Unter dem Dunst - Barbara Tapasco - E-Book

Unter dem Dunst E-Book

Barbara Tapasco

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Beschreibung

Samantha, aufgewachsen in der glänzenden Welt der Privilegierten über dem Dunst, Tochter des einflussreichsten Unternehmers und Ratsherrn der Stadt, hatte bisher ein unbesorgtes Leben. Doch das unheimliche Gefühl, beobachtet zu werden, dass da noch jemand ist, den sie nicht sieht, verstärkt sich immer mehr. Bis sie schließlich erfährt, dass sie mit den Geschehnissen in der Stadt mehr zu tun hat, als sie geglaubt hatte. Kieran aufgewachsen in der Welt der Benachteiligten Unter dem Dunst, wurde von ihren Eltern verstoßen, weil sie eine Formerin ist, und lebt nun zusammen mit anderen Begabten versteckt im Waisenhaus der Vereinigung, denn ihresgleichen werden vom Rat verfolgt. Als ihre große Schwester von einem Tag auf den anderen verschwindet, beginnt sie sich gegen die Herrschaft von oben aufzulehnen und ihre ungewöhnliche Macht als Formerin endlich zu akzeptieren.

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Unter dem Dunst

Barbara Tapasco

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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.papierfresserchen.de

© 2023 – Herzsprung-Verlag GbR

Mühlstr. 10, 88085 Langenargen

Alle Rechte vorbehalten.

Taschenbuchauflage erschienen 2018

Cover gestaltet mit Bildern von © joeycheung (Hintergund)

sowie © gromovataya (Frauen) – Adobe Stock lizenziert

Herstellung: CAT creativ - www.cat-creativ.at

ISBN: 978-3-96074-028-5 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-262-3 - E-Book

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Inhalt

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Silas seufzte und blieb stehen. „Du bist so unglaublich lahm!“, sagte er zu Kieran, als sie zu ihm aufschloss.

Kieran verdrehte die Augen. „Gemäß Definition ist mein Tempo normal“, widersprach sie. „Außerdem haben wir es nicht eilig. Also entspann dich ein wenig und nimm es gemütlich!“

„Du hast ja gar keine Ahnung, wie anstrengend das für mich ist. Ich schwöre dir, ich verbrauche für das Bremsen viel zu viel Energie.“ Sofort reckte er den Kopf und schaute sich um. „Ich habe Hunger.“

„Ja. Ich auch“, sagte Kieran und ging zügigen Schrittes an ihm vorbei. „Nun komm schon Mr. Eilig!“, spottete sie, als sie sechs Schritte voraus war.

Silas brauchte eine Sekunde, um zu ihr aufzuschließen. Das lag daran, dass er ein Läufer war. Seine Gene erlaubten es ihm, sich schneller zu bewegen als normale Menschen, viel schneller.

Wie immer bewegte sie ihre Beine ihm zuliebe so schnell, wie es möglich war, ohne zu rennen. Das war bei ihr mittlerweile zu einer Gewohnheit geworden. So schlug sie dieses zügige Tempo auch an, wenn sie alleine unterwegs war. Für Silas war sie trotz ihrer Mühe immer noch zu langsam.

Gemeinsam bogen sie in eine schmale Straße zwischen zwei Hochhäusern ein. Die Häuser standen so eng beieinander, dass man von einem Fenster zum anderen hätte springen können. Die Gasse wurde nur von dem Licht, welches aus einigen beleuchteten Fenstern fiel, erhellt. Silas und Kieran hätten sich auch über gar kein Licht nicht beklagt. Sie kannten den Weg in- und auswendig.

Die dunkle Gasse mündete in die fünfundzwanzigste Nord-Süd-Straße. Diese war breit und sehr belebt. Auf beiden Seiten wurde sie von Hochhäusern gesäumt, an denen eine Leuchtreklame über der anderen angebracht war. Das farbige Licht fiel auf die ebenso bunte Menschenmenge. In ein paar Stunden, wenn es hier auf dem Boden schon dunkel war, würde das Lichterspiel besser zur Geltung kommen als in einem Kaleidoskop.

Silas und Kieran tauchten in die Menschenmasse ein und mussten sofort ihr Tempo anpassen. Silas fluchte und jammerte alle paar Schritte. „Wieso tue ich mir das überhaupt an?“, rief er irgendwann. Kieran reagierte kaum auf seine Ausrufe. Etwa dreimal in der Woche erledigten sie diesen Job für das Waisenhaus zusammen und Silas beklagte sich jedes Mal wieder darüber, dass er alleine viel schneller sein würde. Dann könnte er sich nämlich auf einem Läuferweg fortbewegen und müsste auf niemanden Rücksicht nehmen.

„Weil du die ganzen Sachen nicht alleine tragen kannst. Weil du meine Gesellschaft schätzt. Weil ich es liebe, wie du dich aufregst. Weil es dir guttut zu wissen, wie normale Leute sich fühlen und fortbewegen. Weil …“

„Ist ja schon gut. Ist ja schon gut. Ich hab’s verstanden“, meinte Silas.

Kieran grinste. „Komm schon. Wir haben’s gleich geschafft.“

Auf dem Weg zum Megakon-Supermarkt mussten sie an einer Stelle die fünfundzwanzigste Nord-Süd-Straße überqueren. Den Rest des Weges konnten sie durch verschiedene schmale Gassen oder wenig belebte Straßen gehen.

„Entschuldigung! Entschuldigung!“, sagte Silas zu einer Frau, die er soeben angerempelt hatte.

Fünf Minuten später bogen sie in eine weitere Gasse ab. Diese war breiter als die vorherige und beleuchtet. Sie beschleunigten ihre Schritte und entfernten sich vom Lärm der Nord-Süd-Straße.

Einen Moment später kamen sie in einer Parallelstraße an. Hier gab es deutlich weniger Menschen. Sie wandten sich nach links, dann nach rechts und wieder nach rechts. Schon hörten sie den Lärm der vierundzwanzigsten Nord-Süd-Straße, als sie sich von hinten dem Konturm näherten.

Kieran blieb stehen, legte den Kopf in den Nacken und starrte der grauen Fassade entlang nach oben. Die Spitze des Turmes verlor sich irgendwo im Dunst weiter oben. Sie hatte sie noch nie gesehen. Etwa in der Mitte des Turmes – jedenfalls hatte sie sagen hören, dass dort die Mitte sei– befand sich die gigantische Leuchtreklame des Supermarktes. Von hier unten sah sie recht klein aus.

Dort mussten sie hin. Das war der höchste Ort, an dem Kieran in ihrem ganzen Leben gewesen war. Aber vom Supermarkt aus konnte man nicht einmal auf die Stadt hinunterschauen. Es gab dort nämlich gar keine Fenster. Der Platz wurde für Bildschirme gebraucht, welche die neusten Werbespots in alle vier Himmelsrichtungen ausstrahlten.

„Träumst du schon wieder von da oben?“, fragte Silas. Er war nahe neben ihr stehen geblieben und schaute nun ebenfalls hoch.

„Fragst du dich nicht auch, wie es über dem Dunst aussieht? Wie die Reichen dort leben? Wie die Stadt von oben aussieht? Es würde mir genügen, einfach einmal auf den höchsten Turm zu gehen und herabzusehen. Oder mit einer Flugkapsel zu fliegen.“

Den Reichen wurden diese Wünsche tagtäglich erfüllt. Es war für sie Alltag, die Sonne am Horizont aufgehen zu sehen. Hier unten, unter dem Dunst, hingegen war es immer düster und man sah immer nur Häuser. Egal wie lange Kieran durch die Stadt wanderte, es gab überall nur Häuser und Türme, lange Schatten und Dunst. Hier unten lebten sie wie Ameisen. Dort oben lebten sie wie Adler.

Kieran verdrängte die Bitterkeit aus ihrem Herzen.

„Ich lebe lieber hier unten“, meinte Silas gleichgültig. „Ich hätte aber nichts dagegen, auch mal ungefiltertes Sonnenlicht zu spüren oder frische Luft zu atmen. Ich würde sogar in so einer Kapsel fliegen. Aber das Leben dort oben ist doch wie in einem Gefängnis.“

Natürlich interessierte sich Silas nicht für die Hochhäuser. Dort oben könnte er auch gar nicht genug laufen. Für ihn gab es dort oben nur beengende Zimmer und noch engere Flugkapseln. Es wäre tatsächlich für jeden Läufer eine Art Gefängnis. Doch Kieran hatte sich schon immer gewünscht, einmal über den Dunst hinaus zu kommen. Es musste wunderschön sein dort oben.

„Ich könnte nach oben fliegen und für dich nachschauen“, hörte sie die Gedanken ihrer Flugechse Kaan in ihrem Kopf. Er streckte seinen kleinen, rotgeschuppten Kopf aus ihrer Tasche und die Nase in die Luft.

„Du weißt genau, dass das viel zu gefährlich ist“, erwiderte sie und drückte seinen Kopf zurück in die Tasche. Kaan verstand sie. Er fühlte sich hier unten ebenso gefangen wie sie.

Silas legte ihr den Arm um die Schultern. „Komm schon, Kleine“, sagte er sanft. „Hier unten sind wir doch zu Hause. Und man soll nicht von Dingen träumen, die man nicht haben kann. Das macht nur unglücklich.“

Er hatte natürlich recht. Doch diese Ungerechtigkeit machte sie nur wütend. Sie schob alle Gedanken an das Unmögliche zur Seite und wandte sich Silas zu. Er hatte dunkle Haut, dunkelbraune, große Augen und kurze, schwarze Haare.

„Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du mich nicht Kleine nennen sollst! Ich bin älter als du!“

„Das tut nichts zur Sache!“, grinste er und entblößte dabei seine weißen Zähne.

Kieran war für ein Mädchen ihres Alters nicht klein, sondern eher durchschnittlich. Doch im Vergleich zu Silas, der riesig war, war sie natürlich ziemlich klein.

Gemeinsam umrundeten sie den Konturm und gingen auf den Haupteingang zu. Sie drängten sich durch die vielen Menschen und blieben in der Nähe der Menschenschlange stehen. Es war ein ganz normaler Tag. Die Leute standen an, um in das Gebäude zu kommen. Die Schlange entstand, weil alle, sobald sie drinnen waren, unglaublich viele Treppen steigen mussten und sich so entsprechend langsam fortbewegten. Fahrstühle gab es erst ab dem zehnten Stock, und deren Benutzung kostete. Die meisten Menschen von ganz unten konnten sich keine Fahrstuhlfahrt leisten und mussten deswegen die 52 Stockwerke bis zum Supermarkt zu Fuß zurücklegen. Den Einkauf zu erledigen war für die Menschen hier unten eine mühselige und zeitraubende Angelegenheit.

Wer zu einem anderen Ort im Konturm wollte, zum Beispiel in eines der Büros, Restaurants oder gar in seine Wohnung, nahm den Nebeneingang auf der Nordseite. Kieran hatte diesen noch nie benutzt.

„Hier, nimm meinen Rucksack“, sagte Silas und reichte Kieran das noch leere Ungetüm. Sie zog ihn über ihren eigenen, ein wenig kleineren Rucksack an, als sie einen von einem anderen Läufer verursachten Luftzug spürte. Sie versuchte wie immer, dem Läufer nachzuschauen, aber der war schon lange in dem Gebäude verschwunden und in spätestens fünf Minuten – je nachdem, wie lang die Schlange vor der Identitätskontrolle war – würde er den Supermarkt erreichen, wo er die Einkäufe für jemanden erledigte, der den Weg selbst nicht mehr schaffte.

Silas drehte Kieran den Rücken zu und ging in die Knie, sodass sie auf seinen Rücken steigen konnte. Er würde sie im Huckepack auf dem Läuferweg mitnehmen. Das schonte seine Nerven ... und ihre Muskeln.

„Bist du bereit?“, fragte er.

Kieran bereitete sich innerlich auf den unangenehmen Aufstieg vor und antwortete: „Ja.“

Sofort ging Silas auf den markierten Läuferweg und lief los. Kieran hatte diesen Weg schon oft auf Silas’ Rücken zurückgelegt, aber gewöhnt hatte sie sich daran nicht. Es war immer noch so unangenehm wie beim ersten Mal. Die Position, in der sie sich befand, war ziemlich unbequem. Bei jeder Wendung der Treppe wurde es ihr ein wenig übler. Ihre Umwelt nahm sie nur noch als verschwommener Farbklecks wahr, was natürlich ihre Übelkeit noch verstärkte. Die Geschwindigkeit hätte sie vielleicht genießen können, wenn sich das Ganze für sie nicht so angefühlt hätte, als würden sie immerzu im Kreis laufen.

Im zehnten Stock hielten sie abrupt an. Sie wusste, dass der ganze Aufstieg nicht länger als 30 Sekunden gedauert haben konnte. Für sie fühlte es sich jedes Mal wie eine kleine Ewigkeit an. Kieran atmete tief durch – während des schnellen Aufstieges konnte sie nie richtig atmen – und roch dabei Silas typischen Körperduft, welcher ihr so bekannt war wie der eines Bruders. Dann ließ sie sich auf den Boden fallen, hielt sich aber noch einen Moment an Silas fest, bis sie sich wieder stabil fühlte.

„Geht’s dir gut?“, fragte er.

Kieran nickte. Sie wusste, dass auch er den Aufstieg nicht besonders mochte. Auch einem Läufer wurde es leicht übel beim Treppensteigen. Silas machte das jedoch mehrere Male am Tag und war sich daran gewöhnt. Er arbeitete wie alle Läufer als Lieferant. Er erledigte Einkäufe, transportierte Gegenstände und brachte Bestellungen zu den Kunden. Läufer hatten hier unten, in der flugkapselfreien Zone, immer viel zu tun.

Gemeinsam stellten sie sich in die Reihe vor der Identitätskontrolle des Supermarkts. Hier gab es auch für Läufer keine Abkürzung. Auch sie mussten warten und sich anstellen.

„Xenia!“, rief Silas plötzlich und zog Kieran mit sich.

Xenia drehte sich um und lächelte, als sie Silas erkannte. „Oh, hallo Silas. Hallo, Kieran.“

Xenia war, anders als die meisten Läufer, zierlich gebaut, hatte schwarze, kurz geschnittene Haare und leuchtende, grüne Augen. Ihre Wangen waren vom Aufstieg leicht gerötet. Kieran kannte sie nur flüchtig.

„Für wen bist du unterwegs?“, fragte Silas.

„Eigentlich für mich selbst. Aber ich kaufe gleichzeitig noch für die alte Danait ein. Sie macht sich solche Sorgen. Ihre Rente ist fast aufgebraucht und arbeiten kann sie schon lange nicht mehr.“ Vor diesem Problem standen viele alte Menschen. Und Danait hatte keine Angehörigen, welche für sie sorgten. „Und ihr zwei seid für das Waisenhaus unterwegs?“

„Richtig geraten“, meinte Silas.

Schließlich war Xenia an der Reihe und verabschiedete sich. „Tschüss, ihr zwei. Vielleicht sehen wir uns oben.“

Einen Moment später rief eine barsche Stimme: „Der Nächste!“

„Du zuerst“, sagte Silas und gab Kieran einen sanften Schubs.

Die Kontrollen machten Kieran immer nervös. Sie streckte dem Sicherheitsagenten ihr Handgelenk entgegen. Wie jeder Bürger trug sie dort ihren Datenspeicher. Der Speicher war ein kleines, schwarzes Gerät, welches mit einem schwarzen Band befestigt war. Auf dem Speicher befanden sich ihre Identität, alle ihre persönlichen Angaben, ihr Konto, ihre Gesundheitsdaten und einiges mehr. Sie besaß nur das einfachste Modell eines Speichers, eines, das alle Bürger als Kleinkind gratis bekamen. Silas brauchte als Läufer ein besseres, kommunikationsfähigeres Modell, mit dem er auch Aufträge empfangen konnte.

Der Sicherheitsagent scannte Kierans Speicher und kontrollierte ihre Identität auf seinem Bildschirm. Schließlich nickte er und öffnete die Schranke für sie.

Silas folgte ihr kurz danach. Sie passierten die Fahrstuhlzone, in der einige Menschen auf den nächsten Fahrstuhl warteten, und begaben sich wieder zur Läuferbahn. Weiter ging der Aufstieg im Schnelltempo.

42 Stockwerke weiter oben brauchte Kieran einiges länger, um sich wieder zu beruhigen. Nur der Gedanke daran, wie lange sie auf ihren eigenen Beinen für diesen Aufstieg gebraucht hätte, brachte sie davon ab, sich selbst zu schwören, das niemals wieder zu tun.

„Du solltest wirklich mal auf der Straße mit mir laufen“, versuchte Silas sie zu überzeugen. „Auf einer geraden Strecke wird es dir gefallen. Glaub mir!“

„Nein. Danke“, lehnte Kieran ab. „Ich fühle mich wohler auf meinen eigenen zwei Füssen.“

Silas knurrte. „Mit mir zu rennen macht ganz bestimmt viel mehr Spaß, als in einer Flugkapsel zu fliegen.“

„Das bezweifle ich“, lachte Kieran.

Beide folgten nicht der großen Masse, welche in den Supermarkt ging, sondern nahmen den Weg, der ins Lager führte. Silas hielt sein Handgelenk vor den Scanner an der Tür. Die Lagertür öffnete sich mit einem Klicken. „Hallo!“, rief Silas, nachdem sie die Lagerhalle betreten hatten. „Wir holen die Waren für das Waisenhaus ab!“

Einige Arbeiter in der Nähe nickten ihnen zu, ansonsten gab es keine Reaktion. Silas und Kieran wussten jedoch schon, wohin sie mussten und brauchten keine Hilfe. Sie gingen zu dem Regal mit den aussortierten Lebensmitteln und begannen ihre Rucksäcke zu füllen. All diese Sachen konnten im Supermarkt nicht mehr verkauft werden, für die Bewohner des Waisenhauses jedoch waren sie noch gut genug. Als nichts mehr in die Rucksäcke passte, gab es immer noch einige Dinge im Regal, welche sie schweren Herzens zurücklassen mussten. So stopfte sich Silas noch vier Sandwichs in die Jackentasche, zwei reichte er an Kieran weiter und das letzte begann er zu essen. Kieran tat es ihm gleich.

Schweigend, kauend und schwer beladen machten sie sich bald darauf an den Abstieg. Nach einer Weile brauchte Kieran, die selbst lief, eine Pause. Sie stellten die Rucksäcke auf den Boden und setzten sich daneben. „Wie kannst du das nur fünfmal am Tag machen?“, fragte Kieran, während sie die Leute beobachtete, die an ihnen vorbeigingen.

Silas zuckte mit den Schultern. „Stell dir vor, wie viele Leute verhungern würden, weil sie den Weg hier hinauf nicht mehr alleine schaffen. Außerdem ist es für mich nur halb so anstrengend, wenn ich mich in meinem eigenen Tempo fortbewegen kann.“

„Tut mir leid“, meinte Kieran und holte ihr zweites Sandwich aus der Tasche. Kaan hatte sich daran festgebissen.

„Halt! Stopp! Ich bin noch nicht satt“, rief er in ihren Gedanken.

„Ich auch nicht“, gab sie zurück, brach den angeknabberten Teil des Sandwiches ab und stopfte ihn zusammen mit Kaan wieder in ihre Tasche. Den Rest aß sie selbst.

Silas schaute ihr dabei nur kopfschüttelnd und mit nach oben gezogenen Augenbrauen zu. „Ich verstehe immer noch nicht, wieso du ihn ständig mit dir herumtragen musst.“

„Weil ich Angst habe, dass er stirbt, wenn ich mich zu weit von ihm entferne“, dachte sie bei sich selbst und schaute Silas nur an.

Kaan war das Ergebnis eines Experiments gewesen, sozusagen ein Unfall.

Während Silas das Läufer-Gen besaß, war Kieran mit dem Former-Gen geboren worden. Sie konnte Kraft ihrer Gedanken neue Gegenstände aus dem Nichts formen oder bereits vorhandene verformen. Soweit war die Gabe der Formerinnen bekannt. Was jedoch niemand wusste, war, dass Formerinnen offenbar auch Lebewesen verformen oder – besser gesagt – heilen konnten. Das hatte nicht einmal Kieran gewusst. Sie hatte Kaan vor einem halben Jahr in der Mülldeponie gefunden. Wie er dorthin gelangt war, wusste er nicht. Wahrscheinlich war er das Haustier irgendeines reichen, verwöhnten Kindes gewesen, welches ihn dann, als es das Interesse an der Flugechse verloren hatte, einfach mit dem normalen Hausmüll entsorgt hatte. Kieran hatte ihn entdeckt, als er gerade noch so am Leben gewesen war, und hatte eigentlich nur seinen halb abgerissenen Flügel wieder anfügen wollen. Dieser Gedanke war ihr damals ganz spontan gekommen, weil ihr das kleine Wesen so leidgetan hatte. Sie konnte per Gedankenkraft Gegenstände reparieren. Vielleicht konnte sie ja auch dieser armen Flugechse helfen.

Die Formergabe war eigentlich flüchtig. Alles, was eine Formerin per Gedankenkraft reparierte oder herstellte, blieb nur so lange erhalten, wie sie ihre Energie darauf konzentrierte. Für eine normale Formerin kam Heilen also gar nicht infrage. Doch Kieran war keine normale Formerin, wie sie schon eine ganze Zeit wusste. Sie kannte außer sich selber auch keine andere Formerin, welche Dinge formen konnte, die auch ohne ihre Aufmerksamkeit so blieben, wie sie sie geformt hatte. Kieran konnte also beständige Dinge formen. Natürlich kannte sie nicht besonders viele Formerinnen. Nur diejenigen, die mit ihr im Waisenhaus lebten.

Auf jeden Fall hatte Kieran den Flügel der Flugechse reparieren wollen und dabei war irgendetwas schief gelaufen oder – besser gesagt – gut gelaufen, denn sie hatte Kaan komplett geheilt. In ihren Händen hatte er die Augen aufgeschlagen. Seit diesem Moment gab es eine besondere Verbindung zwischen ihnen. Kieran konnte die Gedanken der Flugechse hören und mit ihr kommunizieren. Sie hatte mit ihrer Gabe offensichtlich nicht nur Kaans Körper geheilt, sondern auch etwas mit seinem Geist angestellt.

Wenn andere Formerinnen sich von ihrem geformten Gegenstand entfernten, verschwand der einfach. Deswegen befürchtete Kieran, dass die Energieverbindung zwischen ihr und Kaan abbrechen würde, wenn sie sich zu weit voneinander entfernten, und dass er dann sterben würde. Sie hatte keine Ahnung, ob er auch ohne sie weiterleben würde. Ihre Vermutung war, dass Kaan an ihre eigene Lebensenergie gebunden war.

Als ihr damals, nach Kaans Heilung, bewusst geworden war, was sie da getan hatte, war sie sehr erschrocken. Sie hatte die Gedanken eines anderen Wesens in ihrem Kopf gehört. Sie hatte eine Weile gebraucht, um zu akzeptieren, dass sie nicht verrückt war und dies tatsächlich geschah. Nicht einmal ihrer besten Freundin Rani hatte sie von Kaans Stimme in ihrem Kopf erzählt. Nur dass sie die Flugechse geheilt hatte, hatte sie ihr anvertraut. Rani aber hatte ihr geraten, es niemand anderem zu erzählen. Man wusste ja nie, wie andere so eine Gabe aufnehmen würden. An diesen Rat hatte sich Kieran auch gehalten. Schließlich wusste sie nicht, ob es für eine Formerin normal war, zu heilen. Und wahrscheinlich hätte ihr sowieso niemand geglaubt.

Seitdem war Kaan nicht von Kierans Seite gewichen und sie hatte sich an seine Anwesenheit gewöhnt. Und zwar so sehr, dass sie sich ohne ihn wahrscheinlich inzwischen sehr einsam vorgekommen wäre.

„Gehen wir weiter?“, riss Silas sie aus den Gedanken.

Kieran nickte, schulterte ihren Rucksack und ging voran.

Als sie wieder unten angekommen waren, es dämmerte bereits, machten sie noch einmal eine kurze Pause und schlugen dann den Weg Richtung Waisenhaus ein.

Auf dem Rückweg war es Kieran, die sich beschwerte, und Silas, der sich darüber amüsierte. „Es ist nicht mehr weit“, sagte er lachend, als sie wegen ihren schmerzenden Schultern jammerte.

„Von wegen!“, rief Kieran. „Ich weiß genau, wie weit es noch ist, und es ist meiner Meinung nach noch sehr weit!“

Sie bogen in eine belebte Straße ein und schlängelten sich zwischen den Menschen hindurch.

„Ja. Du hast recht“, meinte Silas neckend. „In diesem Tempo ist es noch ziemlich weit!“ Schnell machte er einen Satz zur Seite, um Kierans Faust auszuweichen, und rempelte dabei einen Passanten an. Er entschuldigte sich überschwänglich, während Kieran in die Faust kicherte.

Silas gesellte sich wieder zu ihr. „Schau mal. Da vorne sind drei Sicherheitsagenten!“, bemerkte er. Sicherheitsagenten sah man hier auf dem Boden fern von einer Hauptstraße nur selten.

„Irgendetwas ist da los“, fügte er hinzu.

Tatsächlich hatte sich weiter vorne eine Menschentraube gebildet. Silas und Kieran mischten sich unter die Leute und sahen den Grund der Unruhe. Zwischen den drei Sicherheitsagenten stand eine offensichtlich aufgelöste Frau, die schrie: „Ich trage keine Linsen! So glauben Sie mir doch!“ Dabei schaute sie sich panisch nach einem Fluchtweg um. Doch die Menschenmenge war mittlerweile zu dicht und erstickte jede Hoffnung, entkommen zu können.

„Wir haben den anonymen Hinweis bekommen, dass Sie eine Formerin sind. Und der Augenscan hat gezeigt, dass Sie sehr wohl Linsen tragen. Ich fordere Sie ein letztes Mal auf, Ihre Linsen zu entfernen!“, sagte einer der Sicherheitsagenten ruhig.

„Aber ich bin keine Formerin!“, schrie die Frau völlig außer sich.

„Dann beweisen Sie es!“, sagte ein anderer Sicherheitsagent.

„Wir gehen!“, flüsterte Silas in Kierans Ohr und wollte sie am Arm mitziehen.

„Nein!“, zischte Kieran mit aufgerissenen Augen. „Wir müssen ihr helfen!“ Sie konnte die Augen nicht von der Formerin lassen, die mittlerweile von zwei Sicherheitsagenten gepackt worden war. Der dritte versuchte, ihr die Linsen aus den Augen zu nehmen, wobei sie sich immer noch so sehr wehrte, dass man befürchten musste, der Agent würde ihr aus Versehen die Augen auskratzen.

„Es ist zu spät!“, konterte Silas und zog Kieran einfach mit sich. „Und jetzt reiß dich zusammen!“, zischte er wütend. „Du ziehst zu viel Aufmerksamkeit auf dich!“ Als sie sich endlich aus der Menschenmenge gekämpft hatten, ging ein Raunen durch diese. Den Agenten war es wohl gelungen, der Frau die Linsen zu entfernen, und nun konnten alle ihre violetten Augen sehen, das Kennzeichen aller Formerinnen.

Silas ließ Kieran nicht los, obwohl sie ihm mittlerweile ohne Protest folgte.

„Seht sie euch an!“, hörten sie die Stimme eines Sicherheitsagenten. „Das ist die Frau, die euch alle betrogen hat …“

Kieran wollte nicht mehr hinhören. Die Tränen waren ihr in die Augen gestiegen. Silas führte sie in eine enge Gasse, und als er sicher war, dass niemand sie beobachtete, nahm er sie in den Arm und streichelte ihren Hinterkopf.

Aber Kieran brauchte gerade keine beruhigende Umarmung. Ihre Tränen waren nicht nur Tränen des Mitgefühls, sondern auch Tränen der Wut und der Hilflosigkeit. Sie löste sich von Silas.

„Jemand hat sie verraten! Wie kann man so etwas nur tun?“ Silas antwortete nicht auf diese Frage. Sie kannten beide die Antwort! „Ich würde diese Person gerne in die Finger bekommen!“, rief sie. „Es muss jemand sein, der sie gekannt hat. Wie kann er sie dann verraten! Und wieso war sie nicht Teil der Vereinigung? Warum kannten wir sie nicht?“

„Es gibt bestimmt noch viele Begabte, die nicht Teil der Vereinigung sind! Die Stadt ist riesig und die Vereinigung muss geheim bleiben!“

Kieran begann hin und her zu gehen. Sie schluckte ihre Tränen hinunter. „Warum hat niemand geholfen? Wir hätten ihr helfen können!“

„Wir hätten uns selbst in Gefahr gebracht!“

„Du hättest sie dir schnappen und davonrennen können! Niemand könnte dir folgen!“

„Sei nicht albern!“, fuhr Silas sie an. „Wie wäre ich durch die Menschenmenge gekommen, ohne alle niederzutrampeln. Und auch wenn ich es geschafft hätte, ich würde alle Läufer in Verruf bringen. Dann würden irgendwann nicht nur Formerinnen und Tarner verachtet werden, sondern auch Läufer. Für die Frau war es zu spät. Sie hätte fliehen sollen, als sie ihre Augen scannen wollten.“

„Und wenn ich in dieser Situation gewesen wäre? Hättest du mir auch nicht geholfen?“ Die Tränen stiegen ihr wieder in die Augen.

„Das ist etwas total anderes! Und ich hoffe, dass du niemals in so eine Situation gerätst!“

Sie starrten sich eine Weile lang an. Dann senkte Kieran den Blick. „Es tut mir leid! Du hast natürlich in allem recht! Ich war egoistisch. Und ich würde von dir niemals verlangen, dass du dich in Gefahr bringst. Auch nicht für mich!“ Dieses Mal ging sie auf ihn zu und umarmte ihn.

Er tätschelte ihren Hinterkopf. „Ist ja schon gut“, flüsterte er.

Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her. Kieran jammerte nicht mehr über den Druck auf ihren Schultern. Ihre düsteren Gedanken ließen sie den Schmerz vergessen.

„Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ist, als Formerin außerhalb der Vereinigung zu leben“, unterbrach Kieran nach einer Weile die Stille. „Stell dir das mal vor. Sie konnte sich nie jemandem anvertrauen, niemandem trauen. Sie musste ständig Angst haben. Vielleicht hat sie niemals eine andere Formerin getroffen.“

Silas sagte nichts.

„Ich hatte wohl großes Glück in meinem Leben.“

Kieran war als Baby von ihren Eltern in ein städtisches Waisenhaus gebracht worden, sobald diese an ihren violetten Augen erkannt hatten, dass sie eine Formerin war. Formerinnen wurden in der Gesellschaft nicht geduldet. Man misstraute ihnen. Die meisten Menschen glaubten, dass die Formerinnen ihre Macht missbrauchen würden, um an Geld zu kommen, indem sie zum Beispiel Waren verkauften, die dann irgendwann einfach verschwanden und sich auflösten.

In der ganzen Stadt zeigten die Werbebildschirme Plakate mit der Aufforderung, Formerinnen sofort zu melden. Was mit den gemeldeten Formerinnen geschah, wusste jedoch niemand so genau.

Eine Pflegerin im Waisenhaus stand in Verbindung mit der geheimen Vereinigung und hatte Kieran sofort an diese weitergegeben, denn ein Baby mit dem Former-Gen konnte in einem üblichen Waisenhaus nicht bleiben. Die Pflegerin wäre eigentlich verpflichtet gewesen, sie einem Sicherheitsagenten zu übergeben. Doch Danang, Kierans erste Kontaktperson im Waisenhaus, hatte auf diese Weise schon viele begabte Babys gerettet.

Bei der Vereinigung handelte es sich um einen Zusammenschluss von Begabten. Die meisten davon waren Formerinnen. Es gab aber auch viele Tarner. Silas war der einzige Läufer. Die Vereinigung unterhielt ein kleines Waisenhaus, das ausschließlich Begabte aufnahm. Das Waisenhaus war somit das Hauptquartier der Vereinigung und ein Zuhause für begabte Kinder. Es war der Ort, an dem sich alle Begabten in Sicherheit fühlen konnten, mit Menschen ihrer Art in Kontakt kamen und ihre Begabung offen ausleben konnten. Die Kinder bekamen dort zudem eine anständige Schulbildung. Die Vereinigung war Kierans Familie, das Waisenhaus ihr Zuhause. Sie hatte dort gelernt, ihre Gabe einzusetzen, und sie hatte andere Formerinnen kennengelernt.

Silas war ebenfalls als Baby im Waisenhaus von Danang abgegeben worden. Er kannte die Gründe dafür jedoch nicht. Läufer wurden unten auf dem Boden gebraucht und hatten einen sicheren Job. Seine Eltern hatten also eigentlich keinen Grund gehabt, den Jungen zu verstoßen. Doch vielleicht hatten sie ganz einfach nicht das Geld für ein Kind gehabt. So ging es vielen. Die Menschen hier auf dem Boden waren arm und gaben ihre Kinder ins Waisenhaus, wenn sie selbst nicht für sie sorgen konnten, denn im Waisenhaus waren die Mahlzeiten und die Ausbildung gratis.

Sobald Danang jedoch entdeckt hatte, dass Silas ein Läufer war, hatte sie ihn an die Vereinigung weitergegeben, damit er dort mit anderen Begabten lernen konnte. Dort hatte Kieran ihn kennengelernt. Sie kannten sich seit Kindertagen, waren gemeinsam aufgewachsen.

Kieran griff nach Silas’ Hand und drückte sie kurz. „Danke, Silas“, sagte sie.

„Wofür denn?“

„Ohne dich hätte ich vielleicht irgendeine Dummheit gemacht.“

Er lächelte sie an. „Keine Ursache, Kleine.“

*

2

Der Stoff war wunderschön, aber das Kleid saß nicht perfekt. Außerdem war es an ihr ziemlich kurz. Das war der Nachteil, wenn man groß war. Kleider waren an ihr meistens kürzer als an anderen Mädchen. Samantha trat aus der Ankleidekabine heraus. Ein Pfiff ertönte.

„Sexy!“, kommentierte ihre Freundin Merle.

Samantha schnaubte und schaute sich noch einmal im Spiegel zwischen zwei Kabinen an. „Glaubst du wirklich, ich würde so etwas in der Schule anziehen?“

Merle zuckte mit den Schultern. „Deine Beine kommen auf jeden Fall gut zur Geltung. Du musst es ja nicht unbedingt in der Schule anziehen.“

„Mein Vater würde mir auch nicht erlauben, so herumzulaufen“, erwiderte Samantha. Dagegen hatte sie nicht einmal etwas einzuwenden. Sie teilte ihres Vaters Meinung. Sie fühlte sich wohler in mehr Stoff.

In dem Moment kam Nerina aus der Kabine. Sie hatte eine enge, neonorange Hose an. „Wie findet ihr sie?“, fragte sie, ohne ihre eigene Begeisterung zu verbergen. „Sie sitzt perfekt!“

„Mir gefällt sie“, sagte Merle.

Nerina betrachtete sich noch einen Moment im Spiegel, dann wandte sie sich an Samantha. „Und du? Nimmst du das Kleid?“

Samantha schüttelte den Kopf. „Der Puppe steht es besser“, sagte sie und deutete auf die Schaufensterpuppe, welche das gleiche Kleid trug.

Samantha zog sich wieder ihre eigenen Sachen an, während Nerina ihre Hose bezahlte. Sie hatte solche Freude daran, dass sie diese gleich anbehielt.

Die drei Mädchen gingen in einen anderen Laden und stöberten dort weiter. Merle quiekte und hielt eine türkisblaue Bluse in die Höhe. „Ist die nicht wunderschön!“, sagte sie schwermütig und wollte sie gleich wieder zurückhängen.

„Probiere sie doch wenigstens an!“, ermunterte Samantha sie. „Das kostet nichts.“ Merles Eltern hatten ihr nämlich den Geldhahn zugedreht, solange sie in der Schule nicht bessere Noten schrieb. Deswegen konnte sie sich heute nichts leisten.

„Du hast recht. Vielleicht steht sie mir auch überhaupt nicht und dann fällt es mir nicht schwer, sie hier zurückzulassen.“

Nerina hatte auch wieder etwas gefunden, das sie anprobieren wollte, sodass Samantha alleine weiterstöberte. Sie hatte gerade ein grünes Kleid angeschaut, als sie sich reflexartig umdrehte. Doch da war niemand. Für einen Moment hatte es sich so angefühlt, als stünde jemand hinter ihr. Sie konnte dieses Gefühl nicht genau beschreiben, doch in letzter Zeit passierte ihr das häufiger. Besonders dann, wenn gerade niemand in ihrer unmittelbaren Nähe war, hatte sie den Eindruck, dass doch jemand da war. Aber es war immer nur Einbildung. Sie schüttelte verwirrt den Kopf und hängte das grüne Kleid zurück. Schließlich nahm sie drei andere Kleider in eine Kabine mit.

„Warum habe ich die Bluse bloß anprobiert!“, hörte sie Merle von draußen rufen. „Sie ist wie für mich gemacht!“

Samantha kam mit dem ersten Kleid aus der Kabine und betrachtete Merle. „Sie sieht wirklich gut aus an dir!“

„Ja“, seufzte Merle mit braunen Dackelaugen und drapierte ihre schwarzen Locken auf ihren Schultern. Samantha stellte sich neben sie und betrachtete sich im Spiegel. Sie trug ein lachsfarbenes, luftiges Kleid mit einem goldenen Gürtel um die Taille. „Das ist süß“, meinte Merle.

„Ja, ich glaube, das nehme ich“, sagte Samantha und ging zurück in die Kabine, um die anderen zwei Kleider ebenfalls anzuziehen. Sie entschied sich, zwei davon zu kaufen. „Gib mir diese Bluse!“, sagte sie zu Merle, als sie fertig war.

Merle reichte ihr die Bluse, die sie gerade hatte zurückhängen wollen. „Wieso?“

„Ich werde sie dir kaufen!“

Merle fiel ihr um den Hals. „Du bist echt die beste Freundin auf der ganzen Welt!“, rief sie.

Die beiden gesellten sich zu Nerina, die bereits zur Kasse gegangen war. Die Verkäuferin packte ihre Sachen in dünnes, pinkes Papier ein und übergab diese Samantha in einer passenden Tüte. Samantha hielt ihren Holospeicher an die Bezahlstation.

„Bitte bestätigen Sie Ihren Einkauf, Fräulein Midas“, bat die Verkäuferin höflich und hielt ihr den Bildschirm hin, auf dem ihre Einkäufe zu sehen waren. Samantha warf einen kurzen Blick darauf und bestätigte den Einkauf, indem sie ihren rechten Zeigefinger auf den Fingerabdruckscanner hielt.

„Vielen Dank, Fräulein Midas. Ich wünsche Ihnen viel Freude mit Ihren Einkäufen“, sagte die Verkäuferin, dann verließen die drei Mädchen das Geschäft.

„Morgen bleiben wir aber länger in der Schule und lernen gemeinsam für die Sozialkundeprüfung!“, sagte Samantha zu ihren Freundinnen, als sie draußen standen.

„Alles klar!“, bestätigte Nerina. Merle nickte nur wenig begeistert.

Die Mädchen machten sich gemeinsam auf den Weg zur Plattform im 89. Stock, von wo aus sie per Holospeicher ihre Flugkapseln herbeiriefen. Die Sonne ging gerade unter und tauchte die Stadt über dem Dunst in ein atemberaubendes Licht. Die drei genossen den Sonnenuntergang, während sie auf ihre Kapseln warteten.

Samanthas Kapsel kam als erste. Ihrem Vater gehörte die Firma, welche die Flugkapseln herstellte und weiterentwickelte. Deswegen besaß Samantha immer das neuste und schnellste Modell. Dieses hier war erst vor einer Woche auf den Markt gekommen. Es war annähernd eiförmig und alles, was nur möglich war, war aus durchsichtigem Material gemacht worden, sodass man während des Fluges die Aussicht in vollen Zügen genießen konnte.

Samantha öffnete die Flugkapsel per Fingerabdruck und rief ihren Freundinnen zu: „Bis morgen!“ Dann setzte sie sich in einen der vier weiß gepolsterten Sessel und wählte auf dem Steuerungsdisplay bei den Favoriten ihr Ziel an. Die Tür der Flugkapsel schloss sich beinahe lautlos und schon sauste sie davon, nach Hause. Samantha lehnte sich zurück, genoss die letzten Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht und betrachtete die Hochhäuser, an denen sie vorbeiflog. Unter ihr verloren sich die Gebäude im immerwährenden Dunst. Es gab einem das Gefühl, über den Wolken zu leben. Samantha hatte den Boden der Stadt in ihrem ganzen Leben noch nie gesehen. Manchmal fragte sie sich jedoch schon, wie es wohl unter dem Dunst wirklich war.

Wenige Minuten später verlangsamte die Flugkapsel ihr Tempo und näherte sich dem Midas-Turm. Die Flugkapsel steuerte auf die Hauptplattform zu, wo Samantha ausstieg, und flog dann einige Stockwerke weiter unten in den Kapselhangar.

Samantha betrat ihr Zuhause. Die Wohnung, in der sie mit ihrem Vater lebte, erstreckte sich über mehrere Stockwerke. Der Wohnbereich ihres Vaters nahm den ganzen obersten Stock ein. Dort oben war sie nicht mehr gewesen, seit sie ein kleines Kind gewesen war. Der Rest der Wohnung bestand aus mehreren Schlaf- und Badezimmern. Es gab auch noch ein kleines Heimkino, eine große Küche, einen Swimming Pool und einen Fitnessraum. Sie betrat den riesigen Raum, welcher als Wohnzimmer und Esszimmer diente. Die Bediensteten, welche dort gerade Ordnung machten, begrüßten die junge Frau höflich. Samantha stieg die breite Treppe zu ihrem Schlafzimmer hinauf. Oben begegnete sie Josipa, ihrer ehemaligen Erzieherin. Samanthas Mutter war schon früh gestorben. Samantha konnte sich nicht einmal mehr an sie erinnern. Josipa hatte sie aufgezogen und war immer für sie da gewesen. Nun, da Samantha kein Kindermädchen mehr brauchte, war Josipa die Managerin des Haushaltes. Sie lebte zusammen mit einigen anderen Bediensteten in einem unteren Stockwerk, wo jeder sein eigenes Zimmer mit Bad und eine kleine Küche hatte.

„Willkommen zurück, Samantha“, grüßte Josipa nun.

„Hallo, Josipa. Komm mit mir und schau dir an, was ich gekauft habe“, sagte Samantha fröhlich und führte Josipa in ihr Zimmer. Wie jeder Raum in der Wohnung war auch ihr Zimmer sehr groß. Eine Tür führte zu ihrem persönlichen Badezimmer und eine andere in ihren Kleiderschrank. Samantha zeigte Josipa beide Kleider. „Und? Welches gefällt dir besser? Welches soll ich morgen anziehen?“

„Das lachsfarbene ist sehr hübsch. Es wird auch deinem Vater gefallen.“

Samantha nickte und holte aus der Tasche ein in dunkelblaues Seidenpapier eingewickeltes Geschenk. „Das habe ich für dich gekauft.“ Sie streckte es Josipa breit grinsend hin.

„Ach, Samantha. Du solltest dein Geld nicht für mich ausgeben!“, sagte Josipa und nahm das Geschenk lächelnd entgegen.

„Ich konnte nicht anders. Ich habe sofort an dich gedacht, als ich es gesehen habe. Außerdem macht es mir Freude, dir Dinge zu schenken.“

Josipa tätschelte die Wange ihres Schützlings und setzte sich dann neben Samantha auf die Bettkante, um das Geschenk auszupacken. Es war ein seidenes Halstuch, auf welches ein Bild von Josipas Lieblingskünstler gedruckt war. Josipa lächelte gerührt. „Du bist wirklich ein Schatz. Das warst du schon immer!“

„Ich weiß!“, grinste Samantha.

Als Josipa gegangen war, hängte sie ihre neuen Kleider in ihren Kleiderschrank. Glücklich strich sie über den lachsfarbenen Stoff, als sie plötzlich ein Geräusch in ihrem Zimmer hörte. Sie horchte. „Josipa? Bist du das?“

Keine Antwort.

Leise ging Samantha in ihr Zimmer und schaute in jede Ecke und jeden Winkel. Sie hatte wieder das Gefühl, als wäre sie nicht alleine. Doch da war niemand. Samantha schnaubte. „Lächerlich“, sagte sie zu sich selbst.

*

3

Kieran und Silas betraten das Hochhaus an der 27. Nord-Süd-Straße durch einen Nebeneingang. Das Waisenhaus der Vereinigung befand sich in den untersten Stockwerken der einen Hälfte des Hauses. Sie stiegen in die Küche hinab. Stöhnend entledigte sich Kieran ihres Rucksacks.

„Und, was habt ihr mir heute Gutes mitgebracht?“, fragte Alawa, eine kleine Frau in den Vierzigern, und begann Silas’ Rucksack auszupacken. Alawa war die einzige Unbegabte im ganzen Haus. Sie war diejenige, die mit den anderen Waisenhäusern in Kontakt stand und so die begabten Kinder vor einem ungewissen Schicksal retten konnte.

Kieran half der Köchin des Waisenhauses und packte ihren eigenen Rucksack aus, während Silas die Dinge am richtigen Ort verstaute.

„Das sieht doch ganz gut aus“, sagte Alawa. „Es wird aber nicht lange reichen.“

„Das tut es doch nie“, erwiderte Silas und biss in einen zerbeulten Apfel.

„Natürlich tut es das nicht mit so einem Vielfraß wie dir im Haus!“, tadelte Alawa.

„Ich bin nicht der Einzige mit einem unstillbaren Hunger“, meinte Silas und deutete mit dem Kinn auf Kieran, die gerade eine Packung Waffeln in ihrer Tasche verschwinden ließ. Sie grinste ertappt: „Wir haben uns etwas verdient nach dieser Schlepperei!“

„Wann gibt es Abendessen?“, fragte Silas.

„Um die gleiche Zeit wie immer!“, erwiderte Alawa die Augen verdrehend und streckte ihm seinen leeren Rucksack hin.

„Schade“, seufzte er. „Bis dahin werde ich wohl verhungert sein.“

„Dann habe ich wenigstens einen Bauch weniger zu füllen!“, rief Alawa Kieran und Silas hinterher, als die beiden die Küche verließen.

„Ich werde dann wohl noch ein paar Aufträge erledigen vor dem Abendessen“, sagte Silas und aktivierte ein Programm auf seinem Speicher, damit er Aufträge empfangen konnte. „Du solltest Seraphina von der Formerin erzählen.“

Kieran nickte und stieg mit Silas die Treppe hinauf. Oben verabschiedeten sie sich, und während Silas wieder auf die Straße ging, stieg Kieran noch ein Stockwerk weiter nach oben, wo sich ihr Zimmer befand. Sie passierte die vielen Türen und öffnete schließlich ihre eigene Zimmertür. Sie warf sich auf ihr Bett und blieb einen Moment lang liegen. Kaan krabbelte aus ihrer Tasche und verteilte gleichzeitig einige Krümel auf dem Bett.

„Hast du mir auch ein paar Waffeln übrig gelassen?“, fragte Kieran laut.

„Weiß nicht mehr“, erwiderte Kaan. Er breitete seine Flügel aus und flog im Zimmer umher. Kieran holte die Waffelpackung aus der Tasche und begann die restlichen Waffeln zu verspeisen, während sie Kaan dabei beobachtete, wie er seine Kreise drehte. Schließlich begannen sie ihr Lieblingsspiel zu spielen. Kieran formte irgendwo in der Luft einen bunten Ball. Kaan musste den Ball fangen, bevor dieser auf dem Boden aufschlug und verschwand. Kaan schaffte es, fast jeden Ball innerhalb von Sekunden zu schnappen – und das, obwohl Kieran sich Mühe gab, nicht im Voraus daran zu denken, wo genau sie den Ball formen würde. Sie und Kaan mussten wohl tiefer miteinander verbunden sein, als sich beide vorstellen konnten.

Nach einiger Zeit rollte sich Kaan auf ihrem Kissen zusammen. Kieran ging zur Kommode mit dem Spiegel und nahm sich die Linsen aus den Augen. Danach starrten ihr aus dem Spiegel leuchtend violette Augen entgegen. Augen wie diese sah sie jeden Tag auf den Werbebildschirmen, die an jedem Haus hingen. Für die meisten Leute verkörperten diese Augen das Böse schlechthin. Doch Kieran wusste, dass es anders war.

Kieran formte sich einen Kamm und kämmte sich die Haare. Sie waren braun, glatt und schulterlang. Kieran hatte sich von ihrer Zimmergenossin Nima einige violette Strähnen färben lassen.

In dem Moment ging die Tür auf und jene kam herein. „Oh, ihr seid also zurück!“, sagte Nima. Kieran begrüßte sie. Nima schnappte nach Luft und stürzte zu Kierans Bett. „Du hast Waffeln aus der Küche geschmuggelt!“, rief sie begeistert und aß die zwei Waffeln, welche noch in der Packung waren, sofort auf. „Warum bist du so ruhig?“, fragte sie. „Ist was passiert?“

„Silas und ich haben gesehen, wie die Sicherheitsagenten eine Formerin geschnappt haben.“

Erneut schnappte Nima nach Luft. „Das ist ja schrecklich!“

„Jemand hat sie an die Sicherheitsagenten verkauft“, sagte Kieran bitter. Auf Formerinnen war ein Kopfgeld ausgesetzt. Es war nicht viel, was den Verrat noch schlimmer machte. Die meisten Leute würden Formerinnen auch ohne Belohnung ans Messer liefern. Das sei nicht immer so gewesen, sagten die älteren Formerinnen. Früher hätte man Formerinnen misstraut, aber nicht gejagt. Das hatte sich nach einer Häufung von Formerdelikten jedoch geändert. Damals waren auch die Hetzplakate auf den Bildschirmen der Stadt erschienen und jede einzelne Formerin hatte sich verstecken müssen. Nun konnten Formerinnen ihre Gabe und ihre Augen nicht mehr in der Öffentlichkeit zeigen.

Kieran verteidigte die kriminellen Formerinnen nicht, schließlich war es ihnen zu verdanken, dass sie, seit sie denken konnte, eine Gejagte war, doch sie verstand, dass die Armut einen viele Dinge tun ließ, die man im Reichtum nie getan hätte.

„Hast du es Seraphina erzählt?“, fragte Nima.

„Noch nicht“, erwiderte Kieran. „Ich werde es ihr beim Abendessen erzählen. Jetzt gehe ich zuerst einmal duschen.“ Sie verließ das Zimmer und machte sich auf den Weg zum Badezimmer. Dort angekommen, bemerkte sie, dass es besetzt war. Also ging sie einen Stock höher, in der Hoffnung, dass das Badezimmer dort frei war.

Unterwegs kam Kieran an einer Zimmertür vorbei, deren Anblick ihr immer noch einen Stich ins Herzen versetzte. Vor wenigen Tagen noch hatte ihre beste Freundin Rani hier geschlafen. Von einem Tag auf den anderen war Rani dann einfach verschwunden. Ohne Vorwarnung oder etwas zu sagen. Auch Ranis Zimmergenossin Catori hatte Kieran nicht sagen können, was mit Rani passiert war, ebenso wenig wie Seraphina, die Führerin des Waisenhauses und der Vereinigung.

Rani war so etwas wie Kierans große Schwester. Sie war keine Waise. Ihre Eltern hatten sie trotz des Former-Gens akzeptiert, sie jedoch lange Zeit versteckt. Irgendwann waren sie mit der Vereinigung in Kontakt gekommen. Seit ihrem zehnten Lebensjahr war Rani regelmäßig ins Waisenhaus gekommen. Sie hatte der Vereinigung geholfen, die Waisenkinder aufzuziehen. Vor ein paar Jahren dann war sie endgültig ins Waisenhaus gezogen, weil es draußen zu gefährlich für sie geworden war. Rani hatte sich um Kieran gekümmert, seit diese denken konnte. Sie hatte Kieran geholfen, ihre Formergabe zu entwickeln, bis diese stärker geworden war als ihre eigene, und Kieran hatte Rani immer alles anvertrauen können.

Jetzt war sie verschwunden. Es musste ihr etwas zugestoßen sein! Denn sonst hätte sich Rani bei Kieran gemeldet. Sie hätte nicht zugelassen, dass sie sich solche Sorgen machte.

Doch Kieran wollte nicht daran denken, dass Rani den Sicherheitsagenten in die Finger geraten war. Sie verdrängte diesen Gedanken mit aller Macht. Es war sowieso unwahrscheinlich. Befände sich Rani in den Händen der Agenten, hätten diese schon längst an die Tür des Waisenhauses geklopft. Auch wenn sie einen Unfall gehabt hätte, hätte Ranis Speicher die Agenten hierhergeführt. Doch was sonst konnte der Grund für Ranis plötzliches Verschwinden sein? Wenn sie doch nur einen Hinweis auf Ranis Aufenthaltsort hätte. Sie hatte überall gefragt, doch auch Ranis Eltern hatten nichts von ihrer Tochter gehört.

Nach der erfrischenden Dusche ging Kieran in ihr Zimmer zurück, packte ihre Tasche und den schlafenden Kaan und begab sich in den Gemeinschaftsraum im untersten Stock. Die fünf Kinder des Hauses spielten dort auf ihren Handbildschirmen irgendein Spiel. Shania und Robi, zwei Formerinnen, saßen bei Samara, einer Tarnerin, und plauderten.

Kieran setzte sich zu Nima und packte ihre Tasche aus. Sie vertrieb sich die freie Zeit meistens damit, Geräte zu reparieren, welche sie im Schrott gefunden hatte. Sie arbeitete auf dem Schrottplatz seit sie dreizehn Jahre alt war. Zuerst hatte sie die Geräte nur aus Neugierde auseinandergenommen. Dabei hatte sie einiges gelernt. Mittlerweile konnte sie fast alle Geräte reparieren. Sie formte sich die Werkzeuge, welche sie dazu brauchte, selbst. Manchmal formte sie sogar die Ersatzteile. Da Kieran beständige Dinge formen konnte, war dies kein Problem.

Trotzdem getraute sie sich nicht, diese Geräte auf dem Markt zu verkaufen. Dort kamen nur die Geräte hin, welche sie auf herkömmliche Art und Weise repariert hatte. Die anderen Geräte blieben im Waisenhaus. Dank ihr besaßen sie im Waisenhaus einen kleinen Fernseher und fast jeder Bewohner hatte einen tragbaren Bildschirm oder ein Musikgerät im Zimmer. Alawa hatte von Kieran zudem ein paar sehr nützliche Haushaltsgeräte geschenkt bekommen.

Nima löste ihren Blick vom Fernseher und schaute Kieran dabei zu, wie sie eine Holospielekonsole der neusten Generation reparierte. Sie formte sich das Werkzeug und veränderte es ständig, damit daraus das Hilfsmittel wurde, das sie gerade benötigte.

„Ich bin so eifersüchtig auf dich!“, sagte Nima. „Wenn ich das doch auch könnte!“ Nima war zwar eine Formerin, doch sie konnte nur ganz einfache Dinge formen. „Es ist doch ziemlich ungerecht. Meine Gabe ist so schwach, dass ich keinen Menschen damit hintergehen könnte, selbst wenn ich es wollte. Trotzdem werde auch ich gejagt.“

„Ich habe auch noch nie jemanden hintergangen und trotzdem werde ich gejagt“, erwiderte Kieran, ohne von ihrer Arbeit aufzuschauen. „Außerhalb des Waisenhauses natürlich“, fügte sie relativierend hinzu.

„Wo ist eigentlich Silas?“, fragte Nima nun. „Ist er nicht mit dir zurückgekommen?“

„Doch, doch. Aber er ist gleich wieder los, ein paar Aufträge erledigen. Der Junge kann nicht stillsitzen.“

Nach dem Abendessen setzte sich Kieran zu Seraphina an den Tisch und erzählte ihr von der Formerin, die in der Stadt festgenommen worden war. Alle am Tisch hörten ihr zu.

„Das ist jetzt schon die zweite innerhalb kurzer Zeit“, sagte Seraphina besorgt. Sie war dünn und hatte dunkelblondes Haar. „Sie rotten uns noch aus! Wenn wir nur wüssten, was mit denen geschieht, die sie mitnehmen.“ Dabei schaute sie Orell, den Führer der Tarner in der Vereinigung, an. Ihm gehörten einige Apotheken auf Dunsthöhe. Er war auch der Linsenlieferant für alle Formerinnen der Vereinigung, mit denen sie ihre violette Augenfarbe verbergen konnten.

„Es ist einfach zu gefährlich!“ Offensichtlich knüpfte er an eine alte Diskussion an. „Wir können die Sicherheitsagenten nicht getarnt beschatten. Sobald sie in die Flugkapsel steigen, können wir ihnen nicht mehr folgen. Wir würden entdeckt werden!“

„Dann müssen sich mehr Tarner an der Suchaktion beteiligen!“, sagte Seraphina energisch. „Es kann nicht sein, dass es immer noch Formerinnen da draußen gibt, die nichts von der Vereinigung wissen!“

„Wir tun unser Bestes!“, sagte Orell ebenso energisch.

Die Tarner waren oft unsichtbar in der Stadt unterwegs und beobachteten Frauen, in der Hoffnung, auf diese Art Formerinnen zu finden. So waren sie damals auch auf Rani aufmerksam geworden. Die Formerinnen waren in den letzten Jahren jedoch um einiges vorsichtiger geworden, denn die Jagd auf sie hatte sich verschärft. Sie setzten ihre Gabe nicht mehr außerhalb ihres Zuhauses ein, sodass die Tarner schon lange keine Formerin mehr gefunden hatten.

„Diese Verräter!“, unterbrach Julder lautstark die Diskussion. Er war ein Tarner, der nicht im Waisenhaus lebte, und heute nur zu Besuch war. „Es gibt unter den Unbegabten immer mehr miese Verräter, die uns ohne Skrupel ausliefern. Sie sind nicht besser als die Sicherheitsagenten oder der Rat. Wir können keinem von ihnen trauen!“

Die beiden Vereinigungsführer ignorierten ihn. Der Rest der Anwesenden im Speisesaal war still geworden.

„Wenn sie beginnen, in der Bevölkerung stichprobenartig Augenscans durchzuführen, sind wir ihnen ausgeliefert!“, sagte Seraphina. „Und das wird nicht mehr lange dauern. Ihre Werbung ist aggressiver geworden! Man könnte meinen, Formerinnen wären an allen Verbrechen der Stadt schuld!“

„Ja. Die Situation ist sehr besorgniserregend. Vor fünf Jahren haben wir den letzten Neuzugang bekommen. Seit Maierbi zu uns geschickt wurde, scheint es keine Formermädchen mehr zu geben. Offenbar werden sie nicht mehr an die Waisenhäuser gegeben, sondern landen direkt bei den Agenten“, sagte Soraja. Sie war im Waisenhaus Lehrerin und Kindermädchen zugleich.

„Die Lage ist ernst!“, bestätigte Orell. „Falls irgendeine Formerin aus dem Waisenhaus auffliegt, hängt das ganze Haus mit! Dann wird es nicht lange dauern, bis die Sicherheitsagenten bei uns vor der Tür stehen!“

„Warum verändern die Formerinnen nicht einfach ihre Augenfarbe, wenn sie kontrolliert werden? Waneta macht meine Kleider auch immer pink, nur um mich zu ärgern. Warum machen sie das nicht mit ihren Augen?“, fragte Bly, ein neunjähriger Tarner. Waneta ihm gegenüber kicherte.

„Formerinnen können keine Lebewesen verändern, nur Objekte“, erklärte Seraphina.

Kieran starrte sie an.

„Hast du gehört?“, sagte sie zu Kaan, der bei ihr war.

„Sie hat ja keine Ahnung“, antwortete er in Gedanken.

„Wir müssen schnell etwas unternehmen!“, rief Shania und erhob sich. „Wir dürfen uns nicht so behandeln lassen! Wenn wir Begabten uns zusammentun, dann sind wir doch viel mächtiger als alle anderen!“

Orell unterbrach sie: „Ja, du hast recht, Shania. Wir müssen etwas unternehmen. Aber jetzt ist nicht die Zeit, darüber zu diskutieren.“ Er schaute zum Kindertisch. Offenbar war er durch Blys Äußerung daran erinnert worden, dass sie solche Diskussionen aus gutem Grund nicht im Speisesaal zu führen pflegten. „Wir wollen den Kindern keine Angst einjagen.“

„Dann sollten wir ins Sitzungszimmer gehen und uns dort einen Plan zurechtlegen!“, beharrte Shania.

„Was denkst du denn, was wir die ganze Zeit bei den Vereinigungssitzungen besprechen? Wir versuchen, eine Lösung zu finden!“

„Aber da dürfen nur die Volljährigen hin! Aber wir wollen auch mitreden! Es geht um unsere Zukunft und wir sind bereit, dafür zu kämpfen!“

Es gab ein zustimmendes Gemurmel unter den Jugendlichen.

„Du kennst die Regeln. Sobald du das Erwachsenenalter erreicht hast, kannst du mitreden!“, sagte Orell leicht verärgert.

„Aber sie hat in einem Punkt recht“, sagte Seraphina ein wenig leiser. „Die Situation gleicht einem Kampf. Wir müssen auch aggressivere Pläne in Betracht ziehen! Sie haben uns in die Ecke gedrängt. Wir müssen uns wehren!“

Seraphina und Orell führten ihr Gespräch nicht weiter. Aber an den anderen Tischen wurde das Thema aufgegriffen und erhitzt diskutiert. Als Alawa alle aufforderte, den Speisesaal aufzuräumen, löste sich die große Gruppe auf, aber die Diskussion ging in den Kleingruppen weiter. Kieran hörte nur auf halbem Ohr zu. Sie achtete mehr auf Kaan, während sie ihr Geschirr in die Küche brachte.

„Seraphina hat unrecht. Eine mächtige Formerin kann Lebewesen verformen. Deswegen ist Blys Idee genial. Du kannst es schaffen! Und mit ein bisschen Übung vielleicht auch die anderen Formerinnen.“

„Ich weiß nicht“, erwiderte Kieran skeptisch. Manchmal kam es ihr so vor, als wäre Kaan die Stimme ihres Unterbewusstseins. Auf jeden Fall hatte er das Talent, die Themen anzusprechen, die sie eigentlich lieber verdrängt hätte.

„Probiere es doch wenigstens aus! Du bist mächtig genug.“

„Du hast Seraphina gehört. Sie klang sehr überzeugt!“

„Aber sie hat nicht recht!“

„Ich habe Angst, Kaan. Es ist nicht natürlich, dass ich Lebewesen verformen kann. Vielleicht warst du ein Glücksfall und nächstes Mal geht etwas schief.“

Kaan schnaubte. „Für Unbegabte sind die Begabten auch unnatürlich. Deswegen sind sie ja gegen euch. Du kannst es! Es ist nicht logisch, dass Formerinnen nur Objekte formen können. Vielleicht können die meisten Formerinnen zumindest ihren eigenen Körper verformen. Sie haben es nur noch nie probiert, weil sie nicht wissen, dass es möglich ist. Wenn sie es aber bei dir sehen … Es wäre die Rettung für alle Formerinnen.“

In dem Moment stieß Kieran mit Veder zusammen. Sie hatte sich beim Laufen wohl zu sehr auf ihr Gespräch mit Kaan konzentriert. „Oh, tut mir leid! Ich habe dich nicht gesehen!“, entschuldigte sie sich.

Veder lachte. „Autsch! Das hat gesessen! Jetzt siehst du mich nicht einmal mehr, wenn ich meine Gabe nicht anwende!“ Er fasste sich dramatisch ans Herz. Kieran lächelte und ging zusammen mit Veder zurück zum Gemeinschaftsraum. Er war Silas’ Zimmergenosse und Kieran hatte ihn schon einmal aus einem geformten Glas trinken lassen, welches sie dann im richtigen Moment hatte verschwinden lassen. Der Inhalt des Glases war nicht mit dem Glas verschwunden und hatte sich auf Veder ergossen. Seitdem ärgerten sich die beiden sehr gerne einmal gegenseitig.

„Wirst du es probieren?“, drängte sich Kaan wieder in ihre Gedanken.

„Ja. Aber nicht heute.“

„Du solltest aufhören Angst vor deiner eigenen Macht zu haben. Es ist eine gute Macht. Zumindest mein Leben hast du damit gerettet.“

*

4

Am nächsten Morgen trug Samantha das lachsfarbene Kleid, als sie die Treppe runterkam. Sie sah darin wunderschön aus. Ihr langes, blondes Haar trug sie heute offen, sodass es ihr einfach über die Schultern fiel. Ihre Wangen waren leicht gerötet. „Guten Morgen, Papa!“, sagte sie zu Lachlan Midas, der bereits am Frühstückstisch saß, und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

„Guten Morgen, Samantha“, erwiderte dieser und legte das Lesegerät weg. Lachlan Midas war einer der reichsten Menschen in der Stadt. Ihm gehörte die gesamte Transportindustrie. Jede Flugkapsel der Stadt kam aus einer seiner Fabriken. Selbst die großen Güterkapseln außerhalb der Stadt, welche Lebensmittel aus der weit entfernten Landwirtschaftszone in die Stadt transportierten, gehörten ihm. Zudem besaß er noch verschiedene andere kleine Unternehmen. Mehr als Tausend Menschen arbeiteten für Lachlan: die Bediensteten in seinem Haus, die Menschen in der Fabrik, Wissenschaftler, Ingenieure, Techniker, Verkäufer, Sekretärinnen und viele andere. Lachlan Midas war auch seit vielen Jahren Mitglied des Stadtrates. Man sagte, dass er sehr einflussreich sei – sowohl im Stadtrat als auch in der Industrie. Midas war aber auch kontrollsüchtig. Es ging das Gerücht um, dass er, wenn er wollte, jede einzelne seiner verkauften Flugkapseln orten und kontrollieren konnte.

Seit er Lachlan Midas persönlich kannte, glaubte Dwi-Gavin diesem Gerücht. Vor ein paar Wochen war er von Midas eingestellt worden. Seitdem hatte er immer wieder erlebt, wie sehr dieser die Kontrolle liebte und die Macht genoss. Es war logisch, dass jemand wie er sich in seinem Leben nicht nur Freunde gemacht hatte. Lautlos stand Dwi-Gavin nun ein wenig abseits des Frühstückstisches und beobachtete Vater und Tochter.

„Du hast ein neues Kleid“, bemerkte Midas, als Samantha sich schwungvoll setzte.

„Ja. Gefällt es dir?“

In Midas’ Gesicht erschien ein Ausdruck, den Dwi-Gavin zuvor noch nie gesehen hatte. Sofort wurde er neugierig. „Deine Mutter trug etwas sehr Ähnliches, als ich sie kennenlernte.“

Ja. Valeria Midas. Dwi-Gavin hatte noch nicht herausgefunden, wie sie tatsächlich umgekommen war.

Samantha schien von der Antwort überrascht zu sein. Sie schaute ihren Vater eine ganze Weile lang schweigend an. Dann fragte sie leise, fast schon scheu: „War sie mir ähnlich?“

„Du wirst ihr immer ähnlicher“, antwortete Lachlan ein wenig barsch. Das Gesprächsthema war beendet. Samantha senkte den Blick und begann zu essen.

„Wie sehen deine Pläne heute aus?“, fragte Midas schließlich ungerührt wie jeden Morgen.

„Nach der Schule bleibe ich mit Merle und Nerina noch ein wenig länger dort, um zu lernen. Merles Eltern geben ihr kein Geld mehr, bis ihre Noten sich verbessert haben. Also werden Nerina und ich ihr helfen. Und was machst du heute?“, fragte Samantha.

„Ich werde den größten Teil des Tages unten in meinem Büro verbringen. Am Nachmittag habe ich eine Sitzung mit einigen Wissenschaftlern. Ich erwarte außerdem, endlich etwas vom Werbebüro zu hören. Sie haben mir schon lange einen neuen Werbespot versprochen.“

Samantha nickte.

Als sie beide fertig gefrühstückt hatten, verabschiedete sich Samantha mit einem Kuss und ging auf die Plattform hinaus, wo ihre Kapsel bereits auf sie wartete.

In der Schule vereinte sich Samantha mit ihren zwei Freundinnen. Merle Clemens war ein zierliches Mädchen. Ihre Eltern arbeiteten in der Pharmaindustrie und waren dank eines Allheilmittels namens Vitae sehr vermögend. Nerina Konstantin hingegen war groß und sportlich. Sie hatte hellbraunes Haar und braune Augen. Ihren Eltern gehörte die Supermarktkette Megakon.

Gemeinsam gingen die drei Mädchen ins Schulzimmer, wo die erste Lektion stattfand. Heute setzten sie sich in die hinterste Reihe, sodass Dwi-Gavin sich schräg hinter Samantha postieren konnte. Manchmal folgte er dem Unterricht, doch meistens beobachtete er die Klasse und Samantha, wie sie dem Lehrer oder der Lehrerin zuhörten und mitschrieben.

Dwi-Gavin war Samantha in die Schule gefolgt. Es war Teil seines Jobs zu wissen, wer die Leute waren, mit denen Samantha zu tun hatte, deshalb folgte er ihr oft auf Schritt und Tritt. Und es war schon unglaublich, was man alles sah, wenn man nur beobachtete. Dwi-Gavin kannte jede einzelne Person in der Klasse und deren persönliche Angewohnheiten. Doch am liebsten beobachtete er Samantha. Als er den Job angetreten hatte, war er davon ausgegangen, dass Samantha eine verzogene, egozentrische Göre war. Seine Vorurteile hatte er jedoch nach einem Tag schon weit hinter sich gelassen. Sie war klug, fleißig, freundlich und hilfsbereit. Und sie wollte es der ganzen Welt recht machen. Zudem war sie bescheiden. Sie schaute nicht auf die Angestellten oder die normale Arbeiterklasse herab, wie er es bei den meisten ihrer reichen Klassenkameraden gesehen hatte. Sie hielt sich nicht für etwas Besseres und behandelte jeden mit Respekt. Er mochte das Mädchen sehr.

Dwi-Gavin schaute gerade zu, wie Samantha den Stift über das Blatt führte, als Samantha das Datum in eine Ecke schrieb. Die Schüler mussten von jeder Lektion handschriftliche Notizen verfassen. So war jeder Schüler gezwungen, sich an jeder Lektion aktiv zu beteiligen.

„Diese Menschen mit den erweiterten Genen nennen sich selbst Begabte. Wer weiß, welche Begabungen es gibt?“, fragte der Lehrer gerade.

„Es gibt die Springer“, antwortete Nerio, Nerinas Zwillingsbruder.

Es war klar, dass die Springer zuerst genannt werden würden. Die Springer waren die einzigen Begabten, welche über dem Dunst lebten.

„Absolut richtig“, sagte der Lehrer. „Das Springer-Gen kommt nur bei Männern vor. Es erlaubt ihnen, innerhalb von einem Augenblick ihren Standort zu wechseln. Sie müssen sich nur ihren Zielort vorstellen und schon sind sie da. Jeder Springer gehört zur Springerzunft. Sie werden dort erzogen und ausgebildet. Die Springerzunft garantiert, dass kein Springer seine Macht missbraucht. Die letzten fünfzig Jahre gab es keinen einzigen Regelverstoß von einem Springer.“

Das heutige Unterrichtsthema interessierte sogar Dwi-Gavin, weshalb er Samanthas Beobachtung ein wenig außer acht ließ. Er verdrängte seinen Auftrag und hing dem Lehrer genauso an den Lippen wie die Schüler. Und das, was der Lehrer gerade gesagt hatte, stimmte so nicht. Dwi-Gavin kannte einen Springer, der nicht in der Springerzunft war, er hatte sie verlassen. Die Zunft war jedoch da, um die Springer zu schützen. Dass man den Springern und ihrer Macht nicht misstraute, lag nur an der Zunft und ihren strikten Vorschriften.

„Die Zunft bildet ihre Leute also gut aus. Springer können bei einem Sprung kleine bis mittelgroße Gegenstände mitnehmen. Doch auch wenn sie manchmal für das Ausführen von Eillieferungen eingesetzt werden, sind sie keine Lieferanten.“

„Sie sind meistens Ärzte oder Sicherheitsagenten“, meldete sich Blenda zu Wort.

„Ganz genau. Sie sind die Ersten, welche vor Ort sein können, wenn irgendwo etwas passiert. Schon manches Leben wurde gerettet, weil ein Springer wenige Sekunden, nachdem der Notruf eingegangen war, an der Unfallstelle hatte sein können. Doch jeder Springer hat die Wahl, welchen Beruf er ergreifen möchte. Es gibt auch Springer in ganz normalen Berufen. Und woran erkennt man einen Springer?“

„An den Puppenaugen!“

Dwi-Gavin schnaubte leise und erschrak. Er hatte wegen der lächerlichen Bezeichnung Puppenaugen geschnaubt. Erschrocken war er, weil Samantha ihn offensichtlich gehört hatte. Sie hatte sich umgedreht und starrte ihm auf die Brust. Nur dass sie natürlich nur die Wand hinter sich sah. In ihren grünblauen Augen lag Misstrauen. Dwi-Gavin lächelte, denn er war unsichtbar. Dennoch hatte er das Gefühl, Samantha bemerke ihn jedes Mal, wenn er unachtsam war und ein Geräusch machte oder ihr zu nahe kam. Er musste unbedingt besser aufpassen.

„Richtig. Die Springer haben eine schwarze Regenbogenhaut, die ein wenig größer ist als unsere. Deswegen nennt man ihre Augen in der Umgangssprache auch Puppenaugen. Außerdem hat jeder Springer in der Zunft ein Tattoo: einen Ring auf dem rechten Ohrläppchen.“

Den Ring bekam man, sobald man genug alt war, ein vollwertiges Mitglied der Zunft zu werden. Unwillkürlich berührte Dwi-Gavin sein eigenes rechtes Ohrläppchen, wo sich der dünne schwarze Ring befand.

„Nun gut. Wer kennt noch eine andere Art von Begabung?“

„Die Läufer.“

„Gut. Das Läufer-Gen ist das am weitesten verbreitete. Es kommt sowohl bei Männern als auch bei Frauen vor. Läufer sind auf dem Boden unter dem Dunst sehr beliebt. Könnt ihr euch denken, warum?“

„Sie sind schnelle Lieferanten.“

„Ja. Um sie bei ihrer Arbeit nicht zu behindern, gibt es in den Straßen sogar markierte Wege, die ausschließlich für die Läufer sind.“

„Woran erkennt man einen Läufer?“, fragte Nerina.

„Läufer haben kein besonderes Erkennungsmerkmal, aber aufgrund ihrer Begabung haben sie natürlich immer einen gut gebauten Körper und starke Knochen. Sie sind allgemein stärker als andere Menschen und verfügen über eine ausgezeichnete Wahrnehmung und schnelle Reaktionsfähigkeit.“

Dwi-Gavin hatte noch mehr gehört. Den Läufern wurde nachgesagt, einen überdurchschnittlich hohen Intelligenzquotienten zu haben. Das war logisch, denn ein Läuferhirn musste neue Informationen schneller verarbeiten können als dasjenige von Leuten, die in normalem Tempo unterwegs waren.

„Gut. Die nächste Begabung?“

„Die Formerinnen“, sagte Cyprian.

„Richtig. Das Former-Gen kommt nur bei Frauen vor. Formerinnen können Kraft ihrer Gedanken Gegenstände formen oder verformen. Diese Gegenstände sind jedoch nicht von Dauer. Sie verschwinden irgendwann. Man merkt erst, dass ein Gegenstand geformt worden ist, wenn er verschwunden ist. Die geformten Objekte sind nicht von Originalen zu unterscheiden. Das macht diese Gabe so bedenklich. Es gab Fälle von Leuten, die etwas für viel Geld gekauft haben. Als sie ihre Errungenschaft zu Hause auspacken wollten, war sie verschwunden.“