Unser täglich Gift - Johann Zaller - E-Book

Unser täglich Gift E-Book

Johann Zaller

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Beschreibung

Wussten Sie, dass ein Apfel durchschnittlich 31-mal mit Pestiziden behandelt wird? Dass man auch im Flugzeug mit den Giften in Kontakt kommen kann und dass neben der Landwirtschaft der zweitgrößte Verbraucher von Herbiziden in Deutschland die Deutsche Bahn ist? Pestizide werden umfassend eingesetzt, über ihre Zusammensetzung wissen wir jedoch wenig. Etwa vierzig Chemikalien, die von der WHO als „wahrscheinlich krebserregend“ eingestuft wurden, sind nach wie vor erlaubt. Ein Viertel der Pestizide auf dem Markt sind Fälschungen mit ungewissem Inhalt. Johann G. Zaller, Ökologie-Experte an der Wiener Universität für Bodenkultur, erforscht seit Jahren Chemikalien und ihre Nebenwirkungen für unsere Gesundheit und Umwelt.

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Wussten Sie, dass die geltenden gesetzlichen Grenzwerte für Pestizidbelastungen in den letzten Jahren ständig nach oben korrigiert wurden? Dass Pestizide nicht gegen Schädlinge und Krankheiten eingesetzt werden, sondern vor allem vorbeugend? Dass die Deutsche Bahn der zweitgrößte Verbraucher von Herbiziden in Deutschland nach der Landwirtschaft ist? Etwa vierzig Chemikalien, die von der Weltgesundheitsorganisation als »wahrscheinlich krebserregend« eingestuft wurden, darunter auch Glyphosat, sind nach wie vor erlaubt. Ein Viertel der am Markt befindlichen Pestizide sind Produktfälschungen mit ungewissen Inhaltsstoffen.

Deuticke E-Book

Johann G. Zaller

UNSER TÄGLICH GIFT

PESTIZIDE – DIE UNTERSCHÄTZTE GEFAHR

Deuticke

INHALT

Vorwort

WO LIEGT DAS PROBLEM? PESTIZIDE IM ALLTAG

Landwirtschaft in der Pestizidtretmühle

Pestizide werden auch anderswo eingesetzt

Von welchen Substanzen ist eigentlich die Rede?

Lockere Zulassung und situationselastische Grenzwerte

Kriegsrhetorik macht Stimmung

Agroökosysteme haben einen gesellschaftlichen Nutzen

WAS SIND DIE FOLGEN FÜR NATUR UND MENSCH?

Vom »Stummen Frühling« zu eigenen Experimenten

Regenwürmer werden faul und haben weniger Nachwuchs

Kaulquappen mit verkrüppelten Schwänzen

Bienen und Hummeln verlieren die Orientierung

Vögel und Fledermäuse verhungern

Agroökosysteme verlieren ihre Selbstregulation

Gewöhnung an ständige Pestizidgaben: Resistenzen

Der Pestizid-Bumerang ist bereits auf dem Rückweg

Vielfältige Nebenwirkungen auf den Menschen

Rechnet sich der Pestizideinsatz überhaupt?

Kritische Wissenschaft kommt an den Internet-Pranger

WO LIEGT DIE LÖSUNG DES PROBLEMS?

Landwirtschaft ohne Pestizide, geht das überhaupt?

Wie soll die wachsende Weltbevölkerung ernährt werden?

Lebensmittelverschwendung fördert Pestizidverwendung

Agrarförderungen sollen Pestizideinsatz eindämmen

Politik soll faktenbasiert entscheiden und handeln

Nachwort

Danksagung

Anmerkungen

VORWORT

Warum ein Buch zu Pestiziden schreiben? Glaubt man den Verfechtern der konventionellen, pestizidbasierten Landwirtschaft, handelt es sich um die weltweit am besten untersuchten Substanzen, die gezielt Schädlinge vernichten und dann ohnehin in der Natur zu ungefährlichen Stoffen abgebaut werden. Sollten dennoch Pestizidspuren in Nahrungsmitteln nachgewiesen werden, dann liegt das zuallererst an den verfeinerten Analysemethoden. Jedenfalls sind die Rückstandsmengen stets unterhalb der gesetzlich festgelegten Grenzwerte. Außerdem kennt jeder den Grundsatz, wonach nur die Dosis das Gift macht und man sogar an übermäßigem Wasserkonsum sterben kann! Folgend gilt jeder, der sich gegen den Pestizideinsatz ausspricht, als ein verträumter Naturschützer, der die Realität der modernen Nahrungsmittelproduktion verleugnet und dadurch das Verhungern von Millionen von Menschen riskiert. So könnte man die öffentliche Darstellung zum Thema Pestizide grob skizzieren.

Das vorliegende Buch will diese und andere Aussagen zu Pestiziden wissenschaftlich beleuchten und auf deren Wahrheitsgehalt abklopfen. Denn dies erscheint – gerade in Zeiten des Postfaktischen – wichtiger denn je.

Das Thema interessiert Sie nur am Rande, da Sie weder Landwirtin sind noch einen Garten haben und auch sonst nicht mit Pestiziden hantieren? Das ist fein, vielleicht gönnen Sie sich jetzt eine Tiefkühlpizza mit gemischtem Salat, trinken dazu ein Gläschen Wein oder Apfelsaft und als Nachspeise vielleicht einen Apfel. Allein für die Produktion von Weizen für den Pizzateig, für Tomaten, Mais, Paprika, Salz und die Kräuter, Salat, die Wein- und Apfelproduktion sind in Österreich oder Deutschland 1200 Pestizide zugelassen!1 Diese werden vermutlich nicht alle gleichzeitig eingesetzt, aber sie stehen theoretisch zur Verfügung. Da reden wir aber noch gar nicht von chemischen Substanzen, die in der Produktion, zur Haltbarmachung, Lagerung, Geschmacksverbesserung, Kellertechnik und so weiter eingesetzt werden dürfen. Vielleicht hat Sie dieses Beispiel überzeugt, dass Sie höchstwahrscheinlich doch auch von Pestiziden betroffen sind, ob Sie wollen oder nicht.

Zugegeben, ich war ein wenig naiv, als ich vor wenigen Jahren begonnen habe, die Nebenwirkungen von Pestiziden auf Ökosysteme zu untersuchen. Zuvor habe ich mich als Ökologe fast fünfzehn Jahre lang mit den Auswirkungen von verschiedenen Umwelt- und Klimafaktoren auf Pflanzen und Tiere befasst. Ökologen widmen sich am liebsten möglichst naturnahen Ökosystemen, da dort interessante und seltene Arten in großer Vielfalt vorhanden sind. Agroökosysteme oder andere stark durch menschliches Handeln geprägte Ökosysteme werden von Ökologen oft etwas abschätzig behandelt. Neugierig gemacht auf das Thema wurde ich nicht zuletzt durch das allgemeine Mediengetöse.

Eine erste Orientierung in der wissenschaftlichen Literatur war recht ernüchternd, denn es gab erstaunlich vieles, was nicht untersucht war. Wie die meisten bin ich davon ausgegangen, dass die Pestizide, die alltäglich verwendet werden, selbstverständlich streng getestet werden, bevor sie zur Bekämpfung von Schädlingen und Unkräutern in die Umwelt ausgebracht werden dürfen. Außerdem, so dachte ich, werden Pestizide ohnehin nur im Bedarfsfall verwendet, wenn die Ernte vor Schädlingen gerettet werden muss. Bereits nach kurzem Eintauchen in die Materie kam mir der Verdacht, dass es sich bei vielen dieser medial gestreuten Stehsätze zu Pestiziden um Mythen handelt, die von den Pestizidherstellern und auch von Vertretern der Landwirte verbreitet werden. Dieses Aha-Erlebnis und was ich im Zuge unserer einschlägigen Arbeiten an der Universität für Bodenkultur Wien erlebt habe, hat mich angespornt, dieses Buch zu schreiben. Vieles, was in diesem Buch zu lesen ist, ist in wissenschaftlichen Artikeln publiziert, aber wer außer Fachkollegen liest schon diese Arbeiten?

Wem ist schon bekannt,

 – dass die geltenden gesetzlichen Grenzwerte für Pestizidbelastungen in den letzten Jahren ständig nach oben korrigiert wurden?

 – dass wir inzwischen alle Spuren von Pestiziden in unserem Körper haben, auch wenn wir selber nie damit hantiert haben?

 – dass das viel strapazierte Zitat von Paracelsus, wonach die Dosis das Gift macht, für moderne Pestizide keine Gültigkeit mehr hat?

 – dass bis zu 25 Prozent der auf dem Markt befindlichen Pestizide Produktfälschungen sind?

 – dass ein deutscher Agrochemiekonzern Südtiroler Weinbauern Entschädigungen bezahlt, weil die Behandlung mit einem empfohlenen Pflanzenschutzmittel zu kompletten Ernteausfällen geführt hat?

 – dass für französische Weinbauern die Parkinson-Erkrankung als Berufskrankheit anerkannt ist?

 – dass Abfalldeponien von Altpestiziden weltweit im Fall von Naturkatastrophen tickende Zeitbomben darstellen?

 – dass Wissenschaftler, die sich kritisch mit dieser Thematik auseinandersetzen, in Internetforen denunziert werden und dadurch deren Integrität gezielt untergraben wird?

Niemand kann seriös sagen, wie die weit über 100.000 in Umlauf befindlichen Chemikalien unsere Gesundheit und die Natur beeinflussen, da deren Nebeneffekte ungenügend untersucht werden. Das in den Europäischen Verträgen verankerte Vorsorgeprinzip wird bereits gegenwärtig ignoriert, noch bevor irgendwelche, heiß diskutierte, Freihandelsabkommen abgeschlossen werden.

In diesem Buch wird zunächst die Problemlage skizziert und geschildert, wo und in welchen Mengen Pestizide eingesetzt werden. Es folgt ein Einblick in den wissenschaftlichen Alltag zur Erforschung der Nebenwirkungen. Hier wird auch angesprochen, wie wissenschaftliche Ergebnisse an die Öffentlichkeit kommen. Auch die Seriosität des allseits beliebten Online-Lexikons Wikipedia wird angesprochen.

Wenn Sie sich jetzt fragen, wie wir denn ohne die moderne Landwirtschaft, zu der nun einmal Pestizide gehören, die steigende Weltbevölkerung ernähren sollen, dann sind Sie offenbar bereits der Marketingmaschinerie der Agrarlobby aufgesessen! Im letzten Kapitel wird gezeigt, dass die pestizidintensive Landwirtschaft eigentlich ein Verlustgeschäft ist und enorme volkswirtschaftliche Kosten verursacht. Der vermeintliche Nutzen wiegt das bei weitem nicht auf. Zum Glück gibt es viele praxistaugliche Alternativkonzepte ohne exzessive Pestizidanwendung. Mittlerweile geben sogar Vertreter der Landwirtschaft zu, dass wahrscheinlich die Hälfte der Pestizide eingespart werden könnte, ohne dass die Erträge deswegen einbrechen würden. Ein Ausblickskapitel fasst zusammen, was sich dringend ändern soll und was die Politik dazu beitragen muss.

Die Kapitel müssen übrigens nicht der Reihe nach gelesen werden, sie sollten eigentlich auch durcheinander gelesen einen guten Einblick verschaffen.

Alle Aussagen im Text sind durch wissenschaftliche Studien belegt, deren Quellen so angegeben sind, dass sie im Internet leicht gefunden werden können. Ich konnte nur einen kleinen Teil der verfügbaren Studien auch tatsächlich in den Text aufnehmen, da das Buch sonst viel zu umfangreich geworden wäre. Zusatzinformationen fließen ein aus zahlreichen Gesprächen mit nationalen und internationalen Experten und Praktikern. Gute wissenschaftliche Praxis zeichnet sich übrigens dadurch aus, dass Studien von anderen Wissenschaftlern begutachtet (meist anonym) und danach in internationalen Fachzeitschriften veröffentlicht werden. In vielen modernen Zeitschriften werden mittlerweile die Studien, die zugrunde liegenden Rohdaten und auch die Berichte der Gutachter frei zugänglich gemacht. Wenn Studien zur Zulassung von Pestiziden von den Herstellern oder Zulassungsbehörden geheim gehalten werden, wie das vielfach passiert, dann ist das wissenschaftlich unethisch und gibt Raum für Spekulationen, dass da womöglich getrickst wurde. Gerechtfertigt wird diese Geheimhaltung von Herstellern und Behörden mit der Wahrung von Betriebsgeheimnissen. Leser, die sich bisher nicht mit dieser Thematik auseinandergesetzt haben, werden die im Buch aufgezeigten Aspekte schlichtweg als unfassbar empfinden. Die Situation ist womöglich sogar noch gravierender, als bislang an die Öffentlichkeit gelangt ist.

Was ich mit diesem Buch sicher nicht bezwecken will, ist, eine so lebenswichtige Sparte wie die Landwirtschaft pauschal anzuprangern. Selbst an der sogenannten »grünen« Universität für Bodenkultur in Wien lehrend und forschend liegt mir nichts ferner. Mein Ziel ist vielmehr, die Öffentlichkeit für diese Thematik zu sensibilisieren, um damit letztendlich auch der Politik klarzumachen, dass akuter Handlungsbedarf zum Wohle unserer Umwelt und unserer Gesundheit besteht. Angesprochen werden müssen in diesem Zusammenhang auch die Mechanismen und Verstrickungen, die dazu führen, dass den Landwirten zu derart exzessivem Pestizidgebrauch geraten wird.

Noch eine Begriffsklärung: Wenn ich in diesem Buch über Pestizide spreche, dann meine ich die meistens als Pflanzenschutzmittel bezeichneten Substanzen, die in der Landwirtschaft, von Straßenerhaltern, Gemeinden, Bahnunternehmen und Privatpersonen im Garten oder im Haus verwendet werden. Ich persönlich lehne den Begriff Pflanzenschutzmittel ab, weil er irreführend und beschönigend ist. Immerhin zählen ja auch Herbizide, also Substanzen, die Pflanzen töten, zu den Pflanzenschutzmitteln – schlichtweg eine unsinnige Bezeichnung.

Nicht eingegangen werden soll in diesem Buch auf Biozide, die vorwiegend im nicht-landwirtschaftlichen Bereich eingesetzt werden, wie in Desinfektionsmitteln oder Holzschutzmitteln. Diese würden Stoff für ein separates Buch bieten.

Bereits in diesem Vorwort habe ich des Öfteren die Begriffe Schädlinge oder Unkräuter verwendet. Beides sind Tabuwörter, Unwörter, um in der Diktion zu bleiben, aus dem Munde eines Ökologen. In einem Ökosystem gibt es eigentlich keine unerwünschten Organismen, da jede Art eine spezielle Rolle im gesamten Gefüge einnimmt. Wenn ein Organismus zum Schadorganismus wird, dann nur, wenn eine bestimmte Populationsstärke vorhanden ist. Einzelne Kartoffelkäfer, eine einzelne Distel haben wichtige Funktionen in Ökosystemen; nur wenn sie in Massen auftreten, sehen wir sie als problematisch und bekämpfenswert. Da diese Begriffe für Tiere und Pflanzen, die am falschen Ort in zu großen Mengen vorkommen, aber im allgemeinen Sprachgebrauch so weit verbreitet sind, möchte ich sie auch im Buch weiter verwenden.

Im Grunde schreibe ich nur aus dem Grund, weil vieles unangenehm ist. Wenn alles angenehm wäre, könnte ich wahrscheinlich überhaupt nichts schreiben – würde niemand schreiben.

THOMAS BERNHARD

WO LIEGT DAS PROBLEM? PESTIZIDE IM ALLTAG

Pestizide sind Substanzen, die – wörtlich genommen – dazu verwendet werden, um Seuchen zu töten. In der Praxis zählen dazu Insektizide (Insektenvertilgungsmittel), Herbizide (Unkrautvernichter), Fungizide (Mittel gegen Pilzerkrankungen), Akarizide (Milbengifte), Molluskizide (Schneckengifte) und viele mehr. Der breite Einsatz dieser Giftstoffe in der Landwirtschaft wird damit gerechtfertigt, dass der Nutzen von höheren Erträgen gesellschaftlich wichtiger ist als etwaige Nebenwirkungen. Die Hersteller der Pestizide und Regulierungsbehörden beruhigen, dass alles im grünen Bereich ist, solange die Pestizide korrekt angewendet werden. In diesem Zusammenhang wird dann auch gerne der Begriff »Anwendung nach guter fachlicher Praxis« strapaziert. Was wirklich dahintersteckt, ist der gewöhnliche Standard der Bewirtschaftung, den ein verantwortungsbewusster Landwirt in der betreffenden Region anwendet. Eigentlich eine leere Worthülse ohne klare Anwendungsvorschriften oder Mengenvorgaben. Damit eigentlich auch ohne viel Sinn, jedenfalls auch ohne rechtliche Bedeutung. Trotzdem wird der Begriff oft verwendet, um die Konsumenten zu beruhigen, dass es sich um eine umweltfreundliche Nahrungsmittelproduktion handelt. Man fragt sich dann aber doch, warum sich Berichte mehren, dass der Pestizideinsatz trotz dieser guten fachlichen Praxis zu so vielen negativen Einflüssen auf die Umwelt und die menschliche Gesundheit führt.

Seit etwa fünfzig Jahren setzt die konventionelle Landwirtschaft auf die massenhafte Verwendung chemisch-synthetischer Pestizide. Um landwirtschaftliche Erträge zu sichern, sind in Europa derzeit rund 290 Pestizidwirkstoffe zugelassen.1 Diese sind zusammen mit sogenannten inerten Beistoffen in unterschiedlichen Rezepturen – in der Fachsprache Formulierungen genannt – in einer Vielzahl an Pestizidprodukten enthalten. Allein in Deutschland und Österreich sind mehr als 1200 Pestizidprodukte zugelassen, in den USA sind es um die 16.000.2 Zur Rolle der eigentlich als wirkungslos geltenden inerten Beistoffe gibt es später noch einiges zu erzählen. Allein in der EU werden jährlich zirka 200.000 Tonnen Pestizidwirkstoffe verwendet, in Deutschland zirka 40.000 Tonnen, in Österreich etwa 4000 Tonnen. Die Nachfrage nach Pestiziden ist weltweit steigend, im Vergleich zu 1950 ist die Menge der eingesetzten Pestizide um das Fünfzigfache gestiegen. Produziert und verkauft werden viele Pestizide von europäischen Chemiekonzernen, auch wenn in der öffentlichen Debatte die Sündenböcke meistens in den USA ausgemacht werden (Stichwort Monsanto). Das Ganze ist ein gigantischer Geschäftszweig, weltweit werden mit Pestiziden geschätzt 49 Milliarden Euro umgesetzt.3 Mittlerweile beherrschen sechs Agrochemiekonzerne rund 75 Prozent des weltweiten Pestizidgeschäfts. Drei davon haben ihren Hauptsitz in Europa (BASF, Bayer, Syngenta), drei in den USA (Dow, DuPont, Monsanto). Stark aufstrebend ist der staatseigene chinesische Konzern ChemChina. Der Schweizer Konzern Syngenta ist mit zirka 23 Prozent Anteil der weltweit größte Pestizidhersteller.4 Die Branche befindet sich in einem Konzentrationsprozess, und es kommt unter Billigung der Wettbewerbsbehörden vieler Länder zu Zusammenschlüssen von unvorstellbaren Ausmaßen. Der Umstand, dass auch der Großteil der Forschung zu Wirkungen und Nebenwirkungen von Pestiziden von diesen Konzernen selbst durchgeführt wird, wird uns noch öfter beschäftigen.

Es klingt unglaublich, aber vorsichtigen Schätzungen zufolge wirken höchstens zehn Prozent der eingesetzten Pestizide tatsächlich gegenüber den Schädlingen oder Krankheiten, die bekämpft werden sollen.5 Über neunzig Prozent der eingesetzen Pestizide gelangen auf sogenannte Nicht-Zielorganismen, also Lebewesen, die eigentlich nicht bekämpft werden sollten. Jeder, der schon einmal die landwirtschaftliche Pestizidanwendung im Feld beobachtet hat oder selbst Pestizide versprüht hat, kann das gut nachvollziehen. Die Folgen sind zwangsläufig ein Verlust der biologischen Vielfalt, der Biodiversität. Weiters reichern sich die Pestizide, deren Abbauprodukte und Beistoffe im Boden an, beeinträchtigen Nährstoffkreisläufe und das natürliche Zusammenspiel zwischen Nützlingen und Schädlingen in der Natur. Früher oder später finden sich diese Pestizide dann auch im Trinkwasser oder in unserer Nahrung und beeinträchtigen unsere Gesundheit. Pestizide werden mittlerweile verantwortlich gemacht für neurologische und hormonelle Funktionsstörungen, Fehlgeburten, Krebs und andere chronische Krankheiten. Damit wird sich ein späteres Kapitel beschäftigen.

Auch wenn direkte Zusammenhänge zwischen der Pestizidbelastung und unserer Gesundheit schwierig sind, sind die Nebenwirkungen mittlerweile sogar rechtlich anerkannt. Bei Frankreichs Weinbauern ist eine Parkinsonerkrankung durch Pestizide offiziell als Berufskrankheit akzeptiert.6 Um Anspruch auf eine Rente zu haben, müssen Weinbauern oder landwirtschaftliche Angestellte mindestens zehn Jahre lang mit den Pestiziden in Berührung gewesen sein, und die Krankheit muss spätestens ein Jahr nach Ende der Verwendung ausgebrochen sein. Auch in Deutschland wurde bereits mehreren Landwirten ihre Parkinsonerkrankung als Berufskrankheit anerkannt. Hier sollten sich eigentlich die Politiker und die Gesellschaft zum Schutz der Landwirte einsetzen. Oder ist es in unserer modernen Gesellschaft so vorgesehen, dass die Landwirte ihre Gesundheit für die Produktion unserer Nahrungsmittel opfern sollen? Aber selbst die landwirtschaftliche Berufsvertretung schweigt dazu und lässt ihre Klientel im Pestizidregen stehen. In vielen Ländern ist das ein Tabuthema. Politiker der betroffenen Ressorts wie Landwirtschaft, Umwelt oder Gesundheit oder auch die Vertreter der Landwirte scheinen wichtigere Themen auf ihrer Agenda zu haben. Vielleicht befinden sie sich aber einfach nur in einer Zwickmühle, da viele davon im Aufsichtsrat der Agrochemiefirmen sitzen und folglich schlecht dagegen auftreten können.7 Dabei zählt die Landwirtschaft neben dem Bergbau und dem Baugewerbe ohnehin zu den drei gefährlichsten Berufsfeldern der Welt. Von den vielen Millionen Arbeitsunfällen pro Jahr enden mindestens 170.000 tödlich. Hauptursache sind Unfälle mit Maschinen, Vergiftungen mit Pestiziden und anderen Agrarchemikalien sowie physische Überbelastung, Lärm, Staub, Allergien und von Tieren übertragene Krankheiten.8

Pragmatiker mögen jetzt entgegnen, dass Schädlinge und Krankheiten bekämpft werden müssen, schließlich geht es um die Produktion von Nahrungsmitteln, und Landwirte müssen ja nun mal von den Erträgen leben. Es wird ja ohnehin nur mit Pestiziden gespritzt, wenn Gefahr in Verzug ist und die Ernte durch Schädlinge, Unkräuter oder Pilzerkrankungen bedroht ist. Dem ist leider überhaupt nicht so! In den meisten Fällen werden Pestizide nicht erst beim Auftreten von Erkrankungen oder Schädlingen eingesetzt, sondern bereits vorbeugend, für den Fall der Fälle sozusagen. Dies führt dann unweigerlich dazu, dass manche landwirtschaftliche Kulturen im Verlauf einer Vegetationsperiode mehrfach mit Pestiziden behandelt werden, etwa weil entsprechende Wetterlagen die Wahrscheinlichkeit für Pilzerkrankungen erhöhen.

Moderne Landwirte werden mittlerweile per SMS auf die notwendige Pestizidbehandlung hingewiesen. Diese praktischen Spritzberatungstipps werden oft kostenlos von den Pestizidherstellern zur Verfügung gestellt. Dies ergibt nicht nur eine schiefe Optik, sondern stellt auch eine klare Befangenheit der Berater dar, da diese ja Umsätze lukrieren müssen. Man hat mir erzählt, dass da auch Pestizidbehandlungen empfohlen werden, die nicht unbedingt erforderlich sind. Man will ja schließlich keine Regressforderungen seitens der Landwirte bei Ernteausfällen risikieren.

Zweifelhafter Spitzenreiter im Pestizideinsatz ist der Apfelanbau mit durchschnittlich 31 Pestizidbehandlungen pro Anbausaison, gefolgt vom Weinbau mit achtzehn und den Kartoffeln mit zwölf Anwendungen pro Saison.9 Bedenkt man, dass die Saison beim Apfelanbau ja nur 24 Wochen (sechs Monate) dauert, so sind das mehr als eine Pestizidbehandlung pro Woche. Dagegen wirken Hopfen mit durchschnittlich neun, Weizen mit sechs oder Mais mit zwei Pestizidanwendungen pro Saison geradezu wie naturnahe Bewirtschaftungsformen. Der elterliche Rat an Kinder, Obst vor dem Essen abzuwaschen, ist leider auch nicht mehr gültig, da es sich bei vielen Pestiziden um systemisch wirkende Substanzen handelt, die nicht nur außen an den Pflanzen anhaften, sondern in der gesamten Pflanze bis in die Früchte verteilt werden. Aber zum Glück, so liest man in den Fachbüchern, zählen die modernen Pestizide ja zu den am besten getesteten chemischen Substanzen überhaupt, nur vergleichbar mit Arzneimitteln.10 Auch wird immer behauptet, dass moderne Pestizide im Gegensatz zu den älteren gut biologisch abbaubar sind und rasch in unbedenkliche Bestandteile zerfallen. Verwunderlich ist dabei nur, dass wir in den Medien regelmäßig von Pestizidrückständen in unseren Lebensmitteln lesen. Aber das ist wohl Panikmache und nur das Ergebnis verfeinerter Analysemethoden. Ich möchte hier keinen polemischen Grundton anschlagen, aber dies sind die Argumente, um die sich Debatten in Zusammenhang mit Pestiziden oft drehen.

Der exzessive Einsatz von Pestiziden führt noch zu einem weiteren, inzwischen weltweiten Problem. Nämlich dem zunehmenden Auftreten von Resistenzen bei tierischen Schädlingen, Pflanzenkrankheiten oder zur Entwicklung sogenannter Super-Unkräuter, gegen die keines der zur Verfügung stehenden Gifte wirkt. Es wäre unseriös zu behaupten, dass dahinter ein Geschäftsmodell steckt, da Resistenzen schließlich dazu veranlassen, immer neue Pestizide zu entwickeln und zu verkaufen. Jedenfalls lernt man bereits in der Schulbiologie, dass Organismen auf chronische Stressoren – und nichts anderes sind regelmäßige Pestizidgaben – mit evolutiven Anpassungen reagieren. Experten haben auch bereits sehr früh vor der Gefahr der Resistenzbildung gewarnt, wurden aber von der Agrochemieindustrie ignoriert. Die Situation ist mittlerweile so gravierend, dass sogar Pestizidhersteller ihren Landwirten raten, auf Konkurrenzprodukte auszuweichen oder eben wieder auf traditionelle Methoden der mechanischen Unkrautkontrolle umzusteigen.11 Die Forschung geht mittlerweile in Richtung von Pestiziden mit mehreren Wirkstoffkomponenten oder gentechnisch veränderten Kulturpflanzen, die gegenüber mehreren Herbiziden resistent sind.

Dies ist die Problemlage, um die dieses Buch kreist. Folgenden Fragen wird nachgegangen:

 – Wie gut kennen wir eigentlich die Substanzen, die in diesen großen Mengen ausgebracht werden?

 – Wie streng werden diese Produkte getestet, bevor sie auf den Markt kommen?

 – Welche Nebenwirkungen haben diese Pestizide für unsere Umwelt und uns Menschen?

 – Wie steht es um die wissenschaftliche Erforschung der Nebenwirkungen dieser Substanzen?

 – Können wir ohne Pestizideinsatz die steigende Weltbevölkerung überhaupt ernähren?

 – Werden die Risiken der Pestizide durch deren Nutzen aufgewogen?

Welche Rolle fällt der kritischen Wissenschaft und der Politik zu?

Doch zunächst soll kurz erläutert werden, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass die sogenannte konventionelle Landwirtschaft so sehr von Agrarchemikalien abhängig wurde.

LANDWIRTSCHAFT IN DER PESTIZIDTRETMÜHLE

Die Geschichte der Verwendung von Pestiziden ist fast so alt wie die Geschichte der Landwirtschaft selbst. Bereits 2500 vor Christus wurde in Mesopotamien elementarer Schwefel gegen Schädlinge auf landwirtschaftlichen Kulturen eingesetzt, im 15. Jahrhundert war die Anwendung von Arsen, Quecksilber oder Blei sehr verbreitet. Die Entdeckungsreisen im 18. Jahrhundert brachten dann die Erkenntnis, dass auch pflanzliche Wirkstoffe gegen Schädlinge eingesetzt werden können, Nikotin aus Tabakpflanzen oder Pyrethrum aus Chrysanthemen. Der breite Einsatz von Pestiziden auf dem Feld begann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Entscheidender Auslöser war wohl die Einschleppung verschiedener Schaderreger nach Europa mit den Handelsströmen, die dann zu katastrophalen Missernten führten. Bekannt ist die Krautfäuleepidemie bei Kartoffeln 1845 in Irland, die den Hungertod und die Emigration von Millionen von Iren nach sich zog. Im Weinbau wurde um 1878 der hochaggressive Falsche Rebenmehltau mit Pflanzgut von Amerika nach Frankreich eingeschleppt. Mit vielen dieser Schädlinge und Krankheiten muss sich auch die heutige Landwirtschaft noch auseinandersetzen. Durch weltweite Handelsströme kommen noch dazu ständig neue potenzielle Schädlinge oder Krankheiten in Regionen, wo sie keine natürlichen Gegenspieler haben.

Das erste Insektizid wurde bereits 1892 vom Agrarchemiekonzern Bayer entwickelt. Die Ära der modernen Pestizide begann jedoch erst in den 1930er Jahren mit den Organochlor-Insektiziden, darunter Wirkstoffe wie das berühmt-berüchtigte DDT (Dichlordiphenyltrichlorethan) oder auch Lindan (Gamma-Hexachlorcyclohexan). Erst in den 1940er Jahren wurde das erste synthetische Herbizid, genannt 2,4-D (2,4-Dichlorphenoxyessigsäure), entwickelt. Viele spätere Pestizidwirkstoffe, vor allem Organophosphate, waren im Zweiten Weltkrieg oder auch im Irakkrieg im Jahr 2003 als Kampfgase im Einsatz. Sie waren einfach und billig herzustellen und wirkten gegen eine große Bandbreite von Schadinsekten. In vielen Teilen der Welt erhöhten sich nach dem Einsatz der Pestizide die landwirtschaftlichen Erträge, und dementsprechend beliebt war deren Anwendung. Allerdings stellte sich bald heraus, dass sich viele Pestizide in der Umwelt kaum abbauten und in der Nahrungskette anreicherten.

Wie hat sich eigentlich diese intensive Landwirtschaft entwickelt? Im Gegensatz zur kleinteiligen, traditionellen Landwirtschaft ist die moderne Landwirtschaft gekennzeichnet durch Spezialisierung, Monokulturen und höchste Effizienz, so zumindest wird sie uns in der Öffentlichkeit vermittelt. Monokulturen, also der Anbau einer landwirtschaftlichen Kultur über riesige Flächen, befördert die Entwicklung und Ausbreitung von Pflanzenkrankheiten und Schädlingen. Die Tendenz zur Spezialisierung findet sich übrigens in der konventionellen und nicht ganz so extrem ausgeprägt auch in der biologischen Landwirtschaft.

Tatsächlich hat die Landwirtschaft in den letzten Jahrzehnten einen enormen Wandel durchgemacht. War in den 1950er Jahren noch mehr als die Hälfte der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig, sind jetzt in Europa im Schnitt nur mehr 2,8 Prozent der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft beschäftigt.12 Ähnlich dramatische Rückgänge sieht man in allen Industrienationen. Vielleicht wird wegen dieses Rückgangs an Arbeitskräften auch die Bedeutung der Landwirtschaft gegenüber anderen Wirtschaftszweigen von der Politik notorisch unterschätzt. Glaubt man einer repräsentativen Umfrage aus Deutschland, dann wird die Bedeutung der Landwirtschaft von den Bürgern aber durchaus geschätzt.13 Die meisten Deutschen sind der Ansicht, dass eine gut funktionierende Landwirtschaft eine Grundvoraussetzung für die Lebensqualität und Lebensfähigkeit des Landes ist und dass das bäuerliche Leben einen wichtigen Bestandteil deutscher Kultur darstellt. Die Umfrage hat auch gezeigt, dass ökologische Aspekte bei den Menschen zusehends an Bedeutung gewinnen und die Erzeugung regenerativer Energien sowie Klimaschutz immer mehr mit der Landwirtschaft in Verbindung gebracht werden. Das Stichwort dazu ist die multifunktionale Landwirtschaft, also nicht nur die reine Lebensmittelproduktion, sondern auch das Schaffen eines attraktiven Landschaftsbildes und vieles mehr. Wir werden diesen Aspekt später noch ausführlicher beleuchten. Generell ist das Interesse an landwirtschaftlichen Themen im Vergleich zu einer ähnlichen Umfrage fünf Jahre zuvor deutlich angewachsen. Das Interesse der Bevölkerung liegt dabei aber nicht mehr auf der Produktion ausreichender Lebensmittel, sondern eher auf der Qualität der Produkte und der Einhaltung von Tierschutzstandards.

Das Grundprinzip der Landwirtschaft ist eigentlich, die Energie, die von der Sonne kommt, durch den Anbau von Nutzpflanzen möglichst effizient zu nutzen, um damit Nahrungsmittel zu produzieren. Dabei nutzt sie einen der ältesten biologischen Prozesse der Erde: die Fotosynthese. Jede Pflanze kann mit Sonnenenergie, dem Klimagas CO2, Wasser und Nährstoffen Blattmasse, Holz oder Früchte aufbauen, die dann von uns vielfältig genutzt werden können. Als Abfallprodukt der Fotosynthese entsteht erfreulicherweise Sauerstoff, der wiederum lebensnotwendig ist für die meisten Lebewesen, einschließlich uns Menschen. An sich ein faszinierender Kreislauf, den es nachhaltig zu betreiben gilt.

Man neigt dazu anzunehmen, dass die moderne Landwirtschaft mit all den tollen Maschinen und ausgeklügelten Produktionsanlagen wesentlich besser und effizienter in der Lage ist, diese Bindung der Sonnenenergie zu bewerkstelligen als die altmodische, traditionelle Landwirtschaft. Das ist aber nicht unbedingt zutreffend. Um 1830 konnten in der Landwirtschaft für jede investierte Energieeinheit fünf Einheiten in Form von Nahrungsmitteln und anderer pflanzlicher Biomasse geerntet werden. Um 1910 war sogar noch eine Steigerung der Effizienz hin zu einem Verhältnis von 1:9 zwischen Energieeinsatz und Energieernte in der Landwirtschaft zu verzeichnen. Ertragfähigeres Saatgut, bessere Geräte zur Feldbestellung und Anbautechnik machten diese Effizienzsteigerung möglich. Im Jahr 2000 lag das Verhältnis jedoch nur mehr bei 1:1, bei einigen Produktionsweisen muss mittlerweile mehr Energie ins System gepumpt werden, als rausgeholt werden kann.14 Diese Zahlen für die gesamte Landwirtschaft gelten auch für einzelne landwirtschaftliche Kulturen: Bei Mais betrug das Input/Output-Verhältnis im Jahr 1700 1:10, im Jahr 1980 nur mehr 1:2,5; Reisanbau auf den Philippinen hat ein Verhältnis von 1:108, in den USA jedoch nur von 1:5.15 Das bedeutet, dass die moderne Landwirtschaft, als der zentrale Lieferant für die menschliche Ernährung, nicht wirklich effizient und nachhaltig arbeitet.16

Was sind die Ursachen für diesen hohen Energieaufwand? Für amerikanische Farmer wurde errechnet, dass fast 29 Prozent der Energiekosten für Dünger und fast sechs Prozent für Pestizide und die restlichen 65 Prozent für Elektrizität und Treibstoffe verwendet werden.17 Wenn nur Dünger und Pestizide betrachtet werden, dann hat der Dünger einen Energieanteil von 77 Prozent am Ernteprodukt, gefolgt von 23 Prozent für Pestizide und Saatgut.18 Synthetisch hergestellter Dünger und chemisch-synthetische Pestizide, die in der Landwirtschaft verwendet werden, haben die Nahrungsmittelproduktion zwar erhöht, benötigen in der Herstellung jedoch auch sehr viel Energie. Stickstoff ist der mengenmäßig am häufigsten zugeführte Dünger-Nährstoff. Der Energiebedarf für Herstellung, Transport und Ausbringung von einer Tonne Stickstoffdünger entspricht dem Energiegehalt von etwa zwei Tonnen Erdöl! Aber auch die Herstellung von Pestiziden ist sehr energieintensiv. Aufgrund der Vielzahl an Pestiziden gibt es dazu aber leider keine verlässlichen Zahlen. Der Energieanteil für Pestizide hängt natürlich stark vom landwirtschaftlichen Betriebszweig ab. Bei einem Obstproduzenten, der seine Kulturen dreißigmal pro Saison mit Pestiziden behandelt, wird der Beitrag der Pestizide zur Energiebilanz höher sein als bei einem Ackerbauern, der nur zweimal pro Saison Pestizide ausbringt. Trotz der hohen Ausgaben für Treibstoffe ist die Energieeffizienz bei landwirtschaftlichen Fahrzeugen nicht wirklich ein Thema. Beispielsweise werden im Weinbau bei 25 Fahrten im Weingarten in der Saison über 250 Liter Diesel pro Hektar verbraucht. Umgerechnet auf hundert Kilometer entspricht dies einem Dieselverbrauch von unglaublichen 300 Litern! Die zahlreichen Arbeitsgänge für die Ausbringung von Pestiziden haben dabei einen wesentlichen Anteil.19 Jetzt wird mir auch klarer, warum viele Landwirte eigene Tankstellen am Hof haben und warum es immer einen riesigen Aufschrei seitens der Landwirtschaft gibt, wenn über Kürzungen bei der Förderung von Agrar-Diesel diskutiert wird. Im Vergleich zu 1950 ist die Menge der eingesetzten Pestizide um das Fünfzigfache gestiegen.20 Projiziert man die in der Vergangenheit stets steigende Pestizidproduktion in die Zukunft, dann würde sich die Pestizidproduktion bis 2020 noch einmal fast verdoppeln, bis 2050 sogar fast verfünffachen. Die Belastung von Natur und Mensch mit Pestiziden wird in der Zukunft also ziemlich sicher noch ansteigen.

Es wäre unausgewogen und unfair, an dieser Stelle die enormen Errungenschaften der Landwirtschaft in den letzten Jahrzehnten zu leugnen. Während der ersten 35 Jahre der sogenannten Grünen Revolution hat sich die Getreideproduktion verdoppelt, dadurch wurde die Nachfrage der steigenden Weltbevölkerung nach Getreide gestillt.21 Die Grüne Revolution wurde von der US-Entwicklungshilfeorganisation als Gegenbewegung zur gewaltsamen Roten Revolution in der Sowjetunion ausgerufen. Wirklich vorangetrieben hat sie der amerikanische Agrarwissenschaftler Norman E. Borlaug, der dafür 1970 sogar den Friedensnobelpreis erhielt. Die Grüne Revolution zeichnet aus, was wir heute unter konventioneller, industrieller Landwirtschaft verstehen: große Monokulturen, große Maschinen, Chemisierung in Form von Düngern, Pestiziden, Beschränkung auf wenige Hochleistungssorten und künstliche Bewässerung. Wir haben vorher ausgeführt, wie energie- und maschinenintensiv diese Art der Landwirtschaft ist. Wahrscheinlich war es deshalb nicht nur Zufall, dass es vor allem die Stiftungen des Ölgiganten Rockefeller und des Agrarmaschinenherstellers Ford waren, die mit kräftiger finanzieller Unterstützung dafür sorgten, dass sich die Grüne Revolution weltweit verbreitete.22 Trotz dieser Errungenschaften hungern aber noch immer fast 850 Millionen Menschen auf unserer Erde. Dementsprechend appellieren die Nahrungsmittelindustrie und Agrokonzerne unisono, dass wir die Intensivierung vorantreiben müssen, um Hunger auf der Welt zu bekämpfen. Dass in den westlichen Industriestaaten gleichzeitig auch 1,4 Milliarden Menschen an Übergewicht und krankhafter Fettleibigkeit leiden, wird dabei geflissentlich übersehen. Die Schlussfolgerung liegt nahe, dass weltweit eigentlich genug Nahrungsmittel produziert werden, diese jedoch ungerecht verteilt werden. Jedenfalls wurde noch nie so viel Getreide produziert wie heutzutage, aber nur 46 Prozent dieser Ernte dienen tatsächlich unmittelbar als Lebensmittel. Der Rest dient als Viehfutter für die Fleischproduktion, als sogenannter Agrosprit dem fossilen Treibstoff beigemischt oder als Industrierohstoff verarbeitet. Allein in Österreich landet größenordnungsmäßig fast jeder zweite Hektar des Ackerlandes (45 Prozent) im Tank der Autofahrer.23 Dies wirft die Frage auf, ob es den Agrokonzernen mit ihrem Plädoyer für eine pestizidintensive Landwirtschaft wirklich vorrangig um die Sicherung der Ernährung geht.

Mit dieser Form der industriellen Landwirtschaft sind wir mittlerweile aber in einer paradoxen Situation. Der Wirtschaftszweig, der eigentlich unsere Lebensgrundlage ist, wird selbst zu einer der wichtigsten Ursachen für den Klimawandel, das Artensterben, für Umweltvergiftung und Wasserverknappung. Bis zu vierzig Prozent aller Treibhausgasemissionen werden direkt oder indirekt durch unsere Agrar- und Lebensmittelproduktion, deren Verarbeitung, Transport, Verbrauch und Entsorgung verursacht. Landwirtschaft ist die Erwerbs- und Existenzgrundlage von mehr als einem Drittel der Menschheit, die Ernährung insgesamt der wichtigste Wirtschaftszweig der Welt.

Exzessiver Pestizidgebrauch wird meist mit riesigen Monokulturen und Landwirtschaft in industriellen Maßstäben gleichgesetzt. Weniger bekannt ist jedoch, dass auch viele Kleinbetriebe und Nebenerwerbslandwirte häufig Pestizide einsetzen. Jeder genießt wohl die Ästhetik und Diversität einer reich strukturierten Weinbaulandschaft. Hinzu kommt noch der Gedanke an den guten Tropfen Wein, der da hervorgebracht wird. Aber wie wir vorhin gehört haben, zählt der Weinbau nach dem Obstbau zu den landwirtschaftlichen Kulturen mit dem höchsten Pestizideinsatz. Allein in Österreich sind für den Weinbau 277 Pestizide zugelassen. Brisant dabei ist, dass die meisten Pflanzenschutzmaßnahmen vorbeugend stattfinden. Dass Weinbauern dabei unwissentlich auch als Versuchskaninchen von Agrochemiekonzernen dienen, lässt ein Vorfall aus Südtirol vermuten. Der deutsche Agrochemiekonzern Bayer zahlte Südtiroler Weinbauern zwei Millionen Euro Entschädigung, weil die Behandlung mit einem empfohlenen Fungizid gegen den Botrytis-Pilz einen Totalausfall der Erträge gebracht hat.24 Rund 800 Südtiroler Weinbauern haben das Fungizid auf ihre Anlagen gesprüht, im darauffolgenden Sommer bemerkten sie enorme Schäden bei den Rebblüten und dann auch viele Ernteausfälle. Der Hersteller hat daraufhin eine offizielle Empfehlung veröffentlicht, das Fungizid aus Vorsorgegründen (!) im Weinbau nicht mehr einzusetzen. So viel vorerst zum Mythos, dass es sich bei Pestiziden um die am besten untersuchten chemischen Substanzen handelt.

Es ist klar, dass in früheren Jahren mit ganz anderen Pestizid-Geschützen aufgefahren wurde. Viele Pestizide waren persistent und haben sich im Fettgewebe von Tieren und Menschen angereichert. Ob die neueren Pestizide wirklich besser sind, kann eigentlich nicht seriös beantwortet werden, da schlichtweg der Erfahrungszeitraum fehlt. In einem wissenschaftlichen Lehrbuch aus den USA aus dem Jahr 1974 wird beispielsweise angegeben, dass mit einem Gemisch aus zehn bis zwanzig Gallonen Dieselöl, zwei bis drei Pints Dinitrophenol und hundert Gallonen Wasser ein gutes Herbizid zur Unkrautbekämpfung in Weingärten herzustellen ist.25 Man beachte die exakten Dosierungsangaben! Dieses Gemisch soll dann viermal in der Saison angewendet werden. Dieses Pestizid wurde übrigens bereits Ende des 19. Jahrhunderts als Insektizid patentiert, machte dann aber auch als Fungizid und in den 1970er Jahren als Herbizid Karriere. Klingt eher nach Herumprobieren als nach zielgerichteter Entwicklung von Spezialpräparaten. Im selben Buch wird übrigens auch auf einen vielversprechenden und umweltfreundlichen Wirkstoff hingewiesen, der vollständig in unschädliche Bestandteile abgebaut wird: Glyphosat; aber dazu später mehr.

Dass das Versprühen von reinen Erdölprodukten nicht ganz der Vergangenheit angehört, zeigt eine kleine Episode mit einem Studenten aus Bangladesch, dessen Vater Jutefarmer ist. Gefragt, was dort an Pestiziden eingesetzt wird, meinte der Student der Agrarwissenschaften zu mir, dass alles biologisch bewirtschaftet würde und keine synthetischen Pestizide verwendet werden. Auf meine skeptische Nachfrage, was denn im Bedarfsfall gegen Schädlinge eingesetzt wird, erklärte der Student, lediglich Kerosin. Kerosin kennt man übrigens auch als Flugzeugbenzin, wird aber nicht von Agrochemiekonzernen hergestellt.

Obwohl Pestizide zu höheren landwirtschaftlichen Erträgen beitragen können, dürfen wir die negativen Effekte auf die menschliche Gesundheit und unsere Umwelt nicht außer Acht lassen. Das Problem ist leider nicht nur auf landwirtschaftliche Felder beschränkt. Einige Pestizide verteilen sich weltweit, werden durch Wind oder Erosion verdriftet und reichern sich in Nahrungsketten an und beeinflussen damit sogar die Umwelt und Menschen in sehr großer Entfernung vom Ausbringungsort der Substanzen. Manche Substanzen, die in den 1970er Jahren verwendet wurden, haben sich über Wind und Schnee im Eis der Alpengletscher angereichert. Mit der Klimaerwärmung und dem Abschmelzen der Gletscher werden diese Substanzen wieder freigesetzt und finden sich in vermeintlich unberührtem »Hochquellwasser« wieder.26 Sogar im Fett von Pinguinen in der Antarktis werden Spuren von Pestiziden gemessen, die Tausende Kilometer davon entfernt eingesetzt wurden.27 Pflanzen, die mit Pestiziden besprüht werden, werden von Bienen aufgenommen und gelangen über den Honig auf dem Frühstücksbrot in den menschlichen Körper. Woher der Honig kommt, scheint unerheblich; immerhin hat man mittlerweile Pestizidrückstände in Honigproben aus achtzig verschiedenen Ländern nachgewiesen.28 Pestizide, die per Flugzeug gegen Stechmücken eingesetzt werden, werden von Fischen, die Mückenlarven fressen, aufgenommen und landen letztendlich über ein Fischgericht im Menschen.

PESTIZIDE WERDEN AUCH ANDERSWO EINGESETZT

Landwirte, die sich wegen der Pestizidproblematik zu Unrecht kritisiert fühlen, antworten oft reflexartig, dass ja eigentlich die Bahn der größte Verbraucher an Pestiziden sei. Aber darüber rede niemand, weil die Bahn eine bessere Lobby habe. Gehen wir der Sache nach.

Tatsache ist, dass der Gleiskörper mit Herbiziden unkrautfrei gehalten wird, da es sonst zu Entgleisungen kommen könnte oder erhöhte Brandgefahr herrschen würde. Zum Pestizidaufwand auf dem Streckennetz der Deutschen Bahn gab es eine parlamentarische Anfrage im Deutschen Bundestag, es ging dabei vor allem um das umstrittene Herbizid Glyphosat.29 Demnach verwaltet die Deutsche Bahn ein Streckennetz von zirka 34.000 Kilometern mit einer Gesamtfläche von etwa 1040 Quadratkilometern und setzt zur Unkrautbekämpfung der Gleise jährlich etwa siebzig Tonnen Glyphosat ein. Immerhin etwa 310 Quadratkilometer dieser Fläche befinden sich in Wasserschutz- oder Naturschutzgebieten. Damit ist die Deutsche Bahn nicht der größte, aber mit sehr viel Abstand der zweitgrößte Verbraucher von Herbiziden in Deutschland nach der Landwirtschaft, die jährlich etwa 4000 Tonnen verbraucht. In Österreich verwendeten die ÖBB auf zirka 5600 Kilometer und einer Fläche von 42 Quadratkilometern etwa 9,7 Tonnen von insgesamt 338 Tonnen Glyphosat, die in Österreich insgesamt pro Jahr eingesetzt wurden.30 Angewendet wird das Herbizid mit einem speziellen Spritzzug, der nachts unterwegs ist und dabei die Vegetation erkennt und selektiv besprüht, anstatt das Mittel großflächig aufzubringen. Damit konnten seit 2005 in Österreich angeblich etwa 75 Prozent der ursprünglichen Herbizid-Menge eingespart werden. Auch auf Nebenbahnen, die zum Teil durch Naturschutzgebiete führen, werden Herbizide eingesetzt. Die Sensibilisierung der Mitarbeiter oder der Druck der Öffentlichkeit geht dabei zum Teil so weit, dass offiziell nicht mehr von Unkrautvernichtern, sondern von Aufwuchsbekämpfungsmitteln gesprochen und das eingesetzte Glyphosat als biologisch wirksames Mittel bezeichnet wird. Wobei Letzteres im Grunde genommen sogar stimmt, da ja durch dieses Herbizid wirklich in die biologischen Prozesse der Pflanze eingegriffen wird.

Pestizide werden auch zur sogenannten Wildvergrämung, dem Abwehren von Wildverbiss und Vogelfraß, in landwirtschaftlichen Kulturen oder in der Forstwirtschaft eingesetzt. Die dabei verwendeten Mittel sind heftig. Giftig für Regenwürmer, sehr giftig für Wasserorganismen, giftig beim Einatmen und stehen im Verdacht in den verwendeten Dosierungen sogar die Parkinson-Krankheit auszulösen.31

Ein sehr wenig untersuchtes Feld ist der Pestizideinsatz in sogenannten Aquakulturen, also Farmen, in denen Fische und Meeresfrüchte produziert werden. Bei stichprobenartigen Untersuchungen von Lachs, Forelle, Dorade und Wolfsbarsch aus Aquakulturen konnte weiters auch ein Pestizid (Ethoxyquin) über der erlaubten Höchstgrenze nachgewiesen worden.32 Wegen möglicher Krebserregung wurde dieses Pestizid mittlerweile sogar verboten. Pestizide werden auch eingesetzt, um zum Beispiel in Krebszuchten natürlich vorkommende Garnelen zu dezimieren.33 Andererseits werden in der Garnelenzucht Pestizide eingesetzt, um Fische, Krebse, Schnecken, Pilze, Algen und Schlingpflanzen zu bekämpfen.34 Weiters werden noch große Mengen an Desinfektionsmitteln eingesetzt, um zu verhindern, dass durch den Garnelenkot am Meeresgrund Krankheitserreger entstehen, die die Zucht gefährden könnten. Wie in jeder intensiven Tierzucht werden auch in den Aquakulturen Antibiotika in großen Mengen eingesetzt, aber dies soll hier nicht weiter ausgeführt werden.

Im Herbst 2017 wurden nach den verheerenden Überschwemmungen im Zuge von Hurrikan Harvey in Texas über mehrere Wochen Insektizide gegen Moskitos großräumig mittels C-130-Herkules-Militärflugzeugen ausgebracht.35 Innerhalb weniger Tage konnten so etwa 7500 Quadratkilometer Überschwemmungsgebiet mit Insektiziden behandelt werden. Man will damit den Ausbruch von von Moskitos übertragenen Krankheiten wie das West-Nil-Fieber oder das Zika-Virus verhindern. Obwohl zugegeben wird, dass die meisten Moskito-Arten, die nach Überflutungen auftreten, gar nicht als Krankheitsüberträger auftreten, befürchtet man in erster Linie eine Belästigung der Bewohner und Hilfskräfte durch Moskitos. Solche Aktionen gab es auch schon bei den Hurrikanen Katrina, Rita und Gustav die Jahre davor. Eingesetzt wird dafür übrigens das Insektizid Naled, hergestellt von einem strategischen Partner von Monsanto.36 Dieses Produkt ist in Europa wegen »unakzeptabler Risiken« für Menschen verboten. Die Pestizid-Flüge finden bei Tag und in der Nacht statt, die Bewohner werden zur Vorsicht gemahnt, Imker sollten ihre Bienenstöcke abdecken.

Aber auch in Europa ist die Bekämpfung von Stechmücken aus dem Helikopter etwa am Rhein, an der Donau oder am Chiemsee bereits seit Jahren gebräuchlich.37 Eingesetzt werden Insektizide aus der Gruppe der Pyrethroide oder in letzter Zeit verstärkt ein Bakterium (Bacillus thuringiensis israelensis, BTi). Wenig bekannt ist noch über die Umweltwirkungen der eingesetzten Pestizide. Immerhin stellen Mücken und ihre Larven eine wichtige Nahrungsquelle für Vögel, Fledermäuse, Fische und Amphibien dar. BTi wird harmloser eingeschätzt, es wirkt aber auch nur gegen Mückenlarven, die noch im Wasser leben, und nicht gegen die ausgewachsenen Insekten. Gegen die ausgewachsenen Plagegeister müssen dann schon die für viele Insekten toxischen Pyrethroide, die auch als hormonell wirksame Substanzen eingestuft werden, verwendet werden.

Insektizide werden auch in Landschaftsgärtnereien im großen Stil eingesetzt. Ein drastischer Fall wird aus den USA berichtet. Dort hat sich im Sommer 2014 eine Firma für Landschaftsplanung dazu entschlossen, einige Lindenbäume mit einem Insektizid zu behandeln.38