Ungefähre Landschaft - Peter Stamm - E-Book

Ungefähre Landschaft E-Book

Peter Stamm

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Beschreibung

Ein kleines norwegisches Dorf nördlich des Polarkreises. An diesem Rand der Welt lebt Kathrine. Sie ist achtundzwanzig, hat aus erster Ehe ein Kind und unterbricht nur selten das Einerlei ihrer Tage. Sie lernt Thomas kennen und heiratet ihn. Er ist das, was man eine gute Partie nennt, er gibt ihr Halt. »Sein Leben war ein Strich durch die Ungefähre Landschaft ihres Lebens.« Doch dann macht Kathrine eine Entdeckung, die sie tief verletzt. »Ungefähre Landschaft« ist der zweite Roman des Autors von »Agnes« und »Sieben Jahre«. Das Porträt einer jungen Frau, erzählt mit schwebender Leichtigkeit.

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Seitenzahl: 187

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Peter Stamm

Ungefähre Landschaft

Roman

Fischer e-books

Der Autor dankt der Pro Helvetia

für die finanzielle Unterstützung

seiner Arbeit an diesem Buch.

Für Stefania

Du sei wie du, immer.

Paul Celan

In der Nacht wurde es jetzt, im April, nie mehr ganz dunkel. Kathrine war früh aufgestanden, obwohl es Samstag war. Sie weckte das Kind, machte ihm sein Frühstück und brachte es zur Großmutter. Sie ging nach Hause, schnallte die Langlaufskier an und fuhr los. Sie folgte den Spuren der Schneemobile bis zur ersten Anhöhe, dann der Stromleitung, die zur Radioantenne führte. Schließlich, nach vielleicht einer Stunde, entfernte sie sich im spitzen Winkel immer weiter von dieser letzten Spur und fuhr hinaus ins grenzenlose Weiß des Fjells.

Gegen Mittag setzte sie sich auf einen Fels, der aus dem Schnee ragte, um auszuruhen und um etwas zu essen. Sie fuhr mit den Händen über die orangen, die gelben und weißen Flechten, die den Stein bedeckten.

Später, als sie schon wieder unterwegs war, bildete sich leichter Dunst, eine Art Nebel, und der Himmel verlor seine Bläue und wurde immer blasser. Aber sie kannte den Weg, sie war schon oft beim Leuchtturm gewesen, und auch als die Sonne endlich nicht mehr zu sehen und das Licht so diffus war, daß alles verschwamm, lief sie weiter und hatte keine Angst, sich zu verlaufen.

Kathrine hatte Helge geheiratet, sie hatte das Kind bekommen, sie hatte sich von Helge scheiden lassen. Sie lief zum Leuchtturm, blieb über Nacht und kam am nächsten Tag zurück. Die Mutter schaute dann nach dem Kind und auch während der Tage, während der Wochen, wenn Kathrine im Zollbüro war.

Nach der Arbeit ging sie zur Mutter. Zu dritt aßen sie zu Abend, später nahm Kathrine das Kind auf den Arm und ging nach Hause. Irgendwann lernte das Kind, selbst zu gehen, und sie mußte es nicht mehr tragen. Das war im Sommer. Dann wurden die Tage kürzer, der Herbst kam, der erste Schnee und dann der Winter.

 

Die Sonne war schon vor Wochen verschwunden, und es wurde gar nicht mehr hell. Die Nacht lag auf der Landschaft. Das Dorf war eingeschlossen in der Dunkelheit. Das Licht der Straßenlaternen war wie ein Raum, den niemand verließ. Vierzig Kilometer waren es bis zum nächsten Dorf, achtzig auf der Straße, die durch die tote Landschaft führte, ins Landesinnere und wieder zurück an die Küste. Wenn es schneite, wenn es nicht aufhörte zu schneien, wurde die Straße gesperrt. Dann war auch der kleine Flugplatz zu, der etwas außerhalb des Dorfes auf einer Anhöhe lag, und es kamen keine Busse und keine Flüge, nur das Schiff der Hurtigroute, abends, unterwegs nach Süden, und spät in der Nacht, auf dem Weg nach Kirkenes an der Grenze zu Rußland.

Es schneite oft, und es war dunkel und kalt. Kathrines Vater starb, er wachte nicht auf an einem Morgen. Er war noch nicht alt gewesen. Der Pfarrer kam und saß mit der Mutter in der Küche. Kathrine kochte Kaffee, dann nahm sie das Kind an die Hand und ging nach Hause. Der Pfarrer und die Mutter saßen noch immer schweigend am Küchentisch.

Am Sonntag sprach der Pfarrer vom Wasser des Lebens, das sich ins Meer der Ewigkeit ergieße. Dann wird jegliches Lebewesen, das dort herumschwimmt, munter leben, sagte er. Groß wird die Menge der Fische sein. Denn sobald dieses Wasser dahin kommt, wird das Salzwasser gesund, und alles, was der Fluß erreicht, bleibt am Leben.

Dann ging die Gemeinde hinaus und durch die Dunkelheit und den tiefen Schnee zum Friedhof. Vier Tage lang hatte man den Boden heizen müssen, bis die Arbeiter das Grab hatten schaufeln können.

Der Frühling kam spät in diesem Jahr. Im Herbst wurde Kathrine fünfundzwanzig. Die Mutter backte einen Kuchen für sie wie jedes Jahr, und am Samstag gingen alle zusammen in den Elvekroa und feierten ein Fest, von dem man im Dorf noch lange sprach.

 

Am Montag kontrollierte Kathrine die Verchneuralsk. Sie war nur kurz im Zollbüro gewesen, hatte einen Bericht geschrieben, als der Chef sie hinausschickte. Das Wetter war stürmisch an diesem Tag, draußen auf dem Meer gingen die Wellen haushoch, und jeder, der irgend konnte, suchte einen Hafen. Dreißig Trawler waren schon eingelaufen, manche, die erst in einer Woche hatten an Land kommen sollen. Der Chef hatte die Faxe der Küstenwache weggeworfen und gesagt, heute wird ein harter Tag, heute müssen alle raus.

Die Schiffe lagen im Hafen und an der schwimmenden Brücke, die die Russen am Ausgang des Dorfes gebaut hatten. Überall im Dorf standen Gruppen russischer Seeleute. Sie standen da und warteten und redeten, und die Dorfbewohner wechselten die Straßenseite. Die Russen standen vor Rimi und vor dem anderen Supermarkt, sie standen beim Kiosk, sie schauten in die Schaufenster des Computergeschäfts und des Geschäfts für Schiffselektronik. Als Kathrine zum Hafen fuhr, hielt sie an, um eine Gruppe Russen zu kontrollieren. Manchmal hatten sie Wodka in ihren Plastiktüten oder geschmuggelte Zigaretten, die sie im Dorf verkauften.

Die Verchneuralsk war schon entladen worden. Kathrine wußte, daß sie nichts finden würde, keinen Wodka und keine Zigaretten, nichts, aber sie ging doch jedesmal auf das Schiff, wenn es im Hafen lag. Dann bat Alexander, der Kapitän, sie in seine winzige Kabine, holte den Tisch herunter, der dort an zwei Haken an der Decke hing. Er setzte sich auf die Koje und ließ Kathrine den Stuhl, und sie redeten ein bißchen, obwohl sie einander kaum verstanden. Jedesmal bot Alexander ihr Wodka an, jedesmal lehnte sie ab. Sie versuchte, ihm zu erklären, daß sie nichts von ihm annehmen dürfe, aber er lachte nur und schenkte ihr trotzdem ein, und sie ließ das Glas stehen. Dann machte Alexander Pulverkaffee und erzählte von seiner Frau und seinen beiden Töchtern, Nina und Xenia, von Murmansk, und dann sagte er, Kathrine müsse ihn bald einmal besuchen dort. Die Stadt sei schön, sagte er und zeigte ihr Postkarten. Das Atlantika Kino, das Schwimmbad, die riesige Statue eines Soldaten für die Verteidiger der sowjetischen Polargebiete im Großen Vaterländischen Krieg. Manchmal holte er sein Fotoalbum hervor und zeigte ihr Fotos von den Häfen, in denen er gewesen war, Bilder von den Shetlandinseln, den Färöern, den Lofoten, und er fragte Kathrine, warum sie nicht endlich weggehe von hier.

»Du bist jung«, sagte er, als sei das ein Grund, »und du bist schön.«

Aber sie lachte nur.

 

Das schlechte Wetter zog weiter nach Osten. An den Mittagen stieg das Thermometer jetzt schon über den Nullpunkt, und der Schnee war alt und hart. Kathrine fuhr hinaus zum Leuchtturm, sie war lange nicht dort gewesen. Sie wußte nicht, wer in diesem Monat Dienst tat, aber es spielte keine Rolle, die Leuchtturmwärter waren ohnehin alle gleich. Alle waren früher Fischer gewesen, unverheiratete oder verwitwete Männer, die zwanzig Jahre lang ihre Arbeit taten und nicht älter zu werden schienen und dann eines Tages starben, als sei es nichts. Sie hielten die Wohnung sauber und warteten die Geräte und schauten mit großen Ferngläsern hinaus aufs Meer und beobachteten die Schiffe, die vorüberzogen. Sie freuten sich, wenn Kathrine sie besuchte. Dann redeten sie viel, erzählten Geschichten aus einer lange vergangenen Zeit, von Menschen, die längst gestorben waren oder weggezogen. Sie erzählten immer dieselben Geschichten, redeten ohne Unterbrechung und waren doch schweigsam wie die Landschaft.

Kathrine lief zurück zum Dorf durch die tageweite, verlassene Schneelandschaft, vorbei an Fjorden und Bergen, über weite Ebenen und flache Hügel. Das Fjell sah aus wie eine Zeichnung aus wenigen Strichen. Rußland, Finnland, Schweden oder Norwegen, alles sah hier oben gleich aus. Die Grenzen lagen unter dem Schnee, der Schnee verband alles, die Dunkelheit deckte alles zu. Die wirklichen Grenzen lagen zwischen Tag und Nacht, zwischen Winter und Sommer, zwischen den Menschen.

Einmal sah Kathrine ein paar Rentiere. Sie standen nahe beisammen und schauten alle in dieselbe Richtung. Es war Frühling, die Nächte waren kurz und hell, aber der Schnee würde erst im Frühsommer verschwinden, für wenige Monate.

 

Kathrine hatte sich von Helge getrennt, weil er ein Trinker war und ein Schläger. Er hatte nie gewagt, sie zu schlagen, aber sie verachtete ihn und warf ihn irgendwann aus der Wohnung, und er kam nicht zurück. Sie sah ihn jeden Tag, wenn er von der Arbeit in der Fischfabrik kam und mit seiner alten Harley durchs Dorf fuhr, hinauf zur Baracke, in der er jetzt mit ein paar anderen Arbeitern wohnte, und wieder herunter zum Hafen und wieder hinauf und wieder herunter. Dann ging er in den Elvekroa, betrank sich, und nach Mitternacht hörte Kathrine noch einmal den Lärm des Motorrads, laut und dann leiser werden und schließlich verstummen.

Manchmal besuchte Kathrine eine Freundin, oder Freundinnen besuchten sie, und die Kinder spielten, bis sie müde waren und ihre Mütter sie nach Hause trugen.

Je älter man wurde, desto schwerer waren die Dunkelheit und die Kälte zu ertragen. Das sagten alle, und vielleicht stimmte es ja. Die Alten sagten nichts, sie saßen schweigend in ihren Häusern, schauten fern und warteten.

Man besuchte sich, oder man wurde besucht. Die Türen der Häuser standen immer offen, in den Fenstern waren Lichter. Man fuhr mit dem Auto von Haus zu Haus. Man traf sich im Fischerheim oder im Pub, im Elvekroa. Man trank Tee und Kaffee und erzählte sich Geschichten. Man trank Bier, bis man die Dunkelheit vergessen hatte.

Die Männer, das war ein Witz, wollten nicht im Winter heiraten, weil die Hochzeitsnacht dann drei Monate dauerte. Ein Witz, den man oft hörte. Warum hat er nicht im Winter geheiratet? Weil dann die Hochzeitsnacht drei Monate dauert.

Man heiratete im Sommer, und im Winter ließ man sich scheiden, und dann ging man für eine Nacht mit einem anderen Mann, der sich Mühe gab. Nächte in einem anderen Bett, andere Hände, andere Worte, die doch immer dasselbe meinten. Bleib noch ein bißchen, komm unter meine Decke, es ist kalt. Dreh dich um. Was willst du? Ich weiß nicht. Sag nichts.

Mittags aß Kathrine mit ihren Kollegen vom Zoll im Fischerheim, wo Svanhild kochte und wo die Agenten der russischen Fischereibetriebe manchmal wohnten, die Monteure und die Seeleute, wenn die Schiffe überholt werden mußten.

 

Bei einem Fest im Elvekroa lernte Kathrine Christian kennen, einen Dänen, der für einige Monate im Dorf war, um in der Fischfabrik die Montage einer neuen automatischen Wägeanlage zu überwachen. Christian sah aus, wie Kathrine sich einen Dänen vorstellte. Alles an ihm war hell, seine Augen, sein Haar, seine Haut. Er war nicht dick, aber sein Gesicht und seine Hände waren weich und unbestimmt. Er hatte eine sanfte Stimme und einen Laptop mit Internetanschluß. Kathrine besuchte ihn ein paarmal in seiner Wohnung am Rande des Dorfes. Er zeigte ihr die Homepage seiner Firma, und Kathrine wartete darauf, daß er sie küßte, aber er tat es nicht.

Christian reiste ab. Inzwischen hatte auch Kathrine einen Internetanschluß, und sie schrieben sich noch eine Zeitlang E-Mails. Manchmal kamen Christians Mails aus anderen Ländern, in die er gereist war, um die Montage anderer Anlagen in anderen Fischfabriken zu überwachen. Am Anfang schrieb er immer ganz begeistert von diesen Ländern, dann schrieb er nur noch von seiner Arbeit, und irgendwann kamen die Mails wieder aus Århus, wo er wohnte und wo der Hauptsitz der Firma war, für die er arbeitete.

Kathrine erzählte Alexander von Christian. Alexander war nie in Århus gewesen, aber er hatte gehört, die Stadt sei schön.

»Warum besuchst du ihn nicht mal?« fragte er.

Kathrine lachte.

Alexander sagte: »Du erwartest zuviel von den Menschen. Du bist selbst für dein Leben verantwortlich.«

»Hast du Psychologie studiert?« sagte Kathrine. »Du redest, als hättest du Psychologie studiert.«

»No problem«, sagte Alexander und trank den Wodka, den er für Kathrine eingeschenkt hatte, und hängte den Tisch an die zwei Haken an der Decke.

Am Abend fuhr die Verchneuralsk wieder hinaus, und Kathrine ging zum erstenmal seit Monaten in den Pub. Das Kind hatte sie zur Mutter gebracht. Sie ging mit einem Mann nach Hause und blieb über Nacht bei ihm. Sie waren einmal befreundet gewesen. Zwei Wochen später kam die Verchneuralsk zurück, die Laderäume voller Fische und Eis.

Manchmal, wenn das Wetter sehr schlecht war, hörte Kathrine die Vorhersage im Radio. Die Windstärken und die Orte, Jan Mayen, Grönland, Svalbard, Neufundland, der Nullmeridian. Dann dachte sie an Alexander und an seine Männer. Obwohl sie das Schiff gut kannte, konnte sie es sich nicht vorstellen, irgendwo weit draußen auf dem Meer in der Dunkelheit, wenn die Wellen über das Deck schlugen und die Männer die Netze einholten im dauernden Auf und Ab der See, Tag und Nacht. Sie hoffte, daß es ihnen gutging.

Es wurde Herbst und Winter. Das Jahr ging zu Ende, ein neues begann. Es war Frühling.

 

Dieser Morgen war silbern und klar. Der Wind blies heftig von der Barentssee her, und die Wellen trugen Schaumkronen. Christian arbeitete jetzt in Portugal und schrieb, daß dort schon die Pfirsichbäume blühten und daß er jeden Abend draußen sitze und daß die Portugiesinnen ganz anders seien als die Däninnen, als die Norwegerinnen. Kathrine schrieb, daß sie wieder heiraten werde, und Christian schickte Glückwünsche. Sie wußte nicht, ob sie sich freute. Sie freute sich, als es in diesem Jahr zum erstenmal regnete und die Schneedecke über Nacht auf die Hälfte schmolz.

Kathrine heiratete Thomas, sie kannten sich erst seit einem halben Jahr. Thomas hatte keine Lust, eine Hochzeitsreise zu machen, er war schon überall gewesen. Er erzählte von Afrika. Er sagte, Afrika sei sein Lieblingsland. Als Kathrine sagte, sie sei noch nie südlich des Polarkreises gewesen, lachte er und sagte, er glaube ihr nicht. Doch, sagte sie.

Im Sommer erwischten Kathrine und ihre Kollegen einen Russen, der zehntausend Ecstasy-Pillen über die Grenze geschmuggelt hatte. Sie verhafteten ihn, es war nicht schwierig. Er lächelte und entschuldigte sich immer wieder für die Mühe, die er ihnen gemacht hatte. No problem, sagte er, als er mit dem Schiff nach Vadsø gebracht wurde, wo man ihn vor Gericht stellte und wo er ins Gefängnis kam. Als er entlassen wurde, verschwand er und wurde im Dorf nie wieder gesehen.

Kathrine sprach mit Alexander über den Fall. Sie sagte, jeder Schmuggler werde irgendwann erwischt, und es sei gefährlich, sich mit den Drogenhändlern einzulassen. Alexander lachte und blinzelte ihr zu. Sie zuckte mit den Achseln und ließ den Wodka stehen, den er ihr eingeschenkt hatte, und trank den Kaffee. Alexander sagte, er habe seit drei Monaten sein Gehalt nicht bekommen. Sie bot ihm Geld an, aber er wollte es nicht und schenkte ihr ein russisches Brot.

 

Einmal, als es schon wieder Winter geworden war und ein heftiger Sturm tobte, blieb die Verchneuralsk über Nacht im Hafen. Kathrine hatte Alexander am Nachmittag besucht. Er hatte ihr einen halben Dorsch geschenkt in einer Plastiktüte mit Eis. Am Abend, auf dem Heimweg, sah Kathrine von weitem Alexander und seine Männer auf den Pub zugehen. Sie hob die Tüte mit dem Fisch in die Höhe und winkte. Die Männer sahen sie nicht. Sie rief ihnen etwas nach, aber der Sturm verschluckte ihre Worte.

Der Schnee schoß waagrecht durch die Lichtkegel der Straßenlaternen. Als Kathrine nach Hause kam, war Thomas schon da. Er saß mit dem Kind in der Küche. Sie spielten ein Spiel.

»Jetzt kommt Mama«, sagte Thomas und küßte Kathrine.

»Heute gibt es Dorsch«, sagte Kathrine, aber das Kind protestierte und dann auch Thomas. Er sagte, er hole Hot dogs beim Kiosk, und verschwand.

Das Kind saß am Tisch. Kathrine legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Hast du deine Aufgaben gemacht?« fragte sie. »Magst du Thomas?«

»Er ist nett«, sagte das Kind. »Wir haben zusammen gespielt.«

»Hast du gewonnen?«

»Wir sind ja noch nicht fertig«, sagte das Kind.

Kathrine schob eine der Holzfiguren auf dem Brett ein Feld weiter und sagte, ich helfe dir. Da sagte das Kind, der liebe Gott sieht alles, und schob die Figur zurück und hielt sie fest, bis Kathrine in den Flur ging, um sich die Schuhe auszuziehen.

»Und was mache ich mit dem Fisch?« sagte sie, als Thomas zurückkam.

Am nächsten Tag wurde Alexander vermißt. Eine Frau, die alle kannten, sagte, sie habe ihn nachts um halb zwei aus dem Dorf gehen sehen. Sie sagte, sie habe nicht schlafen können. Und er sei gewesen wie immer, nicht betrunken. Tagelang wurde nach Alexander gesucht, aber man fand noch nicht einmal seine Spuren im Schnee, und irgendwann fuhr die Verchneuralsk wieder hinaus.

 

Kathrine saß im Fischerheim und schaute aus dem Fenster. Sie ging durch das Dorf. Die Sonne war schon seit ein paar Wochen nicht mehr aufgegangen. In den Fenstern der Häuser standen Lichter. Die Straßenlaternen brannten Tag und Nacht, und selbst die Gräber auf dem Friedhof waren beleuchtet. Zu Weihnachten dachte Kathrine an Alexanders Frau, an seine beiden Töchter. Sie wollte ihnen schreiben, aber dann wußte sie nicht was und ließ es bleiben. Thomas schenkte Kathrine einen elektrischen Wok.

Svanhild fragte Kathrine nicht, weshalb sie ein Zimmer wolle, sie fragte nur, wie lange sie bleiben werde. Kathrine sagte, eine Nacht, vielleicht länger, und Svanhild gab ihr einen Schlüssel. Es war spät.

Das Zimmer war klein und war viel zu warm, von einer trockenen elektrischen Wärme. Es roch nach Staub, obwohl alle Oberflächen versiegelt waren, der Laminatboden, die Kunststoffpaneele der Wände, die billigen, melaminbeschichteten Möbel.

Kathrine öffnete das Kippfenster, so weit es ging, und schaltete den Fernseher ein, der mit einem stählernen Arm an die Wand montiert war. Sie wählte einen englischsprachigen Nachrichtenkanal und stellte den Ton so leise, daß sie die Sprecherin noch hörte, aber nicht mehr verstand, was sie sagte. Sie legte sich aufs Bett. Der Überwurf war nicht alt, aber er war voller Brandlöcher und Flecken, die sich beim Waschen nur noch tiefer in den Stoff eingegraben hatten. Sie stand auf und ging zum Fenster. Das Zimmer lag im Untergeschoß des Gebäudes, das Fenster war dicht über dem Boden.

Kathrine schaute hinaus auf die Straße, die sie jeden Morgen ging auf dem Weg zur Arbeit. Sie dachte an die Gäste, die in diesem Zimmer übernachtet hatten, Seeleute, Fischereiagenten, Monteure. Vielleicht hatte Christian hier geschlafen in den ersten Nächten, bevor er die Wohnung gefunden hatte. Vielleicht hatte er sie am Morgen vorbeigehen sehen, wenn er am Fenster eine Zigarette rauchte, aus dieser seltsamen Perspektive. Bevor sie sich kannten. An einem jener Wintermorgen, wenn man auf die Uhr schauen mußte, um zu wissen, ob der Tag schon begonnen hatte. Wenn es gar nicht mehr hell wurde oder nur am Mittag für eine Stunde oder zwei. Vielleicht hatte Christian sie beobachtet. Sie wußte nicht mehr, ob er sie damals im Elvekroa angesprochen hatte oder sie ihn. Sie hatte das Gefühl, daß jene Frau, die jeden Morgen hier am Fenster vorbeiging, nicht sie selbst war, das Gefühl, daß sie zu einer anderen geworden war, zu einer Fremden, einer zufälligen Besucherin in einem unbekannten Dorf, in einem Jahr, das eben erst begonnen hatte. Sie war mit dem Schiff der Hurtigroute gekommen, war aus einer Laune heraus von Bord gegangen und hatte sich ein Zimmer genommen. Morgen würde sie weiterfahren und den Namen des Dorfes vergessen.

Kathrine war verwirrt, und die Verwirrung machte ihr angst. Es war ihr, als habe sie jeden Halt verloren, als sei sie aus ihrem Leben getreten wie aus einem Haus und sähe es nun von außen, von unten, aus einer Höhe von fünfzig Zentimetern, der Perspektive eines Hundes, der Perspektive des Kindes, das sie gewesen war, als ihre Eltern ins Dorf kamen. Sie streunte durch ihre Erinnerungen. Es gab kein Vorher mehr und kein Nachher. Ihr ganzes Leben schien vor ihr zu liegen wie das Dorf. Alle Menschen, die sie gekannt hatte, waren noch da, auch der Vater, der vor vier Jahren gestorben war, auch Alexander und Christian, der irgendwo in Spanien war, in Portugal oder Frankreich. Nichts veränderte sich, nichts hatte sich verändert. Sie könnte zur Schule gehen, dachte sie, und dort noch einmal ihre ersten Schulstunden besuchen, dann im Elvekroa mit Helge tanzen. Er würde ihr das Kind machen. Unten am Hafen lief die Verchneuralsk ein, Christian kam von der Arbeit in der Fischfabrik, er reiste ab, das Kind kam zur Welt, Kathrine war sechzehn, rauchte ihre erste Zigarette, küßte zum erstenmal einen Jungen. Sie saß mit Morten bei den alten Befestigungsanlagen der Deutschen, und sie schauten zum Dorf hinüber und planten eine Reise nach Paris, die sie nie machen würden. Kathrine ging in die Bibliothek, lieh Bücher aus, die sie noch nicht verstand, die sie nicht mehr interessierten. Sie trank Kaffee mit Alexander. Ihr Vater wurde krank, das Kind wurde krank, Kathrine war krank. Helge kam betrunken nach Hause. Die Winter waren unendlich lang. Kathrine besuchte ihre Freundinnen, die Kinder spielten. Dann die zweite Heirat, die Feier bei Thomas’ Eltern. Ihre Mutter half den ganzen Tag lang in der Küche. Als Kathrine sie holen wollte, wehrte sie sich. Sie hatte sich von Thomas’ Mutter eine Schürze geliehen, und Kathrine schämte sich für sie. Thomas und die anderen Männer saßen in der Bibliothek und rauchten Zigarren, die Frauen saßen im Wohnzimmer und tranken Tee. Kathrine wußte nicht wohin.

Erst als sie an Thomas dachte, kam Ordnung in ihre Gedanken. Sein Leben hatte eine Richtung. Er hatte immer gewußt, was er wollte, wohin er wollte. Er war in Tromsø aufgewachsen, war ein guter Schüler gewesen, hatte studiert, hatte gearbeitet. Dann starb seine Großmutter, und seine Eltern zogen ins Dorf, in das große Haus, eines der schönsten, mit einem großen Garten. Thomas’ Vater war früh in Rente gegangen und verbrachte seine Tage damit, die Bibel zu lesen und sein Vermögen zu verwalten, Thomas’ Mutter war aktiv in der Gemeinde, ließ sich in den Vorstand der Schule wählen und in die Bibliothekskommission.

Dann kam Thomas ins Dorf und wurde Produktionsleiter in der Fischfabrik. Kathrine lernte ihn beim Kirchenbasar kennen. Er half seiner Mutter am Stand des Kindergartens. Sie verkauften kleine Gegenstände, die die Kinder und die Mütter das Jahr über gebastelt hatten. Kathrine war mit dem Kind da, und Thomas fing sofort an, mit ihm zu reden, aber schaute dabei immer Kathrine an. Er war ihr damals unangenehm gewesen, sie mochte die Art nicht, in der er mit dem Kind sprach. Als sei er der Vater. Das Kind hatte ihn gemocht, vielleicht fehlte ihm der Vater. Das sagten ja immer alle. Das Kind braucht einen Vater.