Uns stinkt's! - Heike Holdinghausen - E-Book

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Heike Holdinghausen

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Beschreibung

40 Prozent weniger CO2-Emission bis 2020 – das war einmal. Jetzt lautet die neue Zielvorgabe der Bundesregierung: 55 Prozent weniger CO2-Ausstoß bis 2030. Kaum zu glauben. Denn statt zu handeln, verhandeln Beamte aus den deutschen Ministerien hinter den Türen der EU-Fachausschüsse vor allem für die Interessen der deutschen Industrie. Dieselumrüstung? Geht nicht. Gesetze, die die Umwelt schützen? In Deutschland kaum durchsetzbar. Die freiwillige Selbstverpflichtung der Unternehmen soll alles richten. Heike Holdinghausen macht Schluss mit dem Märchen von Deutschlands Vorreiterrolle beim Klimaschutz. Sie legt die Fakten offen und zieht eine ernüchternde Bilanz: Deutschland produziert und konsumiert, als gäbe es kein Morgen.

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Ebook Edition

Heike Holdinghausen

Uns stinkt’s!

Was jetzt für eine zweite ökologische Wende zu tun ist

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-864-89730-6

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2018

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Titel
Einleitung
1 Klimawandel und Artensterben – die Zeit läuft
Klima- und Artenschutz: Auf Konferenzen wichtig
Der grüne Selbstbetrug
Leben im Widerspruch
Geo-Engineering – Eingriffe in die Natur
Arten sterben – Gene erhalten
Das Zeitalter der Bio-Ingenieure
Steuern reformieren statt Sonnenlicht steuern
2 Energie – vom Treiber zum Getriebenen
Jeder ist ersetzbar
Sonne und Wind – was treibt, wer bremst?
Kohle für Kohle
Global: Fossile auf dem Vormarsch
3 Mobilität – Verkehrspolitik im Stau
Welche Probleme löst die Elektromobilität?
Welche Probleme lösen E-Autos nicht?
Die Wende einleiten
Arbeiten auf der Plattform
Eine Verkehrswende von unten
4 Agrarland Deutschland – Arbeiten gegen die Natur
Das Schweine-System
Potemkinsche Streichelbauernhöfe
Gar nicht lecker
Aus für das Rebhuhn – das Sterben der Arten
Kein Konzept für die Zukunft
Bioökonomie – die Technik ist nicht das Problem
5 Kreislaufwirtschaft – es läuft nicht rund
Im Plastik-Panikmodus
Der Markt soll es richten
Mythos Recycling
Schrott statt Wertstoff
Keine Lösungen für Stoffströme von morgen
Steinbruch Stadt
Wenn Politik sich traut
Müllvermeidung – vom Gesetzgeber vermieden
Keine Zahlen zu Second-Hand
Knappheiten
Schlusswort
Literatur
Anmerkungen

Einleitung

Zugegeben, die Party war nicht schlecht. Hinter uns liegen zehn ökonomisch sehr erfolgreiche Jahre. Die Steuereinnahmen und Aktiengewinne sprudeln, die Arbeitslosigkeit ist so niedrig wie die Kauflaune hoch ist – und die Lehman Brothers sind schon lange vergessen. Der Krisenmodus in Europas Süden, in Griechenland, Spanien oder Italien, ist in Deutschland nie richtig wahrgenommen worden. Doch jede noch so gute Party hat ein Ende, und es mehren sich die Anzeichen, dass es mit der langen Wachstumsphase ab 2009 nun bald vorbei sein könnte. Das Jahr 2018 endete an den Börsen mit einem dicken Minus. Der Machtkampf zwischen den USA und China dämpft den Welthandel, der Brexit sowie die erstarkenden Rechtspopulisten in Europa werfen dunkle Schatten. Es kündigen sich Zeiten wirtschaftlicher Stagnation an, mit mehr Arbeitslosen, mehr Firmenpleiten und weniger Steuereinnahmen. Es wird viel darüber geredet werden, was das für den Staatshaushalt heißen wird, wie die Unternehmen international wettbewerbsfähig gehalten werden oder wie Insolvenzen sozial abgefedert werden können. Aber was wird ein Wirtschaftseinbruch für den Klima- und Umweltschutz, für den Kampf gegen das Artensterben bedeuten? Können wir uns all das künftig nicht mehr leisten?

Man kann sie schon fast hören, die Statements von Industrievertretern und liberalen Politikern: Sie werden »Entbürokratisierung« und »Flexibilisierung« fordern und vielleicht auch noch, dass »Deutschland bei den Umweltstandards auch nicht immer über europäische Regelungen hinausgehen« muss.

Das wirft zwei Fragen auf. Nämlich erstens, ob es in den vergangenen Jahren wirklich so weit her war mit dem Umweltschutz in Deutschland. Und zweitens, ob das Land die zurückliegenden guten Jahre klug genutzt hat, um die Infrastruktur und die Wirtschaft zu modernisieren oder um in neue Geschäftsfelder und -modelle zu investieren; ob es sich vorbereitet hat auf eine Zukunft, die von neuen Einflussgrößen bestimmt wird, von einer immer noch weiter wachsenden Weltbevölkerung, die überwiegend in großen Städten leben will und wird; von der Digitalisierung von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft, die sich etwa in den urbanen Zentren Chinas schon besichtigen lässt; und vom Umgang mit dem Klimawandel und dem Versuch, die Erderwärmung wenigstens in einem beherrschbaren Rahmen zu halten. Wenn man diese Trends zusammennimmt, dann haben sie ein gemeinsames Motiv: Fossile Rohstoffe verlieren an Bedeutung, und zwar in einigen Bereichen, etwa dem Verkehr, sehr schnell (also in etwa zwanzig Jahren). Und erneuerbare Rohstoffe müssen, da auch sie nicht unendlich verfügbar sind, deutlich sparsamer als heute verwendet werden. Die Modernisierung der Wirtschaft bedeutet demnach, dass sich die Unternehmen auf knappere Rohstoffe und eine Zukunft ohne Öl einstellen.

Angesichts dieser globalen Trends gerät das derzeitige deutsche Wohlstandsmodell mit seiner enormen Exportabhängigkeit an seine Grenzen. Die großen Industrieunternehmen zeigen sich bei großer technischer Innovationsfähigkeit kaum gerüstet für Szenarien des sozialen Wandels wie die Urbanisierung. Auch dem grundlegenden Wechsel von Technologien gegenüber zeigen sie sich unvorbereitet: Die Autokonzerne hadern mit dem Umstieg vom Verbrennungsmotor zur Elektromobilität, die konventionelle Landwirtschaft kämpft für den Erhalt überkommener Methoden der Fleischproduktion, anstatt darüber zu diskutieren, wie sie nachhaltig und klimaneutral nachwachsende Rohstoffe für eine künftige Bioökonomie liefern kann. In allen wichtigen Transformationsfeldern – Energie, Mobilität oder Landwirtschaft – stecken die wichtigen Player von RWE über Daimler bis Bayer tief im fossilen Zeitalter fest. Sie setzen auf Öl und Kohle, auf Wachstum und möglichst große Strukturen. Dabei verpassen sie ihre eigene notwendige Modernisierung – und behindern die des Landes. Weil weder RWE noch die Regierungen der Braunkohleländer eine Idee für die Zeit nach der Kohle haben, kommt die Energiewende langsamer voran, als es möglich und nötig wäre. Weil sich die Verkehrspolitik in Deutschland an den Interessen der großen Konzerne wie VW oder Daimler orientiert, traut sie sich keine ambitionierten Ziele für den Klimaschutz zu und zaudert vor der Mobilitätswende. Die Chemie- und die Agrarindustrie, zwei Schlüssel zum Wandel in einer postfossilen Gesellschaft, haben ihre Aufgabe und Rolle in einer »Bioökonomie«, in der auf Basis nachwachsender Rohstoffe gearbeitet wird, noch immer nicht gefunden. Die Chemieindustrie setzt weiter auf Öl und Gas, die Landwirtschaft sieht sich als Produzentin billiger, weltmarktfähiger Lebensmittel. Und die Kreislaufwirtschaft ist inzwischen zwar Bestandteil jeder wirtschaftspolitischen Grundsatzrede, in der Realität jedoch ist sie längst nicht angekommen. Bewährte Konzepte wie die Mehrwegsysteme für Getränkeverpackungen verschwinden, während sich neue wie etwa gute Recyclingbaustoffe oder Methoden, seltene Industriemetalle zu recyceln, nur langsam entwickeln.

Der Politik fehlt der Mut, Innovationen in Nachhaltigkeit anzustoßen, der Wirtschaft die Motivation. Egal, ob man das nun als arrogant, verschnarcht oder verzagt interpretiert – dahinter steht die Überzeugung, es gehe auch in Zukunft immer so ähnlich weiter wie bisher. Doch das wird es nicht. Industrienationen, die ihr Produktions- und Konsummodell darauf gegründet haben, praktisch unbegrenzt über Energie zu verfügen, können nicht einfach nur ihre Rohstoffe ersetzen – Öl und Kohle durch Pflanzen, Wind oder Sonne. Der Wandel der stofflichen Grundlage wird einen tiefgreifenden technologischen und sozialen Wandel mit sich bringen. Dieser Wandel wird kommen, ob wir wollen oder nicht. Die Frage ist: Wollen wir ihn lediglich erdulden oder wollen wir ihn gestalten? Dazu wäre zunächst eine ehrliche Bestandsaufnahme nötig. Derzeit droht nämlich die absurde Situation, dass der alte grüne Selbstbetrug durch eine neue Erzählung abgelöst wird, die die ökonomische und ökologische Modernisierung ebenfalls verhindert.

Der bisherige Selbstbetrug ging so: Deutschland ist eine grüne Industrienation, in der die Ökologie Wirtschaft und Gesellschaft durch-dringt, in Sachen Ressourceneffizienz und Klimaschutz weltweit führend. Bei Bundestagswahlen fragten sich Kommentatoren, ob die Grünen nicht ein massives Problem mit ihrem Markenkern als Ökopartei bekommen würden – es waren doch alle Parteien grün. Unternehmer oder Bauherren klagten über endlose Umweltvorschriften. Der Bau von Infrastruktur wie neuen Straßen oder Stromleitungen dauerte ewig, und kopfschüttelnd verfolgte die Öffentlichkeit Nachrichten über Fledermäuse oder Lurche, die ganze Bauprojekte stoppen und für Mehrkosten in Millionenhöhe sorgen. Die Deutschen, so die Überzeugung, nehmen alles immer ganz (und wohl ein bisschen zu) genau und übertreiben deshalb bisweilen auch mit dem Umwelt- und Klimaschutz.

Nur passte die Wahrnehmung gegenüber der Umweltpolitik nie zusammen mit den Nachrichten wie der, dass es kaum noch Rebhühner oder Feldlerchen in Deutschland gibt. Das Artensterben hierzulande ist dramatisch; bestürzt nimmt die Öffentlichkeit den Rückgang der Insekten zur Kenntnis, sowohl der Arten als auch einzelner Individuen. Aus Brüssel drohen demnächst Strafzahlungen in Milliardenhöhe, weil die Autos aus Wolfsburg, Stuttgart oder München zu viel Kohlendioxid ausstoßen; oder weil die Regierung das Grundwasser nicht ausreichend schützt. Auf Rankings von Staaten, in denen ihre Bemühungen etwa im Klimaschutz bewertet werden, rutscht das Land Platz für Platz nach unten. Trotz aller Bürokratie und aller Vorschriften ist die Ökobilanz der deutschen Unternehmen in vielen Bereichen schlecht.

Doch da greift schon eine neue Erzählung nahtlos in die alte vom »Umwelt-Weltmeister«: die von der Abstiegsdrohung. Die Kohleregionen, die Autokonzerne, die Stahlverarbeiter, die Chemieindustrie – sie alle stehen unter dem verschärften globalen Wettbewerb durch den unsicheren Kantonisten USA, durch das ehrgeizige China, durch den Brexit. Energiewende, Verkehrswende, das können wir uns jetzt angeblich gerade nicht leisten, jetzt geht es um den Arbeitsplatzerhalt. Ökologie wird einmal mehr etwas für Wohlstandsbürger, gut aufgehoben in einer vergrößerten grünen Nische. Dabei zeichnet sich doch Folgendes ab: Die floskelhafte Definition von der Nachhaltigkeit, die immer eine ökonomische, eine soziale und eine ökologische Dimension habe, hat in den vergangenen fünfzehn Jahren selten Einfluss in konkrete Politik gefunden. Die Öko-Komponente ist meistens rausgeflogen. Doch Technologien, Unternehmen oder Industrienationen, die in diesem Jahrhundert erfolgreich sein wollen, müssen Ressourcen äußerst effizient einsetzen, sie müssen unabhängig von fossilen Energiequellen sein und sich in digitale Netzwerke integrieren lassen.

Ökonomie und Ökologie werden – wenn wir die Grundlagen unseres Lebensstandards erhalten wollen – tatsächlich Hand in Hand gehen. Insofern bedeutet eine sozial-ökologische Transformation, das Land ökonomisch zu modernisieren. Wer Arbeitsplätze und Steuereinnahmen, Produktion und Konsum erhalten will, muss sie verändern. Nur ist es leider so, dass nicht nur die CDU unter Angela Merkel liberaler und sozialer geworden ist (was ja aus linksliberaler Sicht sehr angenehm war), auch die SPD hat in den großen Koalitionen der letzten Jahre an konservativem Profil gewonnen. Wirtschaftspolitisch streitet sie für die alte Bundesrepublik, geprägt durch die großen Industriekonzerne mit ihren gewerkschaftlich organisierbaren Belegschaften. Dort liegt aber nicht die Zukunft – weder die zukünftigen Probleme noch die zukünftigen Lösungen.

In den vergangenen Jahren haben wir viel Zeit damit verbracht, über Migration, Integration und eine angeblich durch Fremde bedrohte innere Sicherheit zu diskutieren. Die verunsicherten Konservativen betreiben kulturelle Selbstvergewisserung etwa über die Rolle von Religion im Alltag. Das wird sich im Nachhinein wohl als Party-Smalltalk herausstellen, Geplauder von Menschen, denen es sehr gut ging. Es sieht nicht so aus, als ob wir uns das künftig länger leisten könnten. Es ist die zerstörerische Art, wie wir Ressourcen nutzen, die unseren Wohlstand, unsere Sicherheit und das gute Leben nicht nur in Europa bedroht. Allen voran der Klimawandel und das Artensterben.

1Klimawandel und Artensterben – die Zeit läuft

Berichte über den Klimawandel und das Artensterben in Deutschland fühlen sich an wie Geisterbahnfahren: Links und rechts blitzen regelmäßig gruselige Nachrichten und mögliche Horrorszenarien auf und erschrecken die Fahrgäste. Man ruckelt so dahin, plötzlich, hinter der Kurve rechts, der Sonderreport des Weltklimarats: Ob die Temperatur auf der Welt in den nächsten einhundert Jahren um 1,5 Grad Celsius oder um 2 Grad ansteigt, macht einen riesigen Unterschied; der Klimawandel ist längst da; in Deutschland sind die Temperaturen seit Messbeginn 1880 um bislang 1,4 Grad gestiegen, in der Arktis sogar um 4 Grad. Wenn wir einfach so weitermachen wie bislang, dann könnte es in der Arktis sogar 10 Grad wärmer als in vorindustrieller Zeit werden. Tja, Eisbären: Lernt schwimmen und kommt zu uns in den Zoo.

In dem »Business-as-usual-Szenario« würde es hierzulande im Schnitt 4 Grad wärmer werden. Dann wäre, nach Berechnungen des Umweltforschungszentrums Leipzig, ein Dürresommer wie 2018 im Jahre 2050 ganz normal. Und um 2070 wäre es dann meistens so heiß und trocken, dass unsere Kinder und Enkel Temperaturen wie damals, im Jahre 2018, als eher kühl empfinden würden.1 In diesem heißen Sommer war der Boden bis zu einer Tiefe von 1,8 Metern ausgetrocknet – nur Pflanzen mit sehr tiefen Wurzeln haben das ohne künstliche Bewässerung überlebt. Am Ende beantragten Tausende von Bauern Dürrehilfen, 340 Millionen Euro stellte die Bundesregierung für die Landwirte bereit. Die Waldbesitzer rechneten mit Schäden von 5,4 Milliarden Euro an ihren Forsten.2 Die Vegetation würde sich in einem 4-Grad-Szenario in Mitteleuropa also deutlich verändern. Andere Regionen hat es in diesem Jahr allerdings noch schlimmer erwischt. In Italien wurden Teile des Latiums, Venetiens, des Piemont und der Emilia-Romagna sowie Siziliens durch heftige Gewitter, Stürme und Starkregen verwüstet. Es entstanden Schäden von schätzungsweise einer Milliarde Euro. Menschen starben, viele verloren ihre Häuser.3 In Kalifornien brannten zwei Wochen lang die Wälder, über achtzig Menschen starben, Hunderte wurden vermisst. Ein ganzes Städtchen ging in Flammen auf, 600 Quadratkilometer Wald brannten ab, bis es endlich zu regnen begann.4 Nur kurz darauf wüteten in Australiens Nordosten 130 Buschfeuer. In den betroffenen Regionen mussten Tausende von Menschen ihre Häuser verlassen, Schulen und Kitas wurden geschlossen. Die Premierministerin von Queensland war schockiert von noch nie dagewesenen Verhältnissen.5 Stürme, Starkregen und Dürren im Osten Afrikas – etwa in Somalia – oder in Syrien waren schon kaum mehr der Rede wert.

Solche Phänomene hat es doch immer schon gegeben? Der Klimawandel ist etwas ganz Natürliches und hat nichts mit menschlichem Handeln zu tun? Seitdem die AfD durch die Gänge der Parlamente stapft (immer auf der Suche nach jemandem mit Mikrofon und Kamera), kann man solchen Blödsinn ja auch im Bundestag oder in Sommerinterviews hören. Darum noch mal das Alfred-Wegener-Institut, stellvertretend für all die Tausende von Klimaforschern weltweit, die Daten und Fakten zusammentragen: Messungen in Bohrkernen aus Eis der Antarktis haben ergeben, dass die Konzentration an Kohlendioxid in der Atmosphäre in den vergangenen 800000 Jahren niemals so hoch war wie heute, selbst in den Warmzeiten nicht. Sie liegt derzeit im Jahresmittel bei leicht über 400 Teilchen pro Millionen und Volumen (ppmv). Um 1750 waren es noch 278 ppmv.6 Zwar ändert sich der Anteil an Kohlendioxid in der Atmosphäre tatsächlich immer wieder, aber er schwankt in ziemlich langen Zyklen. Um von der letzten Eis- in unsere jetzige Warmzeit zu schwingen, brauchte die Erde 15000 Jahre. Dabei ist der Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre von etwa 180 ppmv auf 280 ppmv gestiegen. Der seit der Industrialisierung durch den Menschen verursachte CO2-Anstieg von etwa 120 ppmv ist somit hundertmal schneller abgelaufen und kann im Vergleich als nahezu sprunghaft bezeichnet werden.

Was, wenn die Konzentration weiter steigt, wenn sich die Erde weiter erwärmt? In der Online-Zeitschrift Factory Magazin rechnet der Biologe und Volkswirt Joachim H. Spangenberg vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung UFZ in Halle vor: Würden alle fossilen Rohstoffe konsequent verfeuert und alle Gletscher der Erde schmelzen, würde der Meeresspiegel um 66 Meter ansteigen. Das ist ein Worst-Case-Szenario. Machen wir hingegen »lediglich« so weiter wie bisher, also ein bisschen Klimaschutz und ein gemächlicher Ausstieg aus den fossilen Energieträgern, dann könnte der Meeresspiegel in den nächsten zweihundert Jahren um »nur« drei bis vier Meter steigen. Dabei kommt es auf jede Zahl hinter dem Komma an. Es ist jedenfalls klar, dass im Laufe des Jahrhunderts der Meeresspiegel deutlich ansteigen wird. Aber: Wenn sich die Erde bis zum Ende des Jahrhunderts um 2 Grad Celsius gegenüber der vorindustriellen Zeit erwärmt, schwappen die Wellen 10 Zentimeter höher, als wenn es im Schnitt nur 1,5 Grad wärmer wird.7 Nun lebt aber schon jetzt jeder fünfte Mensch auf der Welt weniger als 30 Kilometer vom Meer entfernt. Acht der zehn größten Städte der Welt liegen in niedrigen Küstengegenden, und die Bevölkerung dort wächst doppelt so schnell wie im Rest der Welt. Das Factory Magazin, herausgegeben vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie und der Effizienz-Agentur NRW, fragt den Wissenschaftler: Was sollen wir tun? Und der empfiehlt staubtrocken: Baden gehen, Venedig und die kleinen Inselstaaten besuchen, solange es noch geht, sowie Gletscher-Skifahren. Was man nicht tun sollte? Einen Altersruhesitz in Florida erwerben und langfristig in Hafengesellschaften investieren.8 Als Klimaforscher braucht man wohl solchen Galgenhumor, um nicht zu verzweifeln. Spangenberg stellt fest, die letzte Chance, einen massiven Anstieg des Meeresspiegels zu verhindern, hätten wir 2014 verpasst, denn zu diesem Zeitpunkt sei das Abschmelzen des westantarktischen Eisschildes unumkehrbar geworden.

Der Meeresspiegel steigt, weil das Meerwasser wärmer wird (warmes Wasser hat mehr Volumen), Gletscher abtauen und die Eiskappen auf dem Festland der Arktis und auf Grönland schmelzen. Hilfreich wäre ja jetzt so ein Satz wie »Und im Jahre xy geht Norderney unter«. Aber so einfach ist es nicht. Auszurechnen, wie genau sich an welcher Stelle der Anstieg des Meeresspiegels auswirkt, ist schwierig. Zum Beispiel ist die Erdkruste beweglich. An manchen Orten hebt, an anderen senkt sie sich. Die Klimaforscher und Geologen gehen aber davon aus, dass die südostasiatischen, bevölkerungsreichen Länder am Pazifik besonders vom steigenden Meeresspiegel betroffen sein werden. Sicher absehbar ist auch, dass es häufiger zu Überschwemmungen kommen wird, auch im Landesinneren, denn Extremwetter wie Stürme und Starkregen, Hitzeperioden und Dürren nehmen zu.

Puh. Weiter geht es in der Geisterbahn. Noch eine Kurve, noch mal rechts. Aaaaahh! Noch immer verursacht die Menschheit jedes Jahr mehr Treibhausgase als im Jahr zuvor. Ein Wendepunkt sei nicht absehbar, stellte das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) kurz vor dem Kattowitzer Klimagipfel im November 2018 fest. Wenn sie an dem Ziel einer Erderwärmung von nicht mehr als 2 Grad festhalten wollten, müssten die Länder ihre Klimaschutzziele verdreifachen, warnte UNEP, für 1,5 Grad gar verfünffachen. Leider ist eher das Gegenteil der Fall: Weltweit wollen Regierungen neue Kohlekraftwerke bauen, die schlimmsten Klimasünder sind dabei China, Indien, die Türkei, Indonesien, Vietnam und Japan. Sie planen in den nächsten Jahren die größten Kraftwerke, China ist mit großem Abstand Spitzenreiter.9

Die Aufbruchsstimmung von 2015, als sich die Staaten auf der Klimakonferenz von Paris darauf einigten, die Erderwärmung auf deutlich unter 2 Grad zu begrenzen, weicht langsam Verbitterung. Denn die meisten Regierungen versuchen viel zu wenig oder gar nichts, um dieses Ziel zu erreichen. Die Schwellenländer setzen auf Öl und Kohle, um Wachstum zu erreichen und ihre Gesellschaften mit Energie zu versorgen. Und die entwickelten Industriestaaten wollen wettbewerbsfähig bleiben, zur Not eben auch als Fossil(i)e. Der Anteil von fossilen Brennstoffen am weltweiten Energieverbrauch liegt, laut Internationaler Energieagentur, in den letzten dreißig Jahren konstant bei 81 Prozent, trotz aller Warnungen, Versprechungen und Abkommen.

Klima- und Artenschutz: Auf Konferenzen wichtig

Also geht es weiter in der Geisterbahn, ratterratter, in eine Linkskurve. Iiiihh: der Klimagipfel in Kattowitz! Auf dem großen UN-Gipfel zum Klimaschutz in Polen einigten sich die Staaten auf ein Regelbuch. Damit sollen jetzt alle Klimaschutzbemühungen der Staaten der Welt verfolgbar und vergleichbar werden. Das ist nicht nichts, aber weniger als nötig. Weder wurden Hilfen für arme Länder beschlossen, die jetzt schon unter dem Klimawandel leiden, noch gab es konkrete Zusagen der Industriestaaten, wie und wann sie wirklich mit dem Klimaschutz beginnen wollen. Nach dem Klimagipfel von Paris hatte sich die Bundes­regierung darangemacht, einen nationalen »Klimaschutzplan 2050« auf den Weg zu bringen, schon im Jahr darauf konnte ihn die große Koalition verabschieden. Stolz vermeldete sie, Deutschland sei eines der ersten Länder, das eine langfristige Strategie zum Klimaschutz erstellt und bei den Vereinten Nationen vorgelegt habe.10 Der Plan nannte als Ziel, bis zum Jahr 2050 fast keine Treibhausgase mehr auszustoßen – schließlich gebe das Pariser Abkommen das vor und Deutschland trage als führende Industrienation und wirtschaftlich stärkstes Land der EU eine besondere Verantwortung. Weil 2050 weit schien, nannte die Bundesregierung Zwischenziele: 2030 sollen die Treibhausgasemissionen um 55 Prozent gegenüber 1990 gesunken sein, 2020 die erste Etappe mit 40 Prozent weniger erreicht sein. Doch dieses Ziel verfehlt Deutschland um Längen; 2020 schaffen wir nur 32 Prozent weniger. Seit Jahren sinken die Emissionen nicht mehr wesentlich. Das heißt, in den nächsten Jahren müssen wir deutlich mehr Kohlendioxid einsparen, um 2030 das nächste Ziel zu erreichen.

Um das zu verdeutlichen, hilft der »Budgetansatz«. Wenn die Menschheit die Erderwärmung bei 1,5 Grad halten will, dann hat sie noch ein Budget von 420 Gigatonnen Kohlendioxid im Portemonnaie. Bislang gibt sie jährlich etwa 42 Gigatonnen davon aus – also ist in zehn Jahres alles weg. Das hieße dann: keine Emissionen mehr nach 2028 – na, viel Spaß. Das ist weder technisch noch ökonomisch, also überhaupt nicht machbar. Wir alle müssten also sofort anfangen, zu sparen, soviel wir heute können, damit unser Kohlendioxidbudget länger reicht. Wenn wir die Erwärmung von zwei Grad zulassen wollen, haben wir noch zirka 26 Jahre Zeit, bis uns das Kohlendioxid aus unserem globalen CO2-Beutel ausgeht.11

Aber in unserer Geisterbahn gibt es nicht nur Klimawandel­schocker. Ruckelzuckel – huch, da springt aus einem Pappfelsen das Artensterben hervor. In den vergangenen zehn Jahren sind in Europa die Populationen von 42 Prozent aller Tier- und Pflanzenarten an Land zurückgegangen. Von ihnen gibt es also weniger Exemplare. Bei Fischen und Amphibienarten waren es 71 beziehungsweise 60 Prozent.12 Die Weltnaturschutzunion (IUCN) beobachtet weltweit die Entwicklung von rund 97000 Arten von Tieren und Pflanzen. Das ist ein Bruchteil der 1,7 Millionen Arten, die Menschen bislang entdeckt und beschrieben haben – wir kennen etwa nur die wenigsten Insektenarten auf der Welt, und bei den wichtigen, aber winzigen Bodenorganismen müssen wir ganz passen. Von den Beobachteten 97000 Arten sind, laut IUCN, derzeit knapp 27000 direkt vom Aussterben bedroht. Seit 1963 führt die Union gewissenhaft Buch über die verschwundenen Tiere und Pflanzen. Besonders betroffen ist eines der Hauptnahrungsmittel der Menschheit: Fisch. Weltweit sind 13 Prozent der Zackenbarscharten vom Aussterben bedroht und 9 Prozent der rund 450 Fischarten im riesigen Malawisee im Osten Afrikas. Die meisten von ihnen sind Buntbarsche, die nur dort vorkommen. Aber auch ein prominenter Baum hat es auf die Rote Liste geschafft: Pterocarpus erinaceus, ein Gehölz ebenfalls aus Afrika, aus dem man besonders schöne Möbel bauen kann – allerdings nicht mehr lange. Insgesamt geht die IUCN davon aus, dass heute rund 10000 Arten mehr davon bedroht sind zu verschwinden, als vor zehn Jahren. Nicht nur aus Afrika werden Pflanzen und Tiere vertrieben; die Korallen im Great Barrier Reef vor Australien verschwinden ebenso wie die Feldlerche und das Rebhuhn von deutschen Wiesen.

Weil niemand weiß, wie viele Arten es überhaupt gibt, lässt sich auch schwer berechnen, wie viele jedes Jahr aussterben. Vielleicht sind es 20000 pro Jahr, vielleicht 60000. Derzeit sitzen die für den Artenschutz zuständigen Mitarbeiter aus Regierungen weltweit über Papieren, mit denen sie die nächste große Artenschutzkonferenz vorbereiten. Ende 2018 hatte die Vertragsstaaten­konferenz der »Convention on Biological Diversity«, also die 196 Mitglieder des »Übereinkommens über die Biologische Vielfalt«, im ägyptischen Sharm el Sheikh getagt. Besorgt stellten die Delegationen fest, dass sie alle Ziele zum Schutz der Artenvielfalt, die sie sich acht Jahre zuvor gesetzt hatten, weit verfehlen würden. Sie wollten den Verlust von natürlichen Lebensräumen halbieren, die Überfischung der Meere stoppen sowie große Flächen zu Land und auf den Meeren unter Schutz stellen. Nichts davon ist wahr geworden. Die Landwirtschaft nimmt keine Rücksicht auf wilde Tiere und Pflanzen, Interessen der Industrie – billiges Palmöl, Soja oder Holz – stehen über den Interessen der Natur. Jetzt arbeiten die 196 Vertragsstaaten also bis 2020 an einem neuen Abkommen. Sie werden versuchen, Schutzgebiete zu benennen und nachhaltige Formen zu finden, in denen die Ozeane, Wälder, Äcker und Wiesen genutzt werden können. 2020 treffen sie sich wieder in Peking, mit neuen Zielen oder mit Konkretisierungen der alten. Und die Natur in ihrer wunderbaren Vielfalt? Stirbt einfach weiter. Aber: Ist ja nur eine Geisterbahn.

Der grüne Selbstbetrug

Man fährt also durchs Dunkle und schaut sich die schaurigen Gestalten Klimawandel und Artensterben an. Ab und zu scheppert es, der eine fürchtet sich mehr, der andere weniger. Aber irgendwann fährt man wieder raus aus dem Gruselkabinett. Gegenüber verkaufen sie Zuckerwatte und es läuft irgendein Schlager – und alles ist wieder gut. Soll heißen: Nach den Nachrichten über Extremwetter, versinkende Inseln und das große Sterben in der Natur geht es weiter mit der Normalität, mit den neuesten Daten zum Wirtschaftswachstum, mit den Umsätzen im Weihnachtsgeschäft oder lästigen Streiks im Urlaubsflugverkehr.

Es gibt viele Studien darüber, warum Menschen bestimmte Risiken bedrohlicher einstufen als andere. Warum sich viele zum Beispiel mehr vor Wölfen fürchten als vor Hunden oder warum Selbstmordattentäter bedrohlicher erscheinen als der Klimawandel. Menschen fürchten sich eher vor Gefahren, die sie nicht kennen – das macht den scheuen Wolf bedrohlich und den aggressiven Schäferhund nebenan akzeptabel. Der Risikoforscher Ortwin Renn nennt als ein Beispiel für ein verzerrt wahrgenommenes Risiko die Ernährung. Mehr als 70 Prozent der Deutschen fürchteten sich vor Pestiziden, Hormonen oder gentechnisch veränderten Zutaten in ihrem Essen, erzählte er der Wochenzeitung Die Zeit in einem Interview. Sie gefährdeten die Gesundheit aber viel weniger als eine ungesunde Ernährung. Durch zu viel falsches Essen, zu viel Zucker, Fett und Fleisch stürben hierzulande 70000 Menschen im Jahr an Krebs – viel mehr als durch die exotischeren Ursachen.13 Renn unterscheidet die Angst vor dem Unbekannten von »systemischen« Risiken, die ebenso konsequent unterschätzt würden wie das eigene Alltagsverhalten. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie zeitlich entgrenzt sind, also keinen Anfang und kein Ende erkennen lassen; sie lassen sich räumlich nicht zuordnen, und welcher Schaden in welchem Umfang genau angerichtet wird, ist auch unklar. Systemische Risiken sind komplex, sie bergen ein hohes Maß an Unsicherheit und Mehrdeutigkeit.14 Sie überfordern uns. Hier versagen Institutionen, mit denen wir normalerweise Risiken absichern – Verhaltensweisen oder Versicherungen. Wem es beispielsweise als gesundheitlich zu riskant erscheint zu rauchen, der hört auf damit (auch schon nicht leicht). Gegen Risiken wie Autounfälle oder Krankwerden im Ausland kann man sich versichern, genau wie gegen Zahlungsausfälle im internationalen Warenhandel.

Solche klaren Antworten auf recht einfach zu ermittelnde Eintrittswahrscheinlichkeiten und Folgen von Risiken sind beim Klima- und Artensterben jedoch nicht zu bekommen. Es ist ja nicht einmal leicht, die Folgen zu verstehen. Nur Spezialisten durchschauen die aufwendigen Computermodelle ihres Fachgebietes und können sich selbst ein datenbasiertes Urteil bilden. Die wissenschaftlichen Berichte des Weltklimarates IPCC zum Beispiel erschließen sich dem Laien nur mit Mühe und fordern ein hohes Maß an Routine im Lesen von prognostischen Texten. Schließlich steht hinter jedem Absatz in Klammern, ob die Mehrheit der Wissenschaftler der jeweiligen Aussage sehr oder wenig vertraut, ob sie eher wahrscheinlich oder ob ein Entwicklungspfad eher »unwahrscheinlich als wahrscheinlich« ist. Dies schafft Vertrauen bei Wissenschaftlern, die die unterschiedlichen Entwicklungspfade und Interpretationen kennen; das Verfahren ist seriös, transparent und dem komplexen Thema angemessen. Doch es verschließt Laien die Teilnahme. Auch eher wenig interessierten Gutmeinenden erleichtern es die Texte des IPCC nicht gerade, den Klimawandel als eine klare, reale Bedrohung wahrzunehmen, gegen die wir jetzt dringend etwas unternehmen müssen. Es bleibt immer ein »vielleicht ja doch nicht« übrig.

Womöglich ist die Wut von Klimaleugnern, die sie auf Blogs oder in den sozialen Netzwerken ausschütten, auch deshalb so unfassbar groß: Weil sie sich dazu verurteilt fühlen, an Texte zu glauben, die sie nicht verstehen und deren Aussagen sie nicht gewichten können. Wenn etwas »wahrscheinlich« oder »eher unwahrscheinlich als wahrscheinlich« ist – ist es dann gefährlich oder nicht? Muss ich deswegen mein Verhalten ändern? Jedenfalls fällt es so denjenigen, die der Angriff auf ihren Lebensstil ängstigt oder ärgert, leicht, den Klimawandel als Alarmismus abzutun. Als im Herbst 2018 die Gewerkschaften Beschäftigte von RWE und Chemieindustrie im Rheinland zur Demo aufriefen, um gegen einen schnellen Kohleausstieg zu protestieren, da marschierte ein Teilnehmer mit dem Plakat »Schluss mit dem Ökowahn« durchs Bild. All die konkreten, greifbaren, sinnlich wahrnehmbaren Nachrichten über Dürren und Stark­regen, über verschwindende Tiere und Pflanzen – wir erfassen sie nicht wirklich als einen Teil unseres Alltags, den wir in alle Entscheidungen und Pläne einbeziehen müssen. Politik gegen den Klimawandel als Ökowahn zu titulieren: Das ist dieses Jahrmarktgefühl aus Schlagermusik und Zuckerwatte auf den Punkt gebracht und in eine politische Forderung übersetzt.

Während der Grusel vor dem Klimawandel irreal bleibt, ist das gute Leben für die Menschen mit den guten, geschützten Arbeitsplätzen in einem reichen Industrieland wie Deutschland real. Allerdings haben, trotz beinahe erreichter Vollbeschäftigung und einem jahrelangen Wirtschaftsaufschwung, die Jahre des Sozialabbaus und der stetigen Globalisierung der Märkte – auch der Arbeitsmärkte – ihre Spuren hinterlassen. Es mag dem Einzelnen gut gehen, dennoch ist die Bedrohung eines sozialen Abstiegs durch Arbeitslosigkeit oder Alter allgegenwärtig. Die Liberalisierungen der vergangenen Jahrzehnte haben Wettbewerb in fast jeden Lebensbereich gebracht. Vom besten Handyvertrag über den günstigsten Stromanbieter bis zum raffiniertesten Girokonto muss der Alltag stetig gemanagt und optimiert werden – wer zu viel bezahlt, ist selber Schuld. Dazu kommen Ansprüche an den eigenen Körper (fit!), den »Partnerschaftsstatus« (parshippen?) und die Leistungsbereitschaft und -fähigkeit in Beruf und Familie. Wehe dem, dessen Kind im dritten Kita-Jahr den Stift noch nicht richtig hält (bildungsfern?).

Das alles eröffnet Wahlmöglichkeiten und bietet Freiheiten, ist aber auch anstrengend. Ein guter Job mit dem beruhigenden Gefühl, am allgemeinen Wohlstand teilnehmen zu können, mit Urlaub, dem üblichen Konsum an Elektronik, Kleidung und Spielzeug, gibt Routine und Sicherheit. Es sind ja nicht nur die beinharten Interessen der finanzmarktgetriebenen Konzerne aus dem Energie-, Verkehrs- und Agrarsektor, die sich vehement gegen jedes Prozent Marktanteilverlust stemmen. Sehr viele von uns haben etwas zu verlieren.

Dazu kommt, dass die meisten politischen Parteien, fast alle Wirtschaftsverbände und ein großer Teil der Wirtschaftspublizistik den Klimawandel zwar nicht leugnen, ihn aber beständig relativieren. Sie stellen das Klima nicht als die gegenwärtig wichtigste Bedingung dafür da, dass Leben auf der Erde lebenswert und planbar bleibt. Sie setzen es in Relation zu anderen Voraussetzungen für ein gutes Leben hierzulande.

Dieter Kempf ist Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), dessen Einfluss auf die Regierung man kaum überschätzen kann. Als Reaktion auf erste Ergebnisse der »Kohlekommission« 2018 teilte er mit, die Politik dürfe das Tempo des Ausstiegs aus der Kohleverstromung nicht im Blindflug erhöhen, ohne sich der Nebenwirkungen bewusst zu sein. »Zentral ist, die Versorgungssicherheit bei jedem Wetter sicherzustellen, und zwar auch dann, wenn der Strom in unseren Nachbarländern knapp ist. Für unsere Unternehmen sind auf Dauer bezahlbare und wettbewerbsfähige Strompreise erforderlich, um Produktion zu sichern und Wohlstand zu schaffen.«15 An anderer Stelle bemerkte er zwar, Klimaschutz eröffne vielen Unternehmen langfristig Chancen auf dem Weltmarkt und unterstütze die Modernisierung einer Volkswirtschaft. Das Klimagesetz und scharfe Ziele für einzelne Branchen lehnte er aber ab.16 Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass? Kempf hat recht, eine ökosoziale Transformation modernisiert die Volkswirtschaft: Sie macht unabhängiger von fossilen Energieträgern, verschafft den Städten Luft und Platz, sichert langfristig Ressourcen, wie sauberes Wasser und fruchtbaren Boden. Die EU-Kommission hält es für technisch und finanziell machbar, den Treibhausgasausstoß in Europa bis 2050 auf null zu senken. Warum tritt Kempf dann bei jeder erstbesten Gelegenheit auf die energie- und klimapolitische Bremse? Für wessen Interessen setzt der Industriepräsident sich da eigentlich ein? Für die übergroße Mehrheit der Unternehmen in Deutschland eher nicht. Sie sind vor allem auf klare ökonomische Rahmenbedingungen und eine kalkulierbare Infrastruktur angewiesen. Der Klimawandel wird beides zerstören.

Aber man muss gar nicht an hohe Strafzahlungen etwa Deutschlands an die EU denken, wenn Emissionsgrenzen im Verkehr nicht eingehalten werden – solche Strafzahlungen lassen sich verweigern, oder das Land tritt aus der EU aus, es ist ja heute alles denkbar. Nein, die Gefahren für die Wirtschaft sind nicht politischer, sondern physischer Natur. Das ist im Sommer 2018 doch deutlich geworden. Da stiegen die Benzin- und Heizölpreise, weil die Flüsse zu wenig Wasser führten und die Schifffahrt eingeschränkt oder gar eingestellt werden musste. Werden die Rückversicherungen es stemmen, jede Saison Milliardenschäden wegen Hochwasser und Sturmschäden zu begleichen? Wer zahlt für Anpassungsmaßnahmen an der Küste? Will der Staat jedes zweite Jahr Dürrehilfen an Landwirte und Waldeigentümer zahlen?

Die Autoindustrie zittert jetzt schon, weil die neuen Grenzwerte für CO2-Emissionen für Pkw und Lkw der EU Strafzahlungen für diejenigen Konzerne vorsehen, die sie nicht einhalten. Brüssel plant, dass Hersteller, die ihre Flottenziele reißen, zwischen 2025 und 2029 pro Gramm Kohlendioxid und Tonnenkilometer 4000 Euro zahlen sollen, ab 2030 dann 6800 Euro. Mangelhafter Klimaschutz kann also richtig teuer werden.

Das Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft (FÖS) hält es für wichtig, durch den Klimawandel bedingte Finanzrisiken mehr als bislang zu kontrollieren und in die Bilanzen der Unternehmen miteinzuberechnen. Darum schlägt das Institut vor, Unternehmen ab 250 MitarbeiterInnen dazu zu verpflichten, einen Klimabericht abzugeben. Darin müssten sie darlegen, wie sie auf die in den nächsten Jahren stetig anspruchsvolleren Klimaziele und auf höhere Kohlendioxidpreise reagieren wollen. Investoren wie Banken oder Versicherungen müssten diese Berichte dann bei ihren Entscheidungen berücksichtigen. Die Unternehmen müssten auch beschreiben, wie sie eventuelle Strafzahlungen bei der Verfehlung von Klimazielen stemmen würden, doch auch Haftungsrisiken würden Eingang finden. Besonderes Augenmerk erfährt hierbei die Kreditanstalt für Wiederaufbau, die KfW. Sie ist eine auch im globalen Maßstab große Förderbank, Haupteignerin ist die Bundesregierung. Sie sollte, schlägt das FÖS vor, nur noch Projekte fördern, die die Klimaziele nicht gefährden.17 Denn andere Projekte könnten künftig teuer werden.

Als ein Zusammenschluss verschiedener US-Behörden nach Thanks­giving 2018 seine »Nationale Klimabewertung« vorstellte, zeich­nete er ein düsteres Bild für die USA. Die Behörden warnten vor Schäden an Straßen, Brücken und Stromleitungen; das Wirtschaftswachstum könne beeinträchtigt werden.18 Als Donald Trump den beunruhigenden Bericht via Twitter19 damit kommentierte, zur New Yorker Thanksgiving-Parade sei es noch nie so kalt gewesen wie 2018, regten sich alle fürchterlich auf.20 Ob Donald Trump wirklich zu blöd ist, um den Klimawandel zu begreifen, tut aber nichts zur Sache. Wichtig ist: Er weigert sich, wirtschaftspolitisch auf ihn zu reagieren.

Der BDI macht nichts anderes. Ob Verbandschef Dieter Kempf nun an »den Klimawandel glaubt« oder nicht, ist völlig egal, solange er sich weigert, klimapolitisch verantwortliche Positionen einzunehmen. Davon ist er nach wie vor weit entfernt. Das deutliche Verfehlen der Klimaziele kommentierte der Industrieverband mit der Warnung, man dürfe jetzt aber »nicht in klimapolitischen Aktionismus« verfallen. Leider ist der BDI in Deutschland nicht allein auf weiter Flur. Die ewige Regierungspartei CDU teilt auf ihrer Internetseite mit, sie stehe für bezahlbare Energiepreise. »Deshalb wollen wir eine langfristig sichere, bezahlbare und saubere Energieversorgung schaffen – zusammen mit Verbrauchern und Wirtschaft.«21 Erst sicher, dann bezahlbar, zuletzt sauber. Das ist die falsche Reihung. Richtig wäre gewesen: »Wir wollen langfristig eine saubere und darum sichere und bezahlbare Energieversorgung schaffen.« Die SPD hingegen weiß gar nicht so genau, wie sie mit dem Thema umgehen soll. Sie befasst sich auf ihrer Startseite mit den Themen Familie, Wohnen, Gesundheit, Pflege, Rente und dem sozialen Miteinander. Da den Sozialdemokraten bei jeder Wahl die Nachwirkungen von Hartz IV um die Ohren fliegen, ziehen sie sich auf ihr Kernthema zurück, den sozialen Ausgleich. Die beiden vordringlichsten Probleme des Landes haben sie – im Herbst 2018 – buchstäblich nicht auf dem Schirm: den Kampf gegen den Klimawandel und das Artensterben mit all seinen Folgen, auch für unseren Industriestandort.

Die großen Industrieverbände und die Regierungsparteien halten beide Themen für Probleme unter vielen, die mit dem Anspruch der Bevölkerung auf grenzenlose Mobilität, billige Energie und ausgreifenden Konsum in einer wachsenden Wirtschaft in Einklang gebracht werden müssen. Daher fällt in Deutschland die Rückkehr aus der Geisterbahn in die fröhliche Realität besonders leicht, weil es relevante Stimmen gibt, die den Fahrgästen beim Aussteigen aus der Gondel auf die Schulter klopfen und sagen: »Na, war’s schlimm? Jetzt ist es ja vorbei.«

Beim Schulterklopfen hilft diese immer noch mächtige Erzählung von der grünen Industrienation. Von den Erfolgen im Klimaschutz, von der Vorreiterrolle in der Energiewende, die Deutschland bis etwa 2012 noch innehatte, von den sauberen Flüssen und von den weißen Laken, die man im Ruhrgebiet und in Bitterfeld wieder zum Trocknen an die frische Luft hängen könne. Es ist wie eine riesige Autosuggestion. Zum Teil treibt das Blüten, wenn etwa die Zeitung Die Welt angebliche Belege für eine »Ökohysterie« bringt, als würde in Deutschland nur möglich, was umweltfreundlich ist, wie eine Art »Umwelt-Mainstreaming«. Und dann zählen die Autoren lauter gefühlte Wahrheiten über das Mülltrennen, Fahrradfahren und Windradbauen auf, die so unheimlich dominant seien.22 Wenn das mal so wäre! Hinter der gefühlten grünen Dominanz versteckt sich eine Politik, die knallhart an den Interessen der (großen) Industriebetriebe ausgerichtet ist.

Ganz langsam, Nachricht für Nachricht, sickert durch, dass die Deutschen mit dieser Erzählung einem großen Selbstbetrug aufsitzen. Ungläubig nehmen sie zur Kenntnis, dass ihr Grundwasser mit Nitraten, ihre Luft mit Stickoxiden und Feinstaub verseucht ist. Europäische Nachbarn wie Österreich oder die Niederlande fragen höflich, aber deutlich nach, wann der große Nachbar eigentlich anfangen will, seine Probleme zu lösen. Das Publikum hört, dass das Land seine Klimaziele deutlich verfehlt und die global hochgelobte Energiewende ins Stocken gerät – und gleichzeitig Fortschritte im Bereich erneuerbare Energien in Frankreich, Großbritannien und Indien sowie in Entwicklungsländern zu beobachten sind. Eine breite Allianz europäischer Länder von Finnland bis Portugal organisiert den Kohleausstieg, während in Deutschland ideenlose Landesregierungen an ihr festhalten. Die Niederlande und Irland planen CO2-Steuern – in Deutschland diskutieren Plattformen über Energie- und Mobilitätswenden. Immer mehr Menschen dämmert es, dass sie gar nicht durch eine Achterbahn fahren, sondern mitten durch den Rummel.

Leben im Widerspruch

Seit mehr als vierzig Jahren diskutieren wir die »Grenzen des Wachstums«, den aufrüttelnden Bericht des Club of Rome von 1972, dessen Prognosen über die Endlichkeiten der Ressourcen auf unserem blauen Planeten viele Menschen weltweit aufgerüttelt hat. Vor mehr als dreißig Jahren erschien der »Brundlandt-Bericht«, der für die Vereinten Nationen Pfade für eine nachhaltige Entwicklung beschrieb. Wer also heute vierzig oder fünfzig Jahre alt ist, den begleitet die Erkenntnis, dass die Menschheit die Ressourcen des Planeten übernutzt, schon sein ganzes Leben. Es ließ sich scheinbar ganz gut leben mit dieser Erkenntnis.

Und jetzt? Jetzt sind wir wohl in Phase drei. Der an der New York University lehrende Philosoph Kwame Anthony Appiah hat untersucht, wie moralische Revolutionen ablaufen, in welchen Schritten also etwa die Sklaverei abgeschafft oder das Frauenwahlrecht eingeführt wurde. Dabei macht er fünf Phasen aus: In der ersten wird das Problem gar nicht erkannt. Zwar sind die Argumente gegen zum Beispiel Sklaverei weithin bekannt, aber sie wird trotzdem von der Mehrheit nicht in Frage gestellt. Zweite Phase: Die herrschende Praxis wird zwar als schädlich erkannt, aber daraus folgt erst einmal nichts. In der dritten Phase wird anerkannt, dass eine Praxis schädlich ist, und es werden immer mehr Aktionen, Initiativen, Boykotte gegen sie organisiert. Die Mehrheit nimmt das zur Kenntnis, findet aber immer wieder Argumente dafür, warum beispielsweise Frauen nicht wählen dürfen. In Phase vier schließlich kehrt sich das Bild, neue Normen und Eliten entstehen. In der letzten Phase, der fünften, können sich die Menschen gar nicht mehr vorstellen, warum sie je anders gehandelt haben und warum sie zuvor so lange an schändlichen Praktiken festgehalten haben.23

Wenn man die Transformation zu einer sozial und ökologisch nachhaltigen Gesellschaft als »moralische Revolution« ansieht, wie etwa Uwe Schneidewind, Präsident des Wuppertal Instituts, in seinem erkenntnisreichen Buch Die große Transformation, dann lassen sich diese Phasen auch auf unseren Umgang mit dem Kli­mawandel beziehen. Für eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung auf dem Planeten dürfte der menschengemachte Klimawandel eine Tatsache sein, die es zu kritisieren gilt. Und den allermeisten ist auch klar, dass wir etwas gegen den Klimawandel tun müssen, damit wir unseren Kindern und den Generationen nach uns eine lebenswerte Zukunft ermöglichen. Darin sieht Schneidewind übrigens die moralische Komponente: dass die Menschenrechte nicht nur für uns gelten, sondern auch für unsere uns unbekannten Nachkommen. Im Menschenrechtsabkommen von 1966 gibt es zum Beispiel den Artikel 25: »Keine Bestimmung dieses Paktes ist so auszulegen, dass sie das allen Völkern innewohnende Recht auf den Genuss und die volle und freie Nutzung ihrer natürlichen Reichtümer und Mittel beeinträchtigt.« Oder den Artikel 11, Absatz 1: »Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden auf einen angemessenen Lebensstandard für sich und seine Familie an, einschließlich ausreichender Ernährung, Bekleidung und Unterbringung, sowie auf eine stetige Verbesserung der Lebensbedingungen.«24

In einer Welt, in der die Böden unfruchtbar geworden sind, weil die Bodenlebewesen so weit dezimiert wurden, dass sie nicht mehr arbeiten können, in der die Küstenregionen überschwemmt sind und die Zentren der Kontinente unter Dürren leiden – in einer solchen Welt lassen sich diese Menschenrechte nicht mehr verwirklichen. Es wäre ein großer Schritt hin zu einer sicheren Zukunft, wenn die Menschheit ernsthaft versuchen würde, die wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte heute umzusetzen. Aber, und darum sind wir wohl erst in Phase drei: Es gibt noch immer so viele gute Argumente dafür, warum wir, leider, leider, selber nicht handeln können: »Natürlich ist der Klimawandel schlimm. Aber meine eine jährliche Urlaubsreise nach Mauritius oder Namibia macht den Kohl nun auch nicht mehr fett, oder?« Und auf die guten Arbeitsplätze und günstigen Strom in und aus der Braunkohleindustrie können wir zurzeit einfach nicht verzichten. Noch nicht. Man kann bei einem Glas Wein zusammensitzen und eine Stunde sein Entsetzen über den Klimawandel zum Ausdruck bringen – und dann fragen: »Wohin fahrt ihr eigentlich in den Urlaub? Wir fliegen nach Griechenland, und ihr? Andalusien! Oh, schön!« Man kann im Überfluss leben und trotzdem glauben, das Richtige zu tun. Nuss-Nougat-Creme ohne Palmöl kaufen, Hafermilch in den Kaffee gießen, Aluminiumbüchse statt Plastikdose – und dabei mit drei Personen auf 160 Quadratmetern Altbau wohnen. Vielleicht erinnert sich noch jemand an die Protagonisten, die erst den LOHAS, den »Lifestyle of Health and Sustainability«, pflegten – und dann zum Bionade-Bürgertum degenerierten. Ihr Lifestyle ist zwar keine Titelseiten in Magazinen mehr wert, aber das Konsummodell noch immer aktuell.

Michael Kopatz greift diese ganzen Widersprüche in seinem Konzept »Ökoroutine« auf. Darin versucht er, die Tatsache, dass wir alle unendlich viel über globale ökologische Probleme wissen, selbst aber doch kaum handeln, produktiv zu wenden. Kopatz hält es für eine Überforderung des Individuums, diese Widersprüche selbst aufzulösen, aber der Einzelne könne deutlich machen, dass er eine bessere, nachhaltigere Politik wünscht. Kopatz ruft dazu auf, mal »einen Tagebau zu besetzen«, auf Demos gegen die Finanzindustrie zu gehen oder wenigstens lustige Öko-Aufkleber auf SUVs zu kleben: »Autos verbrennen Geld und machen fett, Fahrräder verbrennen Fett und sparen Geld«. Der Mensch brauche einen Rahmen, in dem nachhaltiges Verhalten einfach sei, normal, Routine eben. Diesen Rahmen muss die Politik setzen – indem sie sichere Fahrradwege baut und weniger Parkplätze, den Flugverkehr begrenzt und Vorgaben zur Effizienz von Elektrogeräten macht.25 Vor allem in Deutschland, dem Land, in dem ökologisch seit Jahren Stillstand herrscht, liege der Ball im Feld der Regierung, sagt Kopatz.