Unsagbare Dinge. Sex Lügen und Revolution - Laurie Penny - E-Book

Unsagbare Dinge. Sex Lügen und Revolution E-Book

Laurie Penny

4,4

Beschreibung

Laurie Penny spricht das Unsagbare aus: Fucked-up Girls und Lost Boys, sexuelle Gewalt, Liebe und Lügen sind ihre Themen. Sie zeigt, dass Feminismus ein Prozess ist: Egal, wie man sich nennt - wichtig ist, wofür man kämpft. Laurie Penny zerlegt gnadenlos den modernen Feminismus und die Klassenpolitik, wenn sie von ihren eigenen Erfahrungen als Journalistin, Aktivistin und in der Subkultur berichtet. Es ist ein Buch über Armut und Vorurteile, Online-Dating und Essstörungen, Straßenkämpfe und Fernsehlügen. Der Backlash gegen sexuelle Freiheit für Männer und Frauen und gegen soziale Gerechtigkeit ist unübersehbar - und der Feminismus muss mutiger werden! Laurie Penny spricht für einen Feminismus, der keine Gefangenen macht, dem es um Gerechtigkeit und Gleichheit geht, aber auch um Freiheit für alle. Um die Freiheit zu sein, wer wir sind, zu lieben, wen wir wollen, neue Genderrollen zu erfinden und stolz gegenüber jenen aufzutreten, die uns diese Rechte verweigern wollen. Es ist ein Buch, das jenen eine Stimme gibt, denen das Sprechen verboten wird - eine Stimme, die das Unsagbare ausspricht.

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LAURIE PENNY, 1986 in London geboren, Studium in Oxford, Nieman Fellowship in Harvard, lebt als Journalistin und Autorin in Großbritannien, hin und wieder in den USA. Sie schreibt u. a. für den Guardian, die New York Times, den New Statesman und für New Inquiry.

Ihre Bücher Fleischmarkt (2012), Unsagbare Dinge (2015), Babys machen & andere Storys (2016) und Bitch Doktrin (2017) machten Penny zur Ikone des jungen Feminismus.

Die Originalausgabe des vorliegenden Bucheserschien unter dem Titel

Unspeakable Things. Sex, Lies and Revolutionbei Bloomsbury, London 2014.© Laurie Penny 2014

Diese Übersetzung von Unspeakable Things

wurde von Laurie Penny in Übereinstimmung

mit Bloomsbury Publishing Plc publiziert.

Edition Nautilus GmbH

Schützenstraße 49 a · D-22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten · © Edition Nautilus 2014

Deutsche Erstausgabe Februar 2015

Umschlaggestaltung: www.majabechert.de

Porträt der Autorin: Jon Cartwright

ePub ISBN 978-3-86438-173-7

Inhalt

Einleitung

1Abgefuckte Mächen

2Verlorene Jungs

3Antiklimax

4Cybersexismus

5Liebe und Lügen

Nachwort

Anmerkungen

Danksagung

Bibliografie

Für Roz Kaveneyundfür G. E. B. und E. K. P.

»Halt mal meine Tasche, ich kämpfe mit der Engelsgestalt, die wie eine Henne in der Ecke meines Lebens nistet.

Sie beugt sich zu mir und lächelt mich geziert an – willst du dich denn nie ändern, Mädchen?

Du kannst diese merkwürdige Welt nicht ändern. Warum nicht Ehefrau sein?«

Sophia Blackwell, »Wrestling the Angel«,

Into Temptation

»Fuck heroes, fight now«

Graffiti, Athen 2011

Einleitung

Dies ist kein Märchen.

Dies ist eine Geschichte darüber, wie Sex, Geld und Macht Mauern um unsere Fantasie errichten. Sie handelt davon, wie unser Geschlecht unseren Träumen Zügel anlegt. Die wichtigsten politischen Schlachten der Menschheitsgeschichte wurden auf dem Gebiet der Fantasie geschlagen, und welche Geschichten wir uns zu erzählen erlauben, hängt davon ab, was wir uns vorstellen können.

Wie jede unterdrückte Klasse lernen Frauen, den eigenen Zorn zu fürchten. Unser Zorn ist furchterregend, und das hat seinen Grund. Wir wissen, wenn er sich je Bahn brechen sollte, werden wir womöglich verletzt oder, schlimmer noch, verlassen – ein zuverlässiges Maß für soziale Privilegiertheit ist, wie viel Zorn man äußern kann, ohne einen Rauswurf, Verhaftung oder soziale Ächtung fürchten zu müssen. Deshalb schlucken wir unseren Zorn hinunter, bis er wie verdorbenes Essen in uns gärt und uns krank macht.

Dies ist ein feministisches Buch. Es ist keine heitere Anleitung für den Umgang mit dem modernen Patriarchat, Augenzwinkern, Daumen hoch. Es ist kein kuscheliges Wohlfühlbuch über Sex, Shopping und Schuhe. So etwas kann ich gar nicht schreiben. Ich kann mir für euch kein Lächeln abringen. Als Leitfaden zum Glück in einer abgefuckten Welt taugt dieses Buch nicht.

Es ist aber auch keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern eine Polemik, gestützt auf Studien, Erfahrungen und Jahre des Schreibens und des politischen Agitierens in der queeren und feministischen Szene in Großbritannien, den USA und im Netz. Ich habe genug Frauen kennengelernt, die an den Pranger gestellt wurden, weil sie offen über Vergewaltigung gesprochen, die mit dem Tode bedroht wurden, weil sie eine Abtreibung vorgenommen hatten; genug Männer, die mit Schlägen und Schikane in den Selbstmord getrieben wurden, weil sie nicht straight genug auftraten; genug Menschen beider Geschlechter, die daran verzweifelten, dass sie einem stereotypen Erfolgsideal nicht gerecht werden konnten, obwohl sie es sich doch nie ausgesucht hatten.

Dieses Buch handelt von Liebe und Sex in Zeiten staatlicher Sparmaßnahmen, von Gender und Neoliberalismus. Der Begriff »Neoliberalismus« bezeichnet den Versuch, Gesellschaft und Staat auf der Basis »des Marktes« zu organisieren. Der Neoliberalismus betrachtet die Logik der Wirtschaft und des Geldes als die optimale Determinante für menschliches Glück. Man könne den Menschen nicht trauen, so heißt es, daher müsse der Markt diktieren, was die Menschen wollen. Jede Kategorie menschlicher Interaktion – von der öffentlichen Hand bis hin zum intimsten Liebesund Lustabenteuer – müsse wie ein Markt funktionieren, mit eingebauten Wettbewerbsmechanismen und einer Kostenkontrolle. Alle persönlichen Entscheidungen, auch demokratische, seien der Logik des Marktes zu unterwerfen – sogar das Fleisch lässt sich zum Zwecke der Gewinnoptimierung modifizieren.

Das sei Freiheit, erklärt man uns. Der Neoliberalismus errichtet, um mit den Worten David Friedmans zu sprechen, ein »Räderwerk der Freiheit«, in dem Menschen in erster Linie ökonomische Wesen sind.1 Alles, was wir tun, habe der »Nutzenmaximierung« zu dienen, sei es in einer Beziehung, im Beruf oder im sozialen Umgang. Das Selbst sei nur ein unternehmerisches Projekt, der Körper nur menschliches Kapital, eine Ansammlung von Ressourcen – Gehirn, Brüste, Bizeps –, die der Generierung von Einkommen dienen können.

Das betrifft alle – am meisten aber Frauen. Frauen verrichten häufiger als Männer Arbeit, die gesellschaftlich notwendig, aber gering oder gar nicht bezahlt ist, und sie sind auch häufiger auf staatliche Hilfe und Fürsorge angewiesen. In der angeblich freieren und gleichberechtigteren Welt arbeiten Frauen am Ende mehr für weniger Lohn und stehen stärker unter Druck, Gendernormen zu entsprechen.

Der Neoliberalismus rühmt »Karrierefrauen« und verunglimpft arme Frauen, Women of Colour, Sexarbeiterinnen und alleinstehende Mütter als Schmarotzer, Schlampen und Schwindler. Die »Karrierefrau« ist die neoliberale Heldin: Sie feiert marktkonform ihre Triumphe, ohne Hierarchien anzutasten.

Die »Karrierefrau« ist allerorten das neue Idealbild für junge Mädchen: Sie ist der wandelnde Vorzeigelebenslauf, sie wertet mit Make-up und Schönheitsoperationen ihr »erotisches Kapital« auf, um damit ihr Einkommen oder das ihres Chefs zu maximieren. Sie ist immer schön, ausnahmslos weiß und fast völlig fiktional. Dennoch hat ihre Freiheit Vorfahrt, denn rund um den Erdball kürzen die Staaten Leistungen und Hilfen für arme Frauen und setzen alles daran, »mehr Frauen in die Vorstände« zu bekommen.2 Der Neoliberalismus kolonisiert unsere Träume. Er frisst unsere Freiheitsideale und spuckt sie als Strategien der Sozialkontrolle wieder aus.

Dieses Buch ist insofern feministisch, als es als Gegenmittel gegen die Kolonisierung unserer wichtigsten Leidenschaften durch Geld und Hegemonie eine feministische Politik propagiert. Es kommt auch privater Schmuddelkram vor. Wenn ihr euch dafür interessiert, blättert gleich vor zu den Seiten 248ff.

Ich begann dieses Buch während der Studentenunruhen in Großbritannien zu schreiben, mit dem Laptop auf den Knien in einem besetzten Haus auf dem Boden kauernd, umgeben von angeschlagenen, erschütterten jungen Leuten, deren Freunde verprügelt, gefesselt und abgeführt worden waren, weil sie es gewagt hatten, vor ihrem Parlament eine bessere Zukunft einzufordern. In Wohnungen mir fremder Menschen kritzelte ich in Kladden, während unter mir auf den besetzten öffentlichen Plätzen, in den verwüsteten Traumhöllen des Neoliberalismus Polizei und Demonstranten aufeinanderprallten. Ich erlebte, dass naive junge Frauen und Männer aus der Mittelschicht des 21. Jahrhunderts plötzlich begriffen, wie es um die Welt, in der sie leben, wirklich bestellt ist. Das alles beobachtete ich, und ich glaube, es gibt Hoffnung. Ich glaube, wenn uns in dieser strapaziösen konfusen Zukunft etwas retten kann, so ist es die Wut von Frauen und Mädchen, Queers, Freaks und Sündern. Ich glaube, die Revolution wird feministisch sein, und wenn sie da ist, wird sie intimer und schockierender sein, als wir es uns bisher vorzustellen wagen.

Dieses Buch hilft euch nicht dabei, einen Mann zu finden, eure Frisur zu richten oder euren Job zu behalten. Dieses Buch handelt von Liebe und Sex, Schönheit und Ekel, Macht, Leidenschaft und Technik. Es handelt vom intimen Terrain des Aufruhrs. Ich schrieb es in fremden Städten, im Gespräch mit halbwüchsigen Ausreißer_innen, radikalen Feminist_innen, Anarchist_innen, Hipster_innen, Sexarbeiter_innen, verrückten Künstler_innen, verurteilten Kriminellen, transsexuellen Aktivist_innen und traurigen jungen Kleinstadtbewohner_innen, die sich nach Abenteuern sehnten.

Ich richte mich in diesem Buch an die anderen, als eine dieser anderen, eine derer, die sich nie zufrieden geben, denen es nie gut genug, denen es nie frei genug ist, wenn nur ein paar gleichberechtigt sind. Dieses Buch ist für die Unsäglichen, die Unnatürlichen, die, die andere verschrecken. Die nicht tun, was man ihnen sagt. Die den Mund aufmachen, wenn sie es nicht sollen, und die nicht auf Knopfdruck lächeln. Die schräg sind und immer zu viel wollen. Wenn ihr so jemand seid oder sein könntet, dann ist dieses Buch für euch.

Was wollt ihr denn noch?

Warum bleibt der Mainstream-Feminismus so lau und feige?

Dass der Feminismus wichtig ist und noch viel zu tun hat, ist keine Minderheitenmeinung mehr. Nach Jahrzehnten des zaghaften Sichfügens erheben Frauen, Mädchen und ihre Verbündeten in aller Welt wieder die Stimme, um einen besseren Deal einzufordern, nicht nur nach dem Gesetz, sondern in der Praxis. Sie lehnen sich auf gegen die Vergewaltigungskultur, gegen das öffentliche Bloßstellen angeblicher Schlampen, gegen sexuelle Gewalt. Sie kämpfen für reproduktive Gerechtigkeit und gegen systembedingte Armut, die Frauen und insbesondere Mütter am schwersten trifft.3 Als nach dem Beinahezusammenbruch der Weltaktienmärkte 2008 der Finanzkapitalismus ins Wanken geriet, wurde die Behauptung, alle Frauen würden innerhalb eines Marktes, der ihnen ihre Ziele und ihre Autonomie zugestehe, eines Tages selbstmächtig entscheiden können, als zwanzig Jahre altes Märchen entlarvt.

Die Art Feminismus, die seit Jahren in den Medien eine Rolle spielt und die Schlagzeilen beherrscht, nützt in erster Linie den heterosexuellen, gut verdienenden weißen Frauen der Mittelschicht und der oberen Mittelschicht. Öffentliche »Karrierefeministinnen« sind damit beschäftigt, »mehr Frauen in die Vorstände« zu bringen, dabei besteht das Hauptproblem darin, dass es schon viel zu viele Vorstandszimmer gibt und keins von ihnen brennt.

Es hieß, die Geschlechterbefreiung würde wie der Wohlstand nach unten »durchsickern«.4 Das ist natürlich völliger Blödsinn. Feminismus sickert wie Wohlstand nicht nach unten durch, und während sich eine kleine Zahl extrem privilegierter Frauen Gedanken über die gläserne Decke macht, füllt sich der Keller mit Wasser, und Millionen von Frauen und Mädchen sind samt ihren Kindern da unten eingesperrt und starren nach oben, während ihnen das Wasser in die Schuhe läuft, um die Knie schwappt und langsam zum Hals steigt.

Gerade an der Stelle, wo er besonders radikal sein müsste, hat sich der »öffentliche Feminismus« zunehmend schmallippiger Quengelei befleißigt und statt des Sexismus lieber den Sex zum Problem erhoben. Die feministischen Kampagnen, die sich der größten Beachtung erfreuen und die meisten Spenden erhalten, befassen sich mit dem Kampf gegen die Pornografie, mit der Abschaffung der Prostitution und des Verkaufs anzüglicher T-Shirts.5

Dieser Diskurs behandelt Frauen als Opfer, nicht nur der zugegebenermaßen abgefuckten Erotikkultur, sondern des Sex selber, ohne das Wesen der kommerziellen Sexualität oder der Objektifizierung zu durchblicken. Sexismus ist offenbar nicht das Problem: Das Problem ist Sex, sein Wesen und der Umfang, in dem er abseits moralisierender Blicke vollzogen wird, manchmal gegen Geld.

Man hat uns angelogen. Frauen meiner Generation wurde erklärt, wir könnten »alles haben«, solange »alles« Ehe, Babys, eine Karriere im Finanzwesen, ein Schrank voller schöner Schuhe und völlige Erschöpfung war und solange wir reich, weiß, hetero und artig waren. Für einen solchen Lebensstil braucht man natürlich eine Armee von Kindermädchen und Putzfrauen, und niemand hat sich bisher die Mühe gemacht zu fragen, ob auch sie »alles haben« können.

Wir können alles haben, was wir wollen, solange wir ein Leben wollen, in dem wir kräftezehrende Arbeit verrichten, die für die meisten von uns nicht genug Geld einbringt, Sachen kaufen, die wir nicht brauchen, und soziale und sexuelle Regeln befolgen, die unter den dicken Schichten aus Kitsch und Werbung so starr sind wie eh und je.

Jungen Männern dagegen wurde vorgegaukelt, sie lebten in einer schönen neuen Welt der wirtschaftlichen und sexuellen Chancen, und wenn sie zornig oder eingeschüchtert seien, wenn sie sich von den widersprüchlichen Erwartungen eingeengt oder verunsichert fühlten, wenn sie unter dem Druck litten, sich maskulin zu geben, Geld zu machen, dominant zu sein, viele schöne Frauen zu vögeln und gleichzeitig ein anständiger Mensch zu bleiben, dann seien an ihrer Not Frauen und Minderheiten schuld. Diese habgierigen Frauen, diese Homosexuellen, diese Schwarzen hätten ihnen die Macht und die Zufriedenheit gestohlen, die einst das Geburtsrecht der Männer waren. Wenn wir unzufrieden seien, so lernten wir alle, sei es unsere Schuld oder die Schuld derer, die uns am nächsten stehen. Wir seien irgendwie falsch konstruiert. Wir hätten es einfach nicht geschafft, uns anzupassen. Tragen wir unsere Not nach außen, brauchen wir wahrscheinlich Medikamente oder eine Haftstrafe, je nach sozialem Stand. Strukturelle Probleme gibt es nicht, nur individuelle Fehlanpassung.

Die Welt hat sich für Frauen und Queers so weit verändert, wie es nur ging, ohne die gesellschaftlichen Grundstrukturen anzutasten, die immer noch sexistisch, homophob und misogyn sind, weil sie sich weiter auf sexuelle Kontrolle, soziale Ungleichheit und die unbezahlte Arbeit von Frauen und Mädchen stützen. Für einen weitergehenden Wandel müssen wir mehr Ehrgeiz aufbringen, als man es uns bislang zugestanden hat. Für einen weitergehenden Wandel müssen wir das Unausgesprochene aussprechen und uns weigern, die Welt zu akzeptieren, wie sie ist. Wir müssen die großen provozierenden Fragen stellen, die Fragen zu Arbeit und Liebe, Sex und Politik, und darauf gefasst sein, dass die Antworten anders ausfallen, als wir es erwartet haben. Das versucht dieses Buch zu tun.

Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt; ich kenne nicht alle Antworten. Aber ich glaube, ich kenne einige Fragen, und die Fragen interessieren mich mehr.

Fragen zu stellen ist das Privileg der Jugend, und es ist das erste, was Mädchen verboten wird. Melde dich nicht im Unterricht, die Jungs schreien dich sonst nieder. Gib deinen Lehrern, deinen Eltern, der Polizei keine Widerworte. Fragen sind gefährlich.

Über 40 000 Jahre lang ordnete die Biologie Männer und Frauen Geschlechtsklassen und starren Geschlechterrollen zu. Dann, vor zwei oder drei Generationen – ein kurzer Moment im langen Traum der Menschheitsgeschichte – erlaubte der medizinische Fortschritt den Frauen die Flucht aus den Beschränkungen der Fortpflanzungsbiologie, kurz nachdem Frauenbewegungen in aller Welt das Recht erkämpft hatten, dass Frauen vor dem Gesetz als vollwertige Bürgerinnen gelten. Die sexuelle Revolution wurde zu einer sozialen Revolution, und die Beziehungen unter den Menschen veränderten sich nachhaltig. Das lässt sich nicht ungeschehen machen. Frauen kehren nicht kampflos in die sexuelle und politische Unterwerfung zurück. Aber manch ein Mann trägt noch eine unerklärliche Wut über diesen dramatischen sozialen Wandel in sich und hängt uns bei jedem Schritt unseres langen langsamen Marsches hin zur Geschlechtergleichheit plärrend an den Füßen. Wir sind noch nicht angekommen.

Eine Gegenrevolution ist im Gange, und sie richtet sich gegen die vielen Errungenschaften, die Frauen im Lauf von Jahrhunderten unter großen Verlusten, unter Gegenwehr, Gewalt und Gespött erkämpften. Es ist eine soziale, eine ökonomische und eine sexuelle Gegenrevolution. Wir befinden uns in einem neuen Kulturkrieg, und er ist viel größer als der taktische »Krieg gegen Frauen«, von dem vor den US-Präsidentschaftswahlen 2012 kurz berichtet wurde, als republikanische Abgeordnete einen moralischen Sturm im Wasserglas entfachten und in der Diskussion um Vergewaltigung, Verhütung und Abtreibung kollektiv den Verstand verloren.6

Dass diese Gegenrevolution nie endgültig Erfolg haben wird, heißt nicht, dass sie nicht manch ein Leben ruiniert, manch einen Fortschritt zerstört und dass die übermächtige Botschaft derer, die die sozio-sexuelle Entscheidungsfreiheit von Frauen im 21. Jahrhundert beschneiden wollen, doch durchdringt. Diese Botschaft lautet: Bis hierher und nicht weiter.

Feminismus ist für alle da

Alle paar Monate, so scheint es, entdecken die Medien den Feminismus wieder neu und finden ihn schick genug, um ihn in Form von Büchern und Zeitschriften unter die Leute zu bringen, solange er den Leserinnen und Lesern nur keine Angst einjagt, nur ihren Lebensstil nicht infrage stellt. Feminismus, der sich verkauft, ist ein Feminismus, der so gut wie allen gefällt und niemandem weh tut, ein Feminismus, der beruhigt, der sich an die Mittelschicht richtet und für sie spricht, der auf sozialen Aufstieg ausgerichtet ist, der von Schulen, Shopping und zuckerfreien Snacks faselt und sich nicht etwa mit armen Frauen, queeren Frauen, hässlichen Frauen, transsexuellen Frauen, Sexarbeiterinnen, alleinstehenden Müttern oder anderen befasst, die nicht ins Schema passen. Diese Art Feminismus interessiert mich nicht. Sollen andere darüber schreiben. Sollen andere einen anspruchslosen Feminismus zusammenbasteln, der um den kleinsten gemeinsamen Nenner kreist.7 Die jungen Frauen von heute wissen viel besser als ihre etwas älteren Schwestern, die in den schlappen 1990er Jahren erwachsen wurden, wie viel Arbeit noch vor uns liegt und wie unglamourös sie überwiegend ist. Sie wissen, wie verdammt wichtig es ist, über Macht, soziale Klasse, Arbeit, Liebe, Hautfarbe, Armut und Genderidentität zu reden.

Dieses Buch steht am Beginn einer solchen Diskussion, und wenn diese Diskussion nur Frauen anspricht, die eine ähnliche Vorgeschichte haben wie ich, dann lohnt sie sich nicht. Ich bin mir aber auch bewusst, dass ich nicht alles wissen kann. Dass ich als bürgerliche Weiße in einem englischsprachigen Land zur Welt kam und Beziehungen überwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, mit Männern habe, beeinflusst natürlich mein Denken, mein Schreiben und mein Leben. Ich schreibe nicht wie das durchschnittliche Mädchen, weil es das nicht gibt.

Zu viele feministische Autorinnen, die ihre Theorie von Gender und Macht »als Bombe« hochgehen lassen und die Welt verändern wollen, stellen gleichzeitig ihrem Werk einen Disclaimer voran, in dem sie erklären, über Frauen, die nicht weiß, hetero, reich und cisgender sind,8 die nicht Mutter sind und nicht als Autorin in London oder New York leben, könnten sie nichts sagen. Sie haben ihre Erfahrungen, und für andere können sie nicht sprechen, das heißt, sie brauchen sich auch nicht die Mühe zu machen, mit anderen zu reden oder zu lesen, was andere geschrieben haben, es sei denn, die anderen sind auch hetero, weiß, reich, verheiratet und berufstätig.

Hey, Mädels, wir sind doch alle gleich, oder?

Die Vorstellung, dass es so etwas gibt wie das durchschnittliche Mädchen, die »typische« Frau, die für jede andere mit einer Vagina ausgestattete Person auf diesem Planeten sprechen kann, ist eins der größten sexistischen Märchen unserer Zeit. Das Patriarchat neigt dazu, alle Frauen gleichzumachen; ihm wäre es am liebsten, wenn wir alle austauschbar wären, reiche, hübsche, weiße, kinderkriegende Mädchen, deren Probleme sich darum drehen, wie sie den besten Blowjob hinbekommen und wo sie Diätpillen kaufen können. Von keinem Mann würde man je erwarten, dass er für alle Männer dieser Welt spricht, nur weil er zufällig einen Schwanz hat. Die ursprüngliche feministische Aussage, nach der das Persönliche politisch ist,9 wurde in der Medienbranche, die noch immer im Besitz und unter der Leitung mächtiger Männer ist, in beharrlicher Wiederholung dahingehend abgewandelt, dass sich jegliche Frauenpolitik auf das rein Persönliche reduzieren lässt.10

Wer immer wir auch sind: Unser Verständnis von Gender, Politik und Feminismus wird von unseren Erfahrungen in der Liebe und im Sex beeinflusst, vor allem, wenn wir hetero sind. Wenn wir vom Kampf gegen den Sexismus sprechen, ist, bewusst oder unbewusst, unser gebrochenes Herz mit von der Partie, der verletzte Stolz, die grauenhaften sexuellen Zurückweisungen, Enttäuschung, Einsamkeit und Sehnsucht, die Erinnerung an Verrat, der Schmerz unserer Kindheit. Mit von der Partie ist auch die begierige Inbrunst unseres Verlangens, die Leidenschaft für unsere Freunde, Partner und Kinder, die Erfahrung, dass ein geliebter Mensch uns sanft die Hand auf die Seele legt und sie tröstet, an einer Stelle, von der wir gar nicht wussten, dass sie schmerzt. All das und mehr, das alles auf einmal ist mit von der Partie, denn Genderpolitik ist persönlich ebenso wie politisch, aber das heißt nicht, dass sich das Politische aufs Persönliche beschränken muss.

Reden wir nicht über Jungs und Mädchen, als hätte das was zu bedeuten

Frauen. Männer. Jungs und Mädchen. Die Wörter verändern sich nicht, der Nachklang aber schon, und im 21. Jahrhundert bedeutet das eine oder das andere etwas völlig anderes als im letzten oder im nächsten Jahrhundert. Eine Frau zu sein oder ein Mann zu sein, erfordert Mühe, Aufmerksamkeit, das Unterdrücken von Teilen der Persönlichkeit und das Herausstellen anderer. Als Simone de Beauvoir sagte, man »wird nicht als Frau geboren, man wird dazu gemacht«, traf sie damit ins Schwarze; noch besser gefällt mir Bette Davis’ Ausspruch in dem Film Alles über Eva: »Denn die Karriere, die alle Frauen einmal machen müssen, ist die, eine Frau zu sein, ob wir wollen oder nicht. Früher oder später kommen wir alle einmal dahin, gleichgültig, was wir sonst erreicht haben oder erreichen wollen.«11

Genderidentität ist Arbeit, performative Arbeit, es ist ein Job, den wir unfreiwillig an dem Tag übernehmen, an dem uns jemand in die Luft hält und unserer noch keuchenden Mutter erklärt: Es ist ein Mädchen. Besonders wir Frauen müssen Weiblichkeit als Teil unserer Arbeit verrichten, wenn wir bezahlt oder beschützt werden oder die Würde und den Status bewahren wollen, den wir der rauen Oberfläche der Gesellschaft, in der wir feststecken, abknapsen konnten. Eines sei klar gesagt: Wenn ich von »Frausein« oder »Mannsein« spreche, dann meine ich nicht das biologische Geschlecht, sondern die soziale Rolle. Von Geburt an und in ihrer gesamten Kindheit werden die Menschen nach Geschlecht aufgeteilt und dazu gebracht, einander zu misstrauen. Das Einhalten von Normen der Männlichkeit und der Weiblichkeit, was wir anziehen, wen wir küssen, welche Mannschaftssportart wir ausüben: All das wird erzwungen, oft unter körperlicher Gewalt, und wer sich nicht einfügen kann oder will, muss eben allein zurechtkommen.

Nicht jeder Mensch identifiziert sich mit dem Geschlecht, das ihm bei der Geburt zugeteilt wurde. Eine nicht unerhebliche Minderheit von Menschen ist transsexuell, transgender, genderqueer oder intersexuell, und ihre Geschlechtererfahrung wurde aus dem Mainstream-Feminismus ausgeschlossen oder gar gezielt von ihm attackiert. Und schließlich: Nicht jeder Mensch empfindet sich stark als Mann oder als Frau, und nicht alle, die das tun, verspüren den Drang, sich auf eine bestimmte Art zu kleiden oder zu verhalten, um toleriert, respektiert, zu Hause belohnt und in der Öffentlichkeit befördert und beschützt zu werden.

Wer als Mädchen zur Welt kommt oder zur Frau wird, steckt allerdings in einem besonderen Dilemma, und genau dieses Dilemma prägt die Absolutheit der Geschlechterunterdrückung. Es ist sehr wichtig, dass jede und jeder begreift, wie Sexismus Frauen beeinträchtigt und sich somit auf alle Menschen auswirkt. Frauen unterliegen strengeren Verhaltensregeln: Ihnen wird vorgegeben, was sie tun, was sie sagen, was sie wollen sollen. Was sie anziehen, was sie essen, wo sie einkaufen, wie sie sich bei der Arbeit verhalten sollen und wann sie ihm besser nicht auf eine Textnachricht antworten, wann sie vögeln, wie sie vögeln, welche Farbe sie sich ins Haar schmieren sollen, wenn er sie verlässt. Wenn man aus den »Fraueninhalten« der Mainstream-Medien die Werbung abzieht, bleiben im Grunde nur Regellisten übrig. Es ist schwer, ein Mann zu sein in dieser Welt, und es ist noch schwerer, der sozialen Klasse der Frau anzugehören, die all die Gewalt und die Traumata, die Männern von der Gesellschaft auferlegt werden, und dann auch die Folgen dieser Traumata tragen soll, die den Männern die Sorgenfalten von der Stirn streicht, den Schwanz lutscht und mit sanfter Unterwürfigkeit die geschlechtsspezifische Gewalt erduldet, wie sie es von Geburt an gelernt hat.

Das Geschlecht ist eine Zwangsjacke für die menschliche Seele.12 Das Geschlecht macht uns fix und fertig, es verwandelt die, die wir lieben sollten, in Feinde, und Frauen setzt es am meisten zu. Für uns ist die Biologie nicht nur Schicksal: Sie ist eine Katastrophe.

Wir sind immer noch nicht glücklich, Frauen nicht und Männer nicht, und die einen sagen, das liege am Feminismus, die anderen, es sei trotz des Feminismus so. Ich würde behaupten, es liegt daran, dass der Kampf gegen das kapitalistische Patriarchat gerade erst begonnen hat, aber mit Sicherheit wissen wir, dass die Genderrollen, Mann und Frau, Junge und Mädchen, etwas an sich haben, das die Menschen furchtbar unglücklich macht. Wir wissen das, weil das Geschlecht noch immer die wichtigste Sprache ist, in der wir existenzielle Krisen bereden.

Frauen sind deprimierter als Männer, ängstlicher als Männer, schlucken zweimal so viele Psychopharmaka und unternehmen dreimal so oft einen Selbstmordversuch wie Männer, die allerdings doppelt so häufig dabei sterben.13 Bei Männern bleibt ein emotionales und psychisches Trauma eher unbehandelt; ein Mann erträgt es schweigend im stillen Kämmerlein, bis plötzlich der Punkt erreicht ist, an dem das Herz es nicht mehr aushält und er schließlich die Gewalt gegen sich richtet, mit einem Seil, einem Messer oder Vaters Gewehr. Die meisten kulturellen Narrative, die sich mit der psychischen Gesundheit befassen, drehen sich heute um Genderfragen, und Forscher und Sozialtheoretiker erforschen, ob Männer oder Frauen größere Not leiden und wessen Schuld es wohl ist. Wer nun eigentlich abgefuckter ist, Jungs oder Mädchen, ist noch nicht ausgemacht, aber dass wir das unbedingt wissen wollen, offenbart doch zumindest eine Wahrheit: Mit dem Geschlecht hat es etwas auf sich, das zutiefst beunruhigt auf einer intimen Ebene, über die selten geredet wird. Rund um das Frausein und das Mannsein oder den Versuch, eine Frau oder ein Mann zu sein, herrscht im 21. Jahrhundert eine tiefe Verunsicherung, und sogar in den wenigen Räumen, in denen sie es dürfen, fällt es den Menschen schwer, darüber zu reden.

Haben wir etwa die natürliche Ordnung gestört?

Die unnatürliche Frau

Immer wenn Menschen verhindern wollen, dass sich die Welt allzu sehr verändert oder überhaupt verändert, behaupten sie, diese und jene Veränderung sei »unnatürlich«. Echte Gleichheit für Frauen am Arbeitsplatz ist »unnatürlich« – die Natur will, dass sich Frauen aus dem öffentlichen Leben ausklinken, wenn sie Kinder bekommen, und wenn sie keine Kinder bekommen, dann muss das unnatürlich sein. Ehrgeizige und unabhängige Frauen sind unnatürlich. Frauen, die aktiv sexuelles Verlangen äußern, sind unnatürlich. Frauen, die sich nicht für Männer hübsch machen, sind unnatürlich. Frauen, die Respekt und Sicherheit fordern, ohne hübsch und jung zu sein, sind unnatürlich. Abtreibung ist unnatürlich. Verhütung ist unnatürlich. Lust um der Lust willen ist unnatürlich.

Unnatürlich ist so gut wie alles, was Spaß macht.

Aber Vergewaltigung, ja, die ist natürlich. Männliche Gewalt gegen Frauen ist natürlich. Homophobie ist natürlich. Diskriminierung queerer Frauen, armer Frauen, dicker Frauen, hässlicher Frauen, Transgender-Frauen, Women of Colour und weiblicher Männer ist natürlich. Armut ist natürlich, vor allem, wenn die Armen männerlose Mütter mit kleinen Kindern sind. So ist die Welt nun einmal. Tod im Wochenbett ist natürlich. Dass Frauen für sexuelle Lust einen höheren Preis zu bezahlen haben, ist natürlich. Sexuelle Doppelmoral ist natürlich. Frauen haben seit Jahrhunderten weniger Freiheit und Macht, werden stärker ausgebeutet als Männer, und vielleicht gab es da kleine Fortschritte, aber mehr sollten wir nun wirklich nicht einfordern. Mehr einzufordern wäre unnatürlich. Schlampen sollten wissen, wo sie hingehören.

Die Frage ist selbstverständlich: Warum, zum Teufel, sollte irgendjemand natürlich sein wollen?

Seit fünfzig Jahren predigt das Patriarchat den Frauen, sie sollten wieder in die Küche gehen, erst mit echter Wut, dann in einem ironischen, scheinbar witzig gemeinten Krypto-Sexismus: Geh wieder in die Küche, und schmier uns ein Brot, Liebes. Die Männer, die so darauf aus sind, dass Frauen und Mädchen wieder in die Küche gehen, sollten sich mal überlegen, was wir da drin womöglich anzetteln könnten. In der Küche kann man sich ziemlich schlimme Sachen ausdenken. Da bewahren wir auch die Messer auf.

Die Wahrheit ist, dass daran, was es bedeutet, heutzutage ein Mann oder eine Frau zu sein, nichts »Natürliches« ist. Genderidentität ist performativ, und sie wird dargeboten, um Gewinn zu machen, sei es sozial, finanziell oder persönlich. Diese Darbietung ist eine Anpassungsstrategie, die hilft, sich in einem mehrheitlich feindlichen Gebiet zurechtzufinden. Nun müssen wir uns wieder anpassen. Und das ist Feminismus: Anpassung. Evolution.

Der Feminismus hat keine festen Regeln. Er will nicht den Männern Rechte wegnehmen, denn es gibt keine begrenzte Menge an Freiheit. Freiheit steht uns im Überfluss zur Verfügung, wenn wir den Mut haben, sie für alle zu ergreifen. Feminismus ist eine soziale Revolution und eine sexuelle Revolution, und Feminismus gibt sich keinesfalls mit der Missionarsstellung zufrieden. Im Feminismus geht es um Arbeit und um Liebe und um die Abhängigkeit des einen vom andern. Feminismus heißt, Fragen zu stellen und immer weiter Fragen zu stellen, auch wenn sie unbequem werden.

Ein Beispiel: Die Frage, ob Männer und Frauen für dieselbe Arbeit dasselbe Geld bekommen sollten, führt zu der Frage, was unter derselben Arbeit eigentlich zu verstehen ist, wo doch die Haus- und Fürsorgearbeit überwiegend ohne Bezahlung von Frauen verrichtet wird, oft neben einem Vollzeitjob. Die Antwort wirft gleich mehrere weitere Fragen auf, welche Arbeiten bezahlt und welche einfach aus Liebe und Pflichtgefühl getan werden sollten, und schon beginnt man das Wesen der Liebe zu hinterfragen, und an dieser Stelle wird es richtig ungemütlich.

Die Einengung der Frauen auf die häusliche Umgebung war nie nur ein Mittelschichtsphänomen. Doch schon die frühen Vertreterinnen des Feminismus der zweiten Welle, beginnend mit Betty Friedans Der Weiblichkeitswahn,14 befassten sich schwerpunktmäßig mit der Not der Ehefrau und Mutter in der Vorortsiedlung, ihrem Frust, ihren Neurosen und der Sehnsucht, dem endlosen Einerlei aus Abwasch, Abendeinladungen und Tratsch in die männliche Welt von Arbeit und Macht zu entfliehen, die ihr verschlossen war. Ihr Schmerz, die Qualen der bürgerlichen Hausfrau, die sich nach einem Bürojob sehnt, hat zwei Generationen lang das allgemeine Verständnis vom Sinn des Feminismus und den Wünschen der Frauen geprägt. Dass außerhalb der weißen Vororte Frauen immer für Geld arbeiten mussten, spielt in dieser zweckdienlichen Fiktion keine Rolle. Damit Frauen gleichberechtigt und zufrieden sind, müsse, so die Fiktion, allen Frauen eine bezahlte Arbeit zugestanden werden; ihren häuslichen Pflichten kämen sie natürlich weiterhin nach, ein anstrengendes Programm der Selbstverleugnung, für das wir heute den Begriff »alles haben« verwenden. »Alles haben« bedeutet Beruf, Kinder, einen Ehemann, eine anständige Föhnfrisur – und das war’s.

Auch die Arbeit selber wurde zur Frauenemanzipation umgemünzt. So unbefriedigend und schlecht bezahlt der Job auch sein mag: Wenn du einen hast, bist du frei, Baby. Wer schon einmal einen Tag lang richtig malocht hat, weiß, dass das eine gigantische Lüge ist. Dennoch wurde die Frauenemanzipation umdefiniert als die völlige Anpassung an die zeitgenössischen Weiblichkeitsnormen, eine Anpassung, die bestenfalls unendlich viel Arbeit und ständigen Frust mit sich bringt, gewiss aber kein Garant für Gesundheit und Glück ist, nicht einmal für die, die über die Mittel verfügen, diesen Weg zu gehen. Moderne Superfrauen sind dermaßen erschöpft und überdreht, dass sie mittlerweile dämliche kleine Muffins backen und in Fifties-Blümchenkleidern durchs Haus schweben, als brächte ihnen das die Zeit zurück, als die Frau noch einkaufte, kochte, Babys wickelte, und wenn sie Glück hatte und hübsch war, einen Mann dazu überreden konnte, das alles zu bezahlen. Je weiter wir uns davon entfernen, desto attraktiver wirkt diese Möglichkeit auf uns.

Die Vergangenheit ist ein fremdes Land: Dauernd erhebt jemand im Namen der einen oder anderen Ideologie Anspruch darauf, ohne Rücksicht auf die Menschen, die tatsächlich dort leben. Der jüngsten Geschichte bemächtigte man sich mit der Behauptung, frühere Frauengenerationen seien nicht frei gewesen, weil sie nicht gegen Bezahlung arbeiten durften. Das heutige Bild der 1950er Jahre zeigt Frauen, die an das Haus gekettet waren, an den Spülstein, den Jägerzaun, den Ehemann und die Kinder. Viele erschöpfte Frauen von heute fänden diesen vergoldeten Märchenkäfig wahrscheinlich sehr reizvoll: Den ganzen Tag lang im Haus herumwuseln und den Kindern beim Aufwachsen zusehen: Das hat ja wohl kaum weniger Würde, als Tag für Tag ins Büro zu schlappen und einen Job zu machen, der nicht einmal die Miete für eine Zweizimmerwohnung einbringt. Wenn der Feminismus uns nicht mehr gebracht hat als das Recht auf Lohnarbeit, so kommt durchaus zurecht das Gefühl auf, dass es mit der Emanzipation nicht weit her ist und dass die Frauen, die sich für den attraktiven Prinzen und die Hausfrauenrolle entschieden, vielleicht doch die richtige Wahl trafen.

Das derzeitige Konzept von Weiblichkeit ist eng mit Unternehmergeist und Wettbewerb verknüpft: Möchtegern-Sozialtheoretikerinnen wie Catherine Hakim sprechen völlig ohne Ironie vom »erotischen Kapital« der Frauen.15 Das ist abstoßend, denn damit wird laut und deutlich ausgesprochen, was uns Eltern, Lehrer und Freundinnen nur zuflüstern: Deine Weiblichkeit ist eine Marke, deine Erotik dein Aktienpaket, das du halten und zu Geld machen musst, wenn es am meisten wert ist. Deine Genderidentität, einer der intimsten Bereiche, die dich zu dem machen, was du bist, steht vollständig zum Verkauf. So erklärt sich auch, warum sich Frauen und besonders junge Frauen so gut auf die Anforderungen der sozialen Medien und der Kapitalisierung des sozialen Bereichs einstellen, die von ihnen erwarten, dass sie die Logik der Markenbildung auf ihr Leben anwenden, damit sie möglichst viele Anhänger und Freunde bekommen. Weiblichkeit soll für uns ein Teil unserer Marke sein, ein Brandzeichen, das uns schon bei der Geburt ins Fleisch gebrannt wurde.

Was wollt ihr wollen?

Das Mädchen in Grün in der letzten Reihe meldet sich seit einer Viertelstunde. Der Arm ist schon ganz lahm, und sie muss ihn mit der anderen Hand abstützen. Sie kann nicht älter als zwanzig sein. Sie hat das blassblonde flauschige Prinzessinnenhaar, das ich mir als Kind immer gewünscht habe und das man am liebsten anfassen würde, um zu fühlen, ob es wirklich so weich ist, wie es aussieht, Haar, das beim Rennen wie ein Schleier hinterherweht, das Haar eines Mädchens, von dem nicht erwartet wird, dass es irgendwo hinrennt. Wir sitzen in einem Vorlesungssaal einer deutschen Universität, denn man hat mich eingeladen, über Gender und Begehren zu reden, als hätte ich eine Ahnung davon.

Das Mädchen mit dem Prinzessinnenhaar hat den rosigen Teint, über den Männer sehnsüchtig schreiben, weil er gleichzeitig Jugend und Scham ausdrückt. Schriftsteller und Schriftstellerinnen beschreiben solche Mädchen ausführlich, ohne sich je die Mühe zu machen, sie anzuhören. Solche Mädchen sitzen in der letzten Reihe, warten, bis sie dran sind und ihre Frage stellen dürfen, und beschweren sich nicht, wenn sie nicht dran kommen. Sie aber kommt dran, und ihre Frage lautet:

»Was will ich?«

Ich bitte sie, die Frage noch einmal zu wiederholen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie recht verstanden habe.

»Meine Frage ist: Was will ich wirklich? Sie reden darüber, was Frauen wollen und was man ihnen sagt, dass sie wollen, als gebe es da einen Unterschied. Ich weiß, tief in mir, dass ich frei und unabhängig sein will. Aber ich will auch schön sein und einen Freund haben und es meinen Eltern recht machen und tun, was in den Zeitschriften steht. Woher weiß ich, ob ich das, was ich will, wirklich will? Und was sollte ich wollen?«

Ist das nicht die Frage? Was sollen wir wollen? Und was sollten wir wirklich wollen, als Mädchen, als Jungen, als Menschen, die um Identität und Macht ringen, wo man doch von uns erwartet, dass wir den von der Biologie sauber gezogenen Verhaltensrichtlinien folgen? Was wollen wir voneinander und von unserem Leben?

Begehren ist eine soziale Vorstellung. Ich musste erst aus dem offiziellen Teil meiner Jugend hinauswachsen, um überhaupt zu begreifen, was ich wollen will.

Ich kann euch sagen, was wir wollen sollen: schwere Arbeit, schale Schönheit und romantische Liebe, gefolgt von Geld, Ehe und Kindern: Diese Definition von völliger Freiheit hat Besitz von unserer Fantasie ergriffen und lässt keinen Raum für andere Lebensweisen. Aber was ist, wenn wir etwas anderes wollen? Ist das überhaupt noch erlaubt?

Was, wenn wir Freiheit wollen?

Meuterei in unserer Zeit?

Es kommt eine Zeit, da müssen wir entscheiden, ob wir uns ändern, um in die Geschichte zu passen, oder ob wir die Geschichte ändern. Es erleichtert die Entscheidung ein wenig, wenn wir begreifen, dass die Weigerung, das eigene Leben und die Persönlichkeit den Konturen einer ungerechten Welt anzupassen, der beste Weg zur Schaffung einer neuen ist.

Es kommt eine Zeit, da müssen wir entscheiden, was wir uns zu wollen erlauben.

Da wir gerade dabei sind: Ich will eine Meuterei. Ich will, dass Frauen und Queers und alle anderen, die unter den Gender-, Macht- und Eigentumsstrukturen leiden – und das sind die meisten von uns –, nicht weiter darauf warten, dass sie für ihr Wohlverhalten belohnt werden. Golddukaten sind nicht zu erwarten, und gute Jobs gibt es nur noch wenige. Selbst wenn wir die richtigen Kleider kaufen und unsere Arbeit gut machen und uns jeden Tag mit zusammengebissenen Zähnen dasselbe Lächeln aufs Gesicht zwingen, haben wir keine Garantie, dass man uns in Ruhe alt werden lässt, bis die Flut einsetzt.

Vergesst es. Es ist vorbei. Die soziale Revolution, die stockend durch das vergangene Jahrhundert stolperte, die feministische Gegenwehr, die sexuelle Revision, das Zerschlagen alter Normen zu Hautfarbe, Klasse und Geschlecht, diese soziale Revolution muss neu beginnen, diesmal mit uns allen, nicht nur mit den reichen Weißen, die sie am wenigsten brauchten. Deshalb muss es Meuterei sein.

Es muss Meuterei sein. Nur so geht es. Früher war ich nicht so kompromisslos. Ich ging wählen, unterschrieb Petitionen und plädierte für einen Wandel innerhalb des Systems. Ich blieb die ganze Nacht auf, als Obama gewählt wurde; ich jubelte den Liberaldemokraten in London zu. Ich dachte, wenn wir kleine Veränderungen einfordern – eine andere Haltung zur Körperbehaarung, ein leichtes Anheben des Mindestlohns, vielleicht die Schließung einiger Pornoläden und die Zulassung der Homo-Ehe –, dann würde man uns am Ende ein bisschen Freiheit geben, wenn es nicht zu viel Umstände machte.

Das war einmal. Wohlverhalten bringt uns nicht weiter. Die freundliche Bitte um Veränderungen bringt uns nicht weiter. Wir brauchen Meuterei. Eine Klassenmeuterei, eine Geschlechtermeuterei, eine Sexmeuterei, eine Liebesmeuterei. Es muss die Meuterei unserer Zeit sein.

Oft heißt es, wir sollen doch bitte Verständnis haben für die, die traditionell die Macht in unserer Gesellschaft innehaben – Männer, Weiße, Heterosexuelle, die Oberschicht – und die gnädig ein kleines bisschen ihrer Privilegien abgeben, winzige Fetzen, die wir anderen unter uns aufteilen sollen. Man erklärt uns, Gleichheit auf dem Papier, Gleichheit vor Gericht reichten aus, und das in einer Gesellschaft, deren Gesetze seit jeher ungerecht umgesetzt und ungleich durchgesetzt werden. Vor allem sagt man uns, es sei nun wirklich genug. Es könne keine bessere Welt geben als die, in der wir heute leben. Gleichheit, soziale Chancen, persönliche und sexuelle Freiheit seien ein Luxus, den sich die Gesellschaft nicht leisten könne. Aber das stimmt nicht. Freiheit kann nicht nur vor Gericht ausgehandelt werden. Die sexuelle Revolution ist nicht vorbei und erledigt, wie man es uns weismachen will. Der Feminismus ist hier nicht zu Ende. Er beginnt hier.

Vielleicht täusche ich mich ja auch. Vielleicht kann es wirklich nicht besser werden. Vielleicht war 1989 wirklich das Ende der Geschichte,16 und wir müssen uns mit dem Stand der Dinge abfinden. Vielleicht geben wir uns zufrieden damit, dass so viele Mädchen mit Angst und Missbrauch aufwachsen, dass so viele Frauen gezwungen sind, sich zu ritzen und sich zu zügeln, schön und still zu sein, bis die Männer keine Verwendung mehr für sie haben, dass sich so viele Männer und Jungs eine Kiste aus Gewalt und Trägheit bauen, in die sie ihren Schmerz und ihre Wut einsperren und deren Tür sie leise von innen verschließen. Vielleicht haben wir etwas in uns, dem es so lieber ist.

Folgendes schlage ich vor: Ich werde euch nicht sagen, wie ihr eine bessere Version derer sein könnt, die ihr schon seid. Ich werde euch nicht noch ein Regelwerk vorsetzen, das euch beibringt, euch zu benehmen, immer schön nachzugeben und das bravste Mädchen der Welt zu werden. Und ich schwöre euch, ich verspreche hoch und heilig, ich sage euch nicht, ob ihr euch das Schamhaar wegrasieren sollt, und ich beurteile euch nicht nach dem Zustand eurer Achseln. Mir ist eure Körperbehaarung scheißegal.

Dieses Buch gehört auch nicht zu der Flut der Ratgeber, die euch bei der Navigation durch die heimtückische Maschine des Patriarchats hilft, wo wir die Maschine doch zerstören und mit möglichst vielen Freunden die Fabrik verlassen müssen. Die Welt braucht keinen weiteren Leitfaden dafür, wie wir uns in Würde in eine Welt fügen, die uns in den Selbsthass treibt. Besonders Frauen und Mädchen brauchen keine weiteren Regeln dafür, wie sie leben, arbeiten, sich pflegen, lieben sollen. Es gibt schon zu viele Regeln, und oft widersprechen sie einander. Seit meinem fünften Lebensjahr lese ich neben Bergen feministischer Theorie auch die rosaroten Ratgeber, und trotzdem habe ich keine Ahnung, wie ein braves Mädchen aus mir werden soll, und wenn ich es wüsste, würde ich es euch nicht sagen.

Ich will euch nicht vorgeben, wie ihr Feministinnen werdet oder ob ihr überhaupt welche werden sollt. Ich bezeichne mich als Feministin, um Leute ins Bett zu kriegen und mir in der Bar die Widerlinge vom Hals zu halten, aber Feminismus ist keine Identität. Feminismus ist ein Prozess. Nennt euch, wie ihr wollt. Wichtig ist, wofür ihr kämpft. Fangt jetzt an.

1

Abgefuckte Mädchen

»Sie werden mich lieben für das, was mich zerstört.«

Sarah Kane, 4.48 Psychose

Der Teppich hat die Farbe von Rotz und stinkt nach Bleiche. Ich weiß das, weil ich mein Gesicht hineinpresse. Ich liege reglos da, damit mich die Krankenschwestern nicht finden, auf dem schaurig schnodderfarbigen Boden, aus dem der Schmutz menschlicher Schädel herausgeschrubbt wurde, bis in die tiefste Faser, wie überall auf der Station. Kein Staubkrümel, kein Fettfleck ist in diesem Krankenhaus erlaubt, in dem sogar die Freundlichkeit klinisch rein ist und mich erstickt wie eine desinfizierte Zudecke. Ich bin siebzehn Jahre alt und verstecke mich unter dem Bett.

Es ist das Jahr 2004, und ich müsste mich in der Schule auf meine Prüfungen vorbereiten. Stattdessen bin ich auf einer psychiatrischen Station für Menschen mit lebensbedrohlicher Magersucht und verwende meine gesamte Energie darauf, mich immer wieder vor den Krankenschwestern zu verstecken, die Tag und Nacht alle zehn Minuten vorbeikommen und nachsehen, ob wir unser Proteinpulver ausgekotzt oder eine CD zerbrochen und mit den Splittern wütende Worte tief, sehr tief in das Fleisch unseres Unterarms geritzt haben. Beides ist in den vergangenen Wochen vorgekommen. Ich weiß es noch, weil das mit dem Ritzen meine Zimmergenossin war und sie meine Sleater-Kinney-CD dafür benutzt hat. Ich habe nichts so Groteskes vor. Ich will nur mehr als zehn Minuten am Stück allein sein mit meinem Notizbuch, allein mit meinen Gedanken, irgendwo, wo mich niemand ansehen kann.

So liege ich zitternd unter dem Bett. Auf meinem Rücken wächst ein feiner weicher Flaum; das geschieht, wenn du in einem kalten Land lebst und gefährliches Untergewicht hast. Der Körper versucht sich auf jede erdenkliche Weise warm zu halten. Deshalb kauerst du, hemmungslos schlotternd, an einer Heizung und bemühst dich erfolglos, gegen die Kälte anzukommen, die dir mit eiskalten Fingern in die Knochen stochert. Deine Persönlichkeit rinnt davon. Du bist zu einer Kreatur geworden, die hungert, scheißt, kotzt und zittert, und das war’s auch schon. Du kannst nicht klar denken. Dein Äußeres verschreckt deine Freunde und deine Familie. Wegen des Nährstoffmangels treibt dich nur noch das Adrenalin an, du wirst zu einem primitiven Ding, das, ohne es zu wollen, jeder Art von Nahrung nachjagt, Mülleimer durchwühlt, sich mit den Händen Müsli in den Mund stopft, um es gleich darauf in Panik wieder zu erbrechen. Du bist ein Häuflein Elend. Die Haare werden dünn und fallen aus. Du machst zwanghaft Sit-ups und Liegestütze, rennst mehrere Kilometer am Tag, obwohl du nicht mehr als ein paar Löffel dünnen Haferschleim im Magen hast.

Du machst das nicht um der Schönheit willen. Du weißt, du siehst grauenhaft aus. Du tust es, weil du verschwinden willst. Du willst nicht mehr angeschaut werden. Du bist es leid, angesehen und beurteilt und für mangelhaft befunden zu werden. Du willst nicht erwachsen werden, fülliger werden, dich auf gesunde und positive Weise auf Sex einlassen. Vor allem bist du es leid, beobachtet zu werden. Du hast das dir Mögliche getan, artig zu sein, und trotzdem hast du versagt, und nun bist du eins dieser abgefuckten weißen Mädchen, die den Bach runtergehen.