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Würdest du heute dein Leben ändern, wenn es kein Morgen mehr gäbe? Sieben sehr verschiedene Menschen müssen sich dieser Frage stellen. Jeder für sich, und doch gemeinsam. Denn sie sind miteinander verbunden – ob sie es wollen, oder nicht. Durch einen gemeinsamen Freund. Eine persönliche Entscheidung. Einen letzten Tag. "Ein satirisch-philosophischer Roman, der mit Sprachwitz, melancholischem Humor und feinsinnigen Pointen die Leserinnen und Leser quer durch Köln und durch den Garten menschlicher Irrungen führt."
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Zum Buch:
Würdest du heute dein Leben ändern, wenn es kein Morgen mehr gäbe?
Sieben sehr verschiedene Menschen müssen sich dieser Frage stellen. Jeder für sich, und doch gemeinsam. Denn sie sind miteinander verbunden – ob sie es wollen, oder nicht.
Durch einen gemeinsamen Freund. Eine persönliche Entscheidung. Einen letzten Tag.
Zum Autor:
Als Copywriter ist Stefan Suchanka jeden Tag beruflich auf der Tastatur unterwegs und betreibt werbliches Storytelling. Privat schreibt er am liebsten Texte, die sich in der Schnittmenge von Philosophie, Satire und Komödie tummeln. Anfangs hat er sich im Selfpublishing ausprobiert, jetzt hat er im Kirschbuch Verlag mit seinem Roman
Der Fernseher lief und formte zitternde Schemen auf die weiße Raufasertapete und die zugezogenen Bambusjalousien. Er hatte die Lautstärke so weit heruntergedreht, dass nur noch ein Flüstern bei ihm ankam, so eine Art von Flüstern, bei dem der Sinn der Wortfetzen unverständlich blieb, das aber dennoch die durchsichtige Illusion erschuf, dass man nicht allein war.
Ludwig brauchte nicht zu hören, um zu wissen, worum es ging. Es ging seit zwei Stunden um das gleiche Thema, und es würde bis zum endgültigen Sendeschluss in 13 Stunden und 43 Minuten auch kein anderes Thema mehr geben. Die Themen waren aufgebraucht.
Er faltete die Liste, die er säuberlich mit einem Bleistift geschrieben hatte, zusammen, und steckte sie mit eben diesem Bleistift der Härte HB in die Brusttasche seines blütenweißen Maßhemdes. Ludwig war immer ein sehr strukturierter Mann gewesen, und der letzte Tag wollte besonders genau strukturiert sein.
Der letzte Tag auf Erden, der Tag vor dem Untergang, vor Armageddon, vor der Götterdämmerung. Wie theatralisch das doch klang.
Jetzt, da alles ein Ende fand, wollte er seine speziellen Freunde noch einmal sehen, ein letzter Besuch am Tag ohne Morgen. Er stand auf und schnipste den Fernseher aus. Nicht, dass ihn der Stromverbrauch interessierte, der hätte ihn auch nicht interessiert, wenn der Planet Erde in 13 Stunden und 42 Minuten noch bewohnbar sein würde. Er machte ihn ebenfalls nicht wegen irgendwelcher Routinen oder stumpfer Gewohnheiten aus.
Gewohnheiten bedeuteten in seinen Augen Faulheit. Ludwig handelte stets aus einem Grund.
Den Fernseher hatte er ausgemacht, weil jetzt dessen Notwendigkeit endete. Und dieses Mal für immer.
Er ging durch die Wohnung, strich noch einmal über seinen unbehandelten Mahagonischreibtisch, legte sein schwarzes Sakko über, schaltete das Licht aus und schloss doppelt hinter sich ab. Auch das tat er nicht, um seine Habe zu beschützen, die konnte ohnehin nicht mehr beschützt werden. Er schloss ab, um diesen Abschnitt wirklich abzuschließen. Dieses Kapitel war beendet.
Er schloss sein Leben hier, in diesem Appartement, in diesem Wohnblock, dieser Stadt, genauso ab, wie der Asteroid, der nun unaufhaltsam auf seiner Zielgeraden war, das Leben der knapp acht Milliarden Menschen auf dem Planeten Erde abschließen würde.
Larissa Weiß stand mit offenem Mund vor dem Fernseher.
» … muss ich Ihnen schweren Herzens mitteilen, dass, entgegen der Meldungen vor drei Tagen, auch der dritte und letzte Versuch der NASA, den Asteroiden Persephone mit Atomwaffen abzulenken, fehlgeschlagen ist …«
Das konnte nicht sein!
Sie war wieder fünf Jahre alt, stand vor ihrem Vater, der sie scholt, der ihr erklärte, wie man, verdammt nochmal, das Einmaleins rechnete. Sie hatte keine Beine, keine Arme, keinen Kopf, nur Augen, die aufgerissen blieben, bleiben mussten, und einen Mund, der sich ebenso wenig schließen ließ, wie sie fähig war, sieben mal sieben zu rechnen. Genauso wenig, wie sie sagen konnte, was acht mal neun war und vier mal sechs und all die anderen stakkatoartigen Fragen, die wie Gewehrsalven auf sie eingeprasselt waren. Fragen, die sie doch nicht hatte beantworten können.
»Heute Abend, um 20:12 Uhr deutscher Zeit, kommt Persephone zwischen Asien und Australien auf. Es tut mir leid. Gott schütze uns alle.«
Ihr offener Mund wuchs zu einer ungläubigen Fratze. Hatte der Bundespräsident gerade gesagt, dass irgendein Gott sie schützen würde? Wie konnte man seine Schöpfung schlechter schützen, als zuzulassen, dass ein riesiger Felsbrocken Tod und Feuer bringen würde?
Im nächsten Bericht ging es um Kim-Jong-Un, der sagte, dass »… der Asteroid die Seele des unsterblichen Vorsitzenden Kim-Jong-Sung ist, der endlich wieder heimkommt. Das nordkoreanische Volk freut sich, wieder mit ihm vereint zu sein und weint keine Tränen, außer Tränen der unermesslichen Freude und …«
Sie riss sich zusammen, wie sie sich immer zusammengerissen hatte, und schaltete den Fernseher aus. Die Prominews würden heute ohnehin ausfallen.
Larissa ging langsam und um Fassung bemüht in ihre Küche zurück, zog den Apothekerschrank heraus und nahm einen Schluck Quellwasser aus den Alpen, nicht gekühlt.
Ihre rechte Hand wollte zittern, ihr Augenwinkel wollte zucken, doch sie hatte sich unter Kontrolle. Die ganze Welt war außer Rand und Band, schon immer, doch heute glich sie einem Vulkan. Sie, wenigstens sie, wusste, wie man sich verhielt. Wie man in sich selbst Ruhe und Ordnung bewahrte.
Vorsichtig holte sie die schwere Glaskanne mit der Hafermilch aus dem Kühlschrank, der die Energieklasse AAA+ aufwies, und schüttete einen Schwall davon auf das Bio-Amaranth-Müsli, das sie sich im Internet nach ihren ganz persönlichen Körnerwünschen zusammengeklickt hatte.
»Ein guter Tag beginnt mit einem guten Frühstück«, murmelte sie. Verdammt, wen wollte Larissa eigentlich verarschen?
Sie setzte sich an ihre Theke auf einen der drei Barhocker. Auf einem der freien Hocker hatte zuletzt vor gut einem Jahr ein anderer Mensch gesessen. Wann alle drei das letzte Mal besetzt gewesen waren, das wusste sie nicht mehr. Vielleicht an ihrem Dreißigsten?
»Mein Gott«, flüsterte sie, und ihre Hand mit dem Müslilöffel blieb eingerostet über der Schüssel hängen. Das ist auch schon fünf Jahre her. Alexander hatte zuletzt dort gesessen, auf seinem Platz, dem Platz neben ihr.
Alexander.
Dieser eingebildete Kerl, der ihr nie etwas gegönnt hatte, der sie nie zu schätzen gewusst hatte, nie ganz.
Larissa zwang sich zum Essen, kaute auf knusprigem Buchweizen herum, ohne wirklich etwas zu schmecken, nahm ihr iPhone und sah auf die Uhr. 8:01. Noch über einen halben Tag Zeit.
Ein halber Tag, und sie wusste nicht, wen sie anrufen sollte. Jedenfalls nicht Alexander, so viel war klar.
Sie ging ihre letzten Anrufe durch: Ganz oben Kyra, ihre Lieblingsklientin, die in Wahrheit bestimmt Kira hieß, was Larissa aber nie und nimmer laut ausgesprochen hätte. Kyra würde sich eine Nase Koks nach der nächsten ziehen und total abspacen.
Herr Godehard, genannt Gotti, der Hausmeister ihrer Galerie.
Montosi, der Pfleger ihres Vaters. Sie wollte ihren Vater nicht anrufen, obwohl sie ihm so viel zu verdanken hatte.
Erst seine Verachtung hatte sie motiviert, es allen anderen zu zeigen, es ihm zu zeigen. Seine Verachtung, weil sie ein Mädchen geworden war. Seine Selbstverachtung, weil er nur ein armseliger, kleiner Wurm von einem Maler gewesen und es immer geblieben war, bis ihn die parkinsonsche Krankheit in den Rollstuhl verfrachtet und das letzte Quäntchen Können aus seinen ausgelaugten Fingern gesaugt hatte.
Sie hatte ihm einiges zu verdanken, zweifellos. Ihm und Ludwig.
Komisch. Larissa hatte ewig nicht an Ludwig gedacht. Sie hatte ihn als seltsamen Jungen aus der Nachbarschaft kennengelernt, der auf die katholische Schule gegangen war, eine Stufe über ihr, der ihr gezeigt hatte, wie man selbstsicher auftrat, wie man den anderen unmissverständlich klar machte, dass man klüger, schöner, schlicht und einfach besser war als sie. Besaß sie seine Nummer noch?
Sie suchte nach L, und es erschien nur eine Reihe von Lieferservices für Pizza, Veggie-Bowls, Sushi und Blumen.
Hatte sie Ludwigs Nummer je besessen?
Es klingelte an der Tür.
Sie stand mechanisch auf, ohne sich zu fragen, wer an diesem Tag, zu dieser Uhrzeit an ihrer Haustür stehen könnte. Ebenso automatisch betrachtete sie sich im Wandspiegel und lächelte. Perfekt, der Lidstrich dezent, der rote Pony wie mit dem Lineal gezogen, das schwarze Gewand floss.
»Ja?«, sagte sie wohlmoduliert in den Sprecher.
»Hallo«, rief es fröhlich knisternd aus der Anlage. »Ich bin’s, Ludwig! Kann ich reinkommen?«
»Ludwig?« Sie hatte das Gefühl, sich hinsetzen zu müssen. »Was für ein Zufall, ich …«
»Kann ich reinkommen?«
»Sicher!« Sie drückte den Summer und lehnte die Tür einen Spaltbreit an.
Ludwig kam freudestrahlend durch die Tür geschossen. Sie hatte ihn ewig nicht gesehen, vielleicht ebenfalls seit ihrem dreißigsten Geburtstag?
Er umarmte sie stürmisch. »Larissa, wie schön, dich noch einmal zu sehen!«
Larissa ließ es geschehen, obwohl sie eigentlich kein Umarmtyp war. Auch kein Küsschen-links-Küsschen-rechts-Typ, aber das hatte sie sich aneignen müssen, seitdem sie die Kunstgalerie besaß. Das gehörte zur Jobbeschreibung.
Sie deutete auf die weiße Couch, die zur Hälfte auf dem weißen Flokati-Teppich stand. Er knöpfte sein schwarzes Jackett – Boss, wenn sie nicht alles täuschte – auf und setzte sich so breitbeinig hin, wie es gerade noch anständig war. Ludwig strömte so eine Sicherheit, so ein rohes Dasein aus, schon als Junge war das so gewesen. Jetzt war er der Inbegriff von Männlichkeit, wenn es so etwas überhaupt gab.
Trotzdem hatte sie seit jeher eine seltsame Distanz zu ihm gespürt, sich zugleich angezogen und abgestoßen gefühlt. Sie setzte sich auf das Sofa, ihm gegenüber. Zwischen ihnen stand eine Designerblumenvase, die einmal in der Woche von Ernestos Blumenservice mit einer neuen, unendlich raffinierten Kreation bestückt wurde. Eigentlich wäre es morgen wieder an der Zeit gewesen, aber dies war Ernestos letztes Kunstwerk, und es hatte seine beste Zeit bereits hinter sich. Vertrocknende Stängel hielten sich mit letzter Kraft in schlaffen Trompetenblüten und ließen ein feines, violettes Pulver auf den Glastisch rieseln, während sie ihr letztes Quäntchen Duft ausatmeten.
»Wie komme ich zu der Ehre?«, fragte sie mit einem kleinen süffisanten Lächeln auf den Lippen, dem sie, so hoffte sie, einen Hauch Erotik beigesellt hatte.
Ludwig lächelte mit genau der gleichen Prise zurück, sie hatte also ins Schwarze getroffen. Er räusperte sich.
»Ich dachte mir, wenn jetzt alles vorbei ist, dann besuche ich meine alten Freunde noch mal.«
»Alt?«, fragte sie und lachte. Als sie merkte, dass dieses Lachen nicht befreiend war, sondern mehr als ein Hauch Wehmut, gar Verzweiflung, in ihm lag, ließ sie es ersticken.
»Nein, Larissa, du bist nicht alt, aber unsere Freundschaft ist es«, sagte er und breitete seine Arme auf der Rückenlehne aus. »Ich wollte nur ein wenig in Erinnerungen schwelgen«, erklärte er. Da war auch eine gehörige Portion Wehmut in seiner Stimme. »Was soll man auch sonst tun, wenn keine Zukunft mehr bleibt?«
»Eine Party veranstalten?«
Ludwig lachte schallend.
»Ich würde ja gerne eine Party schmeißen, aber wenn ich nicht mit all meinen Freunden feiern kann, belasse ich es lieber bei Besuchen. Allein wegen dir und Alexander würde das nichts werden.« Er schüttelte den Kopf und seufzte. »Nicht, dass ich es nicht verstehe. Er hatte dich nicht verdient, und jeder weiß es.«
»Jeder?«
»Jeder. Er hatte nicht genug … Wie sagt man? Cojones?«
Seltsam, das jetzt von ihm zu hören.
»Und ich?«, fragte sie.
Ludwig grinste verschmitzt und ließ den Kopf zurückfallen.
»Du hast Cojones wie niemand sonst. Das habe ich direkt gemerkt, schon bei unserer ersten Begegnung.«
»Im Sandkasten«, murmelte sie und erinnerte sich an das Gefühl von feinem Sand unter ihren Füßen. Sie fühlte sich, als würde sie einen Zentimeter tief darin versinken.
Sie hatte in Brühl gewohnt, einem Nest, das in Spuckweite von Köln lag, aber eben nicht Köln war. Sie hatten alle dort gewohnt.
Larissa saß im Sandkasten und weinte nicht. Sie schaffte es mit übermenschlicher Anstrengung, die kochend heißen Tränen drinzubehalten. Peter Mitschlik stolzierte um sie herum und bewarf sie mit Sand. Immer und immer wieder.
»Hör auf!«, schrie sie, bebend vor Wut und der nagenden Gewissheit, dass sie nichts tun konnte, um Peter davon abzuhalten, sie weiter mit Sand zu bewerfen oder mit Dreck oder Hundescheiße oder sonst einfach alles zu tun, worauf er Lust hatte.
»Hör auf!«
»Du musstest ja petzen, du blöde Kuh!«, brüllte er und warf noch eine Hand Sand nach ihr. Sie krabbelte auf allen Vieren auf ihn zu, wollte aufstehen, wollte aus dem Kasten hinaus, doch immer, wenn sie den Rand erreicht hatte, schubste er sie wieder hinein. Er lachte, grunzte wie das Schwein, das er war, wie das miese Schwein, das er war.
»Du hast meine Hausaufgaben geklaut!«, rief sie zur Verteidigung, aber für Peter schien das keine Verteidigung zu sein.
»Ja, und? Scheiße, da muss man auch mal den Mund halten, du Petze! Das hätte doch keiner gemerkt! Keiner!«
Er warf noch eine Handvoll, und diesmal war ein kleiner Stein dabei. Roter Schmerz explodierte auf ihrer Stirn.
»Hey, lass das!«, rief eine unbekannte Stimme. Sie sah einen Jungen, größer als Peter, der ihn selbstsicher beiseitenahm und mit ihm sprach.
Peter lief weg. Er floh nicht, aber er lief.
»Er ist weg«, sagte der Junge und lächelte sie aus grünen leuchtenden Augen an. Er reichte ihr die Hand und zog sie in die Höhe. »Oh, dein Kopf«, sagte er und kramte in seiner Jeans.
»Wer bist du?«, stammelte sie.
»Ludwig, sehr erfreut!« Er machte einen Knicks. »Und du bist?«
»Larissa Weiß.«
Er hatte ein Wundpflaster mit Elefanten darauf hervorgekramt, das groß genug für ihre Wunde zu sein schien, und klebte es ungefragt auf ihre Stirn.
»Meine Mutter gibt mir immer eins mit. Jungs spielen so wild, sagt sie immer.« Er lachte.
»Was hast du ihm gesagt?« Sie nickte in Richtung der Einbahnstraße, in der Peter verschwunden war, die, wie alle Straßen hier, nach einem Vogel benannt war. »Und wieso ist er abgehauen?«
Ludwig machte eine abfällige Handbewegung in die Richtung, in die Peter geflüchtet war, und grunzte leise und scheinbar unwillkürlich. »Ach, ich hab ihm nur gesagt, dass er Probleme mit mir bekommt, wenn er den Scheiß nicht sein lässt, und dann hat er Schiss bekommen. Solche Kerle sind immer gleich.«
Er führte sie zum Rand des Spielplatzes und setzte sich auf die hüfthohe Holzumrandung, die den hinteren Teil des Platzes von einem verwahrlosten Gebüsch abgrenzte. Sie setzte sich neben ihn.
»Larissa«, sagte er ernst. »Warum hat er dich geärgert?«
»Sag ich dir nicht …«
Ludwig gab ihr einen Schlag auf die Schulter, wie es die Jungs machten, was man, so glaubte sie, Kumpelschlag nannte. Sie wusste nicht, ob sie sich geehrt fühlen sollte, also fühlte sie nichts.
»Du schuldest es mir«, insistierte er. »Oder soll ich ihn zurückholen?« Er tat so, als wollte er aufspringen. Sie ergriff seine Hand. Er fühlte sich warm an, als hätte er Fieber. »Bleib …«
Er blieb und sah sie voller Interesse an.
»Peter hat meine Mathehausaufgaben in der Pause geklaut und abgeschrieben. Ich habe das dem Lehrer gesagt.«
»Du bist also eine Petze?«, fragte er und hob die Augenbrauen.
»Nein! Er hat gestohlen. Weil er zu dumm ist, um selbst seine Hausaufgaben zu machen!«
Ludwig lachte und gab ihr noch einen Kumpelschlag. Es war wohl tatsächlich so etwas wie eine Ehre. Sie lächelte zaghaft.
»Gut gesagt, Larissa! So viel ist in Peters Birne wohl nicht drin.«
»Bei allen nicht«, sagte sie, mehr zu sich selbst.
»Ach?«
»Ja«, sagte sie. Sie wollte nicht überheblich klingen, wirklich nicht, aber sie hatte sich nicht nur das Einmaleins in einem Meer aus Tränen angeeignet. Es gab da nichts zu diskutieren: Sie war die Beste in ihrer Klasse.
Ludwig schnaubte.
»Ich weiß, was du meinst. Ich bin aus dem Süden hierhergezogen, und hier sind alle Kinder dumm. Jedenfalls fast alle.« Er grinste sie an. »Schlau zu sein ist kein Verbrechen, Larissa. Dummheit ist ein Verbrechen. Lass dir nie etwas anderes sagen.«
Mit diesen Worten sprang er auf und machte erneut eine Verbeugung. »Macht es gut, holde Larissa von Weiß.«
»Wie heißt du? Ludwig …«
»Genau.« Er verschwand schnellen Schritts. Ohne ihr seinen Nachnamen zu nennen.
Bis heute. »Ludwig. Wie heißt du richtig?«
»Ist das jetzt noch wichtig?«, fragte er und wischte eine der trockenen Rosen beiseite, die seine Sicht auf ihr gealtertes Gesicht erschwerten. Er sah die Äderchen in ihren Augenlidern, die sie von Jahr zu Jahr mit dickerer und ohne Zweifel teurerer Schminke zu übertünchen versuchte, sah die feinen Falten, die sie dadurch angehäuft hatte, dass sie unzählige Momente des Lächelns und des Lachens gefälscht hatte, sah den schwammiger werdenden Hals.
Er hatte ein perfektes Gedächtnis, er konnte sich noch genau an ihre erste Begegnung erinnern, genau an ihr Gesicht und den Ausdruck vollständiger Machtlosigkeit in ihren Augen, die bis kurz vor dem Überlaufen mit Tränen gefüllt gewesen waren, die aber nicht hatten fließen sollen – das hatte sie ihrem Peiniger nicht gönnen wollen. Alles, nur das nicht. Ihm hatte das imponiert, und es hatte schon damals wenig gegeben, das ihm imponieren konnte.
Und er erinnerte sich an die erste Lüge, die er ihr erzählt hatte: »Ach, ich hab ihm nur gesagt, dass er Probleme mit mir bekommt, wenn er den Scheiß nicht sein lässt.«
Die erste Lüge.
Alle Beziehungen, die er hatte, alle Freunde, die er schätzte, alle Feinde, die er pflegte, waren mit der ersten Lüge erst spannend geworden.
Das war immer ein magischer Moment, der Moment, wenn alles entweder begann oder endete. Mit Larissa hatte es damals begonnen, und es würde erst heute um 20:12 Uhr ein Ende finden, wenn alles ein Ende fand.
Er lächelte und schüttelte den Kopf. »Mein Nachname also? Warum das denn jetzt? Du willst mir keine Postkarte schreiben, und du brauchst kein Geschäftsessen mit mir von der Steuer abzusetzen.«
»Ich will wissen, wer du bist«, sagte sie und stand auf. Sie holte eine Flasche Montepulciano hervor und stellte zwei dickbäuchige Gläser auf den Tisch. Sie war erschreckend geübt mit dem Flaschenöffner.
Larissa fragte nicht, ob er auch etwas trinken wollte, goss sich und ihm ein. Sie nahm drei vornehm leise Schlucke, die das Glas stark leerten.
Auch das hatte er gesehen, für geübte Augen auffällige Äderchen in ihrem Gesicht erzählten davon, eine subtile Verfärbung ihres früher so hellen Augenweiß: Sie sagte selten Nein zu einem Gläschen. Vielleicht sagte sie sogar niemals Nein oder wartete gar nicht erst auf die Frage. Aber wen kümmerte das heute noch?
»Du weißt, wer ich bin«, sagte er und rieb sich die Hände. »Du kennst mich, seitdem du ein kleines Kind warst. Ich war immer ehrlich zu dir.«
Das war die größte Lüge von allen.
»Weißt du, warum ich mit dir lerne, Larissa?«, hatte er eines Sommertages gefragt. Larissa war dreizehn Jahre alt gewesen.
Wenn man von der verdorrten Aufpasserin am Eingang absah, waren sie die einzigen Menschen in der Stadtbibliothek mit den bedrückend niedrigen Decken und den leise summenden Neonleuchten. Diese simple Frage war wie ein plötzlicher Stromschlag. Sie zuckte zusammen und wagte es nicht, ein Lebenszeichen von sich zu geben. Der Augenblick zog sich wie dieses Hubba-Bubba, das Ludwig so mochte. Wenn er ihr jetzt seine unsterbliche Liebe gestand, würde sie lachen, weinen, einfach gehen? Alles nacheinander? Oder alles gleichzeitig?
»Warum lernst du mit mir?«, fragte sie mit vibrierender Stimme. Sie traute sich nicht, den Blick von dem Buch über Logik zu lösen, obwohl ihr die formschönen mathematischen Symbole jetzt wie Hieroglyphen vorkamen.
»Ich mag, wie du denkst«, sagte er und schlug grinsend mit der flachen Hand auf das Buch über Philosophie, das er gerade gelesen hatte. Aus Richtung der Bibliothekarinnentheke kam ein »Psst!«.
»Hast du etwa geglaubt, ich stehe auf dich?«, fragte er noch immer grinsend.
»Ich habe es befürchtet«, gab sie zu und atmete auf.
Ludwig ergriff ihre Hand.
»Ich weiß, dass wir nicht zueinander passen. Wir sind uns zu ähnlich, Larissa. Wir sind besser als die anderen, und unser Pech ist, dass wir das auch wissen.«
»Wäre es da nicht logisch, dass wir daher doch zusammenpassen?«, fragte sie. »Ich meine, mit wem denn sonst?«
Er lachte und ließ ihre Hand wieder los.
»Wir beide würden uns nur streiten, wer klüger oder schöner oder sonst was ist. Das wäre ziemlich anstrengend.«
Sie nickte mit hoffentlich unbeeindruckt aussehendem Gesicht, aber im Innersten lächelte auch sie. Das wäre geklärt.
Jungs im Allgemeinen fand sie ab dem zwölften Lebensjahr zunehmend interessanter, nur richtete sich ihr Interesse nicht auf Ludwig, und das blieb auch so. Sie konnte es sich damals nicht erklären und konnte es bis heute nicht.
Sie hatten sich nicht oft getroffen. Das lag teilweise daran, dass Ludwig irgendwo in Brühl-Kierberg zur Schule gegangen war, sie hingegen in der Stadtmitte. Wenn man das euphemistische Wörtchen Stadtmitte im Zusammenhang mit Brühl unbedingt benutzen wollte.
Larissa und er hatten sich mehr oder weniger zweimal im Monat gesehen, um zu lernen, zu lesen, zu diskutieren. Hin und wieder waren sie auch ins Kino gegangen, wenn es einen Film gegeben hatte, den er für gut oder wichtig befunden hatte.
Wenn man nur das über ihn gewusst hätte, hätte man Ludwig für einen Nerd gehalten. Aber er war als Kind nie ein Außenseiter gewesen – allerdings auch nie das Zentrum des Geschehens.
Heute war er ein Mann, der mitten im Leben stand, mit einem einladenden Lächeln, einem Intellekt zum Niederknien und einem geilen Körperbau. Larissa konnte erkennen, wie sich das Sakko über seinem Bizeps spannte. Wenn er die Beine bewegte, konnte sie seinen Penis sehen. Zumindest glaubte sie, dass es sein Penis war, und wenn das stimmte, dann Halleluja.
»Wie schmeckt dir der Wein? Es ist ein ganz guter. Passend für den Anlass«, sagte sie und schenkte sich noch einen Schluck nach. Sie wollte eigentlich weniger trinken, das hatte etwas zugenommen, seit sie und Alexander sich getrennt hatten. Eigentlich waren ein oder zwei Flaschen am Tag nicht so viel. Rotwein war schließlich gesund fürs Herz, das hatte sie irgendwo gelesen.
Doch er war auch schlecht für die Leber, und sie ahnte leise, dass er auch schlecht für ihre Inspiration war. Larissa hatte seit der Trennung kein anständiges Gemälde mehr hinbekommen, das konnte nicht allein an der Trennung selbst liegen.
Es war ein Glücksfall, dass sie genug Leute kannte, die zu dumm waren, das zu bemerken und trotzdem Höchstpreise bezahlten. »Ach, was ist dies, stellt es getrocknetes Blut dar? Das Blut einer verletzten Seele? Köstlich und unerwartet, Larissa!«
Und es war doch nur der Flecken eines billigen 30-Euro-Merlots gewesen, den sie im Suff auf die Leinwand neben wirre, unbedeutende Skizzen gekleckert hatte.
Der Wein, den sie jetzt im Glas hatte, war ihr teuerster Tropfen, den hatte sie bei diesem alten, zittrigen Weinhändler gekauft, der seine Sucht zum Beruf gemacht hatte. Sie glaubte, es steckten um die 150 Euro in der Flasche. Passend für den letzten Tag.
Und für ihren letzten Besucher.
»Ludwig«, beendete sie die unangenehme Stille. »Was machst du denn gerade so?«
»Ich sitze hier bei dir«, sagte er und roch interessiert an seinem Wein. Ludwig schien nicht trinken zu wollen, aber das machte ihr nichts – sie war auf Gesellschaft nicht angewiesen.
»Du weißt, was ich meine«, sagte sie neckisch.
»Ach, Immobilien. Immobilien gehen immer.« Er lachte auf. »Na ja, ich sollte mein Geschäft auf den Mars ausweiten. Hierzulande gehen die Preise bald ziemlich in den Keller.«
»Wie heißt deine Firma?«, fragte sie, in der Hoffnung, über diesen Umweg seinen Nachnamen zu erfahren.
»Ludwigs dauerhafte Werte. Dauerhaft ist ein Witz, nicht wahr?«
Sie konnte nicht lachen. Er schon.
Larissa hatte genug davon. Sie stand auf. »Was willst du hier, Ludwig? Scheiß Smalltalk! Dafür verschwendest du meine Zeit?«
Ludwig stellte sein Glas behutsam auf dem Tisch ab, ließ es aber nicht aus den Augen. Der Weinspiegel waberte ein wenig, wie ein unter Wellen wogendes, blutrotes Meer, eingeschlossen in Kristallglas.
»Larissa, es tut mir leid«, sagte er so leise, dass sie ihn fast nicht verstanden hätte. »Ich wollte mich verabschieden. Ich war neu, damals. Neu hier. Ich kannte niemanden.«
Sie bekam eine kleine Gänsehaut im Nacken. »Es tut mir leid, ich …«
»Muss es nicht, Larissa. Ich war neu, und du warst das erste nette Gesicht.« Er sah sie an. In seinen Augen glänzte eine Mischung aus Wehmut und Belustigung. »Auch, wenn du mehr traurig als nett ausgesehen hast. Du hast mir dabei geholfen, mich heimisch zu fühlen, anzukommen. Unsere Stunden haben mir viel bedeutet.«
»Mir auch, Ludwig, wirklich.«
Er stand auf und knöpfte den mittleren Knopf seines Sakkos zu. »Ich weiß.«
»Du musst nicht gehen, ich … Es ist der Wein, meine Wortwahl …«
»Nein, du hast nichts falsch gemacht. Vielleicht haben wir uns auch auseinandergelebt.«
Ludwig ging zur Tür und griff nach dem gusseisern wirkenden Türöffner. Sie packte seine Schulter.
»Du warst immer ein Teil von mir, Ludwig …«, murmelte sie und merkte, während sie das sagte, dass jedes Wort davon wahr war.
»Das ist schön.« Er sah sie versöhnlich an. »Du warst immer zu gut für uns alle. Das weiß jeder.«
Er umarmte sie, sie spürte seine Muskeln, roch sein After Shave und seinen Atem. Sie spürte seinen Penis, der ein wenig hart war.
Dann war Ludwig verschwunden.
Sie tigerte eine Weile in ihrer Wohnung herum, dann nahm sie ihr iPhone und rief bei Montosi an.
»Ist er da?«, fragte sie und schalt sich dafür, dass ihre Stimme eine Nuance zu schrill war.
Ihr Vater sei wach und da, und Montosi freue sich, von ihr zu hören.
»Kann ich ihn sprechen?«
Er bejahte, und sie hörte stapfende Geräusche. Sie stellte sich vor, wie der fast zwei Meter große, bullige Montosi den gefälschten Perserteppich im Flur ihres Elternhauses entlanglief, bis er das Schlafzimmer ihres Vaters mit gedimmtem Licht und geschlossenen Jalousien erreichte. Niemand der Nachbarn sollte schließlich dieses Elend sehen. Das wäre ja noch schöner.
»Ah, mein Kind«, sagte ihr Vater mit schleppender Stimme. »Wie schön, dass du an diesem wunderbaren Tag anrufst. Die Sonne wärmt mich. Weißt du, wie schön sich das anfühlt?«
»Bist du nicht im Zimmer?«
»Nein.« Er lachte kurz, bis sein Lachen in Husten umkippte. »Ich bin im Garten und trinke einen Eistee. Einen aus Long Island, wenn ich mich nicht täusche.«
Sie glaubte, das Klimpern von Eiswürfeln zu hören.
»Was ist mit den Nachbarn?«
»Scheiß auf sie, scheiß auf sie alle. Ich kümmere mich morgen darum, was sie denken.« Er hustete wieder. »Du hast dich lange nicht bei mir gemeldet und ich mich auch nicht bei dir. Aber das macht jetzt nichts, und ich möchte nicht darauf rumreiten. Ich habe eine kleine Lungenentzündung, aber das macht jetzt auch nichts mehr.«
»Eine was?«, schrie sie fast, aber sie hatte sich unter Kontrolle.
»Ist nicht wichtig. Ich wollte mich entschuldigen, Larissa, und war kurz davor, selbst anzurufen. Ich war ein ziemliches Arschloch.«
»Vater, das stimmt doch nicht …«
»Natürlich stimmt es! Aber es ist keine Zeit mehr übrig, sich anzulügen. Es tut mir leid, dass ich dich nicht akzeptiert habe.«
Sie konnte sich nicht bewegen. Wieder war sie nur ein offener Mund und sperrangeloffene Ohren, ihre steingewordene Hand presste das iPhone so fest gegen die linke Ohrmuschel, dass diese begann, wehzutun.
»Was ist mit Alexander?«, wollte er wissen. »Hast du schon mit ihm gesprochen?«
Ihre Erstarrung fiel so schnell von ihr ab, wie sie gekommen war. »Alexander?«, brach es aus ihr heraus. »Warum sollte ich mit dem reden?«
Ihr Vater schnaubte: »Weil du ihn geliebt hast.«
»Und dann hat er mich verletzt! Meine Kunst und alles als eine Art Hobby behandelt, nur weil, nur weil …«
»Weil er das Hundertfache verdient hat?«
»Ja, und …«