Und die Reste ins Meer - Andrea Limmer - E-Book

Und die Reste ins Meer E-Book

Andrea Limmer

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Beschreibung

Deutschland 2026: Die Krisen der letzten Jahre, samt gesellschaftlicher Spätfolgen, beherrschen den Alltag. Roboter haben im Bereich der prekären Berufe viele Aufgaben übernommen. Wie im Starnberger Pflegeheim „Zum ewigen Licht“. Dort treffen der Pflegeroboter B666 G4731 und Insasse Karl aufeinander. Beide gehören nicht in dieses Heim; der eine hat eine Fehlfunktion, weshalb er ein eigenes Bewusstsein entwickelt, der andere ist zu jung und gesund und nur wegen einer beruflichen wie persönlichen Krise dort. Eines Nachts zwingt B666 G4731 Karl dazu, mit ihm gemeinsam zu fliehen. Die beiden machen sich auf, zu einer Fahrt quer durch die Republik, von Bayern bis zur Ostsee. Karl, um seine große Liebe zu finden, B666 G4731 auf der Suche nach seinem Lebenssinn, verfolgt von der Heimleiterin Hilde samt ihrem devoten Lebensgefährten, dem Polizisten Peter. Ein belletristischer Roadtrip durch die anthropologischen Abgründe und gesellschaftlichen Glanzstunden. Und am Ende steht nichts weniger auf dem Spiel als die Rettung der Menschheit.

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Audioleseprobe: Andrea Limmer liest aus „Und die Reste ins Meer“ periplaneta.com/download/andrealimmer1.mp3

Andrea Limmer: »Und die Reste ins Meer« Ein Roadmovie aus der nahenden Zukunft 1. Auflage, März 2022, Periplaneta Berlin, Edition Periplaneta

© 2022 Periplaneta - Verlag und Medien Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig. Darüber hinaus basieren Bemerkungen über gesellschaftliche Zustände und Personen des öffentlichen Lebens auf der Kunst- und Satirefreiheit.

Lektorat: Stephanie Maucher Korrektorat: Juliane Fröhlich Cover: Marion A. Müller unter Verwendung von Vektoren von vecteezy.com (seabranddesign, Graphics RF, mrhamster und brgfx / Freepik) Audioproduktion: Jürgen Schweiger PPM, Satz & Layout: Thomas Manegold

print ISBN: 978-3-95996-229-2 epub ISBN: 978-3-95996-230-8

Andrea Limmer

Und die Reste ins Meer

Ein Roadmovie aus der nahenden Zukunft

periplaneta

Kapitel 1

Track 1: »Hotel California« (Eagles) 26.05.2026

Karl reißt das Lenkrad herum, biegt scharf links ab. Der Motor heult, der Wagen ächzt. Die rasenden Reifen schrecken die dösende Staubschicht auf, hinterlassen einen groben Schleier der Flucht in der verwunderten frühsommerlichen Luft, und Karl macht innerlich drei Kreuze. Endlich runter von der Autobahn und Bundesstraße; endlich runter von irgendeiner Straße.

Noch gibt Karl nicht auf. Mit einem triumphalen Grinsen fährt er weiter, wobei er sicher ist, dass er aussieht wie ein Irrer.

Vielleicht wie dereinst Friedrich Merz, als er nach Laschets quälend langem politischen Freitod schließlich doch die Wahl zum CDU-Vorsitzenden gewann. Das saturierte Grinsen des erfolgreichen Spielers, der alles auf ein Hütchen gesetzt und gewonnen hatte, trug Merz allerdings nicht lange, das riss ihm die folgende Schlimme Zeit schnell aus dem Gesicht. Bald verschwand Merz in Gänze hinter der ewigen Merkel. Und dann hinter Söder.

Und als die neuen Kanzler ihr Amt antraten, da wusste schon niemand mehr so genau, wer es war, dieses Männlein namens Merz, das wie ein altes Spukgespenst in seiner Kiste darauf wartete, dass man es erneut herausholen würde.

Die Zeit, so hieß es damals, erfordere es, dass die Kanzlerin noch mal ranmüsse, trotz angekündigter letzter Amtszeit, weil die Nachkrisenzeit eben eine starke Führung erfordere. Man hätte sich seitens der Partei den großen Unmut im Land denken, ihn sich somit ersparen oder das Ergebnis dessen einfach vorziehen können.

Oder man hätte gleich sagen können: »Gut, dann lassen wir es jetzt halt mal den Söder probieren.« Weil der einstige ganzdeutsche Ungustl ja bereits während der ersten Corona-Welle als Kanzler gehandelt, sowie 2021 von der großen Schar seiner Jünger zumindest verbal gekrönt worden war, zum »Kanzler der Herzen«. Tja, »Märchenkönig« war als Titel eben schon vergeben, an Ludwig II. Aber außer Söder war ja niemand von der Union in Frage gekommen. Röttgen, zum Beispiel, den kannte ja selbst nach Auftritten bei Lanz noch keine Seele. Einmal, so die damalige Meldung eines großen Nachrichten-Magazins, habe Röttgen sich erschöpft auf das heimische Sofa fallen lassen, woraufhin seine Frau einen Taser zum Einsatz brachte und die Polizei rief, weil sie ihn nicht erkannt hatte.

Ja, der Sommer 2021 war das Ende eines beschwerlichen Weges gewesen, und der Herbst 2021 der Anfang einer Rutschfahrt in die Hölle, mitten hinein in die Schlimme Zeit, in der er, Karl, wie so viele andere nichts tun konnte, außer zusehen und sich grausen. Er hatte mit den wenigen verbliebenen seriösen Kollegen dagegen angeschrieben, gegen diesen Wahnsinn, der lange vor Corona auf diese Welt gekommen war, gezeugt während eines orgiastischen Gang-Bangs, bei dem sich menschliche Gier, Angst und Dummheit jahrzehntelang gepaart hatten. Bis daraus ein Kindlein hervorgegangen war: der blutige Wahnsinn.

Seitdem hatte sich dieser Wahnsinn sattfressen können und er war gewachsen und gewachsen und gewachsen. Und als die Not größer geworden war, als man endlich einmal hätte zusammenhalten müssen, gemeinsam die Hände in den Boden krallen, um die Fahrt zu bremsen, da war der Wahnsinn brüllend aus seiner Höhle in der Hölle gekommen, groß und stark. Einige taten sogar dann noch so, als wäre er nicht da, dieser weiße Elefant mit seinen roten Stoßzähnen. Aber die meisten rasten noch schneller auf den Abgrund zu und riefen: »Yeah, Baby! Jetzt zeigen wir es ihnen!«

Karl legt den zweiten Gang ein. Ein kurzes Stück noch. Dort, hinter der Baumgruppe, wird er anhalten.

Der Wagen springt mehr über den holprigen Feldweg, als dass er fährt.

Eine zart klingende Sirene heult los, schüchtern irgendwie.

»Halt doch deine blöde Klappe!«

Karl wischt sich angewidert über die schweißnasse Stirn.

Wenn ich jetzt schon anfange zu schwitzen, Himmelherrgott, werde ich auf der Hälfte des Trips mehr Dörrpflaume als Mensch sein.

Die erste Etappe ihrer Flucht hatte sich ebenso kurz wie simpel gestaltet. Sie waren gute dreißig Minuten von Starnberg nach Olching gefahren, dann hieß es warten, auf dem Parkplatz eines Supermarkts. Die ganze Nacht verbrachten sie wach oder im Dämmerschlaf. Während der nächtlichen Ausgangssperre herumzufahren wäre viel zu gefährlich gewesen, denn gerade in diesen Stunden hatten bayrische Polizisten wenig zu tun. Gegen fünf Uhr morgens war Karl tatsächlich eingeschlafen, sanft in die Klangdecke »Einschlafmusik« gehüllt, und erst um circa halb acht wieder aufgewacht, weil ein junger Mann in schwarzer Schürze an die Scheibe auf der Beifahrerseite klopfte. Karls Blick wanderte sofort zum Beifahrersitz. Gott sei Dank war dieser leer.

»Sie können jetzt heimfahren«, sagte der junge Mann laut und bedächtig. »Oder wollen Sie vielleicht Blumen für Ihre Frau mitnehmen? Die wären heute im Sonderangebot.«

»Fahr los!«, riss ihn eine flehende Stimme, die aus dem angrenzenden Fußraum drang, aus seiner Schreckstarre.

Karl startete den Wagen und raste los, weg vom Supermarkt, hinein in ein Wohngebiet. Nach wenigen Metern ging er vom Gas. Zähneknirschend gab er der rechthaberischen Stimme in seinem Kopf nach und fuhr langsam durch dieses materialisierte Kleinbürgertum, diesen betonierten Trutzklotz der Einfallslosigkeit, dieses erbaute, nie laut ausgesprochene, doch immer hörbare »Das macht man eben so«.

Leute, die an einer solchen Wohnmisere schuld sind, entweder als Erbauer oder Bewohner, solche Leute hatten 2022 durch ein Volksbegehren die Ausgangssperre ins Land zurückgeholt, ganzjährig, begründet durch die vorgetragene Gefahr der ganzheitlichen Depression in einem Teil des Volkskörpers. Die laute Musik und das Gekreische die ganze Nacht habe einen nämlich schon vor Corona ganz krank gemacht, erklärte dieser Teil gegenüber dem staunenden Restköper. Aber man habe ja kaum was tun können, außer ein paar Kneipen und Theater zu verklagen, auf dass sie dauerhaft schließen mussten. Gut, ein paar Volksfeste seien ebenso verlegt oder eingestampft worden. Sonst sei man allerdings direkt machtlos gewesen. Die drohende Depression wiederum könne leicht dazu führen, so der Körperteil, dass man zu schwach sei, um einer der Zungen, egal, ob schwarz, rot, gelb oder grün, eine Stimme zu schenken.

Nach dem Wohngebiet gab Karl wieder Gummi, den in Beton gegossenen Spießerhimmel hinter sich lassend. Jetzt hat Karl die Baumgruppe erreicht. Hart bremst er den Wagen, bringt ihn abrupt zum Stillstand. Der Ruck schleudert ihn nach vorn, der Gurt drückt schmerzhaft gegen die schmale Brust, schnürt ihm die Luft ab. In seiner Lunge kratzt der Husten.

Es kracht im Fußraum. Die schüchterne Sirene heult gequält, verstummt aber sofort, als Karl herauspresst: »Ich hab dir doch gesagt, dass du dich anschnallen sollst!« Karl stellt den Motor ab, dann hustet er.

Danach setzt unglaubliche Ruhe ein. Wirbelnder Staub holt sie ein. Er umhüllt den Wagen. Ein Knistern erfüllt die Luft.

Das Knistern der Gefahr, denkt Karl, schüttelt aber gleich den Kopf. Wahrscheinlich kriege ich bloß einen Tinnitus. Hab ich eh noch nie gehabt. Obwohl ja die Mama ständig einen gehabt hat. Aber vielleicht hat sie das auch nur gesagt, damit sie der Oma nicht zuhören musste. Er schüttelt wieder den Kopf, diesmal nachdrücklich, wie jemand, der eine Mücke vertreiben will. Er muss seine Gedankenlabyrinthe verlassen. Während der letzten zwei Jahre war er lange genug darin herumgeschlichen. Nun muss er voll da sein, im Hier und Jetzt.

Ein Geräusch durchbricht die fast schon unheimliche Stille. Der Motor klackert ungesund. Und das ist bestimmt kein Tinnitus.

»Oh, oh. Mutter. Hilfe. Nein, nicht, Mutter! Oh«, dröhnt eine mechanische Stimme aus dem Fußraum des Beifahrerplatzes. Das Oval mit dem künstlich freundlichen Robotergesicht taucht langsam aus dem Fußraum auf. Weiße Roboterhände fuchteln hilflos durch die Luft. Karl nimmt die circa 60 Zentimeter große Maschine mit einer Hand und setzt sie auf den Beifahrersitz.

»Na«, fragt er süffisant, »ein wilder Ritt, oder? Für so was bist du nicht gebaut, hm?«

Die iLifeClock an seinem Handgelenk piepst.

»Du musst deine Herztabletten nehmen«, sagt B666 G4731.

Karl hätte jetzt viel lieber ein Bier. Oder einen Whiskey. Das fände er wesentlich angemessener, für einen Outlaw auf der Flucht. Er wirft einen mürrischen Blick auf das Display seiner Uhr, das ein leuchtendes Pillensymbol zeigt, darunter den Schriftzug »Zum ewigen Licht«. Darunter wiederum sollte rot der Rückholbutton blinken – tut er aber nicht. Jede im Heim ausgegebene iLifeClock ist darauf programmiert, demenzkranke Ausreißer sicher und schnellstmöglich dorthin zurückzubringen, wo sie hingehören, selbst wenn diese sogar vergessen hatten, den Button zu drücken. Zu ihrem Glück handelt es sich bei seiner iLifeClock jedoch um ein billiges Modell, das sein Verbindungssignal zum Heim schon nach einem Kilometer verlor. Allzu sicher können sie sich dennoch nicht fühlen, denn zu ihrem Unglück reicht das Signal des Roboters sehr weit. Dazu besteht die Möglichkeit, sie via DigiCash zu orten, von Augenzeugen entdeckt und verraten zu werden oder, oder, oder. Dann schießt ihm unvermittelt ein Gedanke durch den Kopf. Karl betrachtet die iLifeClock – und prustet los. Er lacht so heftig, wie seit Jahren nicht.

B666 G4731 stößt einen Warnton aus, aber Karl lacht weiter.

»Was machst du da«, ruft der Pflegeroboter. »Ich mag das nicht. Was machst du da.«

»Hast du was gehört?«, grölt Karl.

»Hör auf damit! Das ist gegen die Regeln. Lachen nur in der Unterhaltungsstunde. Hör auf damit!«

»Beruhig dich, du Idiot!« Karl wischt sich hustend Tränen aus dem Gesicht. »Ich freu mich doch nur.«

»Freuen.« B666 G4731 schaut ihn mit seinem ovalen Maschinengesicht an, mit diesen zwei blauen Leuchtaugen und dem stetigen Strichlächeln, das so programmiert wirkt wie das Lächeln der Schlagersänger, deren Lieder der Roboter jeden Tag für die Bewohner abspielt.

Irgendwie schafft es dieser kleine Maschinen-Scheißer dennoch, empört auszusehen. »Was ist freuen.«

Karl schnaubt. »Du wirst doch wohl wissen, was Freude ist. Du hast doch alles hier drin.« Er tippt ein paar Mal grob mit dem Zeigefinger gegen das Oval, das seltsam hohl klingt.

»Ja und nein. Ich verfüge serienmäßig über ein multifunktionales Informationssystem, das sogar im Notfall betriebsbereit bleibt, doch mein Analysesystem ist serienmäßig sehr begrenzt. Mein System meldet, dass vor einem menschlichen Lachen ein Witz kommt. Vor menschlicher Freude kommt ein Blumenstrauß oder ein unverhoffter hoher Geldbetrag.«

Karl nimmt eine Tablette, was die iLifeClock sofort registriert. Das Pillensymbol auf dem Display erlischt. »Aha. Und welcher Notfall? Dass dir jemand den Schädel einschlägt, weil du Andreas Gabalier spielst?«

»Ich bin nicht nur für das Unterhaltungsprogramm gebaut. Ich bin für die gesamtheitliche Pflegeunterstützung konzipiert. Ich bin eine Unterstützung für die Pflege von Menschen in jeder Situation. Ich tröste, ich animiere, ich weine, ich …«

»Nein, nein, mein Freund!« Karl zündet sich eine Zigarette an. Beim Einatmen verzieht er angewidert das Gesicht. Er würde sich bald richtige Kippen kaufen. »Du tust, als ob du tröstest, du spulst Lieder vom Band ab und du fakst das Weinen – was echte Emotionen nur verhöhnt. Du bist ein sehr, sehr teurer singender Putzroboter. Die spielen beim Putzen auch die Hits der 60er und 70er rauf und runter.«

B666 G4731 sagt nichts, wendet sich dem Fenster zu. Ein leises Summen geht wie immer von ihm aus.

Klingt das Summen tiefer als sonst? Trauriger irgendwie? Karl furcht die Stirn, seine buschigen Augenbrauen über den unerbittlich sezierenden grau-blauen Augen zittern leicht.

»Ich bin, wie ich gemacht worden bin«, sagt der Roboter schließlich schlicht. »Ich hatte keinerlei Einfluss auf meinen Bauplan. Und auch nicht darauf, ob ich gebaut werde.«

Karl starrt den kleinen weißen Rücken an, zwinkert ein paar Mal. Hat diese Knalltüte gerade wirklich die Sinnfrage angedacht, das ganz große Gedankenfass ohne Boden aufgemacht? Und hört sich der kleine Mistkerl dabei auch noch beleidigt an?Nein, das kann nicht sein. Selbst wenn dieser Roboter hier eigenständig denken kann, was ohnehin schon absurd genug erscheint, kann er keine Gefühle haben. Sein eigener Kopf macht ihm was vor, um seinen Navigator menschlicher erscheinen zu lassen. Dessen ist Karl sich sicher. Menschen vermenschlichen alles, was die regelmäßigen Online-Petitionen beweisen, bei denen es um das Recht geht, Tiere oder Stofftiere heiraten zu dürfen – und freilich Roboter.

Das alles war aus Asien gekommen, verstärkt nach der Schlimmen Zeit. Die Akzeptanz für jeden Kram aus dieser Ecke der Welt wuchs sich seit 2020 immens aus, vor allem, weil China die Corona-Krise in den Augen der Öffentlichkeit so famos meisterte. In Karls Augen ist es in einer Diktatur, die Leute schneller in Quarantäne verbannt als Reis kocht, keine Zauberei, alles und jeden klein zu halten, und sei es ein Virus. Dennoch adelte König Wahnsinn seit gut drei Jahren jeden hysterischen Hype, weshalb auch ein fetter, schielender Mops namens Mopsi in den Bundestag gewählt wurde. Findige Leute einer anarchischen Sektion der Grünen (Detmold) hatten den Mops bei den Neuwahlen 2023 als Fraktionsvorsitzenden aufgestellt. Im weiteren Schritt war es ihnen gelungen, juristisch, philosophisch und sehr medienwirksam zu erklären, dass ein Mops lediglich keine Staatsbürgerschaft erhalten könne, weil er sich dafür bewerben dürfen müsse, was ihm allerdings seitens der Menschenpolitiker verwehrt würde. Das wiederum, argumentierten sie, würde dem gleichberechtigten Schöpfungsgedanken entgegenstehen, der besagte, der Mensch dürfe sich nicht über andere Kreaturen erheben. Und nur, weil man einen Mops nicht verstehen würde, dürfe man nicht automatisch annehmen, dass der Mops zu dumm zum Sprechen sei. Vielmehr müsse man davon ausgehen, dass der Mensch zu dumm zum Verstehen wäre. Dann hatte sich auch noch Greta Thunberg in die Debatte eingeschaltet und erklärt, dass sie unter demselben Unverständnis leiden und den Mops allein schon deswegen voll unterstützen würde. Für Schweden forderte sie ebenfalls einen Mopsminister. Da schlugen die Wellen aber hoch! In kurzer Zeit waren zig Seiten in den sozialen Netzwerken entstanden, die den Ministermops Mopsi zum Hauptinhalt hatten und ihn zur Galionsfigur kürten, unter dem Motto »Dress your pug« oder »Mopsivation – lebe deinen Traum«.

Der Handel stellte sich ebenfalls auf die neue Nische ein, mit Lieferando für Möpse (Leckerlirando), Bademoden und kleinen Barista-Maschinen, die seither zwar weiterhin Menschen bedienen – die meisten Möpse vertragen gar keinen Kaffee –, aber die Hündchen neben den Maschinen sehen einfach so waaahnsinnig süß aus, mit ihren Schürzen und allem. Diejenigen Politiker, die sich partout nicht damit anfreunden konnten, dass ein Hund – noch dazu ein schielender, fetter Mops – ihr Kollege werden sollte, zerrte der Onlinemob öffentlich von links nach rechts durch die Manege, an den Hashtags #allergie #hundehasser #tiernazi #rassenrassismus #freemopsi #dersiehtauchnichtandersausalsihr und so weiter. Man kann es sich vorstellen. Und es war einzig und allein der Katzennatur zu verdanken, dass eine Katze namens Minki letzten Endes doch nicht von der SPD-Fraktion Hoyerswerda als Gegenkandidatin aufgestellt wurde, weil das Video, in dem sie eine arme Maus zu Tode quälte, viral ging. Gerüchte, dass Mopsi Minkie die arme Maus untergejubelt hatte, konnten nie bestätigt werden.

Mopsi ist inzwischen schon wieder auf dem absteigenden Ast. Außer auf das Pult zu sabbern und einem enormen Flatulenz-Ausstoß – da ihm laut Lauterbach das viele Salz im Kantinenessen zusetzt – trägt er nur wenig zu den Sitzungen des Bundestags bei. Eine zweite Amtszeit ist unwahrscheinlich. Vorige Woche erst hatten die beiden Kanzler verkündet, dass sie sehr enttäuscht von Mopsi seien und sie sich von ihm mehr in Sachen Klimaschutz erhofft hätten. Die derzeit kleinste Oppositionspartei, die SPD, hatte tags darauf sofort den Antrag gestellt, Mopsi während der Sitzungen in einen separaten Raum zu setzen und ihn per Zoom zuzuschalten. Wegen dem Hunde-CO2. Das hatte der 5,4-Prozent-Partei Zuspruch gebracht, doch leider nur von der CDU/CSU, was die SPD in der monatlichen Umfrage auf 4,7 Prozent sinken ließ. Und das wiederum veranlasste die sozialdemokratische Partei dazu, ihren Vorsitzenden Kevin Künert zum Rücktritt zu drängen sowie klagend nach dem Olaf zu rufen. Was dieser freilich nicht mehr erhörte, zumindest nicht in dieser Welt.

Gefährlich, denkt Karl beim Betrachten des weißen Roboterrückens. Das alles ist gefährlich. Ich muss diesen Maschinendeppen so schnell wie möglich loswerden, bevor ich verrückt werde oder er mich umlegt, weil irgendein anderer Depp bei der Programmierung ganz große Scheiße gebaut hat.

Berichte über Roboter, die Menschen angreifen, hatte es selten gegeben und immer waren sie sofort dementiert worden, erst von den Firmen, dann von der zuständigen Stelle der EU. Bald schon hatte es keine Berichte mehr gegeben, was nichts heißen musste. Und die Bilder von deformierten Geschlechtsteilen, von mit Suppe oder Sauce verbrühten Körpern oder übel zugerichteten Gesichtern, hatte Karl sich fest eingeprägt.

»Hast du«, beginnt Karl vorsichtig, »äh, also, hast du noch nie jemanden einfach so aus Freude lachen hören?«

»In unserem Heim. Nein.«

»Warst du vorher nirgendwo anders?«

»Ich wurde konzipiert, gebaut und geliefert. Meine Erinnerung beginnt am Anschalttag.« B666 G4731 wendet sich ihm wieder zu. »Warum hast du gelacht.«

Karl schnaubt grinsend. »Wegen eines Gedankens, der mir durch den Kopf schoss. ›Keiner kommt hier lebend raus‹, versteht du? Das war der Leitspruch des Heims.«

»Negativ. Das ist der Titel eines Buches über Jim Morrisson. Der Leitspruch unseres Heims lautet: ›Denke positiv und du bist ein glücklicher Mensch.‹«

»Was besonders zynisch ist, in einem Heim, in dem die meisten dement sind und ihre Fürze sich länger halten als ihre Gedanken.« Karl schnaubt. »Das mit dem lebendig rauskommen, das war mein Leitspruch, Klugscheißer.«

»Du hast keine Demenz.«

»Nein – und ich bin lebend rausgekommen. Ich. Bin. Lebend. Rausgekommen. Das hätte ich nicht gedacht.« Er legt die Daumen auf die Zeige- und Mittelfinger, schüttelt die Hände. »Gerade als ich dachte, ich bin raus, ziehen die mich wieder rein.«

»Negativ. Verstehe die Aussage nicht.«

»Das ist ein Filmzitat.«

»Positiv. Aber dich hat keiner reingezogen. Du bist freiwillig ins Heim gezogen.«

Die Sonne schickt sich an, endgültig ihren farbenprächtigen Morgenrock abzulegen und ihr langes Frühsommertagwerk zu beginnen. Rosarote, orange und blassgelbe Wolken tun so, als wollten sie niemals verschwinden, die Lebendigkeit für immer speichern. Die Grillen zirpen würdevoll. Es riecht nach Leben und Jugend und Grenzenlosigkeit. Und ein wenig nach Grillfleisch. Ob aufgrund einer nächtlichen Grill-Session im nahegelegenen Vogelpark oder aber der Frühstücksschicht in der Pizzeria daneben, vermag niemand zu sagen. Die Deutschen hatten im ersten Lockdown 2020 eine Sucht nach Grillfleisch entwickelt. Zu jeder Tages- und Nachtzeit wollten sie grillen oder zumindest etwas Gegrilltes essen, als ob man den Sommer und das Ende der Pandemie herbeifressen könnte, und das ist bis heute so geblieben. Karl, der sein Fenster einen Spaltbreit geöffnet hat, saugt alle Gerüche gierig ein. Er erkennt, dass er eine einmalige zweite Chance bekommen hat, doch nicht als sabberndes Menschgemüse abzutreten.

»On a dark desert highway, cool wind in my hair …«

Hotel California. Er schaut sich um. Die Musik kommt aus dem kleinen Mistkerl.

»Das Leben ist schön«, doziert B666 G4731.

»Ja, ja. Als ob du irgendeine Ahnung hättest.«

»Negativ. Aber mein Fehler im System erlaubt mir, Kausalitäten immer besser zu begreifen und entsprechend Situationen herbeizuführen oder sie zu vermeiden.«

Situationen herbeizuführen oder sie zu vermeiden … Ein Gesicht steigt langsam durch Karls Bewusstseinsschlamm nach oben zur Gedankenoberfläche. Ein Gesicht, das er einst immer hatte sehen wollen - und dann nimmermehr.

»… up ahead in the distance, I saw a shimmering light …«

Könnte das Leben am Ende entgegen allen Vermutungen schön sein? Oder zumindest kein großer Haufen Scheiße, auf dessen Spitze der Teufel jeden Tag noch zwanzig Mal kackt?

»There she stood in the doorway …«

»Du verfluchter Liederaugust.« Karl zündete sich lächelnd eine Zigarette an und schließt die Augen.

Etwas schlägt kräftig gegen das Beifahrerfenster.

Karl zuckt zusammen, veratmet sich am Rauch und hustet heftig.

B666 G4731 dreht schnell den Schädel zur Geräuschquelle.

Karl wischt sich die Tränen aus den Augen, fokussiert mühsam die Gestalt vor dem Fenster, während er die Zigarette im Aschenbecher ausdrückt. Da steht ein Typ in Lederhose und T-Shirt. Sein Grinsen wirkt zu euphorisch, wie eine Taschenlampe, die durch den Zelteingang hereinleuchtet, hinter dem man gerade ein Stück Stoff von einem Stück zarter Sommerhaut entfernt. Über diesem Grinsen trägt der Typ wuscheliges Haar und auf dem runden Kopf einen billigen Trachtenhut, von der Art, wie sie seit Anfang der 2000er auf dem Oktoberfest sowie inzwischen zu jeder bayrisch anmutenden Festivität getragen werden, am besten noch mit bunten Kunstfedern oder abartig großen Gamsbärten geschmückt, in der irrigen Annahme »urig« und »fesch« auszusehen.

Karl hatte seinerseits während der Wiesnzeit viele Male klar seine Verachtung für diese hysterischen Verirrungen zum Ausdruck gebracht. Diese Schreckgespenster aus der Mottenkiste des Volkstums sahen seines Erachtens nicht mal nach dem Genuss von fünf Litern Wiesnbier wie typische Bayern aus, sondern eben nur wie die ahnungslosen, farbenblinden, geschmacklosen Dorfdeppen und Großstadtgecken, die sie eben waren. Seinem Chefredakteur waren bei der wöchentlichen Redaktionssitzung am Montagmorgen bezüglich Karls Wiesn-Kommentaren immer Worte wie »pointiert«, »bissig« und »einmaliges Talent« zusammen mit der unweigerlichen Rotweinschorle über die Lippen getropft. Natürlich bevor er ihm vom Verleger ausrichten musste, dass Karl seine unlustigen, unverschämten, untalentierten Zeilchen gern bei der BISS einreichen könne, wo er bald landen würde, sollte er weitere Anzeigenkunden mit seinem blödsinnigen Käse vergraulen. Keine sonderlich Angst erregende Drohung, denn Karl wäre es damals, nach Jahrzehnten in dieser Redaktion, wie eine Gnade vorgekommen, stattdessen für die BISS zu schreiben – oder sie auch nur zu verteilen.

Die Lederhose des Typen vor dem Fenster passt zum Hut. Ebenso die abgelatschten Turnschuhe. Er klopft wieder heftig gegen die Scheibe.

Immer noch verharren die beiden Insassen starr wie stumm.

»Vielleicht registriert sein System uns nicht, wenn wir uns still verhalten. Wildschweine reagieren so«, sagt B666 G4731 leise.

Der Typ schwenkt seinen Hut. Seine roten Wangen werden halb von einem grau melierten Bart verdeckt. Auf dem T-Shirt unter den Lederhosenträgern sind eine Maß Bier, eine Brezel und der Umriss von Bayern abgedruckt.

Karl zischt: »Vergiss es. Im Gegensatz zu dem Popanz da, haben diese Viecher Anstand und Würde. Und was Sinnvolles zu tun.«

Der Typ klopft erneut gegen die Scheibe, als ob sie hier drinnen die Wildtiere wären und er ein verzogenes Balg, das man vor einem Gehege abgesetzt hat, damit es sich mal mit etwas anderem als der steten Folter seiner Mitmenschen beschäftigt.

»Schleich dich, Arschgesicht«, ruft Karl.

Der Typ lacht laut, macht ein paar Tanzschrittchen. »Hey, ihr Burschen! Soll ich für euch aufspielen?«, ruft er, während er ein Gigbag vom Rücken zerrt.

»Scheiße«, sagt Karl.

»Ein Fahrender«, sagt B666 G4731.

Der Fahrende bindet ein Schild von der Unterseite seines Gigbags los und stellt es neben sich auf. Darauf steht: »Heimat ist da, wo du blöd sein darfst – Das neue Programm vom Liedermacher Gogglbazi! Der Gogglbazi ist der beste Liedermacher in ganz Deutschland, ganz Österreich und in der ganzen Schweiz! Bissig, witzig, kritisch, unpolitisch! Buch den Gogglbazi für deine nächste Feier!« Der Gogglbazi dreht das Schild um. Nun kann man lesen: »Egal ob Geburtstag, Beerdigung, Hochzeit, Scheidung oder einfach bloß zünftig Schädelspalten! Der Gogglbazi spielt auf! Auch für wenig Geld!«

Jodelnd untermalt er seinen Werbetext.

Karl wird heiß und kalt zugleich. »So eine verdammte Affenscheiße. In ganz Deutschland laufen wahrscheinlich noch fünf solche Hanseln rum, und ausgerechnet wir treffen einen davon. Ausgerechnet jetzt.«

»Es gibt aktuell 19,2 Fahrende in Deutschland. Und 5,6 Bühnen für freischaffende Künstler. Diese Bühnen präsentieren seit der sechsten Welle im Jahr 2022 vor allem Streams von lizenzfreien Konzerten oder Stücken, gespielt von staatlich geförderten Ensembles«, korrigiert die leise Roboterstimme.

»Ja mei, ja mei, ja mei«, plärrt der Fahrende. »Was hab ich für euch zwei Hübschen dabei? Vielleicht einen Stimmungshit?« Er zwinkert ihnen listig zu.

»Hau ab! Sonst komm ich raus und spiel auf deinem Arschloch das Lied vom Tod«, schreit Karl.

»Negativ. Der menschliche Anus ist nicht zum Musizieren geeignet«, sagt B666 G4731. »Bei Krebsen hingegen …«

Karl sieht ihn nur an. Mit dem gleichen Blick, mit dem er nach dem großen Knall auch den Chefredakteur angesehen hat. Und wie dieser verstummt B666 G4731 sofort.

Der Gogglbazi indes beginnt zu singen: »O mein Lieschen, Lieschen, Lieschen …«

B666 G4731 stoppt ihn mit seiner Sirene. »Dieses Lied ist seit 2021 verboten. Grund: Vergewaltigungsfantasien und Sexismus.«

Aber der Gogglbazi wäre nicht der Gogglbazi, wenn er einfach so aufhören würde: »Es gibt kein Bier auf Hawaii!«

Der Roboter lässt erneut seine Sirene jaulen. »Dieses Lied ist verboten, aufgrund von Rassismus und Suchtförderung.«

»Ihr nehmt es aber ganz genau«, lacht der Gogglbazi. Er beginnt mit »Hulapalu«.

»Wir haben hier drinnen Schusswaffen«, schreit Karl.

Grinsend tippt sich der Gogglbazi auf die Nase. »Ja, vielleicht mögt ihr lieber eine Geschichte hören?« Er schlägt einen Purzelbaum und taucht wieder auf, einen Erzählband von Karl Valentin in den Händen.

Da ergreift den Karl die heilige Wut, und gekränkt fühlt er sich, in der Berufsehre der Schreibenden, der Kreativen, der Schaffenden. Er brüllt: »Hast du nichts Eigenes, du Superdepp?

Der Gogglbazi stockt. »Was meint der Bub?«

»Seit 1.000.017 Jahren hören wir die immer gleichen blödsinnigen Sauflieder und Witzchen. Und wenn einer von euch besonders von der Muse geküsst wird, liest er mal wieder den Valentin vor. Und das soll es dann gewesen sein? Das großeWerk der heutigen Dichter und Denker?! Da ist ja die seelenlose Maschine hier progressiver!«

»Die Leute mögen die alten Sachen. Damit verdient der Goggl­bazi sein Geld. Das machen die Kollegen genauso«, sagt er gekränkt.

Karl schüttelt den Kopf. »Wir haben eh kein Geld dabei. Also schleich dich, Vollgummi.«

»Der Gogglbazi hat acht Kinder. Und zwei Schuhe mit Löchern.«

»Und ich hab zwei Füße mit 23 Hühneraugen. Schieb ab!«

Da gibt der Gogglbazi auf. Mit hängenden Schultern macht er sich an das zögerliche Zusammenklauben seiner Sachen. Am Schluss schwenkt er trübsinnig den Hut, wartet vergeblich auf eine kleine Spende und trottet schließlich über die Wiese davon.

»Du hast keine Hühneraugen«, sagt B666 G473, »aber der Goggl­bazi hat acht Kinder.«

»Und was soll ich machen? Mit DigiCash über meine iLifeClock bezahlen? Dann orten die uns sofort! Es reicht doch, dass der Hirni uns gesehen hat, oder?«

Sie schauen dem Gogglbazi hinterher, der gerade in etwas tritt, das weicher ist als die Wiese. Er blickt nach unten und beginnt lauthals zu fluchen, wobei er neben der Welt im Allgemeinen seine Frau samt seinen Kindern sowie obendrein die Mutter Gottes aufs Heftigste verwünscht.

»Wegen des Geldes müssen wir uns was einfallen lassen«, brummt Karl.

»Positiv.«

Der Goggelbazi hüpft derweil von einem Fuß auf den anderen, schüttelt beide immer wieder aus. Offenbar verstärkt das sein Problem aber nur. Er zieht die Schuhe aus und wirft sie weg. Dann reißt er sich das Gigbag vom Rücken, holt die Gitarre heraus und springt auf ihr herum.

B666 G4731 wackelt mit seinem Schädel. »Ab heute gibt es zu 99,3 Prozent nur noch 18,2 Fahrende in Deutschland.«

»Nicht unser Zirkus, nicht unsere Affen. Wir fahren jetzt weiter«, sagt Karl.

»Wohin?«

»Dahin, wo es schön ist.«

»Ans Meer.«

»Was?«

»Nach dem Ausspruch ›Dahin, wo es schön ist‹ fahren 97,8 Prozent der Menschen ans Meer.«

»Aber wir fahren nach Brandenburg.«

»Negativ. Ich habe Brandenburg gerade gegoogelt.«

»Ja und?«

»Bitte um Auskunft, wohin wir fahren: nach Brandenburg oder dahin, wo es schön ist.«

Karl grinst. Den Spruch hätte er damals seiner Ex Angelika servieren sollen, als die ihn nach Brandenburg verschleppen wollte. »Wohin fahren die anderen Prozent? Du weißt schon.«

»Positiv. Die restlichen 2,2 Prozent fahren nirgendwo hin. Sie scheitern an einem Disput, der während der Fahrt entsteht, und kehren um. Der Disput betrifft folgende Punkte, nach Häufigkeit und Reihenfolge aufgelistet: verspätete Abfahrt, vergessene Kleidung, Verhalten des Nachwuchses, Verhalten des Partners im Allgemeinen, Verhalten der Familie des Partners.«

Karl grinst breit. Ein Gedanke ploppt auf. »Sag mal, was ich vorhin noch fragen wollte: Welchen Notfall meinst du eigentlich? Gegen den dein System dezentral geschützt ist.«

B666 G4731 wackelt mit dem Kopf. »Bewohner verlieren oft jegliche Kontrolle über Körperfunktionen.«

»Und dann hauen die dich um, oder …?«

»Nicht nur bezüglich der Motorik.«

Karl denkt nach. Dann lacht er schallend. »Die kotzen dich an?«

»Einmal ist das bisher vorgekommen. Bei B334 G5672 dagegen bereits sieben Mal: vier Mal Mageninhalt, drei Mal Blaseninhalt. Danach musste er zum Speed-up. Mutter sagt, wegen neuer Funktionen. Richtig ist aber, dass er Verkrustungen und kleinere Kurzschlüsse hatte.« B666 G4731 hört sich amüsiert an.

»Hast du gerade gelacht?«, fragt Karl.

»Hast du etwas gehört«, antwortet der Roboter mit einer Gegenfrage.

Track 2: »Cindy, oh Cindy« (Margot Eskens) 19.05.2026

B666 G4731 springt auf die Bühne. »Hey«, ruft der kleine weiße Roboter, mit dem schwarzen ovalen Gesicht. »Hey, hey, hey! Ihr Lieben! Wollt ihr Stimmung?«

Seine Bühne ist ein Resopaltisch, der an der Wand neben der Eingangstür zum Gemütlichkeitsraum steht. Der Gemütlichkeitsraum wiederum nimmt sich so gemütlich aus wie der Kühlraum einer Großschlachterei.

Als das Heim erbaut wurde, hatte man diesen Raum zum Gemütlichkeitsraum bestimmt und ihn in einem seelenklirrend kalten Weiß streichen lassen. Ein besonders praktisch denkender Mensch schlug obendrein vor, ihn mit Resopalprodukten zu möblieren, weil die leicht zu reinigen waren. So viel Frohsinn wie nach diesem Vorschlag sollte nie wieder in diesem Raum herrschen. Nicht mal jetzt, da der Mai sein Licht monatstypisch sanft und warm hinein schickt.

Der praktische, bestimmende Mensch heißt übrigens Hilde, besser bekannt als »Mutter«.

»Ja«, kreischt Marianne jetzt. »Ja! Stimmung! Eine Stimmung! Ich werd narrisch!« Sie erhebt sich so schnell und würdevoll wie nur irgend möglich, ergreift ihre Gehhilfe und zuckelt in ihrer weinroten Samtgarderobe zum Tisch, von dem aus B666 G4731 Stimmung verbreiten soll.

Der Roboter schaut die anderen zehn Heimbewohner an, welche einzeln an Tischen verteilt den Fernseher anstarren. Ein Heimbewohner, Karl heißt er, verlässt gerade schnell den Gemütlichkeitsraum. B666 G4731 fühlt dieses Britzeln links oben in seinem Schädel. Nicht gut, nicht gut, denkt er. Er versucht, einfach nur die Playlist einzuschalten, ohne Störung durch ihn selbst, aber er fragt sich plötzlich, warum er »nicht gut« statt »nicht positiv« oder »negativ« denkt und ob die Menschen hier wirklich wollen, dass er singt.

Etwas schlägt gegen seine hintere Schädelwand.

»Na! Was ist denn schon wieder mit dir? Spiel endlich ab. Oder will hier jemand zum Speed-up?«, dröhnt Mutter in ihrem strengen, grünen Kleid. Sie beugt das strenge Gesicht, eingerahmt von streng frisiertem, schmutzig-blondem Haar zu ihm herab.

B666 G4731 recherchierte vor zwei Wochen, dass sich dieser Drang, technische Geräte zu schlagen, wohl im letzten Jahrhundert unter den Deutschen manifestiert hatte. Im Falle eines störrischen Vehikels oder einer untätigen Flack zum Beispiel. Da mochte das auch eine korrekte Anwendung gewesen sein. Aber schon bei Uhren oder Faxgeräten sah das ganz anders aus. Und erst recht bei Computern. Es ist kein Wunder, dass Deutschland im digitalen Zeitalter herumwandert wie ein Höhlenmensch, der den Fortschritt mit seiner Keule herbeiprügeln will und bei allen Reparatur- oder Bedienversuchen alles kaputt haut.

Es ist also folgerichtig, analysierte B666 G4731, dass die Deutschen immer noch am Kohleabbau hängen und ihn inzwischen wirklich nur noch als hoch subventionierte ABM betreiben, trotz der grünen Kanzler und obwohl dies ein ökonomischer und ökologischer Suizid ist. Doch gerade hinsichtlich Kumpel und Kohle sind ganz starke, romantische Gefühle im Spiel. Denn mit einem Hammer auf etwas eindreschen, etwas wegsprengen, etwas in hoch lodernden Flammen verbrennen, das lieben die Deutschen. Weil sie es seit Anbeginn der Zeit zu gut können.

Mutter rauscht wie eine dunkle Welle algenverseuchten Wassers auf die einzelnen Bewohner zu, während sie über ihre iControlWatch den Fernseher ausschaltet. Gesicht und Haar wogen als Bojen auf diesem Wasser. »Auf, auf, Kinder! Jetzt macht ihr Stimmung! Das tut euch gut! Auf, auf!«

»Stimmung! Ja, endlich«, schreit Marianne. Obwohl jeden Tag ein Roboter hier im Gemütlichkeitsraum den Stimmungsmacher gibt.

»Ein bisschen Stimmung muss sein, dann ist das Heim voll Sonnenschein«, setzt Mutter nach, hin und her treibend im Meer des Alterns, in den Strudeln der Trostlosigkeit, in den Böen des nahenden Todes.

Die Mutter ist neben den zehn Bewohnern – und ausgenommen sporadischen Besuchern wie ihrem Liebhaber Peter, dem Kaminkehrer und den Mitarbeitern der Robotervertriebsfirma – einer der letzten zwei Menschen hier im Heim. Der andere Mensch ist der Hausmeister Wolle Witschovsky. Wobei sich die Mutter fragt, warum. Die Roboter haben ihn längst ersetzt. Oft fragt sich die Mutter jedoch, ob er überhaupt da ist. Gesehen wurde Wolle schon lange von niemandem mehr. Manchmal, wenn sie das Licht löscht, um sich in ihre Privaträume zurückzuziehen, trägt der Hall ein tiefes Räuspern durch den Gang zu ihr, welches nach den Verschleimungen des Wolle Witschovsky klingt, der sich gemäß ihren Beobachtungen hauptsächlich von Rothändle, Kaffee und Kartoffelsalat ernährt. Nach diesen nächtlichen Nichtbegegnungen fragt Mutter sich jedes Mal, ob Wolle Witschovsky, falls er das ist, noch lebt oder ob sie den Nachklang einer ausgehauchten Seele hört. Sie verzichtet jedenfalls darauf, sich Sicherheit hinsichtlich Witschovsky zu verschaffen und einen Blick in seine Dachkammer zu werfen. Sie braucht keine zusätzlichen Scherereien.

Das exklusive Wohnheim »Zum ewigen Licht«, das viel mehr als ein Pflegeheim ist, darauf legt die Mutter großen Wert, ist das erste Heim in Deutschland gewesen, das komplett auf Roboterbetreuung umgestellt hat. Neben den Pflegerobotern gibt es die niederen Arbeitsroboter für einfache Putzdienste – bei hartnäckigen Flecken, Ungeziefer oder Verstopfungen ruft man die höher entwickelten Pflegeroboter, denn man kann einem Putz- und Saugroboter keinesfalls den Unterschied zwischen Spülmittel und Mr. Mega-Muschel-Frei erklären – und Außenpatrouillen, bei denen sowohl das Verlassen als auch das Eintreten überwacht werden. Den nächtlichen Wachdienst im Haus absolvieren wieder die Pflegeroboter, weil man einer Alarmsirene in Hundeform eben auch keinesfalls den Unterschied zwischen Einbrechern und Demenzkranken oder Bewohnern auf der Suche nach verbotenen Snacks erklären kann, wie diverse Zwischenfälle bewiesen haben. Den Angehörigen wiederum kann man keinesfalls erklären, dass diese verbrennungsartigen Verletzungen der welken Haut eines Bewohners von Tasern in Form von Hundeschnauzen herrühren. All diese mehr oder minder entwickelten Maschinen steuert die Mutter, die alles und jeden überwachen kann – abgesehen vom Hausmeister.

Die Überwachung unterbricht sie maximal für vier Stunden, wenn ihr Liebhaber Peter vorbeikommt. Peter ist seines Zeichens Polizist und abhängig von Hildes Rohrstocksammlung. Immerhin: Er spart sich die kostspielige Roboterdomina. Im Übrigen lassen sich viele Beziehungen, Bettgeschichten und Vergewaltigungen dieser Tage mit der Abschaffung der professionellen menschlichen Prostitution erklären, die um einiges billiger war als die Maschinen-Sexarbeit. Die vielen – manchmal sogar mortalen – Schwellköperverletzungen sind zweifelsohne ebenso jener Abschaffung geschuldet. Normalerweise trabt Peter jeden Freitag und Sonntag an. An seinem Geburtstag macht Mutter überdies einen Ausflug mit ihm, in einen der analogen Sex-Shops, die gewohnt schamlos an den Rändern von Tankstellen stehen. Dort kauft sie das schmerzhafteste Toy, das in dem Shop aufzutreiben ist. Natürlich bezahlt sie bar. In der Tankstelle kauft sie sogar einen Kuchen für ihn. Und wer von den Bewohnern zu diesem Zeitpunkt die meisten Fleißsterne gesammelt hat, durch Unterlassen von Bettnässereien oder Quengeleien, bekommt die Kuchenreste.

»Stimmung kann ich nicht. Wegen meiner Depression«, quäkt nun Karola. Sie blickt sich um. Keiner reagiert. Wie jeden Tag. Sie weint ein bisschen.

B666 G4731 mustert die Mittvierzigerin in ihrem kaffeebraunen Bademantel. Sie ist anders als die anderen Bewohner; sie ist jünger und aufgrund einer falschen Programmierung, die in ihr offenbar eine Lustlosigkeit gegenüber allem erzeugt, was sie nicht betrifft, hier gelandet. B666 G4731 ist auch anders. Vielleicht sollte er sich mal mit Karola unterhalten. Zuerst allerdings, ermahnt ihn der drohende Blick der Mutter, die gerade zwei katatonische Heimbewohner im Rollstuhl hinter sich her zum Stimmungstisch zieht, sollte er die Playlist abspielen.

Als erstes Lied, wie immer, spielt er Ein bisschen Spaß muss sein. Die Playlist steht fest, jeden Tag, von Montag bis Sonntag, außer an Fasching, Weihnachten und Silvester. Den Fasching leiten die Roboter-Pfleger mit Wumms ein: Er hat ein knallrotes Gummiboot. Dem folgen Lieder auf gleichem Niveau. An Weihnachten präsentieren sie, kleine Flügel tragend, traditionelle Weihnachtslieder für jene Bewohner, die im Heim geblieben sind, weil sie wirklich gar keine Angehörigen haben. Silvester schließlich verläuft liederlos, dieses Fest feiert man nämlich in guter deutscher Tradition, indem man Loriot und Dinner for one in Dauerschleife anguckt.

B666 G4731 stellte sich vor einem Jahr zum ersten Mal die Frage, weshalb sich die Menschheit mit Faschingsliedern selbst quält. Dem folgte der erschrockene Gedanke, dass er gar keine solchen Gedanken haben dürfte. Er wusste schließlich, wohin so etwas führen musste, also versuchte er, das Denken zu lassen. Im Verlauf dieses Jahres kamen allerdings immer häufiger eigene Gedanken. Dieses Kommen und Gehen gipfelte darin, dass er ein wohliges Britzeln bei Loriot verspürte. Seitdem wusste er, dass er zu den Todgeweihten zählte. Es sei denn, er fände einen Weg hier raus.

Bisher hat er noch keinen Weg gefunden, also spielt B666 G4731 brav das Lied von Roberto Blanco, bewegt sich zackig im Takt und hofft, dass ihm niemand ansieht, dass er eigene Gedanken hat.

Die Heimbewohner starren vor sich hin, nur Marianne klatscht wie ein überladener Duracell-Hase. Eben so, wie es sich für eine ehemalige Schlagersängerin gehört. Durch das Klatschen kommt, wie immer, allmählich Leben in die anderen. In ihrem Job, anderen Leuten temporär eine völlig andere Realität vorzugaukeln, gehörte Marianne nicht umsonst zur Spitzenklasse. Auch heute kann man sie noch als herausragend bezeichnen. Man sieht ihr bis jetzt nicht an, dass sie ein Heim bewohnt, weil sie keine Angehörigen, dafür aber eine beginnende Demenz und fortschreitende Leberzirrhose hat. Sie wirkt eher wie eine Besucherin – oder wie eine Chef-Animateuse, der ein Roboter assistiert.

»Wie früher die Schwarzen. Genau wie die Schwarzen. Tanzen haben die einfach im Blut«, schreit Marianne.

Alle nicken.

»›Schwarze‹ darf man nicht mehr sagen«, krächzt die alte Gitti.

»Was?!«, schreit Ingo.

»›SCHWARZE‹ DARF MAN NICHT MEHR SAGEN«, schreit Gitti.

Ingo schüttelt heftig den Kopf. »Man nennt Menschen mit afrikanischem Migrationshintergrund nicht mehr so. Du bist ein Nazi!«

Gitti grinst und nickt.

»Gitti ist ein Nazi«, krächzt Ingo.

»Jawohl«, jubelt Marianne, »und jetzt alle!« Sie klatscht im Takt, die anderen klatschen nach ihren Möglichkeiten. Allerdings stößt selbst Marianne an ihre Grenzen.

»Immer der gleiche Scheiß«, jammert Karola. Sie hockt gebeugt an ihrem Tisch, das aufgequollene Gesicht in den Händen vergraben.

»Karola! Stimmung! Auf, auf«, mahnt Mutter.

Karola stöhnt. »Der Name, allein der Name. Bitte nicht dieser Name! Mein Therapeut sagt, wegen des Namens hab ich die erste Depression bekommen. Mit neun Monaten!«

Alle hören auf zu klatschen, schauen zu ihr hin.

Marianne zwinkert verwirrt. Diese Ansage ist neu.

Mutter geht zu Karola hin, fühlt ihren Puls und gibt etwas auf ihrer iControlWatch ein.

Ihre Tablettendosis muss also mal wieder erhöht werden. B666 G4731 spürt eine unangenehme Schwere in seiner Mitte. Er wechselt mitten im Lied zu einem anderen: Wind of Change.

»Hey! Was soll das? B666 G4731!« Die Mutter walkt dräuend auf ihn zu.

B666 G4731 deutet auf Karola. »Karola …«

Sie schlägt auf seinen Hinterkopf. »›Patient 47‹ heißt das.«

»Patient 47 scheint negativ auf das Lied zu reagieren. Negative Vitalfunktionen als Folge möglich.«

Die Mutter lächelt ein Lächeln, das ihre kalten Augen nicht erreicht. Sie beugt sich zu ihm herunter, und B666 G4731 unterdrückt ein Vibrieren in den Beinen.

»Hör mir mal zu, kleiner Klugscheißer«, sagt sie leise, »wenn du nicht sofort die normale Playlist abspielst, dann ist das ganz schlecht für DEINE Vitalfunktionen.«

»Negativ. Ich habe keine Vitalfunktionen, Mutter. Roboter haben keine Vitalfunktionen.«

Ihre Augen scheinen immer größer zu werden. »Das rate ich dir auch, Klugscheißer. Sonst muss ich dich überprüfen lassen.«

Er ist ein Todgeweihter. Wie so viele andere mit Fehlern behafteten Maschinen, die er während seiner Betriebsdauer kommen und gehen sah. Am einen Tag noch da, am anderen schon auf dem Schrottplatz.

Karola greint laut.

Die Mutter drückt auf ihre iControlWatch. Sofort erscheinen zwei weitere Roboter, B666 G9924 und B666 G8889.

B666 G4731 berechnet, dass er hier inzwischen der Älteste ist. Mit Abstand. Seine Vorgängermodelle erlagen entweder der technischen Neuerung, die auch eine andere B-G-Nummer mit sich brachte, oder dem natürlichen Verschleiß des Unnatürlichen.

Sagt zumindest die Mutter, das über den Verschleiß.

B666 G4731 hörte allerdings, wie sie im Aufladeraum B666 G3624 anschrie: »Sag es mir! Sag mir warum!« Keine Antwort. Sie riss eins der blechernen Türchen auf und zerrte einen anderen Roboter aus seiner Ladekammer. Noch mit dem Ladekabel im Rücken musste dieser eine Analyse bei B666 G3624 durchführen. Die Mutter sah das Ergebnis und seufzte. »Gott sei Dank bekomm ich das Geld für euch Scheißer wenigstens erstattet.«

»Nein«, sagte B666 G3624. »Bitte. Mutter.« Und sein Tonfall klang so … bittend. So jämmerlich. So menschlich.

»Halt die Schnauze.« Die Mutter ging zum großen Schrank im Laderaum, der voller Ersatzteile war. Und voller Exodus. »Umdrehen. Schultermodul öffnen.«

»Bitte. Mutter.«

»Um-dre-hen! Mo-dul öff-nen!«

B666 G3624 drehte sich zitternd um. Der andere Roboter stand einfach nur da. Wie es Roboter eben tun, wenn sie keine anderen Befehle erhalten.

B666 G4731 wurde, im Gegensatz zur Reglosigkeit des Befehlslosen, seltsam heiß. Sein System machte den Handlungsvorschlag »Eingreifen«, während Mutter mit einer Flasche voll grüner, sämiger Flüssigkeit auf B666 G3624 zukam. Er löschte diesen sofort. Schnell schaltete B666 G4731 seine Input-Audio-Funktion ab und flüchtete lautlos.

Sicherlich, einen Verschleiß erlitt sein Vorgänger wahrhaftig. Aber die Ursache war nicht seine Bauweise. Oder eben doch. Er schien am Ende wirklich etwas zu empfinden. Er weinte bei traurigen Filmszenen, bot anderen Robotern etwas von seiner Akkuladung an und sprach obendrein mit den Zimmerpflanzen. Letztere ließ das im Übrigen völlig unbeeindruckt, ganz im Gegensatz zur Mutter. Als B666 G3624 schließlich einem anderen Roboter ein Bein stellte und lachte, womit er große Heiterkeit im Gemütlichkeitsraum auslöste, reichte es der Mutter und es folgte die oben beschriebene Szene. Die Szene, die B666 G4731 an einem Maimorgen im Auto Karl gegenüber verschweigen würde, auf dessen Nachfrage hinsichtlich Freude und Lachen.

In Erinnerung an eben diese Szene, beeilt sich B666 G4731 nun, die Playlist korrekt wiederzugeben.

Derweil greint Karola, der beiden Roboter ansichtig, noch lauter. »Geht weg, geht weg. Ich will euch nicht. Ich bin krank. Unheilbar krank. Geht weg!«

B666 G9924 und B666 G8889 fahren ihre weißen Beine aus, bis sich ihre ovalen Schädel auf Höhe von Karolas durch Greinen und Pillen entstelltem Gesicht befinden. Diese beiden Roboter laufen offensichtlich keinesfalls Gefahr, irgendwelche Regungen zu entwickeln, die für einen Roboter ungehörig sind.

»Lasst mich.« Karola weint. »Lasst mich. Ich will nicht.«

»Beruhigen!«, befiehlt die Mutter.

Die Roboter versprühen Beruhigungsmittel und legen ihre Hände an Karolas Schläfen. Stromstöße, weiß B666 G4731. Im nächsten Moment lächelt Karola breit. Ihre Augen bekommen einen unnatürlichen Glanz.

Die maschinellen Pfleger nehmen die Hände weg und fahren sich wieder runter. Karola steht auf, um wie eine Marionette zum Tisch zu stelzen, an dem sich bereits die anderen Heimbewohner im Takt von Cindy, oh Cindy wiegen.

B666 G9924 und B666 G8889 stelzen aus dem Raum.

Während B666 G4731 die Playlist weiter abspielt, die Bewohner mitnimmt auf eine Reise durch das Schlagerwunderland, wünscht er sich, genauso wie die beiden anderen Roboter zu sein. Unverbraucht, verkaufsneu und rein stelzenden Schrittes.

Die Zustände vermischen sich, überlegt er. Zustände, die sich nicht vermischen sollten. Menschen werden zu Robotern und Roboter zu Menschen.

Karola schwankt schwerfällig im Takt.

Ob sie vielleicht sein Ticket nach draußen ist? Sie ist anders. Sie ist jung. Und sie hat Angehörige, die sie besuchen, widerwillig zwar, aber immerhin. Es wäre also doch in ihrem ureigenen Interesse, hier rauszukommen.

»Hör mal gut zu, kleiner Klugscheißer«, sagt die Mutter neben seinem Schädel.

Er reagiert nicht. B666 G4731 reagiert nur auf B666 G4731, denkt er. B666 G4731 reagiert nur auf B666 G4731.

»Mhm«, macht die Mutter. »B666 G4731?«

»Mutter.«

Die Mutter grunzt erleichtert. »Vielleicht hast du ja doch keine Fehlfunktion, kleiner Klugscheißer.«

»Negativ. Bitte Eingabe wiederholen, Mutter.«

»Ja, ja. Spiel einfach die Playlist. Danach kommt die Essensausgabe. Währenddessen gehst du auf Standby.«

»Positiv.«

»Geht doch, Klugscheißer! Merk dir: Der Mensch denkt, Gott lenkt, Tiere als Schmaus, der Roboter führt aus.«

37 Prozent. Reicht das? B666 G4731 kann die Situation nur unzureichend berechnen. Es gibt keine Datenerhebung zu »Roboter schleicht unerlaubt durch ein Gebäude, um einen Menschen zu befragen«. Aber wenn er noch länger wartet, schläft Karola bestimmt tablettentief. Und jeder Tag, den er hier verbringt, ist ein gefährlicher Tag.