Und morgen die ganze Türkei - Deniz Yücel - E-Book

Und morgen die ganze Türkei E-Book

Deniz Yücel

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Beschreibung

Deniz Yücel rekonstruiert die Geschichte der Türkei, deren innerer Frieden stets an ziemlich heißen Konfliktlinien mühsam und oft wenig erfolgreich verteidigt werden musste. In seinem Essay zeichnet er die Entstehung der AKP und mit ihr den Aufstieg des Recep Tayyip Erdogan nach: Von den anfänglichen politischen wie gesellschaftlichen Reformen mit dem Ziel des EU-Beitritts - das letzte große Ziel, auf das sich fast die gesamte türkische Gesellschaft verständigen konnte - bis hin zum drastischen innen- wie außenpolitischen Wandel der letzten Jahre, der schließlich in der Spaltung der Gesellschaft und in dem nun seit mehrere Monate herrschenden Ausnahmezustand mündete. Sein Essay erschien zusammen mit weiteren Beiträgern in der Kulturzeitschrift Kursbuch 188 "Kalter Frieden".

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Seitenzahl: 22

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Kalter Frieden

 

Inhalt

Deniz Yücel

Und morgen die ganze Türkei

Der lange Aufstieg des Recep Tayyip Erdoğan

Anhang

Über den Autor

Impressum

Deniz Yücel Und morgen die ganze Türkei Der lange Aufstieg des Recep Tayyip Erdoğan

Die Story war einfach zu gut, um ihr nicht zu verfallen: Da kommt einer aus kleinen Verhältnissen, aus einer rauen, proletarischen Gegend wie dem alten Istanbuler Werftenviertel Kasımpaşa und legt sich mit den alten Machthabern an. Mehr noch, es ist einer aus dem frommen und armen Teil der Gesellschaft, der seit den Tagen der Republikgründung belächelt, marginalisiert oder gar bekämpft wurde. Ein »schwarzer Türke«, wie er sich selber bezeichnet, ein Wort der Soziologin Nilüfer Göle aufgreifend, die die ungebildeten, religiösen Unterschichten einerseits und die säkulare, wohlhabende Oberschicht andererseits als »schwarze und weiße Türken« bezeichnet hatte.

So einer also vollbringt ein wahres Wunder: Er versöhnt nicht nur das Milieu, dem er entstammt – den politischen Islam –, mit der Demokratie; er erweist sich zudem als verlässlicherer Demokrat als jene Eliten, die jahrzehntelang das Sagen im Land hatten. Und nebenbei zerrupft er Samuel Huntingtons viel zitierte These vom clash of civilizations in so bestechender Weise, wie nur das Leben selbst die Irrtümer der Theorie offenlegen kann. Die Rede ist von Recep Tayyip Erdoğan, ab 2003 Regierungschef und seit 2014 Staatspräsident der Türkei.

Ein Hoffnungsträger namens Erdoğan

Bei Rainer Hermann zum Beispiel, dem langjährigen Korrespondenten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Istanbul, klang das in seinem 2008 erschienenen Buch Wohin geht die türkische Gesellschaft? so: »Die ›weißen Türken‹ hören Bachs ›Wohltemperiertes Klavier‹, gehen in Mozarts Così fan tutte, veranstalten Silvesterbälle. Ihnen fühlen sich die meisten Europäer nahe, zumal die ›weißen Türken‹ auch Fremdsprachen beherrschen. Die ›weißen Türken‹ huldigen indes einem autoritären und undemokratischen Politikverständnis. Sie stehen den Europäern zwar kulturell nahe, aber nicht politisch. Das Gegenteil gilt für die ›schwarzen Türken‹. Sie hören sentimentale Arabeskschnulzen von Orhan Gencebay und Müslüm Gürses, ihre Hochzeiten feiern sie in den schmucklosen Hallen eines städtischen ›Düğün Salonu‹, Alkohol wird nicht serviert, auch wird nicht westlich getanzt. Kulturell stehen sie den Europäern fern, eine Fremdsprache sprechen die wenigsten. Gerade sie aber wollen Reformen und eine moderne Demokratie, sie wollen das Joch der Vormundschaft durch die angeblich aufgeklärte Elite abschütteln und dem einfachen Menschen ein Selbstbestimmungsrecht geben.«

So befremdlich diese Zeilen heute klingen, so typisch waren sie für die Zeit ihrer Entstehung. Fast alle westlichen Korrespondenten waren geradezu vernarrt in diese Geschichte. Und ganz ähnlich klang es insbesondere bei Politikern der Grünen und der SPD oder, in der kühlen Eleganz des Brüsseler Sprechs, in den »Fortschrittsberichten« der EU.