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Ein packender Roman über den Zufall der Herkunft und die Enge nationaler Grenzen Anfang des 20. Jahrhunderts kreuzt der bretonische Fischer Olier mit seiner Flotte vor Islands Küste. Sein Leben verändert sich, als er in einem Krankenhaus in den Ostfjorden der jungen Sólrun begegnet. Genau dort erforscht die deutsche Genetikerin Maris über 100 Jahre später eine Schaf-Chimäre und kommt zu überraschenden Ergebnissen – auch für sich selbst. Faszinierend verwebt »Unter weitem Himmel« Zeitebenen der isländischen Geschichte. Mit ihrem atmosphärischen Roman spürt Berit Glanz der Frage nach, wie kultureller Austausch Identität formt und welche Rolle dabei die Liebe spielt.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
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Cover & Impressum
Zitate
Prolog
Étoile du Marin, März 1906
63° Nord, März 1906
Sléttustaður, 3. März 1906 – Sólrúns Tagebuch
Rheinland-Pfalz/Point Nemo, Februar 2024
Espérance, März 1906
Kauptún, April 2024
Búðir, 10. April 1906 – Sólrúns Tagebuch
Bryggjuhverfið, April 2024
Búðir, 20. April 1906 – Sólrúns Tagebuch
Þjóðvegur 1, April 2024
Búðir, 23. April 1906 – Sólrúns Tagebuch
Búðir, 5. Mai 1906 – Sólrúns Tagebuch
Búðir, 15. Mai 1906 – Sólrúns Tagebuch
Fáskrúðsfjörður, April 2024
Sléttustaður, 12. Januar 1907 – Sólrúns Tagebuch
Malo-les-Bains, Februar 1907
66° Nord, Februar 1907
Fáskrúðsfjörður, April 2024
Sléttustaður, 28. Februar 1907 – Sólrúns Tagebuch
Paimpol, Februar 1907
Vattarnesvegur, April 2024
Pardon des Islandais, Februar 1907
Atlantik, Februar 1907
Nordatlantik, März 1907
Sléttustaður, 15. März 1907 – Sólrúns Tagebuch
Sléttustaður, April 2024
Nordatlantik, April 1907
Búðir, 12. April 1907 – Sólrúns Tagebuch
Sléttustaður, April 2024
Fáskrúðsfjörður, Mai 1907
Búðir, 10. Mai 1907 – Sólrúns Tagebuch
Andey, Mai 1907
Búðir, 17. Mai 1907 – Sólrúns Tagebuch
Búðir, Ende Mai 1907
Búðir, 10. Juni 1907 – Sólrúns Tagebuch
Vattarnesvegur, April 2024
Sléttustaður, September 1907
Búðir, 14. September 1907 – Sólrúns Tagebuch
Sléttustaður, April 2024
Sléttustaður, 20. September 1907 – Sólrúns Tagebuch
64° Nord, September 1907
Reykjavík, Mai 2024
Nordatlantik, September 1907
Sléttustaður, 6. Oktober 1907 – Sólrúns Tagebuch
Reykjavík, Juni 2024
Sléttustaður, 22. Oktober 1907 – Sólrúns Tagebuch
Sléttustaður, 5. November 1907 – Sólrúns Tagebuch
Reykjavík, Juli 2024
Sléttustaður, 20. November 1907 – Sólrúns Tagebuch
Jökulsárlón, August 2024
Oceano Nox, 1953
Danksagung
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Wir lachten auf der Hochebene,
aufhellender Himmel
beleuchtete Bergkämme;
doch keine Freude
schien mir jenseits
unseres gelebten Lebens.
Aus Ferðalok (Das Ende der Reise) von Jónas Hallgrímsson, 1845. (ÜS Berit Glanz)
– Sinken – Lotet das Wort aus. Euer Tod ist bleich
– Und kaum der Rede wert an Bord, im schweren Wind …
Kaum der Rede wert vorm Lächeln, groß und bitter
Des Matrosen, der kämpft. – Also los, macht Platz! –
Der schale alte Geist, der Tod wechselt das Gesicht:
Das Meer!
Aus La Fin (Das Ende) von Tristan Corbière, 1873. (ÜS Berit Glanz)
17. Juni 2025
Die Liedfetzen dringen von der Party am Rand des Hafens bis auf den Fjord hinaus. Am Nationalfeiertag wird immer dieses eine Lied gespielt, Hæ hó, jibbí jei og jibbí jei, rauf und runter, Lachen und Kinderkreischen aus der Hüpfburg, Paraden mit Blasorchester, selbst die Lippen der Menschen sind von den Farbstoffen der rot-blauen Lollis und Zuckerstangen eingefärbt, die Nationalfarben sind tief in die Schleimhäute eingedrungen. Überall ist die isländische Fahne zu sehen, auf Muffins und Lebensmittelverpackungen, auf Wangen gemalt, an Girlanden und sämtlichen Masten. Dort wird sie vom Wind gezaust wie das Haar der Feiernden. Der Gedanke hinter der Farbwahl liegt auf der Hand, der blaue Ozean, das Weiß des Eises, die rote Lava, angeordnet in Form des nordischen Kreuzes, des einenden Symbols der skandinavischen Länder.
Heute ist ein Tag, an dem besonders eine Farbe der Flagge ihren Sinn hat. Tiefdunkel liegt das Meer vor ihnen, nur Schaumkronen unterbrechen das durchgehende Blau. Der Himmel ist klar, nahezu wolkenlos. Der frische Wind schiebt das Motorboot hinaus aus dem Fjord in Richtung offenes Meer. Obwohl bereits Juni, ist es noch immer recht kühl. Die Bergspitzen und Hänge tragen schmutzige Schneereste, die erst in den kommenden Wochen ganz verschwinden werden.
Die mit zunehmender Distanz des Bootes leiser werdenden Klänge vom Land sind der Soundtrack ihres Ausflugs. Maris steht am Steuerrad, während Adam neben ihr auf der Bank seine Köder sortiert. Sie hat wenig Erfahrung damit, ein Boot zu führen, aber besonders schwer kommt es ihr gerade nicht vor. Adams Anwesenheit beruhigt sie, er kann eingreifen, sollte sich etwas Unerwartetes auf dem Fjord ereignen. Hinter ihm lehnen seine Angelruten an der Wand des Unterstands, der sie vor den schlimmsten Wetterwechseln schützen soll. Adam summt leise eine melancholische Melodie, die ganz anders klingt als die Lieder aus der Ferne.
Heute Nacht werden sie sich unter der Mitternachtssonne ein Konzert anhören und Hotdogs essen, wie es sich gehört für alle, die auf der Insel leben. Sie werden mit ihren isländischen Freunden über das Wetter reden und sich gegenseitig versichern, wie wunderschön dieser Tag war, frábær dagur, dass sie Spaß haben und das Fest ein riesiges Vergnügen ist, gríðarlega gaman! Die freien Stunden bis dahin wollen sie zum Fischen nutzen.
Maris lässt ihren Blick über das Wasser schweifen, ein paar andere kleine Schiffe sind unterwegs, aber keines der auf Tagesfahrten ausgerichteten Fischereiboote ist heute ausgelaufen. Der Nationalfeiertag hält auch die Fischer an Land. Adam studiert seine bunte Köder-Sammlung – Gummiwürmer, Federbündel, Fischattrappen, Insekten aus Kunststoff –, die Box mit dem Angelequipment leuchtet wie ein Schmuckkasten. Er möchte Kabeljau fangen, einen Schellfisch mit schwarzer Seitenlinie oder einen gestreiften Seewolf, der noch lange, nachdem er aus dem Meer gezogen wurde, mit seinen scharfen Zähnen heftige Bisswunden zufügen kann. Adam redet viel über Fische, über ihre Verbreitung und Gefährdung, das Angeln und den Fang auf hoher See. Er ist hier richtig, denkt Maris. Als würden die Fischschwärme unter ihrem Kiel ihn vor der Insel verankern. Adam schaut auf und lächelt sie an, der auffrischende Wind zerrt an seinen erdfarbenen Haaren.
In einem Stoffbeutel zu Maris’ Füßen liegt ein Konservenglas, gefüllt mit milchig geschliffenen Scherben. Der größte Teil des Seeglases ist in Grüntönen gefärbt, dazwischen blitzen immer wieder andersfarbige Bruchstücke hervor. Als das Schiff die Mündung des Fjords erreicht hat, drosselt Adam den Motor. Maris tritt an die Reling und nimmt das Behältnis in die Hand. Sie hält es gegen das Licht, das sich kaum in den matten Flächen der Glasstücke bricht. Adam nickt ihr zu, und sie schraubt den Deckel auf. Ein kurzes Zögern, dann kippt sie die grünen, weißen, vereinzelt auch braunen und blauen Scherben über Bord. Sie bleiben noch einen Augenblick sichtbar, bevor sie in der dunklen Tiefe verschwinden. Adam tritt neben Maris und legt ihr den Arm um die Schultern.
Olier stand an Deck der Étoile du Marin und winkte seinem Vater und dessen Brüdern auf dem benachbarten Schiff zu. Die roten Haare seines Vaters, der Gabriel hieß, von allen jedoch nur Gab genannt wurde, waren seit einiger Zeit zwar von grauen Strähnen durchzogen, aber noch immer hoben sie sich deutlich vom gerefften Tuch der Segel ab. Vor dem Auslaufen in Richtung Nordmeer lagen die Schoner der Dünkirchener Flotte in zweiter und dritter Reihe aneinandergebunden im Hafen. Ihre Salzspeicher waren randvoll, sämtliche Kisten und Fässer geladen, die Seeleute ausgestattet für die große Fahrt.
Von der französischen Atlantikküste bis knapp unterhalb des Polarkreises brauchte es für gewöhnlich ungefähr eine Woche. Achtzig Schoner aus Dünkirchen starteten gemeinsam, bis Meer und Wind die Schiffe so weit auseinandertrieben, dass einige von ihnen nur noch am Horizont erkennbar waren. Auch aus weiter Ferne waren die geblähten Segel der Flotte zu sehen, weshalb die Schoner Goélettes genannt wurden: Mit ihren weißen Segeln flogen sie wie Goélands, die großen Seemöwen, über das Meer.
Alles war zum Auslaufen bereit, die Fock- und Großmasten wiegten sich im leichten Wind des Märztags wie hohe Bäume, der ganze Hafen ein Wald aus Masten. Und irgendwo dazwischen stand Oliers Vater stocksteif, als wäre er selbst ein solcher mit dem Deck verbundener Mast und könnte Segel an seinen ausgestreckten Armen halten, mit deren Hilfe der Wind das Schiff nach Norden treiben würde.
Gab tippte sich an die Mütze, und Olier konnte plötzlich wieder freier atmen. Er wusste, dass sein Vater noch immer unzufrieden mit ihm war, die größte Wut über seine Entscheidung schien jedoch abgeklungen. Zumindest hoffte er das, während er sich wieder dem Kai zuwandte, an dem der andere Teil seiner Familie – die Mutter, seine Schwester und die Tante – ihnen winkte. Seine Mutter war an diese Abschiede gewöhnt, sodass sie mit stoischem Gesicht auf Mann und Sohn blickte, während Oliers kleine Schwester sich immerfort mit einem Taschentuch über die Augen wischte und an den Arm der Mutter klammerte. Der Abschied von Marie fiel ihm jedes Mal besonders schwer. Die Veränderungen, die mit ihr während seiner Monate auf See vonstattengingen, waren am größten. Am Morgen der Abfahrt markierten sie in jedem Frühjahr Maries Größe an der Wand neben der Haustür. Dort, wo auch schon die Striche über seinem Kinderkopf gezogen worden waren, als er noch zu jung gewesen war für die große Tour. Bei der Rückkehr überprüften sie gemeinsam, wie viele Zentimeter hinzugekommen waren. Die lange Zeit auf See wurde so erst richtig greifbar, diese unendliche Sehnsucht nach den Abwesenden übersetzt in Größenzuwachs an der Wand. Olier erinnerte sich, dass er als Kind manchmal selbst geschaut hatte, wie viel er bereits gewachsen war. In Momenten tiefer Sehnsucht nach den Männern der Familie, wenn er sich allein und unverstanden fühlte, im Hoffen, dass sicher alles viel besser sein würde, wenn nur sein Vater endlich wieder daheim wäre. Die Striche von damals waren heute auf Höhe seiner Brust. Marie war im letzten Sommer größer geworden, als er bei seiner ersten Islandfahrt gewesen war. Ihre Markierung lag nun über seinem letzten Kinderstrich aus dem Sommer vor der ersten Tour als Schiffsjunge. Noch konnte Olier sein Kinn auf ihren Kopf legen, wenn er sie umarmte. Sollte Marie aber auch in diesem Sommer weiterwachsen, wäre es damit wohl nach der Fangsaison vorbei.
Neben ihm stand der Kapitän an der Reling und winkte in Richtung Kai. »Hat dein Vater es verwunden, dass du dieses Jahr auf der Étoile du Marin angeheuert hast?«, fragte er und zog seine Pfeife aus der Hosentasche.
Olier nickte nur und schwieg. Er wollte seine Familienstreitigkeiten nicht vor dem Kapitän ausbreiten, obwohl er den Mann bewunderte, der ihm mehr Antrieb zu haben schien als die meisten der Seeleute aus Dünkirchen. Noch war er ihm zu fremd. In einigen Monaten würde das anders sein. Wenn sie als Mannschaft gemeinsam die ersten Stürme überstanden hatten und der Schiffsbauch mit Fisch gefüllt war. Bis dahin war es ein Vertrauensvorschuss, dass Olier an Deck dieses Schoners stand und nicht bei seinem Vater.
Der Kapitän der Étoile du Marin wollte in dieser Fangsaison nach Ankunft vor der isländischen Küste direkt ein ganzes Stück südlicher segeln, um Fischgründe aufzusuchen, die sonst nur von den Schonern aus Paimpol, Saint-Brieuc, Binic und Saint-Malo angesteuert wurden. Damit würde er das etablierte Fangmuster der Flotte der Dunkerquois durchbrechen. Gewöhnlich segelten die Schiffe aus Dünkirchen im Osten an England vorbei. Nach kurzem Stopp bei den Färöerinseln ging es weiter in den Südosten vor Island. Dort wurde der erste Teil der Tour gefischt. Jetzt aber wollte der Kapitän Fanggründe Richtung Südwesten ansteuern, nachdem der Erfolg der Paimpolais im letzten Jahr noch immer in aller Munde war. Olier war jeder Gedanke an ein Durchbrechen der Eintönigkeit der Tour willkommen, und natürlich hoffte er außerdem auf einen guten Fang. Für die Bezahlung am Ende zählte jeder einzelne Fisch, den der Kapitän in die Fangliste eintrug. Olier wusste, dass er nur noch zwei Islandfahrten vor sich hatte, bevor der Militärdienst auf ihn wartete. Wäre er auf dieser Tour besonders erfolgreich, könnte er seiner Familie vielleicht etwas Erspartes geben, wenn er den Dienst antrat. Die Aussicht auf einen größeren Gewinn hatte ihn an Bord dieses Schiffes geführt, auch wenn das seinem Vater ganz und gar nicht gefallen hatte.
»Die Gier wird dich noch in den Tod führen«, hatte der geschimpft, als Olier ihm seinen Entschluss mitgeteilt hatte. Mit zugekniffenem Mund hatte er geschwiegen und nicht erklären wollen, weshalb er auf mehr Geld hoffte. Er wusste genau, dass zu Hause jeder Franc gebraucht wurde, und ein größerer Fang bedeutete eben auch eine bessere Auszahlung nach der Tour.
Neben ihm schob der Kapitän seine Pfeife bedächtig zwischen den Lippen hin und her. Olier wunderte sich, dass gerade dieser schwerfällig wirkende Mann eigene Wege ging, von den Gewohnheiten der Islandfahrer abweichen wollte.
»C’est à nous. Allons-y. Wir laufen als Nächstes aus«, sagte der Mann mit dem dicken Schnurrbart und schaute auf das herankommende Ruderboot, das die Étoile du Marin aus dem Hafen bringen würde, bis sie weit genug von der Küste entfernt war, um die Segel zu setzen. Während der Kapitän den Männern des Schleppschiffs Kommandos zurief, winkte Olier ein letztes Mal Marie und seiner Mutter zu. Dann drehte er sich um. Die beiden würden noch lange dort stehen, dem Schiff nachblicken, bis es außer Sichtweite war. Aus der Erfahrung der letzten Jahre wusste er, dass der Knoten in seinem Hals nicht kleiner werden würde, wenn er zurückschaute. Der einzige Trost lag in rascher Ablenkung.
Deswegen stieg er unter Deck in den Mannschaftsraum hinab. Auf der Bank vor den mit Holz umrahmten Schlafnischen, die ihn an Hundehütten denken ließen, saß sein Cousin Henri. Alle übrigen Männer waren an Deck, die Blicke auf Dünkirchen gerichtet, auf die Menschen am Kai. Als Oliers Vater erfahren hatte, dass zumindest ein Familienmitglied gemeinsam mit seinem Sohn an Bord sein würde, war er erleichtert gewesen. Dabei hatten Olier und Henri in den letzten Jahren kaum Kontakt miteinander gehabt. Seit einer Tour zu den Fischgründen vor Neufundland war Henri nicht mehr ganz richtig im Kopf und hielt sich von allen Zusammenkünften der Familie fern. Es wurde getuschelt, dass er in einem der kleinen Dori-Boote abgetrieben war, mit denen die Seeleute vom Mutterschiff aus zum Fischfang losruderten. Der Albtraum jedes Neufundlandfahrers. Von Nebel und Wellen umgeben, war er stundenlang ziellos umhergerudert. Als man sein Boot nach über zwei Tagen entdeckte, lag Henri bewusstlos über der Sitzbank, neben ihm sein verdursteter Kamerad. Henri hatte lange gebraucht, um halbwegs wieder zu Kräften zu kommen. Seitdem trank er zu viel, mied die Gesellschaft anderer und murmelte Unverständliches vor sich hin. Der innere Abgrund, den er mit seinem oft wirren Blick vermittelte, verkörperte das Risiko der Ausfahrten so drastisch, dass sich die Menschen immer mehr von ihm fernhielten. Den Kapitän hatte das jedoch nicht davon abgehalten, Henri anzuheuern. Olier hatte nicht verstanden, weshalb es seinen Vater beruhigt hatte, Henri mit auf der Étoile du Marin zu wissen. Ihm schien es naheliegender, dass er den verrückten Cousin vor dem Rest der Crew würde beschützen müssen.
Olier setzte sich neben Henri, der ihm wortlos eine Flasche reichte. Er nahm einen tiefen Schluck, der brennende Alkohol wärmte seinen Körper, sodass er für einen Moment den Abschied vergaß. Sie saßen schweigend nebeneinander und tranken abwechselnd aus der Flasche.
»Vater wollte nicht, dass ich mit auf dieses Schiff gehe«, sagte er leise, »aber ich habe mich trotzdem dafür entschieden.«
Henri schwieg weiter und nahm noch einen Schluck. Olier bemerkte, wie sich langsam eine wattige Schicht zwischen ihn und die Welt dort oben schob.
»Er konnte nicht verstehen, warum ich nicht mehr mit ihm an Bord sein wollte. Dabei ging es mir gar nicht um ihn. Er hat mich angeschrien, dass ich auf die Sicherheit von Schichten im Kreis der Familie verzichten würde, auf Menschen, die darauf achteten, dass es mir gut ginge, dass ich nur so sicher sei. Aber es gibt keine Garantien, und das weiß er auch.«
Olier rieb sich mit dem Handrücken über die Augen. Henri rührte sich nicht, sondern starrte ausdruckslos auf den Holzboden vor seinen Füßen. Wer, wenn nicht er, wusste darum, dass es keine Garantien gab, weder vor den Bänken Neufundlands noch vor der isländischen Küste.
Eigentlich mochte Olier diese wenigen Stunden kurz vor und nach der Abfahrt, wenn sich die noch leeren Fässer sauber unter Deck stapelten, die Kleidung für die Saison frisch war, die Haut trocken und die Haare nicht salzverkrustet. In diesen Momenten war es leicht, den Gedanken an die langen Monate zu verdrängen, die vor ihnen lagen. Mit Henri an seiner Seite war das unmöglich geworden. Nach der Rückkehr aus Island wurden die Holzböden unter Deck abgehobelt. Trotzdem lag immer noch der leichte Geruch der Dreckschicht, des Schimmels und der Feuchtigkeit vorangegangener Ausfahrten in der Luft. Vermutlich hatte der Gestank die Planken so mariniert, dass er nicht mehr zu entfernen war. Noch aber war es in der Kajüte aushaltbar. Am Ende der Tour, wenn der Gestank so unerträglich war, dass er den Geruchssinn betäubte, konnte man mit den Holzschuhen tiefe Kerben in das aufgeweichte Holz treten, bedeckt von einer breiigen Schicht aus Fischabfällen und Essensresten. Gründlich gereinigt wurde nur der Lagerraum für die eingesalzenen Fischfilets, die Ware musste später einen guten Preis bringen.
»Ich will irgendwann Kapitän werden. Einen eigenen Raum an Bord haben. Dafür muss ich Erfahrung sammeln, und die bekommt man nicht, wenn man immer nur Teil der Mannschaft desselben Schiffs bleibt. Ich will nicht mein ganzes Leben an der Leine stehen und Kabeljau an Bord ziehen, selbst als alter Mann noch in so einem engen Kabuff schlafen.«
»Ist deine Schlafmatte aus Stroh oder Seegras?«, unterbrach ihn Henri unvermittelt.
»Aus Stroh. Warum? Ich habe noch nie eine Seegrasmatte gesehen.« Olier runzelte die Stirn.
»Vor Neufundland hatte ein Mann eine Matte aus Seegras. Er hat immer gesagt, dass er deswegen besser schläft und mehr fängt«, murmelte Henri und schaute dabei weiter mit unbewegtem Gesicht zu Boden.
»Das höre ich zum ersten Mal. Am Ende wird wohl alles gleich nass und stinkend sein, egal ob Seegras oder Stroh, wenn du die erste Nacht mit Fischinnereien an der Hose in deine Koje gefallen bist, hört beides auf, komfortabel zu sein.«
»Dieser verdammte Ozean.« Henri trank weiter, sein Blick war mittlerweile glasig. Olier fragte sich, wie viel Alkohol sein Cousin wohl in seiner Seekiste gebunkert hatte und ob er irgendwann mit dem täglichen Apfelwein und der Schnapsration würde auskommen müssen, die ihnen der Kapitän gewährte.
Die Étoile du Marin musste mittlerweile den Schutz des Hafens hinter sich gelassen haben, denn das Schiff begann stärker mit den Wellen zu schaukeln. An Deck über ihnen wurden Kommandos gerufen. Das Schwanken kaschierte seine vom Branntwein wacklig gewordenen Beine, als Olier die Leiter hinaufkletterte, um das offene Meer zu begrüßen.
Der Vampirtintenfisch trinkt kein Blut
Zwischen seinen acht Armen spannt sich dünne Haut
Wie ein Vampirumhang in der Nacht
Nur wenig Licht findet an diesem Tag den Weg durch die mit Gischt bedeckten, tosenden Wellen in die Tiefe des Eismeers. Ein kurzes Aufreißen der Wolkendecke hat einen Sonnenstrahl hindurchgelassen. Das ins Meer dringende Licht bricht sich an den Schuppen eines Dorschschwarms, der unter der Oberfläche seine silbrigen Kreise zieht, die Bewegungen abrupt, das rasche Ändern der Richtung einer eigenen Schwarmlogik folgend, die nur die Fische selbst verstehen. Die letzte Energie des Sonnenstrahls erlischt in einer kalten Strömung, die eine Rippenqualle Hunderte Meter in die Tiefe zieht und dort einen Vampirtintenfisch erschreckt. Das junge Tier stößt eine Wolke Leuchtpartikel aus, in der es zu verschwinden versucht. Sie treiben noch Minuten später im Meer, als der Vampirtintenfisch längst fort ist. Ein Eishai gleitet unendlich langsam durch das fluoreszierende Leuchten. Von der Kegelrobbenjagd ist sein Magen gut gefüllt, weder der Geruch des Vampirtintenfischs noch der Dorsche interessiert ihn. Seine Augen nehmen Licht kaum mehr wahr, vor vielen Jahrzehnten haben Parasiten das empfindliche Gewebe geschädigt. Doch der Eishai hört und riecht alles und lässt sich träge von der Strömung ziehen.
Plötzlich wecken Geräusche sein Interesse, und er schwimmt hinauf in Richtung Wasseroberfläche, dorthin, von wo nun das Heulen des Windes, ein Krachen und Bersten zu hören ist. Er registriert das Knacken von Holz, das Knarzen von Seilen. Der starke Seegang ist unter Wasser kaum zu spüren. Doch jetzt beginnt das Meer nach dem Fischöl zu riechen, das Menschen zur Beruhigung der Wellen über Bord kippen. Der verzweifelte Versuch, mit Lebertran oder anderen Substanzen die Macht des Ozeans zu besänftigen. Der Eishai erinnert sich nicht daran, dass dieser Geruch früher häufiger vorkam. Immer weniger Öl wird in die Wellen gekippt, auch wenn viel mehr Schiffe unterwegs sind. Immer häufiger bedecken Rußpartikel die Meeresoberfläche, es riecht nach Rauch und Feuer. Die Jahre vergehen in der Kälte des Nordatlantiks anders, Erinnerungen reichen nicht über die Jahrhunderte eines Eishailebens. Er weiß jedoch, dass der Menschenkörper, der an ihm vorbeitreibt, keine gute Beute ist. Der hinabsinkende Körper ist erschlafft, die Haare driften in der Strömung, und die Haut stinkt nach Angst und Panik. Der Eishai wendet sich ab und taucht zurück in die Tiefe.
Gestern zu meinem Geburtstag habe ich ein Stück Veilchenseife von Tante Jóna bekommen, eine Schmuckdose mit Kakaopulver von Papa und von Gunnar dieses selbst zusammengenähte Notizheft. »Vielleicht möchtest du ein Tagebuch führen, wenn du deine Stelle antrittst«, hat er gesagt. Dabei wirkte er fast schüchtern. Als wäre es eine merkwürdige Idee und nicht das Beste, was ihm seit Monaten eingefallen ist. Gunnar hat gesagt, ich solle Gedichte schreiben. »Du könntest die neue Skáld-Rósa werden«, hat er gesagt. Er weiß, dass ich einige Gedichte von Rósa Guðmundsdóttir auswendig kann und manchmal bei der Arbeit selbst versuche, kurze Verse zu schmieden. Mir liegen Worte mehr als meinem Bruder, deswegen habe ich auch viel schneller lesen gelernt als er, zumindest behauptet das unser Vater. Er wird es wohl wissen, denn er hat uns gemeinsam mit Tante Jóna während der Kvöldvaka in den Abendstunden das Lesen und Schreiben beigebracht.
Wie alle Kinder haben wir mit dem Schreiben angefangen, bevor wir gedruckte Buchstaben lesen durften. Einige der handgeschriebenen Rímur, mit denen wir das Lesen geübt haben, hat unser Großvater verfasst, und schon damals habe ich mir oft vorgestellt, selbst einmal Verse für meine Angehörigen zu schreiben. Wer seine Gedanken auf Papier festhält, wird nicht vergessen, sagt Tante Jóna. Ich hoffe, dass dieses Tagebuch mir mit dem Heimweh helfen wird, wenn ich in der nächsten Woche den Hof verlasse. Ich werde versuchen, sehr klein zu schreiben und Papier zu sparen.
Die Kammer, die ab dem nächsten Monat mein Zuhause sein wird, habe ich schon anschauen dürfen. Tante Jóna hat mir zum Abschied eine Decke mit elegantem Streifenmuster gestrickt. Mehr habe ich nicht, um das Zimmer einzurichten, die Decke und meine Truhe. Das geschnitzte Brett von meinem Afi werde ich wohl nicht mehr brauchen, in der Kammer gibt es ein modernes Metallbett. Es wird anders sein, das Holzbrett meines Großvaters abends nicht mehr vor die Schlafnische zu schieben, ich will es dennoch mitnehmen.
Im letzten Sommer hat Guðný als Dienstmädchen bei der deutschen Familie auf der Germania-Walfangstation gearbeitet, aber in diesem Jahr wird die Station nicht mehr betrieben werden. Ich weiß nicht, warum die Walfänger fortbleiben, doch nun wird es nichts mit der Stelle, auf die meine Cousine und ich den Winter über gehofft hatten. Immer, wenn Guðný zu Besuch kam, malten wir uns aus, wie wir im Sommer die Kammer teilen würden. Ich habe versucht, Deutsch zu lernen: Bitte und Danke schön und Guten Tag, mein Fräulein. Guðný hat mir sogar ein paar der Glanzbilder geschenkt, die sie von der deutschen Frau bekommen hat. Darauf sind vor allem Veilchen und Rosen und gelbe Blümchen, die ich noch nie gesehen habe. Die deutsche Dame sprach wohl oft von Sträußen aus Gewächshausblumen, die im Warmen gezüchtet würden. Vielleicht hatte sie Heimweh nach den Pflanzen vom Kontinent. Ich denke, dass auch der isländische Sommer schöne Blüten hervorbringt, aber wenn ich ehrlich bin, sind Hahnenfuß und Engelwurz mit den eleganten Blumen auf den Glanzbildern nicht zu vergleichen. Ich habe den Deckel meiner Truhe damit dekoriert.
Im Krankenhaus werde ich sauber machen, Betten beziehen, den Boden kehren und die Müllkörbe ausleeren, außerdem muss ich wohl viel Wäsche waschen. Dort gibt es Wasserhähne und elektrisches Licht. Das Licht aus den Glühlampen habe ich im letzten Winter zum ersten Mal gesehen, als die Fenster des Hospitals aus der Ferne leuchteten. Ich freue mich auf die Wasserhähne. Noch kann ich mir kaum vorstellen, was es bedeutet, nicht ständig zum Fluss zu laufen, um Wassereimer herbeizutragen. Ich werde von nun an in dieses Tagebuch schreiben, wie es mir im Krankenhaus ergeht.
Jetzt ruft Gunnar, ich muss die Hühner füttern.
Jetzt war sie die einzige noch lebende Person im Familienchat. Beim Gedanken, dass nie wieder eine neue Nachricht aus dieser Gruppe auf ihrem Bildschirm auftauchen würde, musste Maris schlucken. Die letzte Nachricht ihrer Großmutter war die Fotografie eines violetten Usambaraveilchens, der Topf umhüllt von einer dieser geriffelten Manschetten aus hellgrünem Papier, von denen Maris nicht geahnt hatte, dass sie überhaupt noch verwendet wurden. Sie hatte mit einem Herz-Emoji reagiert – ein seit Langem etabliertes Muster gewohnter Sprachlosigkeit: Blumenbild – Herzchen, Blumenbild – Herzchen.
Ihr Familienchat hatte im Vergleich zu den riesigen Chatgruppen aus Geschwistern, Eltern und Großeltern der Menschen in ihrem Umfeld sowieso nur aus drei Personen, ihrer Großmutter, ihrem Großvater und ihr selbst bestanden. Maris hatte viel Zeit damit verbracht, den beiden die Funktionen der App zu erklären. Wenn sie ehrlich war, hatte sie sich die sonntäglichen Anrufe sparen wollen. Stattdessen war ein weiterer Kommunikationskanal hinzugekommen, wenn auch nur spärlich befüllt. So hatte auch sie eine dieser Gruppen gehabt, über deren Geplätscher die anderen jammerten, ohne zu verstehen, was ein solcher Feed konstant weiterwabernder Geborgenheit bedeutete.
Maris stand allein im schlichten Nebenraum des Friedhofsgebäudes und schob ihr Handy in die Handtasche. Der Bestatter mit dem schütteren Haar, der bereits bei der Beerdigung ihres Großvaters eine beruhigende Instanz für sie gewesen war, hatte die Urne mit der Asche ihrer Großmutter auf den Tisch gestellt. Das hässliche, hellblau marmorierte Bronzegefäß hatte ein Vermögen gekostet. Es war das Gegenstück zur hellgrauen Urne, in der Maris vor zwei Jahren die Asche ihres Großvaters beerdigt hatte. Bronzeurnen waren lange haltbar, und sie fand es passend, dass ihre Großeltern viel Geld dafür ausgegeben hatten, das Vermischen ihrer Überreste mit der Erde hinauszuzögern. Es passte zu Maris’ Erinnerungen an das Haus und die alten Herrschaften, bei denen sie nach dem Tod ihrer Mutter aufgewachsen war.
Das Leben mit den Großeltern in der engen Welt ihres Kleinstadtreihenhauses war freudlos und statisch gewesen. Es fiel ihr leicht, sich das Bild der Häkeldeckchen auf der Kommode im Hauseingang heraufzubeschwören, darüber das gerahmte Foto eines Sonnenuntergangs in Italien, gleich daneben die Tür zur beigefarbenen Einbauküche mit den eckigen Griffen, und im Wohnzimmer eine mit weißen und rosa Pfefferminzpastillen gefüllte Kristallschale, in die man nur heimlich greifen durfte. Es hatte sich während ihrer zehn Jahre im Haus der Großeltern so wenig verändert, dass auf den Fotos aus dieser Zeit nur ihr eigenes Wachstum den Lauf der Dinge markierte. Als sie an einem heißen Sommerwochenende nach dem Tod des Großvaters das Haus mit ausgeräumt hatte, um ihre Großmutter beim Umzug in eine altengerechte Wohnung zu unterstützen, hatte sie keinen Kummer gespürt. Die Erinnerungen an die Jahre in der Kleinstadt wurden von der noch immer dumpf schmerzenden Sehnsucht nach ihrer Mutter und dem verzweifelten Versuch, den alten Leuten nicht allzu sehr zur Last zu fallen, dominiert. Sie hatten ihr mehr oder weniger deutlich signalisiert, dass sie ein großes Opfer brachten, ihre Enkelin aufzunehmen.
Maris’ Mutter hatte sich in den Jahren nach der Geburt ihrer Tochter von den eigenen Eltern distanziert, die das ungeplant zur Welt gekommene Kind nicht hatten akzeptieren wollen. Von Maris’ Vater gab es nur ein Partyfoto von dem Abend, an dem sie gezeugt worden war. Ein rucksackreisender Amerikaner, dessen genauen Namen ihre Mutter vergessen hatte, mit strähnigen braunen Haaren und einem in die Hose gesteckten Jeanshemd, der sich allein auf einer Abenteuertour durch Europa befunden hatte – mehr wusste sie nicht von ihm. In der Geburtsurkunde blieb das Vaterschaftsfeld leer. Bis zum Tod ihrer Mutter war der fehlende Vater für Maris kaum eine Leerstelle gewesen. Sie war schlicht nicht auf die Idee gekommen, einen Vater zu brauchen. Und ihre Mutter hatte sich auch nie die Mühe gemacht, ihn zu finden. Nach deren Tod hatte es bis auf die Großeltern keinen Familienteil gegeben, der Maris hätte aufnehmen können. Ihre Mutter hatte keine Pläne gemacht, keine Vorkehrungen getroffen, damit das Kind für den Fall der Fälle einen Zufluchtsort haben würde. Also hatten die Großeltern sie aufgenommen und auch nicht weiter nach dem Mann gesucht, der für die beiden nur eine unangenehme Erinnerung an die Leichtsinnigkeit ihrer Tochter war. Maris hatte es bei den Großeltern an nichts gefehlt. Ihre Brotdose war immer gefüllt, das Bett frisch bezogen gewesen. Jedes Jahr hatte es neue Schuhe und an Weihnachten exakt vier in buntes Papier gewickelte Geschenke gegeben. Über ihre Mutter und den Schmerz des Verlusts sprachen sie kaum, aber an allen wichtigen Tagen besuchten sie die Grabstelle, sorgten verlässlich dafür, dass diese im Winter mit Tannengrün bedeckt und über den Sommer mit hellrosa Begonien bepflanzt war.
Die nicht verrottende Urne mit der Großmutterasche würde nun zu den Gefäßen der anderen ins Familiengrab gegeben werden. Maris hatte einen Gärtner beauftragt, sich in Zukunft um die Grabpflege zu kümmern. Es gab nichts, was sie in diese Kleinstadt zurückziehen würde.
Der Bestatter neben der Tür schaute auf die Uhr. Es war Zeit, den Gang zur Bestattung zu beginnen. Maris nickte ihm zu, und sie machten sich auf den Weg. Der Mann trug die Urne würdevoll vor sich her. Am Rand des Schotterwegs lag brauner Schneematsch, und sie lief schräg hinter ihm. Ihr Trauerzug aus zwei Personen, eine davon bezahlt, war absurd. Bei der Trauerfeier waren wenigstens die Freunde der Großeltern zugegen gewesen, aber schon da hatte Maris sich fremd gefühlt. Für die Urnenbestattung hatte sie deshalb entschieden, auf eine Einladung zu verzichten. Vielleicht war es die falsche Entscheidung gewesen.
Der Bestatter ließ das Gefäß mit dem polierten Deckel ins Grab sinken und reichte Maris eine Schippe, damit sie ein wenig Erde auf die letzte Ruhestätte werfen konnte. Dann schaufelte er das Loch zu, schüttelte ihr die kalte Hand und verabschiedete sich. Der Familiengrabstein würde in den nächsten Wochen erneuert werden. Der Mann hatte versprochen, ein Foto von der Gravur zu schicken. Morgen würde Maris bereits im Flieger zurück nach Island sitzen.
Auf diesem Planeten gab es nun keine einzige Person mehr, die Maris von Anbeginn ihres Lebens kannte. Sie fühlte sich wie ein menschlicher Point Nemo, wie der Punkt mitten im Ozean mit der weitesten Entfernung zu jeglichem Festland. Der Point Nemo im südlichen Pazifik war so abgelegen und einsam, dass er zum Friedhof für Raketen und Raumschiffe auserkoren worden war, die dort kontrolliert aus der Leere des Alls in die Weite des Ozeans hinabstürzen sollten.
Sie lagen im Windschatten eines Fjords der Färöerinseln vor Anker. Von Deck aus waren in der Ferne Torfhäuser zu erkennen, deren mit Gras und Moos bedeckte Dächer sie wirken ließen, als würden die Behausungen direkt in noch größere Bauten unter der Erde führen. Ein paar der anderen Schoner hatten ebenfalls diesen Meeresarm für die Nacht angesteuert und lagen verstreut über mehrere Hundert Meter. Langsam kroch die Abenddämmerung über den Ozean heran. Olier genoss die einsetzende Dunkelheit. Die Tagundnachtgleiche stand in wenigen Wochen bevor, danach würden die hellen Zeiträume länger und länger, ihre Fangtage in der Monotonie der Mitternachtssonne schier endlos werden. Auf der Überfahrt gab es noch Zeit, die Dunkelheit zu genießen. Er sah ein Schiff heransegeln.
Henri lehnte sich an seiner Seite gegen die Reling und knotete einen Achterknoten nach dem anderen in das zerfaserte Stück Schnur, das er permanent mit sich herumtrug und bei jeder Gelegenheit aus der Tasche zog.
»Was denkst du, ist das die Espérance?«, fragte Olier unvermittelt, woraufhin sein Cousin aufschaute.
»Sieht sehr danach aus. Und ist das nicht auch Gab dort am Klüver?«
Gemeinsam beobachteten die beiden, wie das andere Schiff sich näherte, die Mannschaft langsam Segel einholte und schließlich den Anker legte. Die Espérance war jetzt in Rufnähe. Und tatsächlich stand Oliers Vater vorne an der Reling. Seine Haare leuchteten unter der dunkelblauen Kappe mit dem dicken Bommel hervor, von dem manche Matrosen meinten, er könne sie unter Deck davor schützen, sich den Kopf an den niedrigen Kajütenbalken anzuschlagen.
»Du vertraust immer noch auf deinen Bommel«, rief Olier mit sich überschlagender Stimme.
Er sah seinen Vater lachend die Kappe abnehmen und damit winken: »Selbstverständlich: Südwester oder Bommel.«
Henri half Olier, das kleine Boot zu Wasser zu lassen, weigerte sich aber, mit hineinzuklettern. Also ruderte er allein hinüber.
Sein Vater nahm ihn an der Strickleiter in Empfang und spottete zur Begrüßung über die schwarze Schiebermütze des Sohnes, die er seit seiner ersten Ausfahrt trug. »Hättest du dir nicht so oft den Schädel angeschlagen, wärst du mit uns an Bord«, sagte er, aber dieses Mal lächelte er und legte Olier den Arm um die Schultern.