie im Zelt zu schlafen, hatte Joris sich darin bestätigt gefühlt. Jetzt war er sich nicht mehr sicher, wer hier zu wem gehörte.

Hannah und Charlie umarmten sich – lang, innig, herzlich. Charlie lächelte selig, während sie ihre Wange gegen die von Hannah drückte. Gleichzeitig umarmten Fabio und Fiefie sich, wobei Fabio, der sogar kleiner als Joris war, Fiefie lediglich zur Brust ging. Es sah witzig aus.

Als sich jeder begrüßt hatte, standen alle im Kreis und redeten wild durcheinander. Charlie berichtete von Joris, wie sie ihn am Hafengebiet aufgegabelt hatten und er sich zunächst wie ein Idiot aufgeführt habe, sich aber inzwischen als cooler Typ herausgestellt hatte.

Joris sah auf den Boden und wünschte sich, sie würde nicht so viel von ihrem Kennenlernen erzählen. Als sich die Gruppe trennte, um die restlichen Zelte aufzubauen, war Joris erleichtert, von dem Trubel weggehen zu können. Er holte seinen Rucksack aus dem Camper und half Pete, den Tisch und die Stühle herauszuholen.

Charlie und Fabio bauten die Zelten auf und gingen dabei sehr routiniert vor. Man merkte ihnen an, dass sie das schon häufiger miteinander gemacht hatten. Sie brauchten nicht viel zu reden, arbeiteten Hand in Hand und wussten, welche Arbeitsschritte der andere vorhatte.

Joris nahm das Bier, welches Pete ihm hinhielt, dankbar an, obwohl es wieder das eklige billige Bier war. Er beobachtete Fabio und Charlie und fragte sich abermals, in welcher Beziehung die beiden zueinanderstanden. Dann wollte er Pete seine Hilfe beim Aufbau dessen Zeltes anbieten, doch Fiefie war schneller damit. Joris hatte also die Gelegenheit, sich auf den Boden zu setzen und für einige Minuten für sich allein zu sein. Er genoss die Ruhe. Er bereute nicht, dass er dieser aufregenden Mitfahrgelegenheit zugestimmt hatte, und er war über sich selbst erstaunt, dass er das jetzt so gut genießen konnte, nachdem er sich am Tag zuvor noch so einsam gefühlt hatte.

Er hatte sogar vergessen, auf sein Handy zu schauen. Als er es herauszog, stellte er fest, dass es kaum noch Akku hatte. Da die Möglichkeiten, es zu laden, sicherlich begrenzt waren, überprüfte er lediglich, ob er einen unbeantworteten Anruf hatte. Er nahm wieder einen Schluck des Bieres, steckte das Handy zurück in die Hosentasche und sah in den Himmel. War das, was er da fühlte, das Gefühl von Freiheit? Er lächelte und musste zugeben, dass es eher Stolz war, dass er sich getraut hatte, sich dieser Gruppe anzuschließen.

»Sonnenschein?«

Joris öffnete träge die Augen. Vor ihm stand Fabio und lächelte ihn an. »Du siehst entspannt aus. Ich wollte dir für heute Abend Gras anbieten, aber es scheint, als bräuchtest du das gar nicht, um runterzukommen.«

Joris lachte. »Du doch auch nicht – eigentlich. Oder?«

Fabio tat so, als würde er nachdenken. Dann schüttelte er den Kopf. Er setzte sich neben Joris. »Ich war ziemlich lange sauber, Süßer. Ich genieße das Gefühl zu sehr, endlich wieder bekifft zu sein.«

»Warum …?«

Fabio ließ ihn die Frage nicht aussprechen, sondern zeigte auf das Zelt, das zwischen denen von Peter und Charlie stand, aber doch etwas entfernt von den Zelten der anderen. »Das ist mein Zelt. Sei mein Gast.«

Joris sah auf den Boden. Er fragte sich, ob er Fabio Geld anbieten sollte als Dank, dass er ihm tatsächlich das Zelt überließ, dann befürchtete er, dass das nur wieder zu Gelächter führen würde. »Danke«, sagte er lediglich.

Fabio berührte seine Wade und klopfte leicht gegen den Stoff der Jeans. Es war unbestreitbar, dass Fabio jemand war, der gerne Körperkontakt zu anderen Menschen suchte, es war allerdings auch unbestreitbar, dass er Menschen manchmal an Stellen berührte, die normale Menschen niemals anfassen würden. »Du bist mein Gast. Und jetzt nimm von meinem Gras.«

Joris sah Fabio verwirrt an. »Warum?«, fragte er, es war ihm egal, wenn er sich wieder wie jemand aufführte, der von Charlie als Welpe betitelt werden musste.

»Du bist unser Gast«, wiederholte Fabio und klopfte ihm erneut auf die Wade. Erst jetzt fiel Joris auf, dass Fabio die Hand von seinem Bein nicht weggezogen hatte. Diese Leute waren alle so merkwürdig und dabei gleichzeitig so … ehrlich und offen. Es war anders als bei den Bekannten, die Joris zu Hause hatte, wo jeder auf Konventionen achtete. Man klopfte sich auf die Schulter, wenn man sich überhaupt mal berührte, niemals würde jemand auf die Idee gekommen, sich auf die Waden zu klopfen. Aber warum eigentlich nicht?

»Ich muss pissen«, sagte Fabio und drückte ein letztes Mal seine Wade, dann stand er auf, als Joris lachte. »Gute Besserung, Mann«, rief er Fabio hinterher und lachte erneut, als Fabio sich noch mal umdrehte und die Hand in einer salutierenden Geste von der Stirn wegführte.

*

Da Joris müde und überwältigt war von dem Tag, verabschiedete er sich am Abend recht früh und verzog sich ins Zelt. Glücklicherweise roch es darin nicht nach Gras, was Joris im ersten Moment befürchtet hatte. Das Zelt war bis auf einige Gebrauchsspuren in einem guten Zustand und vor allem sauber.

Joris rollte seinen Schlafsack aus und machte die Taschenlampe an, damit er noch etwas lesen konnte. Er hatte einen E-Book-Reader dabei und sich vor Antritt der Reise genug E-Books heruntergeladen, damit er jede Menge zu lesen hatte, ohne viel schleppen zu müssen. Der Nachteil war, dass der Reader regelmäßig geladen werden musste – genauso wie sein Handy. Das Laden über die Autobatterie im Camper war aber nur begrenzt möglich, und sie waren zu viert.

Also widerstand Joris der Versuchung, mit seinem Smartphone im Internet zu surfen. Er checkte lediglich, ob ihm jemand geschrieben hatte, dann schaltete er es aus.

Wenn Joris ehrlich war, hatte er nicht wirklich Lust zu lesen, gleichzeitig wusste er aber auch, dass er zu aufgewühlt war, um schnell einschlafen zu können. Er starrte an die Zeltdecke, schloss die Augen und ließ sich auf die Geräusche von außen ein. Fabio spielte auf seiner Gitarre, und im Hintergrund hörte man die anderen miteinander sprechen. Ab und zu lachte Charlie fröhlich. Auch Fiefie war gut zu hören. Er hatte eine markante Stimme und den anderen viel zu berichten.

Einen Moment lang genoss Joris das Alleinsein, dann wandte er sich wieder seinem Rucksack zu und öffnete seinen Kulturbeutel. Dort gab es ein Geheimfach, in dem Joris sein Bargeld versteckt hatte. Doch das wollte er gar nicht. Er holte den Umschlag mit den Briefen und dem Foto von seinem Vater heraus. Einige Minuten lang starrte er das Bild an, doch er weinte nicht. Nicht mehr. Er war ausgeweint, komplett leer und erschöpft von den vielen Tränen in den letzten Wochen.

Schließlich packte er die Unterlagen säuberlich in den Kulturbeutel zurück.

Erneut schloss er die Augen und lauschte den Geräuschen von draußen. Obwohl es seine erste Nacht in einem Zelt war, seit er damals mit seinem Vater im Garten seiner Großeltern übernachtet und mitten in der Nacht Angst bekommen hatte, schlief er erstaunlich gut ein.

*

Die Gruppe verbrachte den nächsten Tag an Ort und Stelle. Joris hatte einige Schwierigkeiten, sich mit dem Campingleben zu arrangieren. Die morgendliche Dusche fehlte ihm bereits jetzt. Wenigstens gab es eine Schüssel mit Wasser, so konnte er sich notdürftig waschen und die Zähne putzen. Und es gab Kaffee. Den Tag verbrachte Joris im Kreise der anderen. Er las viel und