Unser letzter Tag - Stefan Suchanka - E-Book

Unser letzter Tag E-Book

Stefan Suchanka

0,0
7,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Würdest du heute dein Leben ändern, wenn es kein Morgen mehr gäbe? Sieben sehr verschiedene Menschen müssen sich dieser Frage stellen. Jeder für sich, und doch gemeinsam. Denn sie sind miteinander verbunden – ob sie es wollen, oder nicht. Durch einen gemeinsamen Freund. Eine persönliche Entscheidung. Einen letzten Tag. "Ein satirisch-philosophischer Roman, der mit Sprachwitz, melancholischem Humor und feinsinnigen Pointen die Leserinnen und Leser quer durch Köln und durch den Garten menschlicher Irrungen führt."

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Buch:

Wür­dest du heu­te dein Le­ben än­dern, wenn es kein Mor­gen mehr gä­be?

Sie­ben sehr ver­schie­de­ne Men­schen müs­sen sich die­ser Fra­ge stel­len. Je­der für sich, und doch ge­mein­sam. Denn sie sind mit­ein­an­der ver­bun­den – ob sie es wol­len, oder nicht.

Durch ei­nen ge­mein­sa­men Freund. Ei­ne per­sön­li­che Ent­schei­dung. Ei­nen letz­ten Tag.

Zum Au­tor:

Als Co­py­wri­ter ist Ste­fan Suchan­ka je­den Tag be­ruf­lich auf der Tas­ta­tur un­ter­wegs und be­treibt werb­li­ches Sto­ry­tel­ling. Pri­vat schreibt er am liebs­ten Tex­te, die sich in der Schnitt­men­ge von Phi­lo­so­phie, Sa­ti­re und Ko­mö­die tum­meln. An­fangs hat er sich im Self­pu­blis­hing aus­pro­biert, jetzt hat er im Kirsch­buch Ver­lag mit sei­nem Ro­man

Stefan Suchanka

 

 

 

Unser letzter Tag

 

 

 

Im­pres­s­um Ver­öf­fent­licht im Kirsch­buch Ver­lag,ein Im­print der Qua­li­Fic­ti­on GmbHNeß 1, 20457 Ham­burgMai 2021Co­py­right © 2020by Qua­li­Fic­ti­on GmbH, Ham­burgUm­schlag­ge­stal­tung: Qua­li­Fic­ti­on GmbHSatz: Qua­li­Fic­ti­on GmbHISBN 9783948736156

 

Für gro­ße Zie­le und man­cher­lei Um­we­ge. Für al­le fal­schen Ent­schei­dun­gen

Pro­log

 

Der Fern­se­her lief und form­te zit­tern­de Sche­men auf die wei­ße Rau­fa­ser­ta­pe­te und die zu­ge­zo­ge­nen Bam­bus­ja­lousi­en. Er hat­te die Laut­stär­ke so weit her­un­ter­ge­dreht, dass nur noch ein Flüs­tern bei ihm an­kam, so ei­ne Art von Flüs­tern, bei dem der Sinn der Wort­fet­zen un­ver­ständ­lich blieb, das aber den­noch die durch­sich­ti­ge Il­lu­si­on er­schuf, dass man nicht al­lein war.

Lud­wig brauch­te nicht zu hö­ren, um zu wis­sen, wor­um es ging. Es ging seit zwei Stun­den um das glei­che The­ma, und es wür­de bis zum end­gül­ti­gen Sen­de­schluss in 13 Stun­den und 43 Mi­nu­ten auch kein an­de­res The­ma mehr ge­ben. Die The­men wa­ren auf­ge­braucht.

Er fal­te­te die Lis­te, die er säu­ber­lich mit ei­nem Blei­stift ge­schrie­ben hat­te, zu­sam­men, und steck­te sie mit eben die­sem Blei­stift der Här­te HB in die Brust­ta­sche sei­nes blü­ten­wei­ßen Maß­hem­des. Lud­wig war im­mer ein sehr struk­tu­rier­ter Mann ge­we­sen, und der letz­te Tag woll­te be­son­ders ge­nau struk­tu­riert sein.

Der letz­te Tag auf Er­den, der Tag vor dem Un­ter­gang, vor Ar­ma­ged­don, vor der Göt­ter­däm­me­rung. Wie the­a­tra­lisch das doch klang.

Jetzt, da al­les ein En­de fand, woll­te er sei­ne spe­zi­el­len Freun­de noch ein­mal se­hen, ein letz­ter Be­such am Tag oh­ne Mor­gen. Er stand auf und schnips­te den Fern­se­her aus. Nicht, dass ihn der Strom­ver­brauch in­ter­es­sier­te, der hät­te ihn auch nicht in­ter­es­siert, wenn der Pla­net Er­de in 13 Stun­den und 42 Mi­nu­ten noch be­wohn­bar sein wür­de. Er mach­te ihn eben­falls nicht we­gen ir­gend­wel­cher Rou­ti­nen oder stump­fer Ge­wohn­hei­ten aus.

Ge­wohn­hei­ten be­deu­te­ten in sei­nen Au­gen Faul­heit. Lud­wig han­del­te stets aus ei­nem Grund.

Den Fern­se­her hat­te er aus­ge­macht, weil jetzt des­sen Not­wen­dig­keit en­de­te. Und die­ses Mal für im­mer.

Er ging durch die Woh­nung, strich noch ein­mal über sei­nen un­be­han­del­ten Ma­ha­go­nisch­reib­tisch, leg­te sein schwar­zes Sak­ko über, schal­te­te das Licht aus und schloss dop­pelt hin­ter sich ab. Auch das tat er nicht, um sei­ne Ha­be zu be­schüt­zen, die konn­te oh­ne­hin nicht mehr be­schützt wer­den. Er schloss ab, um die­sen Ab­schnitt wirk­lich ab­zu­schlie­ßen. Die­ses Ka­pi­tel war be­en­det.

Er schloss sein Le­ben hier, in die­sem Ap­par­te­ment, in die­sem Wohn­block, die­ser Stadt, ge­nau­so ab, wie der As­te­ro­id, der nun un­auf­halt­sam auf sei­ner Ziel­ge­ra­den war, das Le­ben der knapp acht Mil­li­ar­den Men­schen auf dem Pla­ne­ten Er­de ab­schlie­ßen wür­de.

1  Hoch­mut

Laris­sa Weiß stand mit of­fe­nem Mund vor dem Fern­se­her.

» … muss ich Ih­nen schwe­ren Her­zens mit­tei­len, dass, ent­ge­gen der Mel­dun­gen vor drei Ta­gen, auch der drit­te und letz­te Ver­such der NA­SA, den As­te­roi­den Per­se­pho­ne mit Atom­waf­fen ab­zu­len­ken, fehl­ge­schla­gen ist …«

Das konn­te nicht sein!

Sie war wie­der fünf Jah­re alt, stand vor ihrem Va­ter, der sie scholt, der ihr er­klär­te, wie man, ver­dammt noch­mal, das Ein­mal­eins rech­ne­te. Sie hat­te kei­ne Bei­ne, kei­ne Ar­me, kei­nen Kopf, nur Au­gen, die auf­ge­ris­sen blie­ben, blei­ben muss­ten, und ei­nen Mund, der sich eben­so we­nig schlie­ßen ließ, wie sie fä­hig war, sie­ben mal sie­ben zu rech­nen. Ge­nau­so we­nig, wie sie sa­gen konn­te, was acht mal neun war und vier mal sechs und all die an­de­ren stak­ka­toar­ti­gen Fra­gen, die wie Ge­wehr­sal­ven auf sie ein­ge­pras­selt wa­ren. Fra­gen, die sie doch nicht hat­te beant­wor­ten kön­nen.

»Heu­te Abend, um 20:12 Uhr deut­scher Zeit, kommt Per­se­pho­ne zwi­schen Asi­en und Aus­tra­li­en auf. Es tut mir leid. Gott schüt­ze uns al­le.«

Ihr of­fe­ner Mund wuchs zu ei­ner un­gläu­bi­gen Frat­ze. Hat­te der Bun­des­prä­si­dent ge­ra­de ge­sagt, dass ir­gend­ein Gott sie schüt­zen wür­de? Wie konn­te man sei­ne Schöp­fung schlech­ter schüt­zen, als zu­zu­las­sen, dass ein rie­si­ger Fels­bro­cken Tod und Feu­er brin­gen wür­de?

Im nächs­ten Be­richt ging es um Kim-Jong-Un, der sag­te, dass »… der As­te­ro­id die See­le des un­sterb­li­chen Vor­sit­zen­den Kim-Jong-Sung ist, der end­lich wie­der heim­kommt. Das nord­ko­re­a­ni­sche Volk freut sich, wie­der mit ihm ver­eint zu sein und weint kei­ne Trä­nen, au­ßer Trä­nen der un­er­mess­li­chen Freu­de und …«

Sie riss sich zu­sam­men, wie sie sich im­mer zu­sam­men­ge­ris­sen hat­te, und schal­te­te den Fern­se­her aus. Die Pro­mi­news wür­den heu­te oh­ne­hin aus­fal­len.

La­ris­sa ging lang­sam und um Fas­sung be­müht in ih­re Kü­che zu­rück, zog den Apo­the­ker­schrank her­aus und nahm ei­nen Schluck Quell­was­ser aus den Al­pen, nicht ge­kühlt.

Ih­re rech­te Hand woll­te zit­tern, ihr Au­gen­win­kel woll­te zu­cken, doch sie hat­te sich un­ter Kon­trol­le. Die gan­ze Welt war au­ßer Rand und Band, schon im­mer, doch heu­te glich sie ei­nem Vul­kan. Sie, we­nigs­tens sie, wuss­te, wie man sich ver­hielt. Wie man in sich selbst Ru­he und Ord­nung be­wahr­te.

Vor­sich­tig hol­te sie die schwe­re Glas­kan­ne mit der Ha­fer­milch aus dem Kühl­schrank, der die Ener­gie­klas­se AAA+ auf­wies, und schüt­te­te ei­nen Schwall davon auf das Bio-Ama­ranth-Müs­li, das sie sich im In­ter­net nach ihren ganz per­sön­li­chen Kör­ner­wün­schen zu­sam­men­ge­klickt hat­te.

»Ein gu­ter Tag be­ginnt mit ei­nem gu­ten Früh­stück«, mur­mel­te sie. Ver­dammt, wen woll­te La­ris­sa ei­gent­lich ver­ar­schen?

Sie setz­te sich an ih­re The­ke auf ei­nen der drei Bar­ho­cker. Auf ei­nem der frei­en Ho­cker hat­te zu­letzt vor gut ei­nem Jahr ein an­de­rer Mensch ge­ses­sen. Wann al­le drei das letz­te Mal be­setzt ge­we­sen wa­ren, das wuss­te sie nicht mehr. Viel­leicht an ihrem Drei­ßigs­ten?

»Mein Gott«, flüs­ter­te sie, und ih­re Hand mit dem Müs­lilöf­fel blieb ein­ge­ros­tet über der Schüs­sel hän­gen. Das ist auch schon fünf Jah­re her. Alex­an­der hat­te zu­letzt dort ge­ses­sen, auf sei­nem Platz, dem Platz ne­ben ihr.

Alex­an­der.

Die­ser ein­ge­bil­de­te Kerl, der ihr nie et­was ge­gönnt hat­te, der sie nie zu schät­zen ge­wusst hat­te, nie ganz.

La­ris­sa zwang sich zum Es­sen, kau­te auf knusp­ri­gem Buch­wei­zen her­um, oh­ne wirk­lich et­was zu schme­cken, nahm ihr iPho­ne und sah auf die Uhr. 8:01. Noch über ei­nen hal­b­en Tag Zeit.

Ein hal­ber Tag, und sie wuss­te nicht, wen sie an­ru­fen soll­te. Je­den­falls nicht Alex­an­der, so viel war klar.

Sie ging ih­re letz­ten An­ru­fe durch: Ganz oben Ky­ra, ih­re Lieb­lings­kli­en­tin, die in Wahr­heit be­stimmt Ki­ra hieß, was La­ris­sa aber nie und nim­mer laut aus­ge­spro­chen hät­te. Ky­ra wür­de sich ei­ne Na­se Koks nach der nächs­ten zie­hen und to­tal ab­spacen.

Herr Go­de­hard, ge­nannt Got­ti, der Haus­meis­ter ih­rer Ga­le­rie.

Mon­to­si, der Pfle­ger ihres Va­ters. Sie woll­te ihren Va­ter nicht an­ru­fen, ob­wohl sie ihm so viel zu ver­dan­ken hat­te.

Erst sei­ne Ver­ach­tung hat­te sie mo­ti­viert, es al­len an­de­ren zu zei­gen, es ihm zu zei­gen. Sei­ne Ver­ach­tung, weil sie ein Mäd­chen ge­wor­den war. Sei­ne Selbst­ver­ach­tung, weil er nur ein arm­se­li­ger, klei­ner Wurm von ei­nem Ma­ler ge­we­sen und es im­mer ge­blie­ben war, bis ihn die par­kin­son­sche Krank­heit in den Roll­stuhl ver­frach­tet und das letz­te Quänt­chen Kön­nen aus sei­nen aus­ge­laug­ten Fin­gern ge­saugt hat­te.

Sie hat­te ihm ei­ni­ges zu ver­dan­ken, zwei­fel­los. Ihm und Lud­wig.

Ko­misch. La­ris­sa hat­te ewig nicht an Lud­wig ge­dacht. Sie hat­te ihn als selt­sa­men Jun­gen aus der Nach­bar­schaft ken­nen­ge­lernt, der auf die ka­tho­li­sche Schu­le ge­gan­gen war, ei­ne Stu­fe über ihr, der ihr ge­zeigt hat­te, wie man selbst­si­cher auf­trat, wie man den an­de­ren un­miss­ver­ständ­lich klar mach­te, dass man klü­ger, schö­ner, schlicht und ein­fach bes­ser war als sie. Be­saß sie sei­ne Num­mer noch?

Sie such­te nach L, und es er­schien nur ei­ne Rei­he von Lie­fer­ser­vices für Piz­za, Ve­ggie-Bowls, Su­shi und Blu­men.

Hat­te sie Lud­wigs Num­mer je be­ses­sen?

Es klin­gel­te an der Tür.

Sie stand me­cha­nisch auf, oh­ne sich zu fra­gen, wer an die­sem Tag, zu die­ser Uhr­zeit an ih­rer Haus­tür ste­hen könn­te. Eben­so au­to­ma­tisch be­trach­te­te sie sich im Wand­spie­gel und lä­chel­te. Per­fekt, der Lids­trich de­zent, der ro­te Po­ny wie mit dem Li­ne­al ge­zo­gen, das schwar­ze Ge­wand floss.

»Ja?«, sag­te sie wohlm­odu­liert in den Spre­cher.

»Hal­lo«, rief es fröh­lich knis­ternd aus der An­la­ge. »Ich bin’s, Lud­wig! Kann ich rein­kom­men?«

»Lud­wig?« Sie hat­te das Ge­fühl, sich hin­set­zen zu müs­sen. »Was für ein Zu­fall, ich …«

»Kann ich rein­kom­men?«

»Si­cher!« Sie drück­te den Sum­mer und lehn­te die Tür ei­nen Spalt­breit an.

Lud­wig kam freu­de­strah­lend durch die Tür ge­schos­sen. Sie hat­te ihn ewig nicht ge­se­hen, viel­leicht eben­falls seit ihrem drei­ßigs­ten Ge­burts­tag?

Er um­arm­te sie stür­misch. »La­ris­sa, wie schön, dich noch ein­mal zu se­hen!«

La­ris­sa ließ es ge­sche­hen, ob­wohl sie ei­gent­lich kein Um­arm­typ war. Auch kein Küss­chen-links-Küss­chen-rechts-Typ, aber das hat­te sie sich an­eig­nen müs­sen, seit­dem sie die Kunst­ga­le­rie be­saß. Das ge­hör­te zur Job­be­schrei­bung.

Sie deu­te­te auf die wei­ße Couch, die zur Hälf­te auf dem wei­ßen Flo­ka­ti-Tep­pich stand. Er knöpf­te sein schwar­zes Ja­ckett – Boss, wenn sie nicht al­les täusch­te – auf und setz­te sich so breit­bei­nig hin, wie es ge­ra­de noch an­stän­dig war. Lud­wig ström­te so ei­ne Si­cher­heit, so ein ro­hes Da­sein aus, schon als Jun­ge war das so ge­we­sen. Jetzt war er der In­be­griff von Männ­lich­keit, wenn es so et­was über­haupt gab.

Trotz­dem hat­te sie seit je­her ei­ne selt­sa­me Di­stanz zu ihm ge­spürt, sich zu­gleich an­ge­zo­gen und ab­ge­sto­ßen ge­fühlt. Sie setz­te sich auf das So­fa, ihm ge­gen­über. Zwi­schen ih­nen stand ei­ne De­si­gner­blu­men­va­se, die ein­mal in der Wo­che von Er­ne­stos Blu­men­ser­vice mit ei­ner neu­en, un­end­lich raf­fi­nier­ten Kre­a­ti­on be­stückt wur­de. Ei­gent­lich wä­re es mor­gen wie­der an der Zeit ge­we­sen, aber dies war Er­ne­stos letz­tes Kunst­werk, und es hat­te sei­ne bes­te Zeit be­reits hin­ter sich. Ver­trock­nen­de Stän­gel hiel­ten sich mit letz­ter Kraft in schlaf­fen Trom­pe­ten­blü­ten und lie­ßen ein fei­nes, vi­o­let­tes Pul­ver auf den Glas­tisch rie­seln, wäh­rend sie ihr letz­tes Quänt­chen Duft aus­at­me­ten.

»Wie kom­me ich zu der Eh­re?«, frag­te sie mit ei­nem klei­nen süf­fi­san­ten Lä­cheln auf den Lip­pen, dem sie, so hoff­te sie, ei­nen Hauch Ero­tik bei­ge­sellt hat­te.

Lud­wig lä­chel­te mit ge­nau der glei­chen Pri­se zu­rück, sie hat­te al­so ins Schwar­ze ge­trof­fen. Er räus­per­te sich.

»Ich dach­te mir, wenn jetzt al­les vor­bei ist, dann be­su­che ich mei­ne al­ten Freun­de noch mal.«

»Alt?«, frag­te sie und lach­te. Als sie merk­te, dass die­ses La­chen nicht be­frei­end war, son­dern mehr als ein Hauch Weh­mut, gar Ver­zweif­lung, in ihm lag, ließ sie es er­sti­cken.

»Nein, La­ris­sa, du bist nicht alt, aber un­se­re Freund­schaft ist es«, sag­te er und brei­te­te sei­ne Ar­me auf der Rü­cken­leh­ne aus. »Ich woll­te nur ein we­nig in Er­in­ne­run­gen schwel­gen«, er­klär­te er. Da war auch ei­ne ge­hö­ri­ge Por­ti­on Weh­mut in sei­ner Stim­me. »Was soll man auch sonst tun, wenn kei­ne Zu­kunft mehr bleibt?«

»Ei­ne Par­ty ver­an­stal­ten?«

Lud­wig lach­te schal­lend.

»Ich wür­de ja ger­ne ei­ne Par­ty schmei­ßen, aber wenn ich nicht mit all mei­nen Freun­den fei­ern kann, be­las­se ich es lie­ber bei Be­su­chen. Al­lein we­gen dir und Alex­an­der wür­de das nichts wer­den.« Er schüt­tel­te den Kopf und seufz­te. »Nicht, dass ich es nicht ver­ste­he. Er hat­te dich nicht ver­dient, und je­der weiß es.«

»Je­der?«

»Je­der. Er hat­te nicht ge­nug … Wie sagt man? Co­jo­nes?«

Selt­sam, das jetzt von ihm zu hö­ren.

»Und ich?«, frag­te sie.

Lud­wig grins­te ver­schmitzt und ließ den Kopf zu­rück­fal­len.

»Du hast Co­jo­nes wie nie­mand sonst. Das ha­be ich di­rekt ge­merkt, schon bei un­se­rer ers­ten Be­geg­nung.«

»Im Sand­kas­ten«, mur­mel­te sie und er­in­ner­te sich an das Ge­fühl von fei­nem Sand un­ter ihren Fü­ßen. Sie fühl­te sich, als wür­de sie ei­nen Zen­time­ter tief dar­in ver­sin­ken.

Sie hat­te in Brühl ge­wohnt, ei­nem Nest, das in Spuck­wei­te von Köln lag, aber eben nicht Köln war. Sie hat­ten al­le dort ge­wohnt.

 

La­ris­sa saß im Sand­kas­ten und wein­te nicht. Sie schaff­te es mit über­mensch­li­cher An­stren­gung, die ko­chend hei­ßen Trä­nen drin­zu­be­hal­ten. Pe­ter Mit­sch­lik stol­zier­te um sie her­um und be­warf sie mit Sand. Im­mer und im­mer wie­der.

»Hör auf!«, schrie sie, be­bend vor Wut und der na­gen­den Ge­wiss­heit, dass sie nichts tun konn­te, um Pe­ter davon ab­zu­hal­ten, sie wei­ter mit Sand zu be­wer­fen oder mit Dreck oder Hun­de­schei­ße oder sonst ein­fach al­les zu tun, wor­auf er Lust hat­te.

»Hör auf!«

»Du muss­test ja pet­zen, du blö­de Kuh!«, brüll­te er und warf noch ei­ne Hand Sand nach ihr. Sie krab­bel­te auf al­len Vie­ren auf ihn zu, woll­te auf­ste­hen, woll­te aus dem Kas­ten hin­aus, doch im­mer, wenn sie den Rand er­reicht hat­te, schubs­te er sie wie­der hin­ein. Er lach­te, grunz­te wie das Schwein, das er war, wie das mie­se Schwein, das er war.

»Du hast mei­ne Haus­auf­ga­ben ge­klaut!«, rief sie zur Ver­tei­di­gung, aber für Pe­ter schien das kei­ne Ver­tei­di­gung zu sein.

»Ja, und? Schei­ße, da muss man auch mal den Mund hal­ten, du Pet­ze! Das hät­te doch kei­ner ge­merkt! Kei­ner!«

Er warf noch ei­ne Hand­voll, und dies­mal war ein klei­ner Stein da­bei. Ro­ter Schmerz ex­plo­dier­te auf ih­rer Stirn.

»Hey, lass das!«, rief ei­ne un­be­kann­te Stim­me. Sie sah ei­nen Jun­gen, grö­ßer als Pe­ter, der ihn selbst­si­cher bei­sei­ten­ahm und mit ihm sprach.

Pe­ter lief weg. Er floh nicht, aber er lief.

»Er ist weg«, sag­te der Jun­ge und lä­chel­te sie aus grü­nen leuch­ten­den Au­gen an. Er reich­te ihr die Hand und zog sie in die Hö­he. »Oh, dein Kopf«, sag­te er und kram­te in sei­ner Jeans.

»Wer bist du?«, stam­mel­te sie.

»Lud­wig, sehr er­freut!« Er mach­te ei­nen Knicks. »Und du bist?«

»La­ris­sa Weiß.«

Er hat­te ein Wund­pflas­ter mit Ele­fan­ten dar­auf her­vor­ge­kramt, das groß ge­nug für ih­re Wun­de zu sein schien, und kleb­te es un­ge­fragt auf ih­re Stirn.

»Mei­ne Mut­ter gibt mir im­mer eins mit. Jungs spie­len so wild, sagt sie im­mer.« Er lach­te.

»Was hast du ihm ge­sagt?« Sie nick­te in Rich­tung der Ein­bahn­stra­ße, in der Pe­ter ver­schwun­den war, die, wie al­le Stra­ßen hier, nach ei­nem Vo­gel be­nannt war. »Und wie­so ist er ab­ge­hau­en?«

Lud­wig mach­te ei­ne ab­fäl­li­ge Hand­be­we­gung in die Rich­tung, in die Pe­ter ge­flüch­tet war, und grunz­te lei­se und schein­bar un­will­kür­lich. »Ach, ich hab ihm nur ge­sagt, dass er Pro­ble­me mit mir be­kommt, wenn er den Scheiß nicht sein lässt, und dann hat er Schiss be­kom­men. Sol­che Ker­le sind im­mer gleich.«

Er führ­te sie zum Rand des Spiel­plat­zes und setz­te sich auf die hüft­ho­he Hol­zum­ran­dung, die den hin­te­ren Teil des Plat­zes von ei­nem ver­wahr­los­ten Ge­büsch ab­grenz­te. Sie setz­te sich ne­ben ihn.

»La­ris­sa«, sag­te er ernst. »War­um hat er dich ge­är­gert?«

»Sag ich dir nicht …«

Lud­wig gab ihr ei­nen Schlag auf die Schul­ter, wie es die Jungs mach­ten, was man, so glaub­te sie, Kum­pel­schlag nann­te. Sie wuss­te nicht, ob sie sich ge­ehrt füh­len soll­te, al­so fühl­te sie nichts.

»Du schul­dest es mir«, in­sis­tier­te er. »Oder soll ich ihn zu­rück­ho­len?« Er tat so, als woll­te er auf­sprin­gen. Sie er­griff sei­ne Hand. Er fühl­te sich warm an, als hät­te er Fie­ber. »Bleib …«

Er blieb und sah sie vol­ler In­ter­es­se an.

»Pe­ter hat mei­ne Ma­the­haus­auf­ga­ben in der Pau­se ge­klaut und ab­ge­schrie­ben. Ich ha­be das dem Leh­rer ge­sagt.«

»Du bist al­so ei­ne Pet­ze?«, frag­te er und hob die Au­gen­brau­en.

»Nein! Er hat ge­stoh­len. Weil er zu dumm ist, um selbst sei­ne Haus­auf­ga­ben zu ma­chen!«

Lud­wig lach­te und gab ihr noch ei­nen Kum­pel­schlag. Es war wohl tat­säch­lich so et­was wie ei­ne Eh­re. Sie lä­chel­te zag­haft.

»Gut ge­sagt, La­ris­sa! So viel ist in Pe­ters Bir­ne wohl nicht drin.«

»Bei al­len nicht«, sag­te sie, mehr zu sich selbst.

»Ach?«

»Ja«, sag­te sie. Sie woll­te nicht über­heb­lich klin­gen, wirk­lich nicht, aber sie hat­te sich nicht nur das Ein­mal­eins in ei­nem Meer aus Trä­nen an­ge­eig­net. Es gab da nichts zu dis­ku­tie­ren: Sie war die Bes­te in ih­rer Klas­se.

Lud­wig schnaub­te.

»Ich weiß, was du meinst. Ich bin aus dem Sü­den hier­her­ge­zo­gen, und hier sind al­le Kin­der dumm. Je­den­falls fast al­le.« Er grins­te sie an. »Schlau zu sein ist kein Ver­bre­chen, La­ris­sa. Dumm­heit ist ein Ver­bre­chen. Lass dir nie et­was an­de­res sa­gen.«

Mit die­sen Wor­ten sprang er auf und mach­te er­neut ei­ne Ver­beu­gung. »Macht es gut, hol­de La­ris­sa von Weiß.«

»Wie heißt du? Lud­wig …«

»Ge­nau.« Er ver­schwand schnel­len Schritts. Oh­ne ihr sei­nen Nach­na­men zu nen­nen.

 

Bis heu­te. »Lud­wig. Wie heißt du rich­tig?«

»Ist das jetzt noch wich­tig?«, frag­te er und wisch­te ei­ne der tro­cke­nen Ro­sen bei­sei­te, die sei­ne Sicht auf ihr ge­al­ter­tes Ge­sicht er­schwer­ten. Er sah die Äder­chen in ihren Au­gen­li­dern, die sie von Jahr zu Jahr mit di­cke­rer und oh­ne Zwei­fel teu­re­rer Schmin­ke zu über­tün­chen ver­such­te, sah die fei­nen Fal­ten, die sie da­durch an­ge­häuft hat­te, dass sie un­zäh­li­ge Mo­men­te des Lä­chelns und des La­chens ge­fälscht hat­te, sah den schwam­mi­ger wer­den­den Hals.

Er hat­te ein per­fek­tes Ge­dächt­nis, er konn­te sich noch ge­nau an ih­re ers­te Be­geg­nung er­in­nern, ge­nau an ihr Ge­sicht und den Aus­druck voll­stän­di­ger Macht­lo­sig­keit in ihren Au­gen, die bis kurz vor dem Über­lau­fen mit Trä­nen ge­füllt ge­we­sen wa­ren, die aber nicht hat­ten flie­ßen sol­len – das hat­te sie ihrem Pei­ni­ger nicht gön­nen wol­len. Al­les, nur das nicht. Ihm hat­te das im­po­niert, und es hat­te schon da­mals we­nig ge­ge­ben, das ihm im­po­nie­ren konn­te.

Und er er­in­ner­te sich an die ers­te Lü­ge, die er ihr er­zählt hat­te: »Ach, ich hab ihm nur ge­sagt, dass er Pro­ble­me mit mir be­kommt, wenn er den Scheiß nicht sein lässt.«

Die ers­te Lü­ge.

Al­le Be­zie­hun­gen, die er hat­te, al­le Freun­de, die er schätz­te, al­le Fein­de, die er pfleg­te, wa­ren mit der ers­ten Lü­ge erst span­nend ge­wor­den.

Das war im­mer ein magi­scher Mo­ment, der Mo­ment, wenn al­les ent­we­der be­gann oder en­de­te. Mit La­ris­sa hat­te es da­mals be­gon­nen, und es wür­de erst heu­te um 20:12 Uhr ein En­de fin­den, wenn al­les ein En­de fand.

Er lä­chel­te und schüt­tel­te den Kopf. »Mein Nach­na­me al­so? War­um das denn jetzt? Du willst mir kei­ne Post­kar­te schrei­ben, und du brauchst kein Ge­schäfts­es­sen mit mir von der Steu­er ab­zu­set­zen.«

»Ich will wis­sen, wer du bist«, sag­te sie und stand auf. Sie hol­te ei­ne Fla­sche Mon­te­pul­cia­no her­vor und stell­te zwei dick­bäu­chi­ge Glä­ser auf den Tisch. Sie war er­schre­ckend ge­übt mit dem Fla­schen­öff­ner.

La­ris­sa frag­te nicht, ob er auch et­was trin­ken woll­te, goss sich und ihm ein. Sie nahm drei vor­nehm lei­se Schlu­cke, die das Glas stark leer­ten.

Auch das hat­te er ge­se­hen, für ge­üb­te Au­gen auf­fäl­li­ge Äder­chen in ihrem Ge­sicht er­zähl­ten davon, ei­ne sub­ti­le Ver­fär­bung ihres frü­her so hel­len Au­gen­weiß: Sie sag­te sel­ten Nein zu ei­nem Gläs­chen. Viel­leicht sag­te sie so­gar nie­mals Nein oder war­te­te gar nicht erst auf die Fra­ge. Aber wen küm­mer­te das heu­te noch?

»Du weißt, wer ich bin«, sag­te er und rieb sich die Hän­de. »Du kennst mich, seit­dem du ein klei­nes Kind warst. Ich war im­mer ehr­lich zu dir.«

Das war die größ­te Lü­ge von al­len.

 

»Weißt du, war­um ich mit dir ler­ne, La­ris­sa?«, hat­te er ei­nes Som­mer­ta­ges ge­fragt. La­ris­sa war drei­zehn Jah­re alt ge­we­sen.

Wenn man von der ver­dorr­ten Auf­pas­se­rin am Ein­gang ab­sah, wa­ren sie die ein­zi­gen Men­schen in der Stadt­bi­blio­thek mit den be­drü­ckend nied­ri­gen De­cken und den lei­se sum­men­den Ne­on­leuch­ten. Die­se sim­ple Fra­ge war wie ein plötz­li­cher Strom­schlag. Sie zuck­te zu­sam­men und wag­te es nicht, ein Le­bens­zei­chen von sich zu ge­ben. Der Au­gen­blick zog sich wie die­ses Hub­ba-Bub­ba, das Lud­wig so moch­te. Wenn er ihr jetzt sei­ne un­sterb­li­che Lie­be ge­stand, wür­de sie la­chen, wei­nen, ein­fach ge­hen? Al­les nach­ein­an­der? Oder al­les gleich­zei­tig?

»War­um lernst du mit mir?«, frag­te sie mit vi­brie­ren­der Stim­me. Sie trau­te sich nicht, den Blick von dem Buch über Lo­gik zu lö­sen, ob­wohl ihr die form­schö­nen ma­the­ma­ti­schen Sym­bo­le jetzt wie Hi­e­ro­gly­phen vor­ka­men.

»Ich mag, wie du denkst«, sag­te er und schlug grin­send mit der fla­chen Hand auf das Buch über Phi­lo­so­phie, das er ge­ra­de ge­le­sen hat­te. Aus Rich­tung der Bi­blio­the­ka­rin­nen­the­ke kam ein »Psst!«.

»Hast du et­wa ge­glaubt, ich ste­he auf dich?«, frag­te er noch im­mer grin­send.

»Ich ha­be es be­fürch­tet«, gab sie zu und at­me­te auf.

Lud­wig er­griff ih­re Hand.

»Ich weiß, dass wir nicht zu­ein­an­der pas­sen. Wir sind uns zu ähn­lich, La­ris­sa. Wir sind bes­ser als die an­de­ren, und un­ser Pech ist, dass wir das auch wis­sen.«

»Wä­re es da nicht lo­gisch, dass wir da­her doch zu­sam­men­pas­sen?«, frag­te sie. »Ich mei­ne, mit wem denn sonst?«

Er lach­te und ließ ih­re Hand wie­der los.

»Wir bei­de wür­den uns nur strei­ten, wer klü­ger oder schö­ner oder sonst was ist. Das wä­re ziem­lich an­stren­gend.«

Sie nick­te mit hof­fent­lich un­be­ein­druckt aus­se­hen­dem Ge­sicht, aber im In­ners­ten lä­chel­te auch sie. Das wä­re ge­klärt.

Jungs im All­ge­mei­nen fand sie ab dem zwölf­ten Le­bens­jahr zu­neh­mend in­ter­es­san­ter, nur rich­te­te sich ihr In­ter­es­se nicht auf Lud­wig, und das blieb auch so. Sie konn­te es sich da­mals nicht er­klä­ren und konn­te es bis heu­te nicht.

 

Sie hat­ten sich nicht oft ge­trof­fen. Das lag teil­wei­se dar­an, dass Lud­wig ir­gend­wo in Brühl-Kier­berg zur Schu­le ge­gan­gen war, sie hin­ge­gen in der Stadt­mit­te. Wenn man das eu­phe­mi­sti­sche Wört­chen Stadt­mit­te im Zu­sam­men­hang mit Brühl un­be­dingt be­nut­zen woll­te.

La­ris­sa und er hat­ten sich mehr oder we­ni­ger zwei­mal im Mo­nat ge­se­hen, um zu ler­nen, zu le­sen, zu dis­ku­tie­ren. Hin und wie­der wa­ren sie auch ins Ki­no ge­gan­gen, wenn es ei­nen Film ge­ge­ben hat­te, den er für gut oder wich­tig be­fun­den hat­te.

Wenn man nur das über ihn ge­wusst hät­te, hät­te man Lud­wig für ei­nen Nerd ge­hal­ten. Aber er war als Kind nie ein Au­ßen­sei­ter ge­we­sen – al­ler­dings auch nie das Zen­trum des Ge­sche­hens.

Heu­te war er ein Mann, der mit­ten im Le­ben stand, mit ei­nem ein­la­den­den Lä­cheln, ei­nem In­tel­lekt zum Nie­der­kni­en und ei­nem gei­len Kör­per­bau. La­ris­sa konn­te er­ken­nen, wie sich das Sak­ko über sei­nem Bi­zeps spann­te. Wenn er die Bei­ne be­weg­te, konn­te sie sei­nen Pe­nis se­hen. Zu­min­dest glaub­te sie, dass es sein Pe­nis war, und wenn das stimm­te, dann Hal­le­lu­ja.

»Wie schmeckt dir der Wein? Es ist ein ganz gu­ter. Pas­send für den An­lass«, sag­te sie und schenk­te sich noch ei­nen Schluck nach. Sie woll­te ei­gent­lich we­ni­ger trin­ken, das hat­te et­was zu­ge­nom­men, seit sie und Alex­an­der sich ge­trennt hat­ten. Ei­gent­lich wa­ren ein oder zwei Fla­schen am Tag nicht so viel. Rot­wein war schließ­lich ge­sund fürs Herz, das hat­te sie ir­gend­wo ge­le­sen.

Doch er war auch schlecht für die Le­ber, und sie ahn­te lei­se, dass er auch schlecht für ih­re In­spi­ra­ti­on war. La­ris­sa hat­te seit der Tren­nung kein an­stän­di­ges Ge­mäl­de mehr hin­be­kom­men, das konn­te nicht al­lein an der Tren­nung selbst lie­gen.

Es war ein Glücks­fall, dass sie ge­nug Leu­te kann­te, die zu dumm wa­ren, das zu be­mer­ken und trotz­dem Höchst­prei­se be­zahl­ten. »Ach, was ist dies, stellt es ge­trock­ne­tes Blut dar? Das Blut ei­ner ver­letz­ten See­le? Köst­lich und un­er­war­tet, La­ris­sa!«

Und es war doch nur der Fle­cken ei­nes bil­li­gen 30-Eu­ro-Mer­lots ge­we­sen, den sie im Suff auf die Lein­wand ne­ben wir­re, un­be­deu­ten­de Skiz­zen gek­le­ckert hat­te.

Der Wein, den sie jetzt im Glas hat­te, war ihr teu­ers­ter Trop­fen, den hat­te sie bei die­sem al­ten, zitt­ri­gen Wein­händ­ler ge­kauft, der sei­ne Sucht zum Be­ruf ge­macht hat­te. Sie glaub­te, es steck­ten um die 150 Eu­ro in der Fla­sche. Pas­send für den letz­ten Tag.

Und für ihren letz­ten Be­su­cher.

»Lud­wig«, be­en­de­te sie die un­an­ge­neh­me Stil­le. »Was machst du denn ge­ra­de so?«

»Ich sit­ze hier bei dir«, sag­te er und roch in­ter­es­siert an sei­nem Wein. Lud­wig schien nicht trin­ken zu wol­len, aber das mach­te ihr nichts – sie war auf Ge­sell­schaft nicht an­ge­wie­sen.

»Du weißt, was ich mei­ne«, sag­te sie ne­ckisch.

»Ach, Im­mo­bi­li­en. Im­mo­bi­li­en ge­hen im­mer.« Er lach­te auf. »Na ja, ich soll­te mein Ge­schäft auf den Mars aus­wei­ten. Hier­zu­lan­de ge­hen die Prei­se bald ziem­lich in den Kel­ler.«

»Wie heißt dei­ne Fir­ma?«, frag­te sie, in der Hoff­nung, über die­sen Um­weg sei­nen Nach­na­men zu er­fah­ren.

»Lud­wigs dau­e­r­haf­te Wer­te. Dau­e­r­haft ist ein Witz, nicht wahr?«

Sie konn­te nicht la­chen. Er schon.

La­ris­sa hat­te ge­nug davon. Sie stand auf. »Was willst du hier, Lud­wig? Scheiß Small­talk! Da­für ver­schwen­dest du mei­ne Zeit?«

Lud­wig stell­te sein Glas be­hut­sam auf dem Tisch ab, ließ es aber nicht aus den Au­gen. Der Wein­spie­gel wa­ber­te ein we­nig, wie ein un­ter Wel­len wo­gen­des, blut­ro­tes Meer, ein­ge­schlos­sen in Kris­tall­glas.

»La­ris­sa, es tut mir leid«, sag­te er so lei­se, dass sie ihn fast nicht ver­stan­den hät­te. »Ich woll­te mich ver­ab­schie­den. Ich war neu, da­mals. Neu hier. Ich kann­te nie­man­den.«

Sie be­kam ei­ne klei­ne Gän­se­haut im Na­cken. »Es tut mir leid, ich …«

»Muss es nicht, La­ris­sa. Ich war neu, und du warst das ers­te net­te Ge­sicht.« Er sah sie an. In sei­nen Au­gen glänz­te ei­ne Mi­schung aus Weh­mut und Be­lus­ti­gung. »Auch, wenn du mehr trau­rig als nett aus­ge­se­hen hast. Du hast mir da­bei ge­hol­fen, mich hei­misch zu füh­len, an­zu­kom­men. Un­se­re Stun­den ha­ben mir viel be­deu­tet.«

»Mir auch, Lud­wig, wirk­lich.«

Er stand auf und knöpf­te den mitt­le­ren Knopf sei­nes Sak­kos zu. »Ich weiß.«

»Du musst nicht ge­hen, ich … Es ist der Wein, mei­ne Wort­wahl …«

»Nein, du hast nichts falsch ge­macht. Viel­leicht ha­ben wir uns auch aus­ein­an­der­ge­lebt.«

Lud­wig ging zur Tür und griff nach dem guss­ei­sern wir­ken­den Tür­öff­ner. Sie pack­te sei­ne Schul­ter.

»Du warst im­mer ein Teil von mir, Lud­wig …«, mur­mel­te sie und merk­te, wäh­rend sie das sag­te, dass je­des Wort davon wahr war.

»Das ist schön.« Er sah sie ver­söhn­lich an. »Du warst im­mer zu gut für uns al­le. Das weiß je­der.«

Er um­arm­te sie, sie spür­te sei­ne Mus­keln, roch sein Af­ter Shave und sei­nen Atem. Sie spür­te sei­nen Pe­nis, der ein we­nig hart war.

Dann war Lud­wig ver­schwun­den.

 

Sie ti­ger­te ei­ne Wei­le in ih­rer Woh­nung her­um, dann nahm sie ihr iPho­ne und rief bei Mon­to­si an.

»Ist er da?«, frag­te sie und schalt sich da­für, dass ih­re Stim­me ei­ne Nu­an­ce zu schrill war.

Ihr Va­ter sei wach und da, und Mon­to­si freue sich, von ihr zu hö­ren.

»Kann ich ihn spre­chen?«

Er be­jah­te, und sie hör­te stap­fen­de Ge­räu­sche. Sie stell­te sich vor, wie der fast zwei Me­ter gro­ße, bul­li­ge Mon­to­si den ge­fälsch­ten Per­ser­tep­pich im Flur ihres El­tern­hau­ses ent­lang­lief, bis er das Schlaf­zim­mer ihres Va­ters mit ge­dimm­tem Licht und ge­schlos­se­nen Ja­lousi­en er­reich­te. Nie­mand der Nach­barn soll­te schließ­lich die­ses Elend se­hen. Das wä­re ja noch schö­ner.

»Ah, mein Kind«, sag­te ihr Va­ter mit schlep­pen­der Stim­me. »Wie schön, dass du an die­sem wun­der­ba­ren Tag an­rufst. Die Son­ne wärmt mich. Weißt du, wie schön sich das an­fühlt?«

»Bist du nicht im Zim­mer?«

»Nein.« Er lach­te kurz, bis sein La­chen in Hus­ten um­kipp­te. »Ich bin im Gar­ten und trin­ke ei­nen Eis­tee. Ei­nen aus Long Is­land, wenn ich mich nicht täu­sche.«

Sie glaub­te, das Klim­pern von Eis­wür­feln zu hö­ren.

»Was ist mit den Nach­barn?«

»Scheiß auf sie, scheiß auf sie al­le. Ich küm­me­re mich mor­gen dar­um, was sie den­ken.« Er hus­te­te wie­der. »Du hast dich lan­ge nicht bei mir ge­mel­det und ich mich auch nicht bei dir. Aber das macht jetzt nichts, und ich möch­te nicht dar­auf rum­rei­ten. Ich ha­be ei­ne klei­ne Lun­gen­ent­zün­dung, aber das macht jetzt auch nichts mehr.«

»Ei­ne was?«, schrie sie fast, aber sie hat­te sich un­ter Kon­trol­le.

»Ist nicht wich­tig. Ich woll­te mich ent­schul­di­gen, La­ris­sa, und war kurz davor, selbst an­zu­ru­fen. Ich war ein ziem­li­ches Arsch­loch.«

»Va­ter, das stimmt doch nicht …«

»Na­tür­lich stimmt es! Aber es ist kei­ne Zeit mehr üb­rig, sich an­zu­lü­gen. Es tut mir leid, dass ich dich nicht ak­zep­tiert ha­be.«

Sie konn­te sich nicht be­we­gen. Wie­der war sie nur ein of­fe­ner Mund und sperran­ge­lof­fe­ne Oh­ren, ih­re stein­ge­wor­de­ne Hand press­te das iPho­ne so fest ge­gen die lin­ke Ohr­mu­schel, dass die­se be­gann, weh­zu­tun.

»Was ist mit Alex­an­der?«, woll­te er wis­sen. »Hast du schon mit ihm ge­spro­chen?«

Ih­re Er­star­rung fiel so schnell von ihr ab, wie sie ge­kom­men war. »Alex­an­der?«, brach es aus ihr her­aus. »War­um soll­te ich mit dem re­den?«

Ihr Va­ter schnaub­te: »Weil du ihn ge­liebt hast.«

»Und dann hat er mich ver­letzt! Mei­ne Kunst und al­les als ei­ne Art Hob­by be­han­delt, nur weil, nur weil …«

»Weil er das Hun­dert­fa­che ver­dient hat?«

»Ja, und …«