Und keiner spricht darüber - Patricia Lockwood - E-Book

Und keiner spricht darüber E-Book

Patricia Lockwood

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Beschreibung

Sie ist ein Online-Star. Sie reist um die Welt, um ihre begeisterten Fans zu treffen. Das sogenannte »Portal« ist ihr Medium: In diesem virtuellen Raum fügt sich eine Lawine von Bildern, Details und Referenzen zu einer unendlichen Landschaft zusammen, die Post-Sense, Post-Ironie, Post-Alles ist. Aber was passiert, wenn eine Tragödie in das echte Leben einbricht und alles verändert?

»Und keiner spricht darüber« ist ein Liebesbrief an Sprache und Literatur und gleichzeitig eine moderne Meditation über Liebe und die Kraft menschlicher Nähe.

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Seitenzahl: 207

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Zum Buch

Sie ist ein Online-Star. Sie reist um die Welt, um ihre begeisterten Fans zu treffen. Das sogenannte »Portal« ist ihr Medium: In diesem virtuellen Raum fügt sich eine Lawine von Bildern, Details und Referenzen zu einer unendlichen Landschaft zusammen, die Post-Sense, Post-Ironie, Post-Alles ist. Aber was passiert, wenn eine Tragödie in das echte Leben einbricht und alles verändert?

Zur Autorin

PATRICIA LOCKWOOD wurde in Fort Wayne, Indiana, geboren und wuchs in den schlimmsten Städten des Mittleren Westens auf. Ihre Lyrik wurde von der amerikanischen Presse hoch gelobt, und ihre Artikel und Stories erscheinen unter anderem in der New York Times, im New Yorker und in der London Review of Books, wo sie als Redakteurin arbeitet. »Und keiner spricht darüber« ist ihr erster Roman. Er stand 2021 auf der Shortlist des Booker-Preises sowie auf der Shortlist des Women’s Prize for Fiction und gehörte für die New York Times zu den zehn wichtigsten Büchern des Jahres. Patricia Lockwood twittert seit 2011 und lebt in Savannah, Georgia

PATRICIA LOCKWOOD

UND KEINER SPRICHT DARÜBER

Roman

Aus dem Englischen von Anne-Kristin Mittag

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »No One is Talking About This« bei Riverhead Books, New York.

Das Zitat stammt aus: Wladimir Majakowski, »Ich und Napoleon«, eine Nachdichtung von Uwe Kolbe, in: Gedichte. Russisch und Deutsch, hg. v. Gerhard Schaumann, Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1985, S. 27–33, S. 33.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe © 2022 btb Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright der Originalausgabe © 2021 by Patricia Lockwood

Umschlaggestaltung: Semper Smile nach einem Entwurf von Greg Heinimann

Covermotiv: © Getty Images/ itsabreeze photography

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

mr ∙ Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-28085-7V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

für Lena, die eine Glocke war

Leute!

Wird sein!

In der Sonne!

gerade!

Wladimir Majakowski, »Ich und Napoleon«

TEIL EINS

SIEÖFFNETEDASPORTAL, und das Bewusstsein kam ihr auf halbem Weg entgegen. Drinnen war es tropisch heiß, und es schneite, und die erste Flocke der Lawine von allem landete auf ihrer Zunge und schmolz.

Nahaufnahmen von Nagelkunst, ein Kieselstein aus dem All, die Augen einer Vogelspinne, ein Sturm auf der Oberfläche Jupiters wie ein Dosenpfirsich, van Goghs Kartoffelesser, ein Chihuahua, der auf der Erektion eines Mannes hockt, ein vollgespraytes Garagentor mit den Worten STOPP! KEINE E-MAILSMEHRANMEINEFRAU!

Warum kam einem das Portal so privat vor, obwohl man es doch nur betrat, wenn man überall sein musste?

...

Sie tastete den massiven grünen Marmor des Tages nach dem haarfeinen Riss ab, aus dem sie vielleicht hinausschlüpfen konnte. Es ließ sich nicht erzwingen. Draußen hing die Luft bleischwer; Wolken türmten sich wie Polsterfüllung, und im Süden des Himmels war ein wunder Punkt, wo sich ein Regenbogen ereignen wollte.

Dann drei Schluck Kaffee, und ein Fenster poppte auf.

...

Ich bin überzeugt, dass die Welt zu voll wird lol, textete ihr Bruder ihr, der sich selbst am Ende jedes Tages mit einem persönlichen Kometen namens Fireball abschoss.

...

Kapitalismus! Ihn zu hassen war wichtig, obwohl man ja so sein Geld verdiente. Langsam, langsam – war ihr aufgefallen – verwandelte sie sich einen philosophischen Standpunkt an, der selbst Jesus zu hoch gewesen wäre: dass sie den Kapitalismus zwar hassen musste, zugleich aber Kaufhaus-Sequenzen in Filmen liebte.

...

Politik! Die Krux daran war, dass sie jetzt einen Diktator hatten, was manchen (Weißen) zufolge noch nie, anderen (dem Rest) zufolge jedoch ausnahmslos, seit Anbeginn der Welt der Fall gewesen war. Ihre eigene Dummheit versetzte sie ebenso sehr in Panik wie der Klang ihrer Stimme, wenn sie sich nun mit Leuten unterhielt, die noch nicht mit dem Dummsein aufgehört hatten.

Das Problem bestand darin, dass der Diktator sehr witzig war, was vielleicht schon immer auf alle Diktatoren zugetroffen hatte. Absurdismus, dachte sie. Auf einmal begannen diese ganzen russischen Romane über Menschen, die sich in einem Landhaus in einen Teelöffel Brombeermarmelade verwandeln, einen Sinn zu ergeben.

...

Wie lautete noch gleich der herrliche Gedanke, die tiefgründige Beobachtung, die sie sich ausnahmsweise mal aufgeschrieben hatte? Im Gefühl der Vorfreude, die sie immer bei solchen Gelegenheiten verspürte, klappte sie ihr Notizbuch auf – vielleicht wäre er das endlich, der eine Satz, den man in ihren Grabstein meißeln würde. Er lautete:

spongebob kann mir ein loch in die du-weißt-schon-was mampfen

...

Wenn man stirbt, sinnierte sie, während sie sich gewissenhaft die Beine unter feinen Wassernadeln wusch – sie hatte vor Kurzem gelesen, dass manche Menschen diesen Körperteil beim Duschen ausließen –, sieht man ein kleines Tortendiagramm, das einem verrät, wie viel Lebenszeit dafür draufgegangen ist, sich unter der Dusche mit Menschen zu streiten, denen man nie begegnet ist. Ach, aber als wäre das irgendwie weniger verdienstvoll, als seine Zeit damit zu verbringen, die Stärke von Biberbauen sorgfältig auf Anzeichen für die Strenge des kommenden Winters hin zu beobachten!

...

Praktizierte sie da gerade Stimming? Sie fürchtete, ja.

Was immer da war:

Die Sonne.

Ihr Körper und ein kaum merkliches Zausen an ihren Haarwurzeln.

Beinahe etwas wie Musik in der Luft, formlos, ursprünglich und wirbelnd, wie erwartungsvoll nach Farben geordnetes Garn.

Die Titelmelodie einer Kindersendung, in der Schaufensterpuppen nachts im Kaufhaus zum Leben erwachen.

Anonyme Archivaufnahmen des History Channel von grauen Millionen auf dem Marsch, Fliegern mit Haimaul, Fallschirmbomben, Pilzwolken.

Eine Episode von True Life über ein Mädchen, das sich gern einölte, in einen Kessel mit gemischtem Gemüse stieg und so tat, als würden sich gleich Kannibalen über sie hermachen. Im sexuellen Sinne.

Der nicht ganz ausgeformte Nichtgedanke: Sitzt da ein Käfer auf mir???

Eine abgrundtiefe Scham wegen allem, allem.

...

Was war eigentlich aus der alten Tyrannei geworden, der Tyrannei des Ehemanns über die Frau? Sie vermutete, dass sie größtenteils umgelenkt worden war – in abwegige Vorstellungen von Nahrungsergänzungsmitteln, davon ob Schallplatten einen »wärmeren« Klang hatten oder nicht, und aus welchen Automaten der Kaffee wie in den Mund geschissen schmeckte. »Vor hundert Jahren hättest du Kohle abgebaut und vierzehn Kinder gehabt, allesamt hießen sie Jane«, staunte sie vor der Auslage von Keurig, wo sie beobachtete, wie ein Mann seiner Frau mit dem Finger drohte. »Vor zweihundert Jahren hättest du vielleicht in einem Göttinger Café gesessen, die Zeitung geschwenkt, die Fragen des Tages durchgekaut – und ich hätte am Fenster Bettwäsche ausgeschüttelt und könnte nicht lesen.« Aber fühlte sich Tyrannei nicht immer an wie der unaufhaltsame Lauf der Welt?

...

Es war ein Irrtum zu glauben, dass andere nicht so intensiv lebten wie man selbst. Und so intensiv lebte man ja jetzt auch nicht.

...

Wie viel mitgehört wurde, war wirklich erstaunlich und die Auswirkungen noch gar nicht absehbar. Die Tagebücher anderer umströmten sie. Sollte sie zum Beispiel den Unterhaltungen von Teenagern zuhören? Sollte sie begierig die Komplimente mitlesen, die Dorfsheriffs Pornostars schrieben, ohne zu merken, dass sie für jedermann sichtbar waren? Was war mit dem einen Thread von den Frauen, die entdeckten, dass sie alle genau die gleiche Narbe am Knie hatten? »Ich habe diese Narbe auch!«, meldete sich eine Weiße zu Wort, wurde jedoch rasch und effizient wieder zum Schweigen gebracht, weil es eben nicht die gleiche war; sie hatte ein Wirsein gestört, und die Welt, in der sie sich diese Narbe zugezogen hatte, war eine andere.

...

Morgen für Morgen lag sie selig begraben unter einer Flut von Einzelheiten, Fotos von Frühstücken in Patagonia, ein Mädchen, das ihre Foundation mit einem hartgekochten Ei auftrug, ein Shiba Inu in Japan, der zur Begrüßung seines Herrchens von einer Pfote auf die andere hüpfte, gespenstisch blasse Frauen, die Bilder von ihren blauen Flecken posteten – und während die Welt sich näher und näher heranschob, das Spinnennetz menschlicher Beziehungen so stark verfilzt, dass es fast einer schimmernden, kräftigen Seide glich, öffnete der Tag sich ihr immer noch nicht. Was bedeutete es, dass sie das sehen durfte?

Wenn sie dann anfing, auf ihrer Unterlippe zu kauen wie fast immer nach der Milch und der Zibetkatzen-Bitterkeit ihres morgendlichen Kaffees, ging sie ins Bad, wo sich der Efeu vorm Fenster den Pony herauswachsen ließ, und schminkte sich die Lippen sorgfältig in einem satten Auf-dem-Flügel-Geräkel-Rot – als müsste sie später am Abend noch in einen Undergroundclub, in dem sie nackt wie eine verlorengegangene Paillette aufkreuzen und aus der gesamten Sonnenuntergangswolke menschlichen Empfindens ein lyrisches Sechs-Wort-Gedicht destillieren würde.

...

Im Hinterkopf tat ihr etwas weh. Es war ihr neues Klassenbewusstsein.

...

Jeden Tag musste sich auf einen Schlag, wie der Widerschein auf einem Fischschwarm, die allgemeine Aufmerksamkeit einem neuen Hassobjekt zuwenden. Manchmal handelte es sich dabei um einen Kriegsverbrecher, manchmal aber auch um jemanden, der eine frevelhafte Guacamole-Zutat vorschlug. Es war weniger der Hass, der sie interessierte, als seine prompte Abkühlung; so als hätte das kollektive Blut eine Entscheidung getroffen. Als wären sie eine Spezies, die gelegentlich einen Giftschwall ausstößt oder eine Wolke schwarzer Tinte am Meeresgrund. Ich meine, hast du mal diesen Artikel über die Intelligenz von Kraken gelesen? Hast du gelesen, wie ganze Krakenarmeen in schleimig glänzendem Gehorsam aus dem Wasser an Land marschieren?

...

»Ahahaha!«, brüllte sie, die neue und witzigere Lache, während sie ein Video von Körpern sah, die aus einem Fahrgeschäft auf der Ohio State Fair geschleudert wurden. Ihre Flugbahnen zeichneten reine Parabeln der Seligkeit in die Luft, T-Shirts schienen förmlich an ihnen zu zerrinnen, verrückt, was das Fleisch doch alles kann, wenn es nachgibt, bis hin zu dem kapitulierenden Knacken, als …

»Was ist so witzig«, fragte ihr Mann, der seitlich in seinem Sessel hing, sodass seine klingengleichen Schienbeine über einer Armlehne baumelten, aber da hatte sie schon bis zum Ende des Threads gescrollt und gesehen, dass ein Mensch gestorben war und das Leben fünf weiterer an einem seidenen Faden hing. »Mein Gott!«, rief sie, als der Groschen fiel. »Um Gottes willen, nein!«

...

Allabendlich um neun hängte sie ihren Verstand an den Nagel. Schwor ihm ab wie einem Glauben. Entsagte ihm wie einem Thron, alles im Namen der Liebe. Sie ging zur Gefriertruhe, ließ sich die frische Luft aufs Gesicht strömen, drückte Fingerabdrücke in den Frost an einem Flaschenhals und goss sich etwas in ein Glas, das sehr, sehr klar war. Und dann freute sie sich, obgleich sie sich jedes Mal sorgte – wie man sich in Bezug auf Wissen nie sorgt –, ob es reichen würde.

...

Im Portal rief ein Typ, der vor drei Jahren noch ausschließlich Sachen wie »Ich bin ein Spast mit Analkrebs« gepostet hatte, andere dazu auf, die Augen für die Macht des Sozialismus zu öffnen, welcher auf einmal wie der einzige gangbare Weg schien.

...

Ihr Pronomen, dem sie sich noch nie besonders verbunden gefühlt hatte, entfernte sich im Portal immer weiter von ihr, tauchte durch Landschaften von uns und ihm und wir und ihnen ab. Hin und wieder kam es zurückgeflogen und hockte sich auf ihre Schulter wie ein Papagei, der alles, was sie sagte, wiederholte, aber im Übrigen nichts mit ihr zu tun hatte, ja ihr in Wirklichkeit von einer schrulligen alten Tante vermacht worden war, die auf dem Sterbebett bloß geblafft hatte: »Das Leben ist kein Ponyhof!«

Meistens ging es jedoch in du, du, du, du über, bis sie keine Ahnung mehr hatte, wo sie aufhörte und der Rest der Crowd anfing.

...

Es gab da ein ikonisches Foto, eine Frau in ihrer frisch gestärkten Krankenschwesterntracht, die am Victory Day von einem Soldaten nach hinten gebeugt und geküsst wurde. Wir alle hatten es schon unser ganzes Leben lang gesehen und geglaubt, wir verstünden das darauf gebannte Funkensprühen – aber dann hatte sich die Frau aus den Tiefen der Geschichte erhoben und die Welt wissen lassen, dass sie den Mann überhaupt nicht gekannt, ja dass sie diese ganze Begegnung hindurch Angst gehabt hätte. Und da erst sprangen einem der Kolibri ihrer linken Hand, die unheimliche Verrenkung ihrer Wirbelsäule, der um ihren Hals gekeilte Ellbogen des Soldaten ins Auge. »Ich hatte ihn noch nie im Leben gesehen«, sagte die Frau; aber da war er auf dem Foto, war in unseren Köpfen, riss sie an sich wie den Sieg, ließ nie wieder los.

...

Natürlich waren es immer die, die sich selbst als aufgeklärt bezeichneten, die am meisten klauten. Die sich den Slang als Erstes aneigneten. Um – ja, was zu beweisen? Dass sie anders waren als alle anderen? Dass sie wussten, was klauenswert war? Sie waren auch die Schuldbewusstesten. Aber Schuld war keinen Cent wert.

...

Es gab ein neues Spielzeug. Alle machten sich darüber lustig, doch dann hieß es, dass es für Autisten gedacht war, und statt des Spielzeugs machten sich auf einmal alle über diejenigen lustig, die sich zuvor darüber lustig gemacht hatten. Dann entdeckte jemand anderes in einem Museum eine Millionen Jahre alte Steinversion, was anscheinend etwas bewies. Dann kam ans Licht, dass der Ursprung des Spielzeugs irgendwie mit Israel und Palästina zu tun hatte, woraufhin alle einen Pakt schlossen, nie mehr ein Wort darüber zu verlieren. Und all das spielte sich innerhalb von vier Tagen oder so ab.

...

Sie öffnete das Portal. »Machen wir jetzt alle einfach so weiter, bis wir sterben?«, fragten die Leute einander, so wie sie sich an anderen Tagen fragten: »Sind wir in der Hölle?« Nicht in der Hölle, dachte sie, sondern in so einem grell erleuchteten Raum mit ewig gestrigen Zeitschriften, wo sie in Louisiana Parent oder Horse Illustrated blätterten, während sie darauf warteten, ins Gedächtnis der Geschichte einzugehen.

...

An diesem Ort, an dem wir kurz davor standen, uns unserer Körper zu entledigen, war es, dass der Körper in den Mittelpunkt rückte, an diesem Ort der großen Schmelze war es auf einmal entscheidend, ob du als Kind Orange oder Apfelsine gesagt hast, deine Mutter mit Knoblauchsalz oder echtem, frisch gehackten Knoblauch kochte, an deinen Wänden echte Kunst hängt oder gestellte Fotos von deiner Familie auf Baumstämmen vor einem künstlichen Hintergrund oder ob du diese eine komplett orange verfärbte Tupperdose besitzt. Du wurdest so nah herangezoomt, dass sich alles in Bildrauschen auflöste, du schwebtest im Weltraum, es war die Brüderlichkeit unter den Menschen, doch in mancher Hinsicht waren die Fliehkräfte zwischen ihnen nie größer gewesen. Du zoomtest näher und näher an dieses warme Pixel heran, bis es aussah wie die Kälte des Mondes.

...

»Was machst du da?«, fragte ihr Mann leise, zaghaft; er wiederholte seine Frage so lange, bis sie den leeren Blick zu ihm hob. Was sie da machte? Aber sah er denn nicht, dass ihre Arme bis obenhin mit den Saphiren des Augenblicks beladen waren? Hatte er nicht mitbekommen, dass ein männlicher Feminist an dem Tag ein Foto von seinem Nippel gepostet hatte?

...

Sie war durch einen Post berühmt geworden, der schlicht lautete: Kann ein Hund Zwillinge sein? Das war’s. Kann ein Hund Zwillinge sein? Vor Kurzem war der Post in eine solche Phase der Durchdringung eingetreten, dass Teenager ihr das Heul-Emoji schickten. Sie gingen zur Highschool. Statt an das Datum des Versailler Vertrags – das sie, machen wir uns da mal nichts vor, genauso wenig wusste – würden sie sich an »Kann ein Hund Zwillinge sein?« erinnern.

...

Dem verdankte sie also eine gewisse windige Bekanntheit. Sie wurde in alle Welt eingeladen, von einer Wolkenbank herab – so zumindest kam es ihr vor – über die neue Kommunikation, den neuen Informationsmahlstrom zu sprechen. Sie saß auf der Bühne zwischen Männern, die besser unter ihrem Usernamen bekannt waren, und Frauen mit so stark aufgemalten Augenbrauen, dass sie geisteskrank wirkten, und versuchte zu erklären, weshalb die Schreibweise niezen objektiv witziger war. Es fühlte sich nicht gerade wie das wirkliche Leben an, aber wovon ließ sich das heutzutage schon behaupten?

...

In Australien, wo sie sich unerklärlicher Beliebtheit erfreute, saß sie unter schweißtreibenden Lichtern mit einem weiteren Internetexperten auf der Bühne, auf dessen Gesicht sich die Genugtuung darüber spiegelte, Kanadier zu sein, und der sich die Haare unübersehbar mit Zweiunddreißigdollargel gegelt hatte. Er sprach über verschiedene Themen gut und überzeugend, trug dabei jedoch eine Cyberpunk-Hose – in solchen Hosen waren wir herumgelaufen, als wir noch glaubten, wir müssten durchs Internet skateboarden. Außerdem setzte er nicht für einen Moment seine Rave-Brille ab, so als müsste er sich vor dem blendenden Cyberlicht schützen, das ihm von einer Sonne, die er mit sich herumtrug, direkt in die Augen fiel. Sie war der Stern einer Zukunft, den man in die alte knöcherne Höhle des Himmels gesetzt hatte.

»Niezen ist witziger, stimmt’s?«, fragte sie ihn.

»Aber hallo«, antwortete er. »So was von niezen.«

...

Während solcher Auftritte fuhr in ihren Körper, was sie sich als einen Dämon der Performance vorstellte, eine vollkommen unversehrte Persönlichkeit, auf die sie in gewöhnlichen Zeiten keinen Zugriff hatte. Sie war nicht nur in ihr, sondern schwappte hier und da ein wenig über; sie schlug ein Getue aus ihrem Körper wie Funken aus einem Stein. Immer wenn sie sich ihre Auftritte danach ansah, war sie entgeistert. Wer war diese Frau? Und wer hatte ihr erlaubt, so mit anderen zu reden?

...

»Das Problem!« Sie hörte sich kämpferisch an, wie eine eher unbekannte Suffragette. In ihrer Wimperntusche war eine ausländische Mücke hängen geblieben, und sie hatte den Geschmack nach dem minimal anders zubereiteten Kaffee im Mund, den die Australier dem Latte für überlegen hielten. Das Publikum schaute ermutigend zu ihr hoch. »Das Problem ist, dass wir uns rasch dem Punkt nähern, an dem zu unserem Dirty Talk nur noch Sätze gehören wie Fick mein Dopamin, Website!«

...

Warum hatte sie sich dafür entschieden, ihr Leben so bedingungslos ins Portal zu verlegen? Es hatte etwas mit Kind-an-der-Kette-vorm-Haus zu tun. Ihre Urgroßmutter, eine eingebildete Invalidin, hatte ihren erstgeborenen Sohn angekettet an einen Pfahl im Vorgarten gehalten, damit sie ihn stets durchs Fenster im Blick behalten konnte. Eine andere Abstammung mütterlicherseits wäre ihr natürlich lieber gewesen – Pilotinnen, Jazz-Miezen, internationale Spioninnen wären allesamt besser gewesen –, aber sie hatte nun mal Kind-an-der-Kette-vorm-Haus bekommen, und es würde sie nicht loslassen.

...

Es schien, als hätte jedes Land seine eigene Zeitung namens The Globe. Sie kaufte sie sich überall, wo sie hinreiste, legte ihre Loonies und Pfund und Kronen auf Ladentische, unterbrach die Lektüre jedoch oft auf halbem Weg für das Unmittelbarkeitsgefühl des Portals. Denn solange sie die Nachrichten las, Zeile für Zeile, Minute für Minute, hatte sie bei allem, was vor sich ging, ein Wörtchen mitzureden, oder nicht? Sie musste dabei ein Wörtchen mitzureden haben, und sei es nur WAS?

Und sei es nur HEY!

...

An diesem Ort wusste sie, was geschehen würde, an diesem Ort würde sie sich immer für die richtige Seite entscheiden, lag das Versagen bei der Geschichte und nicht bei ihr selbst, las sie nicht die falschen Autoren, wallte keine Begeisterung für die falschen Führer in ihr auf, aß sie nicht die falschen Tiere, jubelte nicht bei Stierkämpfen, rief kleine Kinder nicht beim Spitznamen Muschi, glaubte nicht an Feen oder Medien oder Geisterfotografie, Reinheit des Blutes, Schicksalserfüllung oder Nachtluft, machte ihre Töchter nicht zu seelenlosen Zombies oder schickte ihre Söhne in den Krieg, hier war sie nicht der Dünung, den Strömungen und Verwerfungen des Zeitgeistes unterworfen – dem man einzig und allein als Genie entrinnen konnte, und selbst dann schlug man wahrscheinlich seine Frau, ließ seine Kinder im Stich, kniff seinen Dienstmädchen in den Hintern, ja, hatte überhaupt Dienstmädchen. Sie hatte gesehen, welchen rasenden Schlusspunkt das Jahrhundert gesetzt hatte, und sie wusste, wie das Ganze ausgegangen war. Alles war bereits von einem Himmel in langen schwarzen Richterroben entschieden, und sie schwebte darüber als Kopf und sah alles, alles, rückwärts, rückwärts und wandte sich vor Schreck von ihrem eigenen strahlenden Tag ab.

...

»Kolonialismus«, zischte sie einer herrlichen Säule zu, und der Reiseführer blickte besorgt zu ihr herüber.

SIESPANNTEJEDEFASERINSICHAN. Sie versuchte, die Polizei zu hassen.

»Fangen Sie klein an und steigern Sie sich langsam«, schlug ihre Therapeutin vor. »Für den Anfang können Sie Officer Big Mac hassen – ein Klassenverräter, der den anderen Bewohnern von McDonaldland die benötigten Sandwiches vorenthält, und dem für seine Verbrechen der Burgerkopf abgefressen wird, sobald die Revolution losbricht.« Diese Einsicht löste in ihr jedoch nur eine neue Welle der Entmutigung aus. Ihre Therapeutin war radikaler als sie?

...

Die Sache war nämlich die, dass ihr Vater Polizist und als solcher bekannt dafür gewesen war, die Jungs auf ihrer Highschool unnötiger Leibesvisitationen zu unterziehen, wenn er sie auf ihren alkoholisierten Spritztouren herauswinkte. Was dazu führte, dass kaum jemand mit ihr hatte ausgehen wollen. Und wenn doch, wurde von ihr erwartet, die Initiative zu ergreifen.

...

Als Kind hatte sie nachts mit einer einzigen brennenden Frage auf der Zunge wach gelegen: Woher wissen die Menschen in Frankreich, was sie sagen? Als sie aber schließlich ihre Mutter danach fragte, wusste die es auch nicht; das Problem musste also vererbt sein.

...

kann nicht lernen?, googelte sie spätnachts. kann nicht mehr lernen seit unschuld verloren?

...

Klammheimliches Vergnügen bereiteten ihr Sätze, die nur ein halbes Prozent der Menschheit verstand und in zehn Jahren überhaupt niemand mehr würde entschlüsseln können:

schaurige britische hexenlöcher

nächsten sommer sex im mond

was heißt fonse

was heißt gelaucht

so viel kostet mein veganes mittagessen

hose brennt wunde bein

...

Sie spürte die Spitze ihres Zeigefingers nicht. So ähnlich, wie man damals vom Telefonieren immer ein aufgeweichtes rosa Ohr bekam und die Haarbüschel drum herum feuchte Muster bildeten.

...

Manchmal, wenn sie unaufhörlich die Worte Nein, nein, nein oder Hilfe, Hilfe, Hilfe vor sich hin murmelte, trat ihr Mann hinter sie und legte ihr wie ein viktorianisches Kindermädchen die Hand in den Nacken. »Bist du wieder eingesperrt?«, fragte er dann, worauf sie nickte und auf das eine zurückgriff, was sie immer irgendwie herausriss: prachtvolle braune Bilder von Brathähnchen zu googeln, vielleicht weil es das war, womit Frauen früher ihre Tage zugebracht hatten.

...

Er hatte dieses Problem nicht, diese Metastasierung des Wortes dann, des Wortes mehr. Er nahm nur, was er brauchte, und das reichte ihm. Als sie ihn einmal gefragt hatte, woraus seine Henkersmahlzeit bestehen würde, lautete seine prompte und sehr vernünftige Antwort: »Banane. Ich würde nicht auf vollen Magen sterben wollen.«

...

Vor einhundert Jahren mochte ihr Kater vielleicht Schnurri oder Mohrle geheißen haben. Heute hieß er Dr. Schloch. Sie kam nicht darum herum. »Dr. Schloch«, rief sie abends beinahe verzweifelt, bis er herbeitrottete, die prächtigen Federn ihrer Würde am Maul klebend, und in seinen alternierenden Streifen über die Schwelle nach drinnen verschwand.

In Bristol triefte der Sonnenuntergang herab wie von einer Honigwabe. »Das ist Ihr Beitrag zur Gesellschaft?«, fragte ein Mann und hielt einen Ausdruck des Kann-ein-Hund-Zwillinge-sein?-Posts hoch.

»Ja«, piepste sie. Sie hätte gern erklärt, dass sie auch der Idee einer sogenannten »Siegellackmaniküre« zum Durchbruch verholfen hatte, bei der man sich einen einzigen fetten roten Klecks auf die ganze Fingerspitze malte, was wiederum 1776core den Weg ebnete, einer ironisierten Ästhetik, bei der die Leute verschiedene visuelle Symbole der Gründerväter aufgriffen – doch da hatte er sich schon angewidert abgewandt und riss im Weggehen das Stück Papier entzwei. Na ja. Ein Engländer hätte das wahrscheinlich eh nicht so witzig gefunden.

...

Danach stand in der Autogrammschlange eine jungenhafte Gestalt, die bis ganz zum Schluss wartete. »Ich hab früher dein Tagebuch auf Diaryland gelesen«, gestand er, als er schließlich an der Reihe war, und augenblicklich glitzerten ihr Tränen in den Augen. Das Tagebuch, das sie geführt hatte, als sie noch gar kein Leben gehabt hatte! In dem sie Witze gerissen hatte, für die man heutzutage gefeuert werden würde!

»Wie heißt du noch mal?«, fragte sie, und als er sich vorstellte, flutete eine banale Ekstase durch ihre Adern – sein Leben hatte zu ihren Lieblingsleben gehört. Sie erinnerte sich haarklein daran: das Feierabendbier, die Pendelei mit dem Zug, seine ewige Suche nach immer noch schärferen Currys, die Vorstellung von seiner schummrigen Wohnung mit den Kisten voll kurioser Schallplatten, die grün wogende Sanftheit all dessen. Sie stand auf und umarmte ihn; sie konnte nicht anders. Er kam ihr so zerbrechlich vor wie ein Kettenglied in ihren Armen.

...

Unsere Mütter konnten die Finger nicht von versauten Emojis lassen. An unserem Geburtstag verwendeten sie das augenzwinkernde mit der ausgestreckten Zunge, sie schickten uns zeilenweise die spritzenden drei Tröpfchen, wenn es regnete. Wir hatten es ihnen schon hundertmal gesagt, aber sie wollten einfach nicht hören – solange sie lebten und uns liebten, solange sie sich Arme und Beine ausgerissen hatten, um uns zu bekommen, würden sie uns zur Pfirsichsaison den Pfirsich schicken.

SCHICKMIRBLOß NIEWIEDERDIEAUBERGINE, MOM!, schrieb sie. MIREGAL, WASDUZUABENDKOCHST!

...