Unter den Erwartungen - Armin Trost - E-Book

Unter den Erwartungen E-Book

Armin Trost

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Beschreibung

Armin Trost setzt sich in seinem Buch erstmalig kritisch mit dem jährlichen Mitarbeitergespräch auseinander. Die damit angestrebten Ziele und Praktiken werden auf den Prüfstand gestellt und vor dem Hintergrund unterschiedlicher, unternehmerischer Rahmenbedingungen diskutiert. Im Fokus stehen dabei die Führungskultur, das Aufgabenumfeld und der organisationale Kontext. Dabei wird deutlich, dass das jährliche Mitarbeitergespräch ein hierarchisches, statisches Organisationsverständnis widerspiegelt. Es steht insofern im Widerspruch zu einer neuen Unternehmensrealität, die von Komplexität und Unsicherheit geprägt ist. Der Sinn dieses Gesprächs kann und sollte in der heutigen Zeit vehement hinterfragt werden. Neben aller Kritik zeigt Trost in seinem Buch aber auch praktische Alternativen auf. Während klassische Ansätze des jährlichen Mitarbeitergesprächs sehr strukturiert, mit zahlreichen Zielsetzungen überladen (all at once), top-down und individuell durchgeführt werden, die Ergebnisse in einem System oder bei der Personalabteilung landen, funktionieren moderne Ansätze gänzlich anders. Ziele werden in Gruppen gemeinsam vereinbart, in kurzen Zyklen, Feedback und Beurteilungen erfolgen peer-to-peer in sozialen Settings. Feedback von Kunden und Kollegen wird wichtiger als Feedback vom direkten Vorgesetzten. Im Sinne einer stärkeren Selbststeuerung bleiben Ergebnisse bei den verantwortlichen Mitarbeitern, Teams und Führungskräften. Inhalte werden weniger vorstrukturiert und quantitativ, sondern eher offen und qualitativ behandelt. Was getan wird, geht deutlich mehr von den Teams und den Mitarbeitern aus und wird weniger "von oben" vorgegeben und verordnet. Dabei haben Führungskräfte mehr eine Vermittlerrolle als die eines Richters. Die Personalabteilung nimmt mehr die Position von Befähigern als die von Schiedsrichtern und zentralen Kontrolleuren ein.

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1. Auflage 2015

Alle Bücher von Wiley-VCH werden sorgfältig erarbeitet. Dennoch übernehmen Autoren, Herausgeber und Verlag in keinemFall, einschließlich des vorliegenden Werkes, für die Richtigkeit von Angaben, Hinweisenund Ratschlägen sowie für eventuelle Druckfehler irgendeine Haftung.

 

© 2015 Wiley-VCH Verlag & Co. KGaA, Boschstr. 12, 69469 Weinheim, Germany

Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form – durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren – reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen oder sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige gesetzlich geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche markiert sind.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

Cover: bauer-design, Mannheim

Coverfoto: businessman with briefcase © Peshkova / iStock

Satz: inmedialo Digital- und Printmedien UG, Plankstadt

Print ISBN: 978-3-527-50825-9epub ISBN: 978-3-527-69666-6mobi ISBN: 978-3-527-69665-9

Für Elena

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1 Einleitung

2 Das System »jährliches Mitarbeitergespräch«

Weit mehr als nur ein »Gespräch«

Wir stillen den Welthunger

3 Was? Für wen? Warum?

Vom Nutzen zum Design

Die üblichen Nutzenkategorien

Der Kunde des Mitarbeitergesprächs

Die interne Positionierung

Sachliche Relevanz

4 Rahmenbedingungen

Aufgabenumfeld

Führungsrolle

Organisation

Hierarchische Welt – agile Welt

5 Möglichkeiten und Grenzen

Die Besten belohnen

Die Schwachen behandeln

Talente identifizieren

Interne Eignung feststellen

Personal entwickeln

Perspektiven bieten

Durch Feedback lernen

Unternehmen steuern

Motivieren durch Ziele

Mitarbeiter halten

Zwischenfazit

6 Gestaltungsdimensionen

Verantwortung

Offenheit und Vielfalt

In Netzwerken denken

Sortierte Formate, Inhalte, Zeiten und Akteure

Los lassen

Was nun?

Fazit und Schlussbemerkung

Literatur

Anhang

Über den Autor

Stichwortverzeichnis

Vorwort

Mein erstes Projekt in meiner Karriere als Personaler war die Einführung eines jährlichen Mitarbeitergesprächs bei der SAP AG. Ich habe an unendlich vielen Projektmeetings und -Workshops zu diesem Thema aktiv teilgenommen, war an zahllosen Informationsveranstaltungen für Mitarbeiter und Führungskräfte beteiligt. Ich war als Mitarbeiter Opfer des Mitarbeitergesprächs und als Führungskraft Täter. Dabei hatte ich chronisch das Gefühl, dass an dieser Sache irgendetwas nicht stimmt. Es war ein eher diffuser Eindruck, gefüttert durch wenig euphorische Reaktionen auf Seiten der Betroffenen. Aber was konnte falsch sein an der Idee, dass Führungskräfte wenigstens einmal im Jahr mit ihren Mitarbeitern Ziele vereinbaren, über deren Entwicklung sprechen und auf strukturierte Weise Rückmeldungen geben?

Jahre später wurde ich Professor und führte von nun an als Hochschullehrer, Wissenschaftler, Berater und Trainer viele kontroverse Diskussionen mit Personalern, Führungskräften oder MBA-Studenten, die dieses Instrument in ihrer beruflichen Karriere gestaltet oder erlebt haben. Der Knoten löste sich nicht. Was in der Theorie so einfach und gut gemeint erschien, entpuppte sich in der Praxis als ein Konzept höchstmöglicher Komplexität und Vielschichtigkeit. Das Letzte, was hier angesagt ist, scheint Naivität zu sein.

Mehr aus akuter Verzweiflung heraus schrieb ich dann im Jahr 2012 einen Beitrag in meiner Kolumne im Harvard Business Manager. Der Titel: »Wozu noch Mitarbeitergespräche?« (siehe Anhang). Wenig später wurde er auf Spiegel-Online mit dem Titel »Talkshow nach Schema F« veröffentlicht. Der Beitrag war zugegebenermaßen recht polarisierend, gar zynisch. Am ersten Tag nach der Veröffentlichung im Harvard Business Manager erzielte der Beitrag mehr als 10 000 Zugriffe. Dem folgte eine Flut von Kommentaren und Stellungsnahmen. Die meisten erreichten mich per E-Mail. Das Thema schien die Gemüter zu erregen, als ginge es um die Frauenquote. Auch hier war keine Richtung in Sicht. Die einen sehen das Thema auf die eine, die anderen auf die andere Weise.

Im Jahr 2013 habe ich dann angefangen, das Thema schrittweise zu sortieren. Ich habe meterweise Literatur studiert, Modelle entwickelt, die Diskussion mit Personalern, Führungskräften und Studenten gesucht. Irgendwann haben sich die Dinge aus meiner Sicht verdichtet und ich glaube, heute in der Lage zu sein, mehr Klarheit und Struktur in dieses Thema bringen zu können. Bevor ich angefangen habe, dieses Buch zu schreiben, fanden zahllose Diskussionen mit Vertretern aus der Praxis statt. Ihnen gilt an dieser Stelle mein ganz besonderer Dank. Wären die Rückmeldungen aus der Praxis nicht so positiv gewesen, hätte ich dieses Buch nicht geschrieben. Ich glaube, die Überlegungen in diesem Buch haben eine hohe Praxisreife erreicht und ich hoffe, dass all diejenigen, die sich mit Themen rund um das jährliche Mitarbeitergespräch beschäftigen, in diesem Buch die nötige Orientierung und Differenzierung finden.

Tübingen, 31.01.2015

Armin Trost

1 Einleitung

Jedes Jahr spielt sich in fast allen Unternehmen weltweit die immer gleiche Szene ab. So auch bei Stephan. Stephan ist Vertriebsleiter eines international agierenden Automobilzulieferers. Als er wieder mal am Flughafen auf das Boarding wartet, checkt er nochmals seine Mails. Es sind wie immer zu viele. Eine Mail stammt von seinem Personalleiter, dem so genannten »HR Business Partner«, zuständig für den Bereich International Sales. Betreff: Jährliches Mitarbeitergespräch. Der Mailverteiler ist groß. Offensichtlich haben alle Führungskräfte seines Bereichs diese Mail bekommen. Stephan ahnt, was jetzt kommt. »Liebe Führungskräfte, ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass in den folgenden Wochen wie in jedem Jahr die jährlichen Mitarbeitergespräche durchgeführt werden müssen. Über folgenden Link gelangen Sie zu den entsprechenden Formularen Ihrer Mitarbeiter. Es ist wichtig, dass alle Gespräche bis Ende Januar abgeschlossen sein müssen. Im Anhang finden Sie ferner einen Leitfaden zur Durchführung eines Mitarbeitergesprächs.« Es folgen die üblichen motivierenden Sätze rund um die hohe Bedeutung des Mitarbeitergesprächs im Hinblick auf Führungsqualität, Leistungskultur, Professionalität im Umgang mit den Mitarbeitern und die Zukunft des Unternehmens. Den Leitfaden kannte Stephan schon aus einem Training, an dem alle Führungskräfte teilnehmen mussten. Darin steht, dass man Ziele »smart« formuliert, Feedback sachlich gibt und immer mit Positivem beginnt und dergleichen. Auf dem Weg zum Flugzeug vermischen sich in Stephans Gedanken unterschiedlichste Assoziationen. Sein Terminkalender ist nahezu ausgebucht. Ja, Gespräche sind wichtig. Wozu das Ganze? Schon wieder ein Jahr vorbei? Mit Peter (einem seiner Mitarbeiter) wird’s eher schwierig. Da kommt viel Arbeit auf mich zu, aber ich werde das hinter mich bringen usw. Als er seinen Platz im Flugzeug eingenommen hat, schickt er noch schnell eine Mail an seine Assistentin: »Hi Rita, bitte vereinbare in der zweiten Januarhälfte jeweils einstündige Termine mit allen 17 Mitarbeitern aus unserem Team. Betreff: Mitarbeitergespräch. Näheres folgt. Danke und Grüße, Stephan. PS: Vergiss nicht, dass Du und ich auch einen Termin brauchen ;-)«

Das jährliche Mitarbeitergespräch gehört sicherlich zu den am meisten verbreiteten Führungsinstrumenten weltweit. Für viele Personaler ist das Mitarbeitergespräch gar fester und integraler Bestandteil eines professionellen Personalmanagements. Zugleich gibt es kaum ein Führungsinstrument, das in der Praxis auf Seiten betroffener Mitarbeiter und Führungskräfte so sehr kritisiert oder zumindest kontrovers diskutiert wird. Aber was kann an einem Mitarbeitergespräch falsch sein? Wer kann etwas dagegen haben, wenn sich eine Führungskraft ein oder zwei Mal im Jahr mit ihrem Mitarbeiter Zeit nimmt, um über die Vergangenheit, die Zukunft und über mögliche Entwicklungsschritte zu sprechen? Wo liegt das Problem, wenn die Inhalte und Ergebnisse eines solchen Gesprächs notiert werden? Die Idee des Mitarbeitergesprächs ist in Unternehmen zunächst einfach zu vermitteln. Als verantwortlicher Personalleiter, der ein Mitarbeitergespräch einführen möchte, wird man zunächst wenig Widerspruch ernten. Die gelebte Praxis erscheint aber nach kurzer Zeit nicht mehr so widerspruchsfrei.

Für die einen ist das jährliche Mitarbeitergespräch eine lästige Übung, die man »hinter sich bringt«, damit die Kollegen aus der Personalabteilung zufrieden sind – nach dem Motto: »You better don’t mess with HR.« In dieser Bewertung sind sich Mitarbeiter und Führungskräfte nicht selten einig und man findet einen einfachen, gemeinsamen Weg, das Gespräch zu führen, ohne es wirklich führen zu müssen. Man reaktiviert das Gesprächsformular vom letzten Jahr, passt es marginal an, einigt sich, wie welches Feld angekreuzt werden sollte. Das war’s. Alle sind glücklich und zufrieden – sogar die Personalabteilung.

Für die anderen ist das jährliche Mitarbeitergespräch das wichtigste Meeting im ganzen Jahr. Beide Parteien, der Mitarbeiter und die Führungskraft bereiten sich auf das Gespräch in dem Bewusstsein vor, dass in dieser besonderen Konversation wichtige Weichen für die kommenden Monate, oder gar für die ganze Karriere des Mitarbeiters gestellt werden. Ein Arbeitsleben ohne jährliches Mitarbeitergespräch wäre für alle Beteiligten nicht vorstellbar. Zumindest wäre es ein erhebliches Problem, wenn diese Praxis nicht gelebt würde.

In meinen Vorlesungen stelle ich berufserfahrenen MBA-Studenten aus aller Welt gerne die Frage: Auf einer Skala von Null bis Zehn, als wie wertvoll hast Du das jährliche Mitarbeitergespräch in Deiner Karriere erlebt? Null steht für »absoluter Unsinn, bedeutungslos«. Zehn steht für »extrem wichtig, unverzichtbar«. So gut wie alle Studenten haben Erfahrungen mit diesem Instrument. Deren Einschätzungen gehen aber regelmäßig extrem auseinander. Die Streuung könnte nicht größer sein, eine Beobachtung die ich nun schon seit vielen Jahren mache. Das ist insofern interessant, als es andere Instrumente im Human Resource Management (HRM) gibt, die tendenziell eindeutige Bewertungen bekommen – in die eine oder andere Richtung. Employer Branding, Mitarbeiterempfehlungsprogramme oder Action Learning für Nachwuchskräfte sind Konzepte, die eher einheitlich und positiv bewertet werden. Es gibt neben dem Thema Mitarbeitergespräch noch andere Personalkonzepte, die gerade durch Studenten mit langer Berufserfahrung ähnlich kontrovers beurteilt werden. Dazu gehören vor allem Mitarbeiterbefragungen und die Einführung eines Führungsleitbildes. Aber warum erfährt gerade das jährliche Mitarbeitergespräch eine solch kontroverse Beurteilung?

Hierzu gibt es natürlich gängige Antworten. Die häufigste Antwort ist vermutlich: »Die Führungskräfte sind nicht reif oder kompetent genug, um Mitarbeitergespräche gut durchzuführen. Man sollte sie entsprechend schulen.« Hier wird gern vorgebracht, dass Führungskräfte, die das nicht können oder vielleicht nicht wollen, zu Unrecht Führungskräfte sind. Der Zweifel richtet sich also mehr gegen die Führungskräfte als gegen das Instrument. Dies ist vermutlich auch der Grund, warum es in der Literatur von Ratgebern für Führungskräfte wimmelt. Ergänzt wird dieses Angebot von Heerscharen, meist freiberuflich tätiger Berater, die Führungskräften beibringen, wie solche Gespräche geführt werden sollten. Man lernt etwa, dass man in einem Mitarbeitergespräch immer positiv beginnen soll, dann die Kritik anbringt, um dann wieder positiv zu schließen. Man lernt, wie man leistungsschwachen Mitarbeitern ihr Problem schonend beibringt, vor allem dann, wenn die Betroffenen von ihrer Leistung überzeugt zu sein scheinen. Darüber hinaus wird in der Praxis gerne angemerkt, das jährliche Mitarbeitergespräch erfahre deshalb eine unzureichende Akzeptanz, weil die Kommunikation an die Führungskräfte und Mitarbeiter nicht ausreichend war. Man hat den Menschen im Unternehmen nicht klar genug erklärt, warum diese personalpolitische Maßnahme so wichtig sei. Auch diese Erklärung lässt das Instrument an sich außen vor. An ihm kann und darf es nicht liegen.

Die Dinge sind vermutlich etwas vielschichtiger und komplexer, als es zunächst aussieht. Natürlich ist es immer gut, wenn eine Führungskraft mit ihren Mitarbeitern spricht. Die Frage aber, ob das jährliche Mitarbeitergespräch ein sinnvolles Instrument ist, kann nicht pauschal mit »Ja« beantwortet werden. In manchen Situationen sind Mitarbeitergespräche für ein Unternehmen sogar toxisch und können einer vormals guten Führungskultur schaden. Um den Nutzen und die Dynamik, die mit jährlichen Mitarbeitergesprächen einhergehen, besser einordnen zu können, bedarf es einer differenzierteren Auseinandersetzung, die in vielen Unternehmen häufig zu kurz kommt. Nicht selten bringt sich die Personalabteilung durch die Einführung eines Mitarbeitergesprächs in eine schlechte Position und beweist durch ihren Aktivismus – wieder mal – wie weit weg sie von der Arbeitsrealität der Fachbereiche ist. Naivität geht vor professionellem Sachverstand. Was zunächst gut gemeint war, endet im Desaster. Und oft wird selbst nach jahrelangen, zum Teil schmerzlichen Erfahrungen nicht erkannt, woran dies liegt.

Das Letzte, was hier als hilfreich erscheint ist Naivität oder eine Art Augen-zu-und-durch-Mentalität. Tatsächlich blickt die Geschichte des Personalwesens auf viele Jahre beispielloser Blauäugigkeit zurück und dies in fast allen Bereichen dieser Disziplin. Es wurden variable Gehaltsysteme eingeführt, weil man annahm, mit Geld könne man Mitarbeiter motivieren. Am Ende durften wir feststellen, dass der Schuss nicht selten nach hinten losging und gerade die leistungsstarken Mitarbeiter dadurch demotiviert wurden. Wir führen Jahr für Jahr Mitarbeiterbefragungen durch, weil wir glauben, die Messung der Mitarbeiterzufriedenheit gepaart mit einer strukturierten Einbindung aller Mitarbeiter würde ein Unternehmen schrittweise in einen besseren Zustand führen. Die praktischen Erfahrungen sind eher enttäuschend. Wir haben Führungsleitbilder entwickelt und keine Gelegenheit ausgelassen, diese auf allen zur Verfügung stehenden Kanälen an die Mitarbeiter und Führungskräfte zu kommunizieren. Das Letzte, was sich gebessert hat, war die Führungsqualität. Weil wir erkannt haben, dass Diversity wichtig ist, haben wir begonnen Diversity mittels Kennzahlen, Zielen, Verordnungen, Policies und kontinuierlicher Aufklärung zu managen und dabei übersehen, dass man Diversity in erster Linie zulassen muss. Die Fachkarriere wurde erfunden, damit leistungsstarke Mitarbeiter, die weder führen können noch sollen nicht benachteiligt werden. Dabei wurden die betroffenen Experten mit zahlreichen Privilegien ausgestattet. Was dabei herauskam, war nicht selten eine Farce. Wir haben aufwendig Kompetenzmodelle zur Vermessung des Führungsnachwuchses entwickelt, um irgendwann festzustellen, dass man damit Gefahr läuft, vor allem die richtig Talentierten auszusortieren. Ich will mir gar nicht ausmalen, wie viel Schaden gut gemeintes Personalmanagement in der Vergangenheit angerichtet hat. Eine wesentliche Ursache dafür sehe ich in der Naivität, mit der im Personalmanagement nicht selten reale Herausforderungen angegangen werden. Häufig sind die impliziten und expliziten Annahmen, die hinter einem personalpolitischen Konzept stehen, fraglich oder gar falsch. Schlimmer noch: Oft sind den verantwortlichen Akteuren in den Unternehmen diese Annahmen nicht einmal bewusst.

Dies trifft in weiten Teilen auch auf das jährliche Mitarbeitergespräch zu. Wir wollen, dass Führungskräfte mehr mit ihren Mitarbeitern sprechen, damit die Chance für ein wechselseitiges Vertrauensverhältnis entsteht und verdonnern alle Führungskräfte dazu ein Gespräch nach vorgegebenem Muster zu führen. Wir sehen nicht, dass dieser Ansatz vor allem den Vertrauensverhältnissen jener Führungskräfte schadet, die bereits vor der Einführung eines Mitarbeitergesprächs eine hohe Führungsqualität an den Tag legten. Man will Mitarbeiter entsprechend ihrer Kompetenzen einsetzen oder entwickeln und verlässt sich darauf, dass Führungskräfte die geeigneten Personen sind, jene Kompetenzen valide zu beurteilen. Mit dem Verweis, dies sei eine zentrale Führungsaufgabe, beharren wir seit Jahrzenten auf dieser Form der Personalbeurteilung, obwohl die Wissenschaft mindestens so lange auf eindrückliche Weise gezeigt hat, dass dieser Weg bei weitem nicht den gewünschten Erfolg verspricht (z. B. Culbertson, Henning & Payne, 2013). So einfach, naheliegend und wertschätzend das jährliche Mitarbeitergespräch auf den ersten Blick daherkommt, so sehr ist es mit Problemen behaftet. Gerade bei diesem, so verbreiteten Instrument ist Naivität und Gutgläubigkeit gefährlich.

Dieses Buch soll helfen, das Thema Mitarbeitergespräch systematischer zu verstehen und einzuordnen. Dies geschieht aus einer neutralen Perspektive. Ich bin weder dafür noch dagegen, sondern stelle Fragen, die ich versuche zu beantworten: Wann ist welche Form von jährlichem Mitarbeitergespräch sinnvoll? Wann nicht? Was kann ich mit Mitarbeitergesprächen unter welchen Umständen und Rahmenbedingungen erreichen? Wo stößt das Instrument an seine Grenzen? Was sind relevante Gestaltungsoptionen? Was sind mögliche Alternativen, um die Ziele zu erreichen, die man üblicherweise mit Mitarbeitergesprächen intendiert? Wann sollte von diesem Instrument eher Abstand genommen werden?

Warum ist noch ein Buch zu dieser Thematik erforderlich? Schaut man sich die gängige Literatur rund um das Thema Mitarbeitergespräch, Personalbeurteilung, Zielvereinbarung, Performance Management an, so wird man schnell feststellen, dass es hier Stand heute drei Arten von Büchern gibt. Die erste Art von Büchern beschäftigt sich mit der Frage, wie man jährliche Mitarbeitergespräche durchführen sollte (z. B. Winkler & Hofbauer, 2010, Schmitz & Billen, 2008; Mentzel, Grotzfeld & Haub, 2014). Hierbei handelt es sich um Ratgeberbücher, die den Nutzen jährlicher Mitarbeitergespräche nicht in Frage stellen. Fast naiv, zum Teil dogmatisch wird von der Sinnhaftigkeit dieses Ansatzes ausgegangen. Man lernt unter anderem, dass man auf Mitarbeiter eingehen sollte und eine gute Vorbereitung wichtig ist. Die zweite Kategorie von Büchern ist wissenschaftlicher Natur (z. B. Murphy & Cleveland, 1995; Breisig, 2005; Becker, 2003). Hier wird meist deskriptiv beschrieben, was in der Praxis getan wird. Welche Methoden gibt es? Welcher Nutzen wird in der Praxis gesehen? Vor allem liegt der wissenschaftliche Fokus aber auf der Validität von Beurteilungsverfahren. Diese wird wissenschaftlich durchweg kritisch gesehen. Vor diesem Hintergrund lässt aber ein Großteil dieser Literatur praktische Implikationen vermissen. Die dritte Kategorie von Literatur verteufelt das Mitarbeitergespräch zum Teil auf ebenso dogmatische Weise, wie man es umgekehrt von den Befürwortern gewohnt ist (z. B. Culbert, 2010; Coens & Jenkins, 2000). In dieser Kategorie kommen Autoren zu Wort, die häufig auf sehr inspirierende Weise alles in Frage stellen, was mit klassischer Unternehmensführung zu tun hat, um im Gegenzug einen eigenen Beratungsansatz zu vermarkten. Dies erfolgt mit dem Hinweis auf neue, moderne Unternehmenswelten, die mit alten Regeln brechen. Etliche Gedanken dieser Autoren werden hier aufgegriffen.

Dieses Buch kann keiner dieser drei Kategorien zugeordnet werden. Am wenigsten hat es mit der Ratgeberliteratur gemein. Es greift wissenschaftliche Erkenntnisse auf und ist inspiriert von der eher kritischen Literatur. Das Besondere an diesem Buch ist, dass hier ein differenzierter Blick auf den angestrebten Nutzen jährlicher Mitarbeitergespräche im Zusammenhang mit unterschiedlichen unternehmensinternen Rahmenbedingungen geworfen wird. Unter welchen Voraussetzungen kann mit klassischen Komponenten des Mitarbeitergesprächs welcher Nutzen erzielt werden und an welcher Stelle sollte über Alternativen nachgedacht werden. Wer sich auf die Inhalte dieses Buches einlässt, wird kritisch über das jährliche Mitarbeitergespräch reflektieren und neue Perspektiven einnehmen. So manches Weltbild wird auf den Kopf gestellt. In diesem Buch wird dieses meistgeliebte Instrument der Personaler aber nicht nur auf den Prüfstand gestellt und in seine Teile zerlegt. Der Leser erhält in diesem Buch vielmehr eine praktische Orientierung.

Der wesentlichste Grund aber für dieses Buch liegt in der sich ändernden Arbeitswelt. Die meisten Bücher über das jährliche Mitarbeitergespräch spiegeln eine Sichtweise auf Organisationen wider, die mit der heutigen Realität immer weniger zu tun hat. Sie gehen implizit oder explizit von einem hierarchischen, statischen Organisationsgebilde, gepaart mit einem traditionellen Führungsverständnis aus. Oben werden Ziele und Strategien definiert, die dann heruntergebrochen werden. Oben wird gedacht und unten wird gehandelt. Dabei werden Anforderungen und Abläufe von einer übergeordneten Metaintelligenz vorgegeben. Einmal beschrieben und durchdekliniert läuft die Organisation gleich einem Uhrwerk. Im Kern befasst sich Führung mit einer zentralen Frage: Wie schaffe ich es, dass die Mitarbeiter das tun, was ich als Führungskraft von ihnen will? Dieses Gedankengerüst beginnt zu bröckeln, was insbesondere der zunehmenden Komplexität in der Unternehmens- und Wirtschaftswelt, der zunehmenden Dynamik und dem schnellen Wandel intern wie extern geschuldet ist. Vor diesem Hintergrund verliert vieles, was in den vergangenen Jahren über das jährliche Mitarbeitergespräch gesagt, geschrieben und getan wurde an Bedeutung. Viele Personaler, Manager oder Geschäftsführer spüren das. Zumindest habe ich diesen Eindruck. Was sich aber in der Praxis als allgemeines Unbehagen manifestiert, soll in diesem Buch in strukturierter Weise behandelt werden.

Im nachfolgenden Kapitel 2 wird zunächst dargestellt, was üblicherweise unter dem jährlichen Mitarbeitergespräch verstanden wird und welches Verständnis von Mitarbeitergesprächen den Ausführungen dieses Buches zugrunde liegt. Hierbei wird unter anderem deutlich, dass das Mitarbeitergespräch weit mehr ist, als nur ein Gespräch zwischen einem Mitarbeiter und seiner Führungskraft. In diesem Zusammenhang werden die typischen Inhalte und der intendierte Nutzen behandelt. Kapitel 3 macht deutlich, dass bei der Auseinandersetzung mit dem Thema Mitarbeitergespräch immer der angestrebte Nutzen als Ausgangspunkt dienen soll. Vor einer Sichtweise, die zu sehr auf das Instrument an sich fokussiert, wird entsprechend gewarnt. Kapitel 4 beschäftigt sich anschließend mit relevanten Rahmenbedingungen. Es wird unter anderem um das Verhältnis zwischen Führungskräften und Mitarbeitern oder um die Dynamik bzw. Unsicherheit der Aufgaben und des Arbeitsumfeldes, in denen sich die betroffenen Akteure befinden, gehen. Darüber hinaus wird der organisationale Kontext in Betracht gezogen. Hier spielen Aspekte wie berufliche Unabhängigkeit der Mitarbeiter, deren Autonomie und das Maß der Kollaboration eine entscheidende Rolle. Dieses Kapitel weist bereits darauf hin, dass die Einführung eines lehrbuchartigen Ansatzes von Mitarbeitergesprächen in Unternehmen sicherlich der falsche Weg ist. Am Ende wird zusammenfassend zwischen einer traditionell hierarchischen und einer agilen Unternehmenswirklichkeit unterschieden. In Kapitel 5 werden die in Kapitel 3 kurz dargestellten Nutzenkategorien von Mitarbeitergesprächen aufgegriffen. Anhand unterschiedlicher, gegensätzlicher Unternehmenswelten wird verdeutlicht, welchen Platz das Mitarbeitergespräch in welcher Form finden kann. Dabei werden die hierarchische Welt und die agile Welt gegenübergestellt. Die Schlussfolgerung wird sein, dass ein jährliches Mitarbeitergespräch in welcher Situation auch immer niemals alle Aufgaben professioneller Führung lösen kann. Vor allem in Unternehmen, die von einer hohen Agilität geprägt sind, erweisen sich modernere Alternativen als überlegenswert. In Kapitel 6 werden abschließend alle relevanten Gestaltungsoptionen im hierarchischen und agilen Kontext gegenübergestellt. Dabei werden praktische Alternativen aufgezeigt, die in einer modernen, agileren Arbeitswelt tragfähig sein könnten.

Auf den Punkt gebracht

Das jährliche Mitarbeitergespräch gehört weltweit zu den am meisten verbreiten Ansätzen im Personalmanagement.Bei den betroffenen Mitarbeitern und Führungskräften ist das jährliche Mitarbeitergespräch sehr umstritten.Die Ursachen für Widerstände gegenüber dem jährlichen Mitarbeitergespräch sind weniger bei den Betroffenen, sondern vor allem bei diesem System selbst zu suchen.Das jährliche Mitarbeitergespräch ist ein äußerst komplexes und vielschichtiges Phänomen. Naivität richtet hier in der Praxis großen Schaden an.

2 Das System »jährliches Mitarbeitergespräch«

Seit vielen Jahren besuche ich Personalfachtagungen oder spreche mit Personalern über deren Ansätze. Dabei ertappe ich mich regelmäßig bei dem mich dämpfenden Gefühl, das was ich jetzt präsentiert bekomme, hätte ich schon 100-mal gehört. In einem von zehn Vorträgen erwache ich und entdecke etwas wirklich Neues: Wow, da hat ein Unternehmen einen neuen Weg bestritten. Mutig. Respekt. Es liegt teilweise in der Natur dieser Zunft, dass sich Unternehmen an den Praktiken anderer orientieren. Das gibt Sicherheit. Gerade Personalleiter im Mittelstand haben in ihrem Unternehmen selten adäquate Sparringspartner auf Augenhöhe. Insofern wundert es nicht, wenn man in gewisser Weise das versucht umzusetzen, was andere bereits versucht haben. Darüber hinaus hinkt die Wissenschaft der Praxis eher hinterher, als dass sie wegweisende Impulse setzt. Zahlreiche Beratungsunternehmen im Personalkontext implementieren in unterschiedlichsten Unternehmen seit Jahren die immer selben Ansätze. Das steigert die eigene Sicherheit, Routine und beschert die erwünschte Marge. In Anbetracht dieser eher unglücklichen Gemengelage kann es gar nicht anders sein, als dass es in der HR-Welt eine sehr ausgeprägte Orientierung an wenigen, kaum unterscheidbaren Best Practices gibt. Auch wenn sich Unternehmen in der Art und Weise, wie sie das jährliche Mitarbeitergespräch umsetzen, unterscheiden, gibt es eine prototypische Variante, die der Praxis insgesamt am nächsten kommt. Schaut man sich an, was zufällig herausgegriffene Unternehmen in Bezug auf das jährliche Mitarbeitergespräch tun, wird man überrascht sein, wie ähnlich die Herangehensweisen sind. Insofern erscheint es an dieser Stelle als legitim von dem traditionellen jährlichen Mitarbeitergespräch auszugehen, das im Folgenden beschrieben wird.

Weit mehr als nur ein »Gespräch«

Wenn ein Personalleiter sagt, er habe »das Mitarbeitergespräch in seinem Unternehmen eingeführt«, dann meint er damit immer, dass er ein System implementiert hat. Ihm geht es nicht darum, dass Herr Meier mit Frau Pfeiffer spricht, sondern darum, dass alle Führungskräfte regelmäßig, gemeinsam mit allen Mitarbeitern bestimmte Beurteilungen vornehmen und bestimmte Entscheidungen fällen. Dabei unterliegt dieses System ganz bestimmten, meist von HR vorgegebenen Regeln und Standards. Diese Urteile und Entscheidungen bilden dann die Grundlage für zahlreiche personalpolitische Aktivitäten.

Das jährliche Mitarbeitergespräch ist ein Zyklus

Die Idee des jährlichen Mitarbeitergesprächs ist dabei denkbar einfach. Einmal im Jahr setzen sich ein Mitarbeiter und seine Führungskraft zusammen und sprechen einerseits über die vergangenen zwölf Monate. In diesem Zusammenhang erfährt der Mitarbeiter eine Beurteilung seiner Leistung, seiner Kompetenzen und gegebenenfalls seines Potenzials. Dann wird über die kommenden zwölf Monate gesprochen. Hier findet im Wesentlichen eine Zielvereinbarung statt. Dabei stehen Leistungs- und Entwicklungsziele im Vordergrund. Was soll der Mitarbeiter im kommenden Jahr erreichen und wie soll er seiner Kompetenzen verbessern? Letzteres mündet in eine Art Entwicklungsplanung für das kommende Jahr. Die Leistungsziele werden dabei von übergeordneten Zielen abgeleitet. Insgesamt ist dies ein zyklischer Vorgang, der sich jedes Jahr wiederholt (siehe Abbildung 1).

 

Abbildung 1: Das jährliche Mitarbeitergespräch erfolgt meist zyklisch.

In zahlreichen Unternehmen wird dieser Zyklus durch ein Halbjahresgespräch ergänzt, bei dem nach sechs Monaten ein Zwischenfazit gezogen wird. Üblicherweise werden die Ergebnisse und Beurteilungen aus dem Gespräch entweder auf eigens dafür bereitgestellten Formularen notiert oder in ein entsprechendes System eingegeben.

In der Praxis gibt es bezüglich der Inhalte eines Mitarbeitergesprächs gewisse Unterschiede, aber noch mehr Gemeinsamkeiten. Leistungsbeurteilung und Zielvereinbarung gehören zu den Standards. Darüber hinaus können in der Praxis zahlreiche andere Aspekte beobachtet werden, die hier Berücksichtigung finden, wie etwa die konkrete Planung von Entwicklungsmaßnahmen, die Eignung für ein Nachwuchsprogramm, das Fluktuationsrisiko, um nur wenige zu nennen. Weiter unten wird auf die verbreitetsten Inhalte jährlicher Mitarbeitergespräche detaillierter eingegangen.

Einheitlichkeit in allen Bereichen und auf allen Ebenen

Wenn Unternehmen Mitarbeitergespräche einsetzen, dann meist auf allen Hierarchieebenen, wenngleich sich die Art der praktischen Umsetzung häufig sehr unterschiedlich darstellt. Gerade im Hinblick auf die Vereinbarung von Zielen streben viele Unternehmen ein kaskadisches Herunterbrechen von Zielen an. Zuerst führt der Geschäftsführer Mitarbeitergespräche mit seinen direkt unterstellten Managern. Diese führen dann Gespräche mit ihren direkt Untergebenen und so weiter. Die Kaskade endet bei den Mitarbeitern auf der untersten Hierarchieebene.

Darüber hinaus dominiert in der Praxis der Versuch, das jährliche Mitarbeitergespräch in allen Unternehmensbereichen in gleicher Weise durchzuführen. So gelten dieselben Standards im Vertrieb, wie in der Produktion oder in der Forschung und Entwicklung. Das in Frankreich angewandte System gleicht dem in Deutschland so wie in allen übrigen Ländern. Alles andere würde aus Sicht der Personalabteilung vermutlich eine nicht vertretbare Komplexität nach sich ziehen. Vor allem aber will man Führungskräfte und Mitarbeitern, die intern die Bereiche wechseln oder befördert werden, nicht immer wieder neu mit diesem Instrument vertraut machen. Zu guter Letzt wäre eine Unterschiedlichkeit in der Durchführung und in den Inhalten prozessual und technologisch nur mit erheblichem Aufwand abbildbar.

Zur besseren Vergleichbarkeit und Standardisierbarkeit dominieren nach wie vor strukturierte, quantitative Beurteilungsdimensionen etwa im Sinne so genannter merkmalsorientierter Einstufungsverfahren (vgl. Breisig, 2005). Dies gilt für die Einschätzung von Kompetenzen genauso wie etwa für die Beurteilung der individuellen Leistung. Ein an dieser Stelle immer wieder heiß diskutierter Aspekt ist die Notwendigkeit oder Sinnhaftigkeit so genannter Verteilungsvorgaben (Forced Distribution, Forced Ranking).

Das Individuum steht im Fokus

Eine weitere Besonderheit von Mitarbeitergesprächen ist darin zu sehen, dass der einzelne Mitarbeiter im Fokus steht und nicht etwa Teams oder gar ganze Abteilungen. Deshalb heißt dieses Instrument auch »Mitarbeitergespräch« und nicht etwa »Abteilungs- oder Teamgespräch«. Ziele und Beurteilungen sind meist auf den einzelnen Mitarbeiter bezogen und werden technisch als personenbezogene Informationen abgelegt, etwa in der Personalakte.

Natürlich sind andere Formen denkbar, wie im weiteren Verlauf dieses Buches aufgezeigt wird. Je nach Arbeitsumfeld sind diese Formen möglicherweise sogar sinnvoller. So findet man in Unternehmen zunehmend kollaborative, soziale Ansätze der Leistungsbeurteilung und Zielvereinbarung. In der Praxis wird man solche alternativen Formen aber nur selten mit dem Konzept des Mitarbeitergesprächs in Verbindung bringen.

Die Führungskraft führt das Gespräch

Schließlich geht man bei Mitarbeitergesprächen implizit davon aus, dass die Gespräche von der jeweiligen Führungskraft eines Mitarbeiters geführt werden. Meist lädt dieser zum Gespräch ein. Die Situation, wonach ein Mitarbeiter auf seinen Chef zugeht, ihn auf das jährliche Gespräch aufmerksam macht und dann das Gespräch führt, ist für die Mehrheit von Führungskräften oder Personaler nur schwer vorstellbar: »Hallo Chef, kommen Sie bitte nächsten Montag in mein Büro. Das Mitarbeitergespräch steht an. Bitte seien Sie vorbereitet. Ich habe Etliches mit Ihnen zu besprechen.« Schon bei diesem Punkt wird spürbar, dass traditionelle Formen von Mitarbeitergesprächen eine bestimmte, meist hierarchische Form der Führung voraussetzen. Es geht um Erwartungen, die eine Führungskraft an seine Mitarbeiter richtet. Meist ist es auch die Führungskraft, die in einem Mitarbeitergespräch die Urteile über den Mitarbeiter fällt. Selbst dann, wenn in manchen Unternehmen der Anspruch besteht, der Mitarbeiter könne oder solle in dieser Situation auch seiner Führungskraft eine Rückmeldung geben, steht dieser Aspekt eher im Hintergrund und bildet die Ausnahme.

Das Mitarbeitergespräch ist verpflichtend

In den meisten Unternehmen ist das jährliche Mitarbeitergespräch verpflichtend. Zumindest besteht gegenüber den Führungskräften, die wie gesagt dafür verantwortlich sind, eine ausdrückliche Erwartungshaltung. Üblicherweise wird die Realisierung von Seiten der Personalabteilungen zentral kontrolliert. Ich kenne Unternehmen, bei denen Mitarbeiter und Führungskraft die Durchführung schriftlich bestätigen müssen. Andere Unternehmen verfolgen dies dadurch, dass durch die Personalabteilung schriftlich und anhand entsprechender Formulare oder mittels IT-Systemen die Ergebnisse eingefordert werden. Mir scheint, dass das jährliche Mitarbeitergespräch als optionales Unterstützungsangebot für Mitarbeiter oder Führungskräfte eher die Ausnahme ist.

Schnittstellen zu benachbarten HR-Prozessen

Schaut man in Publikationen zum Thema Mitarbeitergespräch, die aus den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts stammen, fällt auf, dass damals tatsächlich das Gespräch zwischen dem Mitarbeiter und seiner Führungskraft im Vordergrund stand (siehe z. B. Neuberger, 1980a). Man diskutierte über Grundlagen der Kommunikation oder über direktive versus non-direktive Gesprächsführung. Parallel gibt es schon seit vielen Jahrhunderten unterschiedlichste Formen von Leistungsbeurteilungen. Erst in den vergangenen Jahren hat sich die Idee durchgesetzt, die Leistung eines Mitarbeiters mit dem Betroffenen zu besprechen. Diese Entwicklung mündete unmittelbar in das Mitarbeitergespräch. Seitdem ist dieses Instrument immer mehr zum Dreh- und Angelpunkt zahlreicher personalpolitischer Instrumente mutiert. Ein Mitarbeitergespräch ist insofern weit mehr als nur ein Gespräch zwischen einem Mitarbeiter und seiner Führungskraft. Das Mitarbeitergespräch ist vielmehr ein System. Es ist institutionalisiert, formal, folgt festen Regeln und weist klar definierte Schnittstellen zu benachbarten, personalpolitischen Konzepten und Prozessen auf. Zumindest ist dies der Anspruch der Mehrzahl von Unternehmen, die dieses System einsetzen. So gibt es Schnittstellen etwa zum Gehaltsmanagementsystem: Aus der Leistungsbeurteilung und der Erreichung vereinbarter Ziele wird die Höhe variabler Gehaltsbestandteile ermittelt. Die Leistungsbeurteilung hat zudem eine unmittelbare Relevanz auf die Identifikation unternehmensinterner Talente, aber auch auf die Trennung von bestimmten Mitarbeitern, je nach Ergebnis der Beurteilung. Die Ziele der Mitarbeiter ergeben sich aus einer Balanced Scorecard, in der übergeordnete Ziele beschrieben sind (vgl. Kaplan & Norton, 1996). Aus der Kompetenzbeurteilung ergeben sich weitere Schritte im Rahmen der betrieblichen Weiterbildung oder in Bezug auf die Personaleinsatzplanung. Die Liste ließe sich beliebig erweitern (siehe Abbildung 2).

 

Abbildung 2: Das Mitarbeitergespräch und seine Schnittstellen.

Im Laufe dieses Kapitels wird auf die einzelnen Zwecke und Schnittstellen noch detaillierter eingegangen. Wenn also heute im Kontext eines Personalmanagements über das Mitarbeitergespräch nachgedacht wird, dann geht es hier um weit mehr als nur um ein »Gespräch« zwischen zwei Menschen. Vielmehr denken moderne Personaler hier an zum Teil hoch komplexe, integrierte Systeme mit aufeinander abgestimmten Prozessen, Teilprozessen und Schnittstellen, unterstützt durch entsprechende IT-Systeme, in denen alle relevanten HR-Prozesse verbunden sind und ein automatischer Austausch dazugehöriger Informationen erfolgt. Dabei werden Daten, die an der einen Stelle »anfallen«, in einem benachbarten Prozess aufgegriffen. Ob diese Vision jemals in irgendeinem Unternehmen erfolgreich in die Praxis umgesetzt wurde, sei zunächst dahingestellt.

Formal, institutionalisiert und nach festen Regeln

Das jährliche Mitarbeitergespräch erfolgt nach festen Regeln, was Zeitpunkte, Inhalte, Dokumentation und Rollen der beteiligten Akteure betrifft. Wenn also ein Mitarbeiter und seine Führungskraft ein Gespräch führen, dann handelt es sich bei diesem Ereignis noch lange nicht um ein Mitarbeitergespräch. Mitarbeitergespräche haben einen formellen Charakter und sind nicht zu vergleichen mit der meist informellen Kommunikation, die zwischen einem Mitarbeiter und seiner Führungskraft im Alltag stattfindet. Auch formelle Besprechungen, Meetings etwa im Rahmen der regulären Projektsteuerung fallen nicht in diese Kategorie. Meist führen Mitarbeiter und Führungskräfte diese Besprechungen nach eigenem Ermessen durch, zu selbst bestimmten Zeitpunkten mit selbst definierten Inhalten. Auch wenn eine Führungskraft einen Mitarbeiter zu sich bittet (oder umgekehrt), um abseits vom Tagesgeschäft eine grundsätzliche Angelegenheit, wie Leistungsschwäche, Konflikte oder vergleichbare Belange zu klären, hat dies mit dem, was man unter dem jährlichen Mitarbeitergespräch versteht, nichts zu tun. In zahlreichen Publikationen über Mitarbeitergespräche wird dies gerne übersehen (z. B. Neuberger, 1980a). Neben dem jährlichen Mitarbeitergespräch sind weitere formale Mitarbeitergesprächsformen verbreitet, die meist anlassbezogen sind (vgl. Winkler & Hofbauer, 2010). Man denke hier etwa an das Rückkehrgespräch nach einer Krankheit. Dieses Buch behandelt aber ausschließlich das jährliche Mitarbeitergespräch.

Entscheidungen und Urteile als Ergebnis

Natürlich ist das jährliche Gespräch an sich ein zentraler Bestandteil des Mitarbeitergesprächs – deshalb heißt es ja auch so. Tatsächlich geht es aber um Entscheidungen und Beurteilungen, die zu festen Zeiten zu meist bestimmten Zwecken nach vorgegebenen, klar beschriebenen Regeln erfolgen. Insofern ist ein Mitarbeitergespräch durchaus mit anderen Systemen vergleichbar, die aber selten als »Gespräch« bezeichnet werden. So verfügen viele Unternehmen beispielsweise über Budgetierungsprozesse, die ebenfalls in jährlichen Zyklen erfolgen. Auch im Rahmen solcher Prozesse gibt es selbstverständlich Gespräche. Man würde diesen Prozess insgesamt aber nicht als »Budgetierungsgespräch« bezeichnen. Es ist nicht auszuschließen, dass die Missverständnisse im Zusammenhang mit Mitarbeitergesprächen aus der Bezeichnung »Gespräch« herrühren. Kein ernst zu nehmender Geschäftsführer oder Personalleiter hätte etwas gegen Gespräche einzuwenden, denn Kommunikation hat selten geschadet – gerade zwischen Führungskräften und Mitarbeitern. Man kann ja zu oft beobachten, dass Mitarbeitergespräche gerade deshalb eingeführt werden, damit die Führungskräfte (endlich) mehr mit ihren Mitarbeitern sprechen. Die Frage ist aber nicht, ob Gespräche gut sind, sondern ob das System geeignet ist, mit den darin vorgesehenen Urteilen und Entscheidungen jene Ziele zu erreichen, die damit verfolgt werden.

Ohne HR gibt es kein jährliches Mitarbeitergespräch

Wo es ein System gibt, gibt es auch einen System-Verantwortlichen, eine Instanz, die sich um die Gestaltung, den Aufbau und den Betrieb des Systems kümmert. Diese Instanz ist fast immer die Personalabteilung. In kleinen Unternehmen kann diese Instanz auch durch die Geschäftsführung verkörpert werden. Diesen Fall trifft man in der Praxis aber eher selten an. Natürlich sprechen Führungskräfte auch mit ihren Mitarbeitern, wenn es keine Personalabteilung gibt, die das ausdrücklich erwartet. Zuweilen erfolgen diese Gespräche auch auf strukturierte und professionelle Weise, etwa weil die jeweiligen Führungskräfte das so wollen und von sich aus so praktizieren. Eine unternehmensweite, einheitliche Form des jährlichen Mitarbeitergesprächs nach festen Regeln erfordert aber jemanden, der sich gerade um diese Einheitlichkeit und die Regeln kümmert und dieselben vorgibt.

Das bedeutet im Umkehrschluss, dass das jährliche Mitarbeitergespräch ohne HR nicht denkbar ist: Wo kein HR, da auch kein Mitarbeitergespräch. Dieser Überlegung kommt im weiteren Verlauf dieses Buches eine besondere Bedeutung zu. Denn, wie bereits an dieser Stelle vermutet werden kann, erfordert das jährliche Mitarbeitergespräch zumindest in seiner klassischen Form eine starke Position der Personalfunktion. Ohne diese starke Position ist ein praktisch funktionierendes System Mitarbeitergespräch schlichtweg nicht vorstellbar.

Zusammenfassung und Alternativen

Die Mehrheit der Unternehmen, die Mitarbeitergespräche durchführen, wird sich in dieser bisherigen Darstellung mehr oder weniger wiederfinden. Vermutlich werden aber nur wenige Unternehmen das jährliche Mitarbeitergespräch exakt so konzipiert haben, wie in den vorausgegangenen Abschnitten dargestellt. Jedes Mal, wenn ich etwa im Rahmen eines Vortrags diese prototypische Beschreibung traditioneller Mitarbeitergespräche in den Raum stelle, gibt es nicht wenige, die dieser Beschreibung an der einen oder anderen Stelle widersprechen. Für den Moment genügt die Annahme, dass sich das traditionelle Mitarbeitergespräch in weiten Teilen so darstellt, wie hier beschrieben, auch wenn es hie und da Abweichungen gibt. In Abbildung 3 findet sich eine entsprechende Zusammenfassung der eben angedeuteten Merkmalsdimensionen wieder, gepaart mit möglichen Alternativen (vgl. auch Markle, 2000).

Die linke Seite in Abbildung 3 beschreibt das jährliche Mitarbeitergespräch, wie man es in der Praxis zumeist antrifft. In einem späteren Kapitel wird es im Zusammenhang mit unterschiedlichen Nutzenkategorien und Rahmenbedingungen darum gehen, über diese möglichen, alternativen Herangehensweisen nachzudenken. Diese sind auf der rechten Seite der Abbildung 3 aufgeführt. Darüber hinaus kann es je nach Zielsetzung (siehe Kapitel 3) und Rahmenbedingung (Kapitel 4) sinnvoll sein, über grundsätzliche Alternativen zum jährlichen Mitarbeitergespräch nachzudenken. Wie noch gezeigt wird, erfordern moderne und agile Arbeitswelten, die von hoher Dynamik, Unsicherheit und kontinuierlichem Wandel gekennzeichnet sind, gerade diese alternativen Sichtweisen.

MerkmalsdimensionTraditionelles MitarbeitergesprächAlternativeZeitliche Taktungjährlichmonatlich – situativVerpflichtungPflichtfreiwilligFokuseinheitMitarbeiterTeamVerantwortungFührungskraftMitarbeiter/TeamBeurteilerFührungskraftPeers/Selbst/TeamBeurteilungsformatquantitativqualitativBeurteilungsdimensionenstrukturiertoffenBeurteilungsvorgabeJaNeinZielfindungtop-Downbottom-upErgebniskommunikationJaNeinDokumentationZentralKeine/vertraulichZentrale KontrolleJaNein

Abbildung 3: Merkmalsdimensionen des traditionellen Mitarbeitergesprächs und Alternativen.

Wenn man sich die Alternativen auf der rechten Seite der obigen Abbildung umfänglich vor Augen führt, wird das ganze Spektrum möglicher Spielarten sichtbar: Das Mitarbeitergespräch ist freiwillig und kann mehrmals pro Jahr durchgeführt werden und zwar dann, wenn es die Mitarbeiter oder deren Teams wünschen. Im Fokus steht das Team selbst. Das Team entscheidet eigenständig über die Inhalte des Gesprächs, wobei die Ergebnisse meist qualitativen Charakter haben. Die Führungskraft hat hierbei eine moderierende Rolle, die sie aber auch an einzelne Teammitglieder delegieren kann. Die Inhalte des Gesprächs sind leistungsrelevant, beziehen aber auch Aspekte der Arbeitgeberattraktivität mit ein. Ziele werden nur bottom-up durch das Team definiert. Die Ergebnisse des Gesprächs werden nur zum Teil dokumentiert und verlassen das Team nicht, werden also weder an HR kommuniziert noch in ein System eingepflegt.

Wenn ich etwa in Vorträgen oder in Workshops mit Personalern diese beiden Pole des Spektrums skizziere und die Frage stelle, welche Seite am ehesten ihren unternehmenseigenen Ansatz widerspiegelt, dann gibt es höchst selten jemanden, der die rechte Seite nennt. Tatsächlich scheint mir, dass es eine Mehrzahl an Personalleitern gibt, die sich nur eine Seite in der Praxis vorstellen wollen. Andererseits gibt es zunehmend Berater oder meist selbsternannte Managementvordenker, die sich auf die rechte Seite der obigen Gegenüberstellung versteifen und dies zum Teil auf ebenso dogmatische Weise. Den Satz »So kann das nicht funktionieren« hört man von beiden Parteien. Erfolgreiche Beispiele in der Praxis gibt es auf der einen, wie auf der anderen Seite. Deshalb geht es hier in diesem Buch nicht darum, die eine Alternative vor die andere zu stellen. Vielmehr soll in diesem Buch behandelt werden, was unter welchen Rahmenbedingungen mit welcher Spielart erreicht werden kann. Die Sache ist komplexer, als sie zunächst erscheint.

Tatsächlich scheint sich in der Handhabung des jährlichen Mitarbeitergesprächs eine Entwicklung von der traditionellen Form hin zu einer Variante abzuzeichnen, die in der obigen Abbildung auf der rechten Seite skizziert ist. Noch bevor das Mitarbeitergespräch populär wurde, gab es etwa strukturierte Personalbeurteilungen mittels zum Teil sehr umfangreicher, merkmalsorientierter Einstufungsverfahren. So berichtet Breisig (2005) von Praktiken, bei denen selbst dem hartgesottenen Personaler alter Schule schwindelig wird: Mitarbeiter werden anhand 50 oder mehr Dimensionen und entlang vorgegebener Skalen eingestuft. Mit den Mitarbeitern über die Einstufung durch die Führungskraft zu sprechen war bei weitem nicht selbstverständlich. Insofern war das institutionalisierte Gespräch bereits ein erheblicher Fortschritt. Von den endlos überladenen Verfahren, die eher den Charakter von Steuererklärungen haben, ist die Mehrheit der Unternehmen schrittweise abgerückt. Sie wurden durch einfachere Methoden ersetzt. Aus Zielvorgaben wurden Zielvereinbarungen. Aus der einseitigen Personalbeurteilung wurde der Kompetenz- oder Entwicklungsdialog. Quantiative Beurteilungsdimensionen haben immer mehr der qualitativen Alternative Platz gemacht. Insofern würde ich die These wagen, dass die obige Gegenüberstellung nicht nur zwei gegensätzliche Pole widerspiegelt, sondern einen allgemeinen Trend in der Handhabung des jährlichen Mitarbeitergesprächs (siehe auch Murphy & Cleveland, 1995).

Auf den Punkt gebracht

Das jährliche Mitarbeitergespräch ist weit mehr als nur ein Gespräch. Es ist ein System mit zahlreichen Schnittstellen zu anderen personalpolitischen Prozessen.Das jährliche Mitarbeitergespräch erfolgt zyklisch, meist einheitlich, nach festen Regeln, mit vordefinierten Inhalten. Es ist verpflichtend und wird vor allem von den Führungskräften geführt.Das jährliche Mitarbeitergespräch erfordert einen System-Verantwortlichen – meist HR. Ohne HR gäbe es kein jährliches Mitarbeitergespräch.In der Praxis kann man einen Trend hin zu agileren Ansätzen beobachten, bei denen Teams, Eigenverantwortung und Offenheit dominieren.

Wir stillen den Welthunger

Wenn in einem Unternehmen über die Einführung eines Mitarbeitergesprächs oder über benachbarte Prozesse nachgedacht wird, dann tut man gut daran, sich zunächst klar zu machen, was man überhaupt erreichen möchte. Welche Entscheidungen und Beurteilungen benötigt das Unternehmen wann, von wem, wofür? Es geht um den Nutzen und die Zwecke dessen, was man in einem Mitarbeitergespräch vorhat. Sobald die Ziele klar sind, wird nicht selten deutlich, dass die Beurteilung eines Mitarbeiters oder das Fällen bestimmter Entscheidungen gerade nicht einer Führungskraft in der angedachten Form überlassen werden sollte. Aus diesem Grund soll im Folgenden detaillierter dargestellt werden, was die üblichen Entscheidungen und Beurteilungen im Rahmen eines klassischen, jährlichen Mitarbeitergesprächs sind. Die folgenden Überlegungen werden spätestens dann relevant, wenn im weiteren Verlauf dieses Buches geeignete Designs von Mitarbeitergesprächen und etwaige Alternativen je nach Zielsetzung und erhofftem Nutzen behandelt werden.

Leistungsbeurteilung

Ein zentraler Baustein jährlicher Mitarbeitergespräche ist meist die Leistungsbeurteilung. Ein durchaus üblicher Ansatz besteht darin, Mitarbeiter in drei Klassen einzuteilen: A, B und C. A-Player sind demnach die Top-Performer, jene Mitarbeiter, die in ihrer Leistung konstant über den Erwartungen liegen. B-Player bilden das breite Mittelfeld. C-Player sind die leistungsschwachen Mitarbeiter. Häufig wird in diesem Zusammenhang darüber diskutiert, inwieweit hier bestimmte Anteile vorgegeben werden sollen. Man spricht dann von so genannten Verteilungsvorgaben (Forced Distribution). Hierzu wird im Laufe des Buches intensiver Stellung bezogen. Eine Leistungsbeurteilung wird in den meisten Unternehmen vorgenommen, um besser entscheiden zu können, welche Mitarbeiter im Rahmen eines Talentmanagements für Nachwuchsprogramme nominiert werden sollen, um diese dann gezielt auf Schlüsselpositionen vorzubereiten. Leistungsbeurteilungen spielen bei der Bestimmung variabler Gehaltsbestandteile eine Rolle oder bei der Entscheidung, welcher Mitarbeiter in den Genuss einer Gehaltserhöhung kommen soll und wer nicht. C-Player werden identifiziert, um geeignete Maßnahmen einzuleiten, die zur Leistungssteigerung führen – im Unternehmen oder außerhalb. Nicht selten wird vorgebracht, dass Leistungsbeurteilung eine Form von Feedback ist, die das Lernen der Mitarbeiter fördern soll. Man will den Mitarbeitern mitteilen, »wo sie gerade stehen«.

Kompetenzbeurteilung

Nicht ganz so häufig, aber doch sehr verbreitet, sind so genannte Kompetenzbeurteilungen. Hier werden Mitarbeiter meist mittels merkmalsorientierter Einstufungsverfahren beurteilt. Typische Kompetenzen sind etwa Kundenorientierung, Teamfähigkeit, Lernbereitschaft, Anpassungsfähigkeit oder Führungskompetenz (Breisig, 2005). Ähnlich wie bei der Leistungsbeurteilung (A, B und C) werden hier in der Regel Kompetenzniveaus vorgegeben: Anfänger, Fortgeschrittener, Erfahrener, Experte. Diese Levels sind wiederum mit Verhaltensankern hinterlegt, die anhand beispielhafter Verhaltensweisen objektiv verdeutlichen, was die einzelnen Stufen bedeuten. Die Beurteilung erfolgt dann in etlichen Unternehmen auf der Grundlage eines Vergleichs des Ist-Profils des Mitarbeiters mit einem zuvor definierten, stellenspezifischen Soll-Profil. Letzteres wird auch als Kompetenzmodell bezeichnet. Durch diese Kompetenzbeurteilung soll einerseits der Entwicklungsbedarf eines Mitarbeiters ermittelt werden, andererseits wird dessen Eignung für mögliche andere Aufgaben im Unternehmen festgestellt. Zu guter Letzt geht es aber auch hier darum, dem Mitarbeiter Feedback zu geben, um – ähnlich wie bei der Leistungsbeurteilung – seine Lernentwicklung zu fördern.

In manchen Unternehmen werden Kompetenzbeurteilungen sogar herangezogen, um im Rahmen der Unternehmenssteuerung die Verfügbarkeit strategisch relevanter Kompetenzen insgesamt einschätzen zu können. Das kann zum Beispiel eine Rolle spielen, wenn ein Unternehmen auf internationales Wachstum setzt und wissen möchte, wie viele Mitarbeiter auf einem angemessenen Niveau Englisch sprechen können. Ein IT-Unternehmen, das auf mobile Anwendungen umschwenkt, möchte sehen, ob eine ausreichende Anzahl von Softwareentwicklern in der Lage ist, Apps zu programmieren.

Vereinbarung von Leistungs- und Entwicklungszielen

Ein weiterer, sehr verbreiteter Baustein ist die Zielvereinbarung. Hier ist zu unterscheiden zwischen der Vereinbarung von Leistungszielen und Entwicklungszielen. Leistungsziele werden vereinbart, um dem Mitarbeiter Orientierung zu geben: Was wird in Zukunft von Dir erwartet? Auf was sollst Du Deine Kräfte konzentrieren – und worauf nicht? Ein implizit erhoffter Nutzen besteht in diesem Zusammenhang auch darin, eine Transparenz wechselseitiger Erwartungen zwischen Mitarbeiter und Führungskraft zu schaffen. Leistungsziele können unter bestimmten Bedingungen motivieren. Darüber hinaus werden Leistungsziele vereinbart, um die Leistung der Mitarbeiter im Sinne einer Top-down-Kaskadierung auf ein übergeordnetes Ziel auszurichten: »In Deutschland ist das Umsatzziel X. Das bedeutet für diese Region Y, für das lokale Team Z und für Dich 500 000 Euro in den kommenden zwölf Monaten.« Schließlich werden Leistungsziele vereinbart, um die zuvor beschriebene Komponente von Mitarbeitergesprächen, die Leistungsbeurteilung zu ermöglichen. Nur wenn zuvor Ziele vereinbart wurden, kann später bestimmt werden, inwieweit diese erreicht wurden.

Neben den Leistungszielen werden meist Entwicklungsziele vereinbart. Aufbauend auf der Kompetenzbeurteilung wird mit dem Mitarbeiter besprochen, wie sein Kompetenzprofil in zwölf Monaten auszusehen hat. Diese Entwicklungsziele bilden wiederum die Grundlage für eine möglichst konkrete Entwicklungsplanung. Hier wird in der Praxis zu Recht immer wieder ins Bewusstsein gerufen, dass Schulungen nur eine Möglichkeit sind. Andere Maßnahmen können unter anderem sein: herausfordernde Projekte, Auslandsentsendungen, Mentoring oder Coaching. Ähnlich wie bei den Leistungszielen sollen Entwicklungsziele dem Mitarbeiter auch Orientierung geben, damit er weiß, an welchen Stellen er in sich investieren sollte.

Potenzialbeurteilung und Klärung von Karrierepräferenzen

Neben der Leistungsbeurteilung erwarten zahlreiche Unternehmen von ihren Führungskräften, dass sie auch das Entwicklungspotenzial ihrer Mitarbeiter einschätzen. Man spricht hier auch von Potenzialbeurteilung: Inwieweit hat ein Mitarbeiter den Antrieb und die nötige Begabung, in den kommenden Jahren signifikant besser zu werden? Bei der Identifikation von Nachwuchskräften (häufig spricht man auch von so genannten »High-Potentials«) werden die Leistungs- und Potenzialbeurteilung kombiniert. Dieser Logik folgend werden schließlich all jene Mitarbeiter als mögliche »High-Potentials« gehandelt, die nicht nur eine überdurchschnittliche Leistung an den Tag legen, sondern denen man darüber hinaus ein erhebliches Entwicklungspotenzial unterstellt (Silzer & Church, 2009).

Etwas seltener als die bisher beschriebenen Komponenten ist die Besprechung von Karrierepräferenzen des Mitarbeiters. Früher war noch die typische Frage aus Einstellungs-Interviews verbreitet, wonach der Mitarbeiter gefragt wurde, wo er sich denn in zehn Jahren sieht. Führungskräfte stellen diese Frage vermutlich nur so lange, bis sie die Antwort »Ich sitze auf Ihrem Stuhl« erhalten. Der Inhalt ist aber geblieben, wenngleich in manchen Unternehmen differenzierter gefragt wird. Entscheidende Aspekte sind etwa die Bereitschaft des Mitarbeiters, mehr Verantwortung zu übernehmen, längere Zeit im Ausland zu verbringen. Man fragt nach der Bereitschaft des Mitarbeiters, möglicherweise (neben der regulären Arbeit) Zeit für die Teilnahme an einem Nachwuchsprogramm zu investieren. Zunehmend werden in einem solchen Gespräch die Weichen für eine Führungs-, Experten- oder Projektlaufbahn gestellt (Trost, 2014).

Einschätzung des Fluktuationsrisikos

Es gibt Unternehmen, bei denen die Mitarbeiter über Aspekte ihrer Arbeitsbedingungen entscheiden dürfen. So können etwa die Mitarbeiter der Stuttgarter Firma Trumpf alle zwei Jahre entscheiden, wie viel Stunden sie pro Woche arbeiten möchten. Natürlich können auch Fragestellungen wie diese im jährlichen Gespräch geklärt werden. Meist steht dieser Aspekt in Verbindung mit dem Ziel, Mitarbeiter im Unternehmen zu halten. Da das Thema Mitarbeiterbindung in Zeiten des Fachkräftemangels zunehmend an Bedeutung gewinnt, gehen immer mehr Unternehmen dazu über, im Rahmen eines jährlichen Mitarbeitergesprächs die Fluktuationstendenz eines Mitarbeiters einschätzen zu lassen. Das Fluktuationsrisiko eines Mitarbeiters wird dann als hoch eingeschätzt, wenn nicht nur eine ausgeprägte Fluktuationstendenz vermutet wird, sondern es sich bei dem Mitarbeiter auch um einen High-Potential oder einen Mitarbeiter auf einer Schlüsselposition handelt. Je nach Ergebnis wird diese Einschätzung zum Anlass genommen, passende Bindungsmaßnahmen in die Wege zu leiten.

Eine Zusammenfassung der üblichen Bausteine eines jährlichen Mitarbeitergesprächs sowie seiner intendierten Zwecke zeigt Abbildung 4.

BausteinIntendierter Nutzen/ZweckLeistungsbeurteilungNominierung für NachwuchsprogrammeBestimmung variabler GehaltsbestandteileEntscheidung über GehaltserhöhungEinleitung von EntwicklungsmaßnahmenVeranlassung von OutplacementLernen fördernKompetenzbeurteilungErmittlung von EntwicklungsbedarfenFeststellung interner EignungLernen durch Feedback fördernErmittlung unternehmensweiter Kompetenzen Zielvereinbarung (Leistungsziele)Orientierung und FokussierungMotivation stärkenErwartungstransparenz schaffenAusrichtung auf übergeordnete ZieleLeistungsbeurteilung ermöglichenZielvereinbarung (Entwicklungsziele)Decken von EntwicklungsbedarfenOrientierung und FokussierungPlanung von EntwicklungsmaßnahmenPotenzialbeurteilungNominierung für NachwuchsprogrammeKarrierepräferenzenNominierung für NachwuchsprogrammePlanung von Entwicklungsmaßnahmen Bestimmung der LaufbahnEinschätzung des FluktuationsrisikosAnpassung von Arbeitsbedingungen Einleitung von Bindungsmaßnahmen

Abbildung 4: Übliche Bausteine und intendierte Zwecke.

Die rechte Seite der Übersicht in Abbildung 4