8,99 €
Auf ihrer Suche nach Gerechtigkeit durchquert eine junge Frau die halbe Welt Nina wird den Blick nie vergessen. Die Frau hatte sie in eine Falle gelockt und wollte sie töten. Nach dem Krieg ist Nina die Einzige, die weiß, wie die Untergetauchte aussieht. Ian Graham, auf der Suche nach der Mörderin seines Bruders, braucht Ninas Hilfe. Gemeinsam setzen sie sich auf die Spur der Frau, die nur die "Jägerin" genannt wird. Sie haben nicht viel Zeit. Denn eine junge Amerikanerin beginnt an der Geschichte ihrer neuen Stiefmutter zu zweifeln und schwebt in höchster Gefahr. Inspiriert von wahren historischen Ereignissen verbindet Kate Quinn große Weltgeschichte mit einer hinreißenden Liebesgeschichte. "Ein fesselnder Roman und eine ungewöhnliche Frau, die trotz unüberwindbarer Hindernisse schlagfertig, charmant und beharrlich ihren Weg geht." Kristin Hannah, Washington Post "Kate Quinn ist eine mitreißende Erzählerin. Atemberaubend spannend erzählt sie von der kämpferischen und verletzlichen Nina." Kirkus Reviews
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2019
Unbekannte Jägerin
KATE QUINN stammt aus Südkalifornien, studierte in Boston Gesang und hat ein Faible für Geschichte. Alle ihre Romane haben ein historisches Setting und sind in mehrere Sprachen übersetzt worden. Sie lebt mit ihrem Mann in Maryland.
Nina Markowa riskiert alles, um eine »Nachthexe« zu werden. Die junge Frau vom Baikalsee sieht darin vor allem die Möglichkeit, in den Westen zu kommen. Kurz vor dem zweiten Weltkrieg darf sie sich den legendären Kampfpilotinnen anschließen. Als Nina über Feindgebiet abgeschossen wird und entschlossen Richtung Westen marschiert, steht sie der »Jägerin« gegenüber. Nina überlebt die Begegnung mit der kühl kalkulierenden Mörderin nur dank ihrer Tapferkeit. Und weil ein englischer Soldat sich für sie opfert. Nina schwört Rache und tut sich mit dem Kriegsreporter Ian Graham zusammen, der die Mörderin seines Bruders zur Strecke bringen will. Monate später, in Amerika, verdächtigt die junge Jordan ihre neue Stiefmutter, nicht die zu sein, die sie vorgibt. Ihre Neugier wird Jordan fast zum Verhängnis. Als sie Nina trifft, begegnen sich zwei couragierte Frauen. Und die Jägerin wird zur Gejagten. Nina wird den Blick nie vergessen. Die Frau hatte sie in eine Falle gelockt und wollte sie töten. Nach dem Krieg ist Nina die Einzige, die weiß, wie die Untergetauchte aussieht. Ian Graham, auf der Suche nach der Mörderin seines Bruders, braucht Ninas Hilfe. Gemeinsam setzen sie sich auf die Spur der Frau, die nur die »Jägerin« genannt wird. Sie haben nicht viel Zeit. Denn eine junge Amerikanerin beginnt an der Geschichte ihrer neuen Stiefmutter zu zweifeln und schwebt in höchster Gefahr.
Kate Quinn
Roman
Aus dem Amerikanischen von Maja Ueberle-Pfaff und Katrin Harlaß
Ullstein
Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »The Huntress« bei William Morrow, ein Imprint von HarperCollins Publishers, New York.
List ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH
ISBN 978-3-8437-2115-8
© 2019 by Kate Quinn© der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinAutorenfoto: © Kate FurekUmschlaggestaltung: Nach einer Vorlage von © Elsie LyonsUmschlagabbildung: © Harry Todd/Getty Images; © kentaylordesign/Shutterstock; © Igorsky/Shutterstock; © STILLFX/Shutterstock; © Trevillion Images/Marc OwenE-Book Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten
Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.
Auf einigen Lesegeräten erzeugt das Öffnen dieses E-Books in der aktuellen Formatversion EPUB3 einen Warnhinweis, der auf ein nicht unterstütztes Dateiformat hinweist und vor Darstellungs- und Systemfehlern warnt. Das Öffnen dieses E-Books stellt demgegenüber auf sämtlichen Lesegeräten keine Gefahr dar und ist unbedenklich. Bitte ignorieren Sie etwaige Warnhinweise und wenden sich bei Fragen vertrauensvoll an unseren Verlag! Wir wünschen viel Lesevergnügen.
Hinweis zu UrheberrechtenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
Titelei
Der Autor / Das Buch
Titelseite
Impressum
PROLOG
Teil I
Kapitel 1JORDAN
Kapitel 2IAN
Kapitel 3NINA
Kapitel 4JORDAN
Kapitel 5IAN
Kapitel 6NINA
Kapitel 7JORDAN
Kapitel 8IAN
Kapitel 9NINA
Kapitel 10JORDAN
Kapitel 11IAN
Kapitel 12NINA
Kapitel 13JORDAN
Kapitel 14IAN
Kapitel 15NINA
Kapitel 16JORDAN
Kapitel 17IAN
Kapitel 18NINA
Kapitel 19JORDAN
Kapitel 20IAN
TEIL II
Kapitel 21NINA
Kapitel 22JORDAN
Kapitel 23IAN
Kapitel 24NINA
Kapitel 25JORDAN
Kapitel 26IAN
Kapitel 27NINA
Kapitel 28JORDAN
Kapitel 29IAN
Kapitel 30NINA
Kapitel 31JORDAN
Kapitel 32IAN
Kapitel 33JORDAN
Kapitel 34NINA
Kapitel 35IAN
Kapitel 36JORDAN
Kapitel 37IAN
Kapitel 38NINA
Kapitel 39Jordan
Kapitel 40IAN
Kapitel 41NINA
Kapitel 42JORDAN
Kapitel 43IAN
Kapitel 44NINA
Kapitel 45JORDAN
Kapitel 46IAN
Kapitel 47JORDAN
Kapitel 48IAN
Teil III
Kapitel 49JORDAN
Kapitel 50IAN
Kapitel 51Jordan
Kapitel 52IAN
Kapitel 53NINA
Kapitel 54IAN
Kapitel 55JORDAN
Kapitel 56NINA
Kapitel 57IAN
Kapitel 58JORDAN
Kapitel 59IAN
EpilogNINA
Anhang
Nachwort der Autorin
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
PROLOG
Für meinen Vater – du fehlst mir
Altaussee, ÖsterreichHerbst 1945
Sie war es nicht gewohnt, gejagt zu werden.
Vor ihr erstreckte sich glänzend blau der See. Sie saß auf einer Bank, die Hände locker im Schoß, und ließ ihren Blick über das Wasser schweifen. Neben ihr lag eine zusammengefaltete Zeitung. In großen Buchstaben kündeten die Schlagzeilen von Verhaftungen, Todesfällen, bevorstehenden Prozessen, die in Nürnberg stattfinden würden. Die Frau war nie in Nürnberg gewesen, aber sie kannte die Männer, die dort angeklagt wurden. Manche nur dem Namen nach, mit anderen hatte sie Sektgläser klingen lassen. Sie waren alle dem Untergang geweiht. Verbrechen gegen den Frieden. Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Kriegsverbrechen.
Nach welchem Gesetz?, hätte sie am liebsten laut geschrien und mit Fausthieben gegen die Ungerechtigkeit der Anschuldigungen protestiert. Mit welchem Recht? Aber der Krieg war vorbei, und nun hatten die Sieger das Recht zu bestimmen, was ein Verbrechen war und was nicht. Was Menschlichkeit war und was nicht.
Was ich getan habe, dachte sie, das war menschlich.Das war barmherzig. Aber die Sieger würden dieser Deutung niemals zustimmen. Sie würden in Nürnberg und für alleZeit ihre Urteile fällen und darüber verfügen, aufgrund welcher Taten, die allesamt dem damals geltenden Recht entsprochen hatten, einem Mann die Schlinge um den Hals gelegt wurde.
Oder einer Frau.
Ihre Hand fuhr unwillkürlich an ihren Hals.
Lauf weg, dachte sie. Wenn sie dich finden und begreifen, was du getan hast, werden sie auch dir einen Strick um den Hals legen.
Aber wohin sollte sie fliehen? Wohin auf dieser Welt, die ihr alles genommen hatte, was sie liebte? Sie war eine Jägerin gewesen, und nun war sie die Beute.
Dann versteck dich, dachte sie. Versteck dich im Unterholz, bis sie an dir vorbeigelaufen sind.
Sie stand auf und lief ziellos am See entlang. Schmerzliche Erinnerungen an den Rusalka-See stiegen in ihr auf, ihre Zuflucht in Polen, zerstört und unerreichbar. Sie zwang sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sie wusste nicht, wohin sie ging. Nur eines wusste sie: Sie würde auf keinen Fall hier ausharren, starr vor Angst, bis sie kamen und sie auf die Waagschale einer falschen Gerechtigkeit warfen. Nach und nach verfestigte sich ihr Entschluss.
Weglaufen.
Sich verstecken.
Oder sterben.
April 1946
Sechs Schüsse.
Sechs Mal drückte sie ab, am Ufer des Rusalka-Sees, ohne jeden Versuch, ihre Tat zu verschleiern. Warum auch? Hitlers Traum vom Großdeutschen Reich war noch nicht ausgeträumt, sie war noch nicht genötigt, sich in ein Schattendasein zu flüchten. Dieses Schicksal lag noch Jahre entfernt. In jener Nacht unter dem polnischen Mond konnte sie tun und lassen, was sie wollte – und so ermordete sie kaltblütig sechs Menschen.
Sechs Schüsse, sechs Kugeln. Sechs Körper, die in das dunkle Wasser des Sees fielen.
Sie hatten sich am Ufer versteckt, zitternd vor Kälte und mit angstvoll aufgerissenen Augen – entkommen aus einem der Güterzüge, die nach Osten rollten, oder Überlebende einer der regelmäßig in der Region durchgeführten »rassischen Säuberungen«. Die dunkelhaarige Frau entdeckte sie, tröstete sie, beteuerte ihnen, sie seien in Sicherheit. Sie nahm sie mit in ihr Haus am See und gab ihnen freundlich lächelnd etwas zu essen.
Dann führte sie sie wieder nach draußen und tötete sie.
Vielleicht blieb sie anschließend noch ein Weilchen stehen, bewunderte den Mond, der sich im Wasser spiegelte, sog den Pulverdampf ein.
Der nächtliche Mord an sechs Menschen auf dem Höhepunkt des Krieges war nicht ihr einziges Verbrechen. Es gab weitere. Die Jagd auf polnische Arbeiter im dichten Wald als eine Art Spiel. Gegen Kriegsende der Mord an einem jungen englischen Kriegsgefangenen, der aus seinem Lager entkommen war. Und niemand weiß, welche anderen Verbrechen noch auf ihrem Gewissen lasten.
Sie nannten sie »die Jägerin«. Sie war die junge Geliebte einen SS-Offiziers im besetzten Polen, Gastgeberin rauschender Feste am See, eine hervorragende Schützin. Vielleicht war sie die Rusalka, nach der der See benannt war – eine bösartige, todbringende Wasserhexe.
Ich denke an sie, während ich zwischen den Journalisten im Nürnberger Justizpalast sitze und erlebe, wie zäh sich die Verhandlungen dahinschleppen. Die Mühlen der Gerechtigkeit mahlen, wenn auch langsam; die graugesichtigen Männer auf der Anklagebank werden von ihnen zermalmt werden. Aber was ist mit denen aus der zweiten Reihe, denen, die ins Dunkel entkommen, während wir unsere hellen Scheinwerfer auf diesen Gerichtssaal richten? Was ist mit der Jägerin? Bei Kriegsende war sie verschwunden. Es lohnte sich nicht, sie zu verfolgen, an ihren Händen klebte nur das Blut von einem guten Dutzend Menschen, und es galt, Mörder aufzuspüren, die Millionen auf dem Gewissen hatten. Von ihrer Sorte gab es viele: kleine Fische, nicht wert, dass man die Netze nach ihnen auswarf.
Wo werden sie in Zukunft leben?
Wohin ist die Jägerin verschwunden?
Und: Wird jemand die Verfolgung aufnehmen?
Selkie Lake, drei Stunden westlich von BostonApril 1946
»Wer ist sie, Dad?«
Jordan McBride hatte sich den Zeitpunkt für ihre Frage genau überlegt. Ihr Vater, der gerade zum Wurf angesetzt hatte, zuckte erwartungsgemäß zusammen, und die Angelschnur sauste nicht über den See, sondern verfing sich im Geäst eines ausladenden Ahornbaums. Jordans Kamera klickte und fing seinen bestürzten Gesichtsausdruck ein. Dan McBride stieß ein paar derbe Flüche aus, befahl ihr, sie umgehend zu vergessen, und Jordan sagte »Ja, Sir!« und amüsierte sich königlich.
Natürlich kannte sie alle seine Flüche auswendig. Das passierte unweigerlich, wenn man als Tochter eines Witwers an sonnigen Frühlingswochenenden zum Angeln mitfuhr, anstelle des Sohnes, den es nicht gab. Jordans Vater, der am Ende eines schmalen Landungsstegs gesessen hatte, stand auf und befreite seine Angelschnur. Jordan hob ihre Leica, um seine dunkle Silhouette vor dem Hintergrund von Laub und Wasser auf Film zu bannen. Später, in der Dunkelkammer, würde sie ein bisschen herumexperimentieren. Vielleicht bekam sie es hin, dass die Blätter auf dem Bild ein wenig unscharfwurden, damit sie so aussahen, als ob sie sich tatsächlich bewegten …
»Sag schon, Dad«, bekniete sie ihn. »Erzähl mir von der mysteriösen Unbekannten!«
Dad rückte seine verblichene Red-Sox-Kappe zurecht. »Wer sagt denn, dass es eine mysteriöse Unbekannte gibt?«
»Deine Angestellte hat ausgeplaudert, dass du an den Abenden, an denen du angeblich bis in die Puppen arbeiten musstest, eine Frau zum Essen ausgeführt hast.« Jordan hielt den Atem an. Hoffentlich stimmte es. Ihr Vater hatte schon so lange keine Verabredung mehr gehabt. Wenn er und Jordan, was selten genug vorkam, sonntags in die Kirche gingen, winkte ihm so manche Dame mit ihren behandschuhten Fingerspitzen neckisch zu, aber zu Jordans Enttäuschung schien Dad nie interessiert.
»Ach, das hat überhaupt nichts zu sagen …« Dad druckste verlegen herum, aber Jordan glaubte ihm kein Wort. Ihr Vater und sie waren sich sehr ähnlich. Sie hatte genügend Fotos geschossen, um die äußeren Merkmale zu erkennen: eine klassische Nase, gerade Augenbrauen, dunkelblondes Haar, das bei ihm von der Baseballkappe verdeckt wurde und bei ihr als lockerer Pferdeschwanz darunter hervorquoll. Mit ihren knapp achtzehn Jahren hatte sie mittlerweile sogar seine Körpergröße erreicht, und das bedeutete, sie war groß für ein Mädchen. Aber die Ähnlichkeit ging weit über das Körperliche hinaus; Jordan kannte ihren Vater in- und auswendig. Nachdem sie mit sieben Jahren ihre Mutter verloren hatte, waren sie beideallein geblieben, und sie wusste genau, wann Dan McBride Anstalten machte, ihr etwas Wichtiges mitzuteilen.
»Raus damit, Dad«, verlangte sie streng.
»Sie ist Witwe«, gestand Dad endlich. Zu Jordans Entzücken wurde er dabei rot. »Mrs Weber ist vor drei Monaten zum ersten Mal in den Laden gekommen.« Unter der Woche stand ihr Vater in Anzug und Weste routiniert und fachkundig in einer Seitenstraße der Newbury Street hinter der Verkaufstheke von McBride’s Antiques. »Sie war gerade aus Boston hergezogen und verkaufte ihren Schmuck, um sich über Wasser zu halten. Ein paar Goldkettchen und Medaillons, nichts Ungewöhnliches, aber sie besaß außerdem eine Kette aus grauen Perlen, ein schönes Stück. Sie hat sich sehr zusammengerissen, aber als es darum ging, sich von den Perlen zu trennen, brach sie in Tränen aus.«
»Lass mich raten. Du hast sie ihr sehr galant zurückgegeben und ihr für die anderen Schmuckstücke einen höheren Preis geboten, sodass sie mit dem erhofften Betrag in der Tasche den Laden verließ.«
Dad holte die Angelschnur ein. »Sie verließ den Laden auch mit einer Einladung zum Essen.«
»Sieh mal einer an, du Schwerenöter! Und weiter?«
»Sie ist Österreicherin, aber sie hat in der Schule Englisch gelernt und spricht es fast fehlerfrei. Ihr Mann ist 1943 als Soldat gefallen …«
»Auf welcher Seite?«
»Solche Dinge sollten keine Rolle mehr spielen, Jordan. Der Krieg ist vorbei.« Dad befestigte einen neuenKöder an der Schnur. »Sie hat eine Aufenthaltserlaubnis für Boston, aber es war dort schwierig für sie. Sie hat eine kleine Tochter …«
»Eine Tochter?«
»Ruth. Vier Jahre alt, spricht kaum ein Wort. Aber sehr niedlich.« Er zupfte übermütig an Jordans Kappe. »Du wirst sie mögen.«
»Dann ist es also schon was Ernstes«, staunte Jordan. Ihr Vater hätte das Kind dieser Frau nicht kennengelernt, wenn es ihm nicht ernst wäre. Aber wie ernst?
»Mrs Weber ist eine feine Frau.« Dad warf die Angelschnur aus. »Ich möchte sie nächste Woche zu uns zum Essen einladen, sie und Ruth. Ein Abendessen zu viert.«
Er blickte seine Tochter besorgt von der Seite an. Und tatsächlich war Jordan ein kleines bisschen irritiert, das musste sie sich eingestehen. Zehn Jahre hatte es nur sie und Dad gegeben, sie waren Freunde gewesen, hatten eine Beziehung gehabt, wie sie nur wenige von ihren Freundinnen zu ihren Vätern hatten. Doch es war nur ein kleiner Stich Eifersucht, viel wichtiger war das Gefühl von Erleichterung. Dad brauchte eine Frau in seinem Leben, das wusste Jordan seit Jahren. Eine Frau, mit der er reden konnte, die ihn ausschimpfte, wenn er seinen Spinat nicht aufaß. Eine andere Frau, außer seiner Tochter, an die er sich anlehnen konnte.
Wenn es noch einen weiteren Menschen in seinem Leben gibt, wird er sich vielleicht nicht mehr so stur weigern, dich aufs College gehen zu lassen, flüsterte eine leise Stimme in ihrem Kopf, die sie schnell verscheuchte. Im Moment zählte nur Dad – sie sollte sich für ihn freuen und nicht darauf hoffen, dass sich die Dinge zu ihren Gunsten entwickeln könnten. Und sie freute sich ehrlich für ihn. Seit Jahren fotografierte sie ihn, aber ganz gleich, wie breit er in die Kamera lächelte – wenn die scharfen Falten in seinem Gesicht wie von Geisterhand aus der Entwicklerflüssigkeit auftauchten, kam ihr immer nur ein Wort in den Sinn: einsam.
»Ich bin so gespannt darauf, sie kennenzulernen«, beteuerte sie aufrichtig.
»Sie kommt am nächsten Mittwoch um sechs mit Ruth zu uns.« Mit Unschuldsmiene fuhr er fort: »Du kannst Garrett ebenfalls einladen, wenn du willst. Er gehört ja auch zur Familie oder könnte es …«
»Du kannst den Zaunpfahl wieder wegstecken, Dad.«
»Er ist ein netter Kerl. Und seine Eltern lieben dich.«
»Sein Dienst bei der Air Force ist gerade erst zu Ende, und er geht bald aufs College. Es könnte doch sein, dass er keine Zeit für seine Highschool-Freundin hat. Aber du könntest mich ja mit ihm auf die Uni Boston schicken. Die Fotografiekurse dort …«
»Netter Versuch, Missy.« Dads Blick wanderte auf den See hinaus. »Die Fische beißen nicht an.« Und ich auch nicht, hieß das.
Taro, Jordans schwarze Labradorhündin, hob die Schnauze von ihrem Sonnenplätzchen, als Jordan und ihr Vater über den Steg zum Ufer zurückgingen. Jordan machte noch schnell einen Schnappschuss von den beiden Schatten,die sich Seite an Seite über die vom Wasser verzogenen Holzplanken bewegten, und fragte sich, wie vier Schattengestalten wohl aussehen würden. Sie dachte an die unbekannte Mrs Weber. Bitte, flehte sie innerlich, bitte mach, dass ich dich mag.
Eine schmale Hand hob sich ihr entgegen, und blaue Augen lächelten. »Wie schön, dass wir uns endlich kennenlernen.«
Jordan ergriff die Hand der Frau, die ihr Vater gerade ins Wohnzimmer geführt hatte. Anneliese Weber war klein und schlank, sie trug das dunkle Haar zu einem glänzenden Nackenknoten geschlungen, und ihr einziger Schmuck bestand aus einer grauen Perlenkette. Ein dunkel geblümtes Kleid und ausgebesserte, aber makellos saubere Handschuhe vermittelten den Eindruck diskreter Eleganz mit leichten Verschleißerscheinungen. Sie hatte ein junges Gesicht – laut Dad war sie achtundzwanzig –, aber in ihrem Blick lag etwas, das sie älter wirken ließ. Das war nicht verwunderlich, denn schließlich musste sie sich als Kriegerwitwe mit einem kleinen Kind in einem fremden Land ein neues Leben aufbauen.
»Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen«, erwiderte Jordan und meinte es ehrlich. »Und das muss Ruth sein.« Das Kind neben Anneliese Weber war herzallerliebst – blonde Zöpfe, ein blauer Mantel und ein ernstes kleinesGesichtchen. Jordan streckte ihr die Hand entgegen, aber Ruth wich erschrocken zurück.
»Sie ist schüchtern«, entschuldigte sich Anneliese. Sie hatte eine klare, dunkle Stimme und sprach fast ohne deutschen Akzent. »Ruth hat sehr unruhige Zeiten durchgemacht.«
Jordan lächelte die Kleine an. »In deinem Alter habe ich fremde Leute auch nicht gemocht.« Das stimmte nicht, aber etwas an Ruths ängstlicher Miene weckte in ihr den Wunsch, der Kleinen die Anspannung zu nehmen. Und sie bekam große Lust, Ruth zu fotografieren. Die runden Wangen und blonden Zöpfe ergäben ein wundervolles Motiv.
Dad nahm den Besucherinnen die Mäntel ab, und Jordan lief in die Küche, um nach dem Hackbraten zu sehen. Als sie wiederkam, hatte ihr Vater den Gästen bereits etwas zu trinken angeboten. Ruth saß mit einem Glas Milch auf der Couch, Anneliese Weber nippte an ihrem Sherry und sah sich im Zimmer um. »Ein hübsches Zuhause. Du bist sehr jung dafür, dass du deinem Vater das Haus führst, Jordan, aber du machst es sehr gut.«
Nett von ihr, dass sie schwindelt, dachte Jordan angenehm überrascht. Im Haus der McBrides herrschte immerzu Unordnung. Es war ein enges dreistöckiges Brownstone-Haus in Süd-Boston. Die Treppen waren steil, die Sofas zerschlissen und bequem, die Teppiche lagen immer leicht schief. Wie sie da kerzengerade vor ihnen saß, jedes Haar an seinem Platz, wirkte Anneliese Weber nicht gerade wie eine Frau, die etwas für schiefe Dinge übrighatte, aber sie nickte beifällig.
»Ist das von dir?« Sie stand auf und trat näher an eine Fotografie vom Boston Common heran, auf der der nebelverhangene Park in einem Winkel aufgenommen war, durch den er sich in eine Traumlandschaft verwandelte. »Dein Vater hat mir erzählt, dass du eine … wie sagt man? … eifrige Knipserin bist.«
Jordan grinste. »Ja, das stimmt. Darf ich Sie nachher fotografieren?«
»Ermutige sie nicht.« Dad legte Anneliese fürsorglich die Hand auf den Rücken und führte sie zur Couch zurück. »Jordan verbringt schon viel zu viel Zeit damit, durch ein Objektiv zu starren.«
»Besser als in den Spiegel oder auf eine Filmleinwand«, erwiderte Anneliese unvermutet. »Junge Mädchen sollten sich mit mehr beschäftigen als mit Lippenstift und Gekicher, oder sie werden mit der Zeit immer kindischer und alberner. Nimmst du Unterricht?«
»Wann immer ich kann.« Seit ihrem vierzehnten Lebensjahr hatte Jordan jede sich bietende Gelegenheit ergriffen, um Fotografiekurse zu besuchen, die sie von ihrem Taschengeld bezahlte, oder sich in Collegeseminare geschlichen, wenn sie einen Professor fand, der die Anwesenheit eines schlaksigen Teenagers in einer der hinteren Bänke belustigt duldete. »Ich nehme Unterricht, ich bringe mir selbst Verschiedenes bei, ich übe …«
»Wenn man etwas gut beherrschen will, muss man es ernst nehmen«, sagte Anneliese. In Jordans Brust breitete sich ein warmes Gefühl aus. Ernst. Gut. Dad sagte nie so etwas über ihre Bilder. »Mit einer Kamera herumfuchteln«, nannte er es kopfschüttelnd. »Na, du wirst schon noch aus diesem Fimmel herauswachsen.«
Ich werde da bestimmt nicht herauswachsen, hatte Jordan mit fünfzehn protestiert. Ich werde die nächste Margaret Bourke-White.
Margaret wer?, hatte ihr Vater lachend gefragt. Er hatte freundlich und nachsichtig gelacht, aber er hatte gelacht.
Anneliese lachte nicht. Sie sah sich Jordans Fotos an und nickte anerkennend. Zum ersten Mal gestattete sich Jordan, das Wort Stiefmutter zu denken.
Im Esszimmer, wo Jordan mit dem guten Porzellan gedeckt hatte, stellte Anneliese Dad interessierte Fragen nach seiner Arbeit im Antiquitätengeschäft, während er ihr die besten Stücke auf den Teller lud. »Ich kenne eine ausgezeichnete Methode, wie man farbiges Glas zum Glänzen bringt«, sagte sie, als er über einen Satz Tiffany-Lampen sprach, den er bei einer Haushaltsauflösung erworben hatte. Sie korrigierte unauffällig Ruths Griff um die Gabel und hörte gleichzeitig aufmerksam zu, als Jordan vom Frühjahrsball an ihrer Schule berichtete, der in Kürze stattfinden würde. »Ein so hübsches Mädchen wie du hat doch sicher einen Verehrer.«
»Garrett Byrne«, antwortete ihr Vater, bevor Jordan den Mund aufmachen konnte. »Ein netter junger Mann, hat sich im Krieg als Pilot gemeldet. Du wirst ihn am Sonntag kennenlernen, falls du dich uns beim Kirchgang anschließen möchtest.«
»Das würde ich sehr gern. Ich habe mich so bemüht, in Boston Freunde zu finden und Nachbarn kennenzulernen. Geht ihr jede Woche in die Kirche?«
»Natürlich.«
Jordan hüstelte in ihre Serviette. Sie und Dad besuchten den Gottesdienst nur selten. Und nun saß er am Kopf der Tafel und glühte förmlich vor Frömmigkeit. Anneliese lächelte und schaute nicht weniger fromm drein, und Jordan saß stumm dabei und sann darüber nach, warum frisch verliebte Paare sich einander immer von ihrer besten Seite zeigten. Das beobachtete sie jeden Tag im Klassenzimmer, und anscheinend benahm sich die ältere Generation auch nicht anders. Vielleicht eignete sich das Thema sogar für eine Fotoserie: Liebespaare aller Generationen, mit Schwerpunkt auf den Ähnlichkeiten, die unabhängig vom Alter auftraten. Mit den richtigen Überschriften und Bildlegenden wäre ein solches Projekt vielleicht sogar so interessant, dass sie es einer Zeitschrift oder Zeitung anbieten könnte …
Der Tisch wurde abgeräumt und der Kaffee serviert. Jordan schnitt die Boston Cream Pie auf, die Mrs Weber mitgebracht hatte. »Aber eigentlich weiß ich nicht, warum ihr sie Pie nennt«, sagte die Besucherin mit einem Funkeln in den blauen Augen. »Das ist ein Kuchen, keine Pastete,und einer Österreicherin kann man nichts anderes weismachen. Wir in Österreich wissen, was ein Kuchen ist.«
»Sie sprechen so gut Englisch!«, sagte Jordan voller Bewunderung. Ob das für Ruth auch galt, hatte sie noch nicht herausfinden können. Das Mädchen hatte bisher kein Wort gesprochen.
»Ich habe Englisch in der Schule gelernt. Und mein Mann hat es beruflich gebraucht, ich habe mit ihm geübt.«
Jordan lag die Frage auf der Zunge, wie Anneliese ihren Mann verloren hatte, aber ihr Vater warf ihr einen warnenden Blick zu. Er hatte schon vorher klare Anweisungen gegeben: »Du wirst Mrs Weber nicht nach dem Krieg oder ihrem Mann fragen. Sie hat deutlich zu verstehen gegeben, dass es eine leidvolle Zeit für sie war.«
»Aber wollen wir nicht alles über sie erfahren?« Sosehr Jordan ihrem Vater auch wünschte, dass er eine liebende Partnerin an seiner Seite hätte, musste es doch die richtige sein. »Was ist falsch daran?«
»Menschen müssen nicht ihre alten Wunden offenbaren oder ihre schmutzige Wäsche waschen, nur weil du alles über sie wissen willst«, hatte Dad gesagt. »Niemand will über einen Krieg reden, den er gerade durchlitten hat, Jordan McBride. Hör also auf, an Stellen herumzustochern, wo du Gefühle verletzt, und bitte auch keine wilden Geschichten.«
Bei diesen Worten war Jordan rot geworden. Wilde Geschichten – das war eine schlechte Angewohnheit, die auf die Zeit vor zehn Jahren zurückging. Als ihre Mutter, an die sie sich kaum noch erinnerte, ins Krankenhaus eingeliefert worden war, hatte man die siebenjährige Jordan zu einer wohlmeinenden, aber unbedarften Großtante verfrachtet, die zu ihr nur gesagt hatte: Deine Mutter ist weggegangen. Wohin, hatte sie nicht gesagt. Folglich hatte sich Jordan jeden Tag eine neue Geschichte ausgedacht: Sie ist Milch holen gegangen. Sie ist zum Friseur gegangen. Und als ihre Mutter dann immer noch nicht zurückkam, wurden die Geschichten immer märchenhafter: Sie ist auf einen Ball gegangen, wie Aschenputtel. Sie ist nach Kalifornien gegangen, um Filmstar zu werden. Bis ihr Vater eines Tages weinend nach Hause gekommen war und Deine Mutter ist zu den Engeln gegangen gesagt hatte. Jordan hatte nicht verstanden, warum nun ausgerechnet diese Geschichte die echte sein sollte, und wieder eine eigene erfunden. »Jordan und ihre wilden Geschichten«, hatte ihre Lehrerin einmal scherzhaft zu ihrem Vater gesagt. »Warum muss sie denn immer was erfinden?«
Weil mir niemand die Wahrheit gesagt hat, hätte Jordan antworten können. Weil niemand gesagt hat: Sie ist krank, und du darfst sie nicht besuchen, weil du dich anstecken könntest. Um die Lücke zu füllen, habe ich mir schönere Geschichten ausgedacht.
Vielleicht hatte sie sich auch deshalb mit neun Jahren so begeistert auf ihre erste Kodak gestürzt. In Fotografien gab es keine Lücken; es war nicht nötig, sie mit Geschichten zu füllen. Mit der Kamera musste sie nichts erfinden, sie konnte die Wahrheit sagen.
Jordans Gedanken wurden von Taro unterbrochen, die ins Esszimmer tapste. Zum ersten Mal kam Leben in die kleine Ruth. »Hund!«, rief sie auf Deutsch.
»Englisch, Ruth!«, mahnte ihre Mutter, aber Ruth saß bereits auf dem Boden und streckte schüchtern die Hand aus.
»Hund«, flüsterte sie noch einmal und streichelte Taros Ohren. Jordan wurde es warm ums Herz. »Ich möchte ein Foto machen«, verkündete sie, rutschte von ihrem Stuhl und holte die Leica. Als sie zurückkam und den Auslöser betätigte, hatte Ruth Taro auf den Schoß gezogen, und Anneliese erklärte mit leiser Stimme: »Wenn dir Ruth sehr still vorkommt und schreckhaft ist oder sich seltsam benimmt … Du musst wissen, dass wir in Altaussee am See eine sehr verstörende Begegnung hatten. Eine Flüchtlingsfrau hat versucht, uns zu berauben. Seitdem ist Ruth argwöhnisch und vertraut fremden Menschen nicht mehr ohne weiteres.« Mehr wollte sie offenbar nicht erzählen. Jordan schluckte ihre Fragen hinunter, bevor Dads warnender Blick sie traf. Außerdem hatte er völlig recht mit seinem Hinweis, dass Anneliese Weber nicht die Einzige war, die nicht über den Krieg sprechen wollte; keiner sprach gern darüber. Anfangs hatten alle groß gefeiert, aber nun wollten alle am liebsten vergessen. Jordan konnte es selbst kaum fassen, dass letztes Jahr um diese Zeit im Radio noch Kriegsberichte gesendet worden waren und Flaggen aus den Fenstern hingen, dass Privatleute Gemüsegärten angelegt hatten und die Jungen auf der Highschool darüber diskutierten, ob wohl alles vorbei sein würde, bevor sie alt genug für den Militärdienst wären.
Anneliese sah lächelnd auf ihre Tochter hinab. »Der Hund mag dich, Ruth.«
»Sie heißt Taro«, sagte Jordan, während sie die Kamera auf das kleine Mädchen richtete, das die sommersprossige Nase gegen die feuchte Hundeschnauze drückte, und ein Bild nach dem anderen knipste.
»Taro«, artikulierte Anneliese langsam. »Was ist das für ein Name?«
»Von Gerda Taro, der ersten Fotografin, die den Krieg direkt an der Front dokumentiert hat.«
»Und sie ist dabei umgekommen, reden wir also nicht weiter über Frauen, die in Kriegsgebieten Bilder machen«, funkte Dad dazwischen.
»Ich würde gerne ein paar Bilder von euch beiden machen …«
»Bitte nicht.« Anneliese wandte das Gesicht ab. »Ich mag es gar nicht, fotografiert zu werden.«
»Nur ein Familienschnappschuss«, beruhigte Jordan sie. Sie hatte wenig für künstliche Posen übrig und bevorzugte spontane Aufnahmen. Durch Stative und Scheinwerfer wurden kamerascheue Menschen noch verkrampfter; sie setzten dann eine Maske auf, und die Aufnahme wurde unecht. Jordan hielt sich am liebsten unauffällig in der Nähe der Menschen auf, die sie interessierten, bis diese vergaßen, dass sie da war, und sich entspannten, ihr wahres Ichzeigten. Das wahre Ich konnte man vor einer Kamera nicht verstecken.
Anneliese stand auf, um den Tisch abzuräumen. Dad half ihr, und Jordan bewegte sich unaufdringlich durch den Raum und fotografierte. Ruth wurde durch gutes Zureden von Taro weggelockt und trug die Butterdose in die Küche. Danach kam Dad sehr bald auf seine Jagdhütte zu sprechen. »Ein wunderschönes Plätzchen, mein Vater hat sie gebaut. Jordan knipst gern den See, und ich fische und gehe manchmal ein wenig jagen.«
Anneliese ließ die schmutzigen Teller ins Spülwasser gleiten und drehte sich um. »Du jagst?«
Dad sah sie erschrocken an. »Manche Frauen haben etwas gegen den Lärm und das Blut.«
»Ganz und gar nicht.«
Jordan legte die Kamera weg und stellte sich an die Spüle. Anneliese bot an, das Geschirr abzutrocknen, aber Jordan lehnte dankend ab, damit die Besucherin Dads geschickten Umgang mit dem Geschirrtuch bewundern konnte. Welche Frau würde einem Mann widerstehen, der wusste, wie man edles Porzellan abtrocknete!
Bald darauf verabschiedeten sich die Besucher. Dad gab seiner neuen Freundin einen keuschen Kuss auf die Wange, aber sein Arm stahl sich für ein paar Sekunden um ihre Taille. Anneliese drückte auch Jordan herzlich die Hand, und sogar Ruth streckte ihr die Finger entgegen, an denen noch die feuchten Spuren von Taros eifriger Zunge klebten. Mutter und Tochter stiegen in der abendkühlen Frühlingsluft die Treppen hinunter, und Dad schloss hinter ihnen die Tür. Bevor er etwas fragen konnte, trat Jordan auf ihn zu und küsste ihn auf die Wange. »Ich mag sie, Dad. Ich mag sie wirklich.«
Aber schlafen konnte sie nicht.
Das schmale Brownstone-Haus besaß ein kleines Untergeschoss mit einem separaten Eingang. Jordan musste außen um das Haus herum bis zu der sehr steilen Außentreppe laufen, an deren Fuß sich eine winzige Tür versteckte. Der Kellerraum war schwer zugänglich und dunkel und eignete sich deshalb für ihre Zwecke besonders gut. Als sie mit vierzehn gelernt hatte, wie man Negative entwickelt, hatte Dad ihr erlaubt, sich dort ihre eigene Dunkelkammer einzurichten.
Jordan blieb auf der Schwelle stehen und sog den vertrauten Geruch nach Chemikalien begierig in sich auf. Das hier war ihr Reich, viel mehr als das gemütliche Schlafzimmer im oberen Stockwerk, mit dem Schreibtisch für die Hausaufgaben und dem schmalen Bett. In diesem Keller hörte sie auf, Jordan McBride zu sein, das junge Mädchen mit dem Pferdeschwanz und der Schultasche, und wurde zu J. Bryde, der Profifotografin. J. Bryde, so würde sie sich später einmal nennen, wenn sie eine richtige Fotografin wäre, wie ihre Idole, deren Porträts die Wände der Dunkelkammer zierten: Margaret Bourke-White, mit gezückter Kamera und offensichtlich kein bisschen ängstlich in schwindelnderHöhe auf einem der gewaltigen Wasserspeier des Chrysler Building kniend. Gerda Taro, hinter einem spanischen Soldaten an eine Steinwand gelehnt, den Blick forschend in den Himmel gerichtet.
Normalerweise hätte sich Jordan ein paar Sekunden Zeit genommen, um ihre Heldinnen zu grüßen, aber irgendetwas ließ ihr keine Ruhe. Sie wusste nicht, was, und fing einfach an, ihre Schalen und Chemikalien auszubreiten.
Die Aufnahmen, die sie beim Abendessen gemacht hatte, im Dunkeln aus der Kamera ziehen und in die Entwicklerdose einspulen, Dose ins Entwicklerbad tauchen. Rotlicht anschalten. Regelmäßig das Entwicklerbad kippen. Entwickelte Filmstreifen ins Stoppbad, dann ins Fixierbad legen. Zusehen, wie die Konturen nach und nach geisterhaft in Erscheinung treten. Ruth beim Spielen mit dem Hund, Anneliese Weber, die sich von der Kamera wegdreht. Anneliese von hinten, beim Geschirrspülen. Die Negative im Waschbecken wässern, zumTrocknen mit Klammern an die Wäscheleine hängen. Langsam an der Leine vorbeigehen.
»Wonach suchst du?«, fragte Jordan in die Stille. Sie hatte sich angewöhnt, Selbstgespräche zu führen, wenn sie hier unten allein war. Am liebsten hätte sie zum Gedankenaustausch einen Kollegen gehabt, vorzugsweise einen glutäugigen ungarischen Kriegsberichterstatter. Sie ging noch einmal an der Wäscheleine entlang. »Was ist dir aufgefallen, J. Bryde?« Es passierte nicht zum ersten Mal, dass eine bestimmte Aufnahme sie kribbelig machte, noch bevor sie entwickelt war. Es war, als hätte die Kamera etwas gesehen, das sie selbst nicht wahrgenommen hatte, und dann wurde sie so lange von ihr gepiesackt, bis sie es mit eigenen Augen und nicht nur durch das Objektiv erkannte.
In fünfzig Prozent der Fälle war dieses Gefühl völlig unbegründet.
»Das hier«, hörte Jordan sich auf einmal sagen. Anneliese Weber am Spülbecken, halb der Kamera zugewandt. Jordan kniff die Augen zusammen, aber das Format war zu klein. Sie brauchte ein größeres. Es wurde Mitternacht, doch das kümmerte sie nicht, sie arbeitete weiter, bis der vergrößerte Papierabzug an der Leine hing.
Jordan trat zurück, die Hände in die Hüften gestemmt. »Objektiv gesprochen«, sagte sie, »ist das eine der besten Aufnahmen, die du je gemacht hast.« Der Auslöser der Leica hatte Anneliese in der Bewegung eingefangen, mit der sie sich, eingerahmt vom bogenförmigen Küchenfenster, der Kamera halb zuwandte. Ihr dunkles Haar bildete einenwunderschönen Kontrast zu dem blassen Gesicht. Und doch …
»Subjektiv gesprochen«, fuhr Jordan fort, »ist diese Aufnahme verdammt unheimlich.« Dad duldete keine unanständigen Wörter, aber wenn es je einen guten Grund für »verdammt« gegeben hatte, dann jetzt.
Es war der Ausdruck auf dem Gesicht der Österreicherin. Jordan hatte ihr einen ganzen Abend lang gegenübergesessen und nichts als freundliches Interesse und ruhige Würde darin erblickt, aber auf der Fotografie kam eine andere Frau zum Vorschein. Sie trug auch hier ein Lächeln zur Schau, aber kein sympathisches. Ihre Augen waren zu Schlitzen verengt, und ihre Hände krallten sich wie in einem reflexartigen Todesgriff um das Geschirrtuch. Den ganzen Abend hatte Anneliese sanft, zerbrechlich und damenhaft gewirkt. Hier gar nicht mehr. Hier sah sie attraktiv und aufregend aus und …
»Grausam.« Das Wort war heraus, bevor Jordan bewusst geworden war, dass sie es dachte. Sie schüttelte den Kopf. Jeder Mensch sah auf Fotos manchmal unvorteilhaft aus. Entweder das Timing war schlecht oder das Licht blendete, und schon wirkte man verschlagen oder sperrte den Mund auf wie ein Idiot. Das Kameraauge log nicht, aber es konnte einen zweifellos in die Irre führen.
Jordan griff nach der Wäscheklammer, mit der der Abzug befestigt war, und begegnete dem rasiermesserscharfenBlick der Fremden. Worüber hatten sie in dem Moment gesprochen? Dad hatte von der Hütte erzählt …
»Du jagst?«
»Manche Frauen haben etwas gegen den Lärm und das Blut.«
»Ganz und gar nicht.«
Ungehalten zog Jordan an dem Abzug, um ihn wegzuwerfen. Dad wäre alles andere als angetan. Er würde annehmen, seine Tochter habe das Bild manipuliert, um etwas zu sehen, was nicht existierte. Jordan und ihre wilden Geschichten.
Aber ich habe es nicht manipuliert, dachte Jordan trotzig. Genau so hat deine Freundin ausgesehen.
Sie zögerte kurz, dann legte sie das Foto in eine Schublade. Selbst wenn es in die Irre führte, war es eines der besten, die sie je gemacht hatte. Sie brachte es nicht über sich, das Bild wegzuwerfen.
Köln, DeutschlandApril 1950
Mehr als die Hälfte versuchte zu flüchten.
Eine Zeit lang hielt sein Partner Schritt mit dem Mann. Tony war zwar über zehn Jahre jünger als Ian, aber auch einen halben Kopf kleiner, und mit seinen längeren Beinen lief ihm Ian bei jeder Verfolgung einfach davon. Sie waren hinter einem Mann mittleren Alters her, der verzweifelt einer deutschen Familie auszuweichen versuchte, die mit nassen Handtüchern den Badestrand verließ. Ian spurtete los, spürte, wie sein Hut davonflog, machte sich aber nicht die Mühe, dem Mann zuzurufen, dass er stehen bleiben solle. Diese Leute blieben niemals stehen. Sie würden bis ans Ende der Welt rennen, um ihren Schandtaten zu entfliehen.
Die Familie starrte ihnen verdutzt hinterher. Die Mutter hatte Strandspielzeug im Arm – eine Schaufel, ein rotes Eimerchen mit Sand. Ian drehte ab, riss ihr »Entschuldigung« rufend den Eimer aus der Hand und schleuderte ihn dem Davonrennenden mit voller Wucht direkt vor die Füße. Der Mann stolperte, taumelte und fing sich wieder. In der Zwischenzeit sauste Tony an Ian vorbei und warf den Fliehenden mit einem Hechtsprung zu Boden. Während die beiden zu Boden gingen, kam Ian zum Stehen. Er hob den Eimer auf und reichte ihn der erschrockenen Mutter mit einer Verbeugung und einem angedeuteten Lächeln zurück. Als er sich umdrehte, sah er, dass sich der Mann winselnd auf dem Boden krümmte.
»Ein Fausthieb wäre nicht nötig gewesen«, sagte Ian missbilligend.
»Den hat die Last seiner Sünden umgehauen, nicht meine Faust.« Ians Partner richtete sich auf. Tony Rodomowsky, sechsundzwanzig Jahre alt, mit gebräunter Haut und dunklen Augen, hatte die intensive Ausstrahlung eines Südeuropäers und zugleich die lässige Arroganz eines Yankees. Ian war dem jungen Sergeant mit polnisch-ungarischen Vorfahren zum ersten Mal nach dem Krieg begegnet; aufgewachsen war der junge Mann in Queens.
»Schöner Curveball mit dem Eimer«, fuhr Tony gut gelaunt fort. »Sag nicht, du warst Pitcher bei den Yankees.«
»Bowler in Harrow beim Schulmatch ’29.« Ian hob seinen ramponierten Filzhut auf und drückte ihn sich auf den dunklen Haarschopf, der seit Omaha Beach von grauen Strähnen durchzogen war. »Übernimmst du?«
Tony sah auf den Mann hinab. »Was meinen Sie, Sir? Sollen wir unsere Unterhaltung fortsetzen, bei der ich zuletzt auf einen gewissen Wald in Estland und Ihre diversen Aktivitäten dort zu sprechen kam und Sie es vorzogen zu flüchten?«
Der Mann fing an zu weinen, und Ians Blick wanderte auf den blau glitzernden See hinaus. Wie üblich stellte sich ein Gefühl der Enttäuschung ein, das er niederkämpfen musste. Der Mann, der da in Tränen aufgelöst am Boden lag, war SS-Sturmbannführer in der Einsatzgruppe D gewesen und hatte 1941 in Estland die Erschießung von hundertfünfzig Menschen angeordnet. Mehr als hundertfünfzig, dachte Ian. Hunderttausende hatten die Todesschwadronen in flachen Gräben niedergemetzelt. Doch über einhundertfünfzig von ihnen gab es Dokumente, die in Ians Wiener Büro lagerten: Zeugenaussagen zweier Überlebender mit zitternden Händen, denen die Flucht gelungen war. Einhundertfünfzig reichten aus, um dieses Ungeheuer vor Gericht zu bringen.
Momente wie dieser hätten glorreich sein sollen, aber sie waren es nie. Die Monster sahen in natura immer so gewöhnlich, so erbärmlich aus.
»Ich habe das nicht getan«, würgte der Mann zwischen Tränen hervor. »Diese Dinge, von denen Sie reden.«
Ian schaute ihn nur an.
»Ich habe nur das getan, was andere auch getan haben. Was mir befohlen wurde. Es war legal …«
Ian kniete sich neben ihn und schob ihm einen Finger unters Kinn. Wartete, bis der Blick aus den rot geränderten Augen seinen traf. »Ihre Befehle interessieren mich nicht«, sagte er ruhig. »Es interessiert mich nicht, ob das damals legal war. Ihre Entschuldigungen interessieren mich nicht. Sie sind ein kriecherischer Speichellecker mit Blut an den Händen, und ich will, dass Sie vor den Richter kommen.«
Der Mann wandte den Kopf zur Seite. Ian stand auf und schluckte die auflodernde Wut hinunter, bevor sie aus ihm herausbrach. Es war immer dieselbe verdammte Leier, die in ihm den Wunsch weckte, diesen Kerlen an die Gurgel zu gehen. Befehle. Damit wollten sie sich alle rausreden.
O Urteil, du entflohst zum blöden Vieh, der Mensch ward unvernünftig! … Aber ich nicht. Ian atmete langsam und kontrolliert aus. Weil kontrolliertes Handeln Menschen von Tieren unterscheidet und sie die Tiere sind.
»Setz dich auf ihn drauf, bis er verhaftet wird«, wies er Tony an und ging zurück zum Hotel, um zu telefonieren.
»Bauer«, meldete sich eine krächzende Stimme.
Ian klemmte den Hörer zwischen Schulter und rechtes Ohr – das Ohr, das bei dem unseligen Bombenangriff in Spanien ’37 nicht in Mitleidenschaft gezogen worden war – und wechselte ins Deutsche, das er, wie er wusste, trotz der vielen Jahre noch immer mit einem frostigen britischen Akzent sprach. »Wir haben ihn.«
»Heh! Dann mache ich jetzt Druck auf den Staatsanwalt in Bonn, damit der Hurensohn schnellstens vor Gericht gestellt wird.«
»Mach dem Staatsanwalt Dampf, Fritz! Ich will, dass dieser Mistkerl vor dem schärfsten Richter von Bonn landet.«
Fritz Bauer knurrte. Ian stellte sich vor, wie sein Freund, graue Haarbüschel auf dem fast kahlen Schädel, hinter seinem Schreibtisch in Braunschweig saß und eine seiner ewigen Zigaretten paffte. Kurz bevor ihm die Nazis einen gelben Stern an den Arm heften und ihn nach Osten deportieren konnten, war er erst nach Dänemark und dann nach Schweden geflohen. Sie hatten sich nach dem ersten Nürnberger Prozess kennengelernt, und ein paar Jahre später, als die offiziellen Stellen zur Untersuchung von Kriegsverbrechen aus Geldmangel aufgelöst wurden und Ian sich mit Tony selbstständig gemacht hatte, war Ian sein alter Bekannter wieder eingefallen. »Wir finden die Schuldigen«, hatte Ian Bauer bei einem Glas Scotch versichert, nachdem sie eine halbe Packung Zigaretten geraucht hatten, »und du wirst erleben, dass sie bestraft werden.«
»Damit machen wir uns keine Freunde«, hatte Bauer mit einem freudlosen Lächeln gewarnt, und er sollte recht behalten. Der Mann, den sie an diesem Tag gefasst hatten, würde für seine Verbrechen vielleicht ins Gefängnis kommen, vielleicht aber auch mit einer symbolischen Ohrfeige davonkommen – oder sein Fall käme überhaupt nicht vor Gericht. Der Krieg war seit fünf Jahren vorbei, und die Welt hatte sich weitergedreht. Wen kümmerte es noch, ob die Schuldigen bestraft wurden? »Lasst sie zufrieden«, hatte ein Richter Ian vor nicht allzu langer Zeit geraten. »Die Nazis sind besiegt. Ihr solltet euch lieber Sorgen wegen der Russen machen, nicht wegen der Deutschen.«
»Kümmern Sie sich um den nächsten Krieg, wenn Sie wollen«, hatte Ian gleichmütig erwidert. »Einer muss den Dreck vom letzten aufkehren.«
»Wer steht als Nächstes auf eurer Liste?«, wollte Bauer wissen.
Die Jägerin, dachte Ian. Doch es gab keinerlei Anhaltspunkte, wo sie sich aufhielt, schon seit Jahren nicht. »Ich bin einem Aufseher von Sobibor auf den Fersen. Wenn ich wieder in Wien bin, bekomme ich seine Akte.«
»Dein Büro macht sich allmählich einen Namen. Die dritte Verhaftung dieses Jahr …«
»Kein großer Fisch dabei.« Eichmann, Mengele, Stangl – die wichtigen Nazis lagen weit außerhalb seiner Reichweite, doch das scherte ihn nicht weiter. Er konnte keinen Druck auf ausländische Regierungen ausüben, keine großen Schlachten in puncto Auslieferungen schlagen, aber immerhin konnte er nach unbedeutenderen Kriegsverbrechern suchen, die in Europa untergetaucht waren. Und davon gab es viele: Beamte, Lageraufseher und Funktionäre, die während des Krieges die große Todesmaschinerie am Laufen gehalten hatten. Sie konnten nicht alle in Nürnberg vor Gericht gestellt werden; es fehlte an Personal, Geld und sogar Interesse. So wurde ein paar Nazis der Prozess gemacht, obwohl in manchen Fällen viele andere mit auf die Anklagebank gehört hätten, was Ian mit bitterer Ironie zur Kenntnis nahm. Diese anderen gingen einfach nach Hause. Sie kehrten nach dem Krieg zu ihren Familien zurück, hängten ihre Uniform an den Nagel, nahmen unter Umständen einen neuen Namen an oder zogen, wenn sie vorsichtig waren, in eine andere Stadt … auf jeden Fall lebten sie weiterhin in Deutschland und taten so, als wäre das alles nie geschehen.
Manchmal wurde Ian gefragt, warum er seinen glanzvollen Job als Kriegsreporter für diese verbissene, mühselige Suche nach Kriegsverbrechern aufgegeben hatte. Früher hatte sein Leben daraus bestanden, der nächsten Schlacht und der nächsten Story hinterherzujagen, egal, wohin sie führte, ob nach Spanien in den von Franco angezettelten Bürgerkrieg oder nach Frankreich, um über den Fall der Maginot-Linie und seine Folgen zu berichten. Er kauerte unter einer Plane, die kaum vor der unbarmherzigen Sonne schützte, während er eine Kolumne in die Schreibmaschine hackte, oder spielte in einem ausgebombten Hotel Poker, während er darauf wartete, dass ein Auto käme, oder saß bis zu den Knien im Nassen und kotzte, wenn ein Ladungsboot voller grüngesichtiger Soldaten sich einem Strandabschnitt näherte … Immer zwischen Entsetzen und Langeweile, nur damit der eigene Name über einem Artikel stand.
All das hatte er eingetauscht gegen ein winziges Büro in Wien, in dem sich Verzeichnisse stapelten, gegen endlose Befragungen zugeknöpfter Zeugen und trauernder Flüchtlinge, gegen Namenlosigkeit. »Warum?«, hatte Tony gefragt, kurz nachdem sie ihre gemeinsame Arbeit aufgenommen hatten, und auf die vier Wände ihres trostlosen Büros gedeutet.
Ian hatte mit einem kühlen Lächeln reagiert. »Weil es die gleiche Arbeit ist: Man teilt der Welt mit, dass schreckliche Dinge passiert sind. Was haben all die Zeilen, die ich im Krieg rausgehauen habe, gebracht? Nichts.«
»Hey, ich kenne eine Menge Jungs in der Armee, die deine Kolumne verschlungen haben. Die haben gesagt, du seist der Einzige außer Ernie Pyles gewesen, der für die einfachen Infanteristen geschrieben hätte und nicht für die Generäle in ihren Zelten.«
Ian zuckte die Schultern. »Wenn ich mit der Besatzung einer Lancaster beim Bombenanflug auf Berlin abgestürzt oder auf dem Heimweg von Ägypten von einem Torpedo getroffen worden wäre, hätten hundert andere Schreiberlinge bereitgestanden, um meinen Platz einzunehmen. Weil die Leute vom Krieg lesen wollen. Aber jetzt gibt es keinen Krieg mehr, und frei herumlaufende Verbrecher interessieren niemanden.« Er wies ebenfalls auf die vier Wände des Büros. »Jetzt schreiben wir keine Schlagzeilen, wir machen sie, mit jeder einzelnen Verhaftung. Einen zähen Tropfen Zeitungstinte nach dem anderen. Und anders als all diese Zeitungsspalten, die ich über den Krieg gefüllt habe, ist das tatsächlich von Bedeutung – weil es nicht allzu viele gibt, die hinter uns Schlange stehen, um diese Arbeit zu tun. Was machen wir hier? Wir erfüllen eine Aufgabe, die wesentlich wichtiger ist als alles, was ich je als Journalist zustande gebracht habe. Weil niemand hören will, was wir zu sagen haben, aber jemand dafür sorgen muss, dass wir gehört werden.«
»Warum schreibst du dann nicht über die, die dir ins Netz gegangen sind?«, hatte Tony erwidert. »Vielleicht hören mehr Leute zu, wenn sie sehen, dass dein Name darüber steht.«
»Ich habe geschrieben, anstatt zu handeln.« Ian hatte seit den Nürnberger Prozessen kein Wort mehr zu Papier gebracht, obwohl er seit seinem neunzehnten Lebensjahr als Journalist arbeitete. Damals war der schlaksige Junge aus dem Haus seines Vaters gestürmt und hatte geschrien, er werde sich verdammt noch mal seinen Lebensunterhalt verdienen, anstatt im Klub Scotch zu trinken und darüber zu lamentieren, wie das Land vor die Hunde gehe. Er hatte mehr als fünfzehn Jahre an der Schreibmaschine verbracht und in dieser Zeit seinen Stil verfeinert und geschliffen, bis er messerscharf geworden war. Aber nun glaubte Ian nicht mehr daran, dass er seinen Namen je wieder über einen Artikel setzen würde.
Er blinzelte, als ihm klar wurde, wie lange er mit dem Telefonhörer am Ohr vor sich hingeträumt hatte. »Wie bitte, Fritz?«
»Ich sagte, drei Verhaftungen im Jahr müssen gefeiert werden«, wiederholte Fritz Bauer. »Genehmige dir einen Drink und schlaf gut.«
»Gut geschlafen habe ich seit dem Spanischen Bürgerkrieg nicht mehr«, sagte Ian und legte auf.
In dieser Nacht waren die Albträume besonders verstörend. Er träumte von Fallschirmen, die sich in schwarzen Bäumen verhedderten, und wachte mit einem erstickten Schrei in der anonymen Finsternis seines Hotelzimmers auf. »Kein Fallschirm«, sagte er laut, um den hämmernden Pulsschlag in seinem Ohr zu übertönen. »Kein Fallschirm. Kein Fallschirm.«
Ian ging nackt zum Fenster, stieß die Läden auf, ließ die Nachtluft herein und zündete sich eine Zigarette an, die nach Benzinkanister schmeckte. Er atmete den Rauch aus und lehnte sich gegen die Fensterbank, ließ den Blick über die dunkle Stadt schweifen. Er war achtunddreißig, hatte den halben Globus umrundet, um über zwei Kriege zu berichten, und nun stand er da bis zur Morgendämmerung, erfüllt von einem wütenden, grenzenlosen Hass auf eine Frau, die am Ufer des Rusalka-Sees stand.
»Du brauchst Sex«, meinte Tony.
Ian ignorierte ihn und hämmerte rasch einen Bericht für Bauer in die Schreibmaschine. Sie waren wieder in Wien. Mit ihrer ausgebrannten Staatsoper, von der nur noch die Außenmauern standen, wirkte die Stadt grau und trostlos, doch lebendig im Vergleich zu Köln, das in Schutt und Asche lag und praktisch immer noch wie eine Baustelle mit Wassertümpeln in der Mitte aussah.
Tony knüllte ein Blatt Papier zusammen und warf es nach Ian. »Hörst du mir zu?«
»Nein.« Ian schleuderte den Papierball zurück. »Wirf das in den Papierkorb, wir haben keine Sekretärin, die dir hinterherräumt.«
Das Wiener Dokumentationszentrum für Flüchtlinge in der Mariahilfer Straße – von Ian und Tony nur »das Büro« genannt – war nicht gerade gut ausgestattet. Gleich nach dem Krieg hatte Ian mit Stellen zur Untersuchung von Kriegsverbrechen zusammengearbeitet, die Sachbearbeiter, Fahrer, Vernehmungsbeamte, Übersetzer, Pathologen, Fotografen, Schreibkräfte und Anwälte angefordert hatten, ein räumlich und finanziell gut ausgestattetes Team von mindestens zwanzig Personen. (Nicht dass ihre Forderungen je zur Gänze erfüllt worden wären, aber sie hatten es zumindest versucht.) Im Wiener Dokumentationszentrum gab es nur Tony, der als Fahrer, Verhörspezialist und Übersetzer arbeitete, und Ian, der den Posten einer Schreibkraft, eines Sekretärs und eines sehr schlechten Fotografen bekleidete. Mit der winzigen Rente, die Ian von seinem vor langer Zeit verstorbenen Vater erhielt, ließen sich kaum die Miet- und Lebenshaltungskosten decken. Zwei Männer und zwei Schreibtische, und wir erwarten, dass wir Berge versetzen, dachte Ian trocken.
»Du grübelst mal wieder. Wie immer, wenn wir wen verhaften.« Tony blätterte in einem Stapel Zeitungen in deutscher, französischer, englischer und irgendeiner Sprache mit kyrillischer Schrift, die Ian nicht lesen konnte. »Nimm dir einen Abend frei, such dir eine Frau. Ich treffe mich mit einer Rothaarigen in Ottakring. Die hat eine Zimmergenossin, die reinste Wucht! Führ sie aus, erzähl ihr ein paar Geschichten, wie du dir mit Hemingway und Steinbeck nach der Befreiung von Paris einen hinter die Binde gekippt hast …«
»Das war nicht annähernd so pittoresk, wie du es darstellst.«
»Ist doch egal. Mach was draus! Du kannst Eindruck schinden, Boss! Frauen lieben hochgewachsene, dunkle Männer mit tragischem Schicksal. Du bist groß und schlank, ein wandelndes Archiv heroischer Kriegsgeschichten mit unglücklicher Vergangenheit –«
»Um Himmels willen …«
»– das sich hinter britischer Steifheit und diesem abwesenden Blick versteckt, à la Du wirst nie verstehen, welche Dämonen mich verfolgen. Das ist absolute Katzenminze für die Damen, glaub mir.«
»Bist du fertig?« Ian zog das Blatt aus der Schreibmaschine. »Geh die Post durch, dann hol die Akte über den Assistenten von Bormann.«
»Gut, stirb als Mönch.«
»Warum gebe ich mich bloß mit dir ab?«, stöhnte Ian. »Nutzloser Yankee.«
»Steifer britischer Bastard«, gab Tony zurück, während er den Aktenschrank durchstöberte. Ian verkniff sich ein Grinsen, denn er wusste nur zu gut, warum er sich mit Tony abgab. Als er mit Schreibmaschine und Notizbuch an drei Kriegsfronten unterwegs gewesen war, hatte er Tausende Tonys kennengelernt: erschreckend junge Männer in zerknitterten Uniformen, die blindlings vor Gewehrmündungen liefen. Amerikanische Jungs, die sich, vor Seekrankheit ganz grün im Gesicht, auf Truppentransporter quetschten, englische Jungs, die in Bombern losflogen und deren Chance, die Heimat wiederzusehen, eins zu vier stand … Nach einer Weile hatte Ian es nicht mehr ertragen, die Gesichter aus allzu großer Nähe anzusehen, weil er besser wusste als sie, wie gering ihre Chancen waren, mit dem Leben davonzukommen. Tony hatte er direkt nach Kriegsende kennengelernt. Er war als Übersetzer mit dem Gefolge eines amerikanischen Generals umhergezogen, der ihn wegen Befehlsverweigerung und Nachlässigkeit am liebsten standrechtlich erschossen hätte. Jetzt, wo Sergeant A. Rodomowsky für ihn und nicht mehr für die US-Army arbeitete, verstand Ian den General, doch Tony war der erste junge Soldat gewesen, mit dem Ian sich hatte anfreunden können. Er war frech, er erlaubte sich gerne einen Schabernack und er war eine Nervensäge, doch als Ian ihm zum ersten Mal die Hand schüttelte, hatte er erleichtert gedacht: Der hier wird nicht vor die Hunde gehen.
Es sei denn, ich bringe ihn um, dachte er nun, wenn er mich noch ein einziges Mal auf die Palme bringt. Eindeutig auch eine Möglichkeit.
Er beendete den Bericht für Bauer, stand auf und streckte sich. »Steck dir deine Ohrstöpsel rein«, empfahl er Tony und griff nach seinem Geigenkasten.
»Du weißt schon, dass dir keine Zukunft als Konzertgeiger beschieden ist?« Tony sah flüchtig den Poststapel durch, der sich in ihrer Abwesenheit aufgetürmt hatte.
»Ich spiele schlecht, aber dafür mit sehr wenig Gefühl.« Ian klemmte sich die Violine unters Kinn und stimmte ein Stück von Brahms an. Die Geige half ihm beim Denken, sie sorgte dafür, dass seine Hände beschäftigt waren, während sein Gehirn sich den Fragen widmete, die bei jedem neuen Fall aufkamen. Wer bist du, was hast du getan, und wohin würdest du flüchten? Während er die letzte Note der Coda in die Länge zog, stieß Tony einen Pfiff aus.
»Boss«, rief er über die Schulter, »ich habe Neuigkeiten.«
Ian ließ den Bogen sinken. »Neue Hinweise?«
»Ja.« Tonys Augen funkelten triumphierend. »Die Jägerin.«
In Ians Magen öffnete sich eine Falltür, und es folgte ein langer Sturz in die bodenlose Grube der Wut. Mit langsamen, kontrollierten Bewegungen legte er die Geige zurück in den Kasten. »Ich habe dir ihre Akte nicht gegeben.«
»Sie liegt ganz hinten in der Schublade, und du liest sie, wenn du denkst, ich merke es nicht«, sagte Tony. »Glaub mir, ich hab sie gelesen.«
»Dann weißt du auch, dass die Spur kalt ist. Wir wissen, dass sie noch im November ’44 in Posen war, aber das ist auch alles.« Ian spürte, dass Erregtheit seine gewohnte Vorsicht zu zersetzen begann. »Was hast du gefunden?«
Tony grinste. »Einen Zeugen, der sie nach November ’44 gesehen hat. Genauer gesagt nach dem Krieg.«
»Was?« Ian war gerade dabei gewesen, besagte Akte aus der Schublade zu ziehen; nun ließ er sie beinahe fallen. »Wer? Jemand aus der Gegend von Posen oder von Franks Truppe?«
Ian hatte die Fährte der Jägerin während des ersten Nürnberger Prozesses aufgenommen, als er hörte, wie ein Zeuge gegen Hans Frank aussagte, den Generalgouverneur der von den Nazis besetzten polnischen Gebiete, den Ian später als Kriegsverbrecher an einem Seil baumeln sah. Mitten in seinem Bericht über die Juden, die von Frank nach Osten deportiert worden waren, hatte der Beamte etwas über einen Besuch in Posen gesagt. Einer der hochrangigen SS-Offiziere hatte am Rusalka-Seeein Fest für Frankgegeben, in einem ockerfarbenen Haus …
Ian hatte schon damals aus sehr guten Gründen nach der Frau gesucht, die in diesem Haus gelebt hatte. Der Beamte im Zeugenstand hatte als Gast an jenem Fest teilgenommen, bei dem die junge Geliebte des SS-Offiziers als Gastgeberin aufgetreten war.
»Wen hast du gefunden?«, stieß Ian mit plötzlich aufkeimender Hoffnung hervor. Sein Mund fühlte sich trocken an. »Jemanden, der sich an sie erinnert? Einen Namen, ein verfluchtes Foto?« Das war das Frustrierendste an dieser Akte: Der Beamte in Nürnberg hatte die Frau nur einmal getroffen, und während des Fests am See war er die meiste Zeit betrunken gewesen. Er erinnerte sich nicht mehr an ihren Namen und wusste nur noch, dass es sich um eine junge Frau mit dunklem Haar und blauen Augen handelte. Schwierig, eine Frau aufzuspüren, von der man nur den Spitznamen kannte. »Wen hast du gefunden?«
»Unterbrich mich nicht dauernd, verdammt, dann sag ich es dir.« Tony klopfte auf die Akte. »Der Liebhaber der Jägerin ist ’45 nach Altaussee geflohen. Es gab keinen Hinweis darauf, dass er seine Geliebte aus Posen mitgenommen hat, aber jetzt sieht es doch danach aus. Weil ich ein Mädchen in Altaussee ausfindig gemacht habe, dessen Schwester in der Nachbarschaft des Hauses gearbeitet hat, in dem der Liebhaber unserer Jägerin sich im Mai ’45 mit den Eichmanns und anderen Nazis verkrochen hat. Mit der Schwester habe ich noch nicht gesprochen, aber offenbar erinnert sie sich an eine Frau, die aussah wie die Jägerin.«
»Das ist alles?« Die Hoffnung, die in Ian aufgekeimt war, fiel jäh in sich zusammen. Er erinnerte sich an die hübsche kleine Kurstadt mit dem blaugrünen See am Fuß der Alpen; am Ende des Krieges war sie ein Schlupfloch für jede Menge hochrangiger Nazis gewesen. Im Mai ’45 hatte es dort von Amerikanern gewimmelt, die mehrere Nazibonzen verhaftet hatten. Einige gaben auf und ließen sich Handschellen anlegen, einigen gelang die Flucht. Der SS-Offizier war in einem Kugelhagel gestorben, aber von seiner Geliebten, der Jägerin, fehlte jede Spur. »Ich habe Altaussee schon nach Hinweisen durchkämmt. Als ich erfahren habe, dass ihr Liebhaber dort umgekommen ist, bin ich hingefahren. Wenn sie sich auch dort versteckt hätte, wäre ich auf ihre Spur gestoßen.«
»Hör mal, du hast dich wahrscheinlich benommen wie ein Höllenhund der spanischen Inquisition, und alle sind vor Schreck verstummt. Subtilität ist nicht gerade deine Stärke. Du benimmst dich wie eine Abbruchbirne mit Eton-Abschluss.«
»Harrow.«
»Das ist das Gleiche.« Tony fischte nach seinen Zigaretten. »Ich bin ein bisschen zartfühlender vorgegangen. Als wir letzten Dezember ständig in Österreich rumgefahren sind, auf der Suche nach diesem Aufseher von Bergen-Belsen, der sich nach Argentinien abgesetzt hat. Ich bin an den Wochenenden nach Altaussee gefahren und habe Fragen gestellt. Ich bin gut im Fragenstellen.«
Das war er. Tony konnte sich mit jedem unterhalten, und obendrein meist in der Muttersprache seines Gesprächspartners. Deshalb war er bei seiner Arbeit, die häufig von Informationen abhing, die er den Misstrauischen und Vorsichtigen behutsam entlockte, auch so erfolgreich. »Warum hast du dafür deine Freizeit geopfert?«, fragte Ian. »Eine kalte Spur …«
»Weil du sie verfolgen willst. Sie ist dein weißer Wal, die Einzige, die für dich zählt. All diese Bastarde«, Tony wedelte mit der Hand in Richtung der Aktenschränke, die mit Dokumenten zu Kriegsverbrechern vollgestopft waren, »willst du festnageln, aber letztlich willst du vor allem eine finden. Sie.«
Er hatte nicht unrecht. Ian spürte, wie seine Finger sich um die Schreibtischkante krampften. »Weißer Wal«, brachte er trocken heraus. »Erzähl mir nicht, du hättest Melville gelesen.«
»Natürlich nicht. Keiner hat Moby Dick gelesen; nur übereifrige Lehrer geben einem so was auf. Ich habe mich am Tag nach Pearl Harbor mustern lassen. So bin ich um Moby Dick herumgekommen.« Tony beugte sich vor und blickte Ian mit seinen schwarzen Augen unverwandt an. »Was ich wissen will, ist Folgendes: Warum die Jägerin?«
»Du hast ihre Akte gelesen«, antwortete Ian.
»Oh, sie ist eine widerliche Person, das bestreite ich nicht. Die Sache mit den sechs Flüchtlingen, die sie umgebracht hat, nachdem sie ihnen zu essen gegeben hatte …«
»Kinder«, sagte Ian ruhig. »Sechs polnische Kinder zwischen vier und neun.«
Sichtlich angewidert hielt Tony beim Anzünden seiner Zigarette inne. »In deinem Zeitungsartikel war nur von Flüchtlingen die Rede.«
»Mein Herausgeber fand, dieses Detail sei zu grausam, um es in den Artikel aufzunehmen. Doch es waren Kinder, Tony.« Es war einer der schlimmsten Artikel gewesen, die zu schreiben sich Ian je gezwungen hatte. »Der Beamte, der beim Frank-Prozess aussagte, hat berichtet, dass auf dem Fest, auf dem er sie traf, jemand die Geschichte erzählt hat. Wie sie sechs Kinder umgebracht hat, die wahrscheinlich der Deportation entgangen waren. Eine amüsante kleine Anekdote zu den Horsd’œuvres. Sie prosteten ihr mit Champagner zu und nannten sie dieJägerin.«
»Gottverdammt«, sagte Tony leise.
Ian nickte. Er dachte nicht nur an die sechs unbekannten Kinder, die ihr zum Opfer gefallen waren, sondern auch noch an zwei weitere Menschen. Eine zerbrechliche, halb verhungerte junge Frau in einem Krankenhausbett, die nur noch aus Augen und Qual bestand. Und einen erst siebzehn Jahre alten Jungen, der eifrig verkündete: Ich habe ihnen gesagt, dass ich einundzwanzig bin. Nächste Woche geht’s los! Die Frau und der Junge – die eine war weg, der andere tot. Das hast du getan. Ian dachte an die namenlose Jägerin, die ihn in seinen schlaflosen Nächten heimsuchte. Das hast du getan, du Mörderin.
Tony wusste nichts von dem Mädchen und dem jungen Soldaten. Selbst jetzt noch, Jahre danach, fiel es Ian schwer, darüber zu sprechen. Er fing an, die Worte im Kopf zu ordnen, doch Tony kritzelte bereits eine Adresse auf einen Zettel. Für den Moment ließ Ian es dabei bewenden, und seine Finger lösten sich von der Schreibtischkante.
»Da wohnt dieses Mädchen in Altaussee, deren Schwester die Jägerin gesehen haben könnte«, sagte Tony. »Meiner Meinung nach lohnt es sich, hinzufahren und persönlich mit ihr zu sprechen.«
Ian nickte. Jeder Hinweis war es wert, dass man ihm nachging. »Wann hast du ihren Namen rausgekriegt?«
»Vor einer Woche.«
»Verdammter Mist. Vor einer Woche?«
»Wir mussten die Sache in Köln abschließen, und ich habe noch auf eine weitere Bestätigung gewartet. Ich wollte mehr gute Neuigkeiten für dich auf Lager haben, und jetzt habe ich das.« Tony klopfte auf einen Brief und bestreute ihn dabei mit Zigarettenasche. »Er ist gekommen, als wir in Köln waren.«
Ian überflog den Brief. »Wer ist diese Frau, und warum kommt sie nach Wien?« Er studierte die Unterschrift am Fuß der Seite, und die Erde hörte auf, sich zu drehen.
»Unsere einzige Augenzeugin, die der Jägerin gegenüberstand und die Begegnung überlebt hat«, sagte Tony. »Die Polin. Ich habe ihre Aussage und ihre Daten aus der Akte.«
»Sie ist nach England emigriert. Warum hast du …«
»Die Telefonnummer war registriert. Ich habe ihr eine Nachricht hinterlassen. Und jetzt kommt sie nach Wien.«
»Du hättest Nina wirklich nicht kontaktieren sollen«, sagte Ian leise.
»Warum nicht? Außer der möglichen Spur in Altaussee ist sie die einzige Augenzeugin, die wir haben. Wo hast du sie eigentlich aufgegabelt?«
»In Posen, nach dem Rückzug der Deutschen ’45. Sie lag im Lazarett, als sie mir davon erzählt hat, mit allen Details, an die sie sich erinnern konnte.« Ian entsann sich lebhaft des zerbrechlichen Mädchens auf dem Krankenbett, dessen Beine wie dürre Stecken aus einem vom Polnischen Roten Kreuz geborgten Kittel hervorschauten. »Du hättest sie nicht durch halb Europa herschleifen sollen.«