Unternehmen Bourdieu - Franz Schultheis - E-Book

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Franz Schultheis

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Beschreibung

Das »Phänomen Bourdieu« in neuem Licht. In seiner langjährigen und engen Zusammenarbeit mit Pierre Bourdieu hat Franz Schultheis Einblicke in dessen Leben und Arbeiten gewinnen können, die eine weitgehend unbekannte Perspektive eröffnen. Anders als in den geläufigen Porträts von Bourdieu als herausragendem Sozialwissenschaftler tritt hier der »Patron« einer soziologischen Forschungswerkstatt auf den Plan. Die Beschreibung unterschiedlicher Aspekte der Alltagspraxis seines Centre de Sociologie Européenne nimmt dabei den Charakter einer »Ethnographie« des Arbeitens mit Bourdieu an. Im Zentrum, jedoch seiner eigenen Berühmtheit diametral gegenüber, steht die für ihn so wichtige Utopie des »kollektiven Intellektuellen« - und der Versuch ihrer Verwirklichung in Forschung und politischem Engagement.

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Franz Schultheis, geb. 1953, ist Professor für Soziologie an der Zeppelin Universität Friedrichshafen. Zuvor lehrte er u.a. an den Universitäten St. Gallen, Genf, Neuchâtel und Paris V. Sorbonne. Nach der Promotion an der Universität Konstanz habilitierte er sich bei Pierre Bourdieu an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte sind die Soziologie der Kunst und der Kreativarbeit. Er ist u.a. Mitglied des Schweizer Wissenschaftsrates, Präsident der Fondation Pierre Bourdieu sowie Redaktionsmitglied von »Actes de la Recherche en Sciences Sociales«.

FRANZ SCHULTHEIS

Unternehmen Bourdieu

Ein Erfahrungsbericht

Patricia Holder gilt großer Dank für das kritische, stets wohl informierte und stilsichere Lektorieren des Manuskripts. Dank gilt auch Stephan Egger für seine wertvollen Hinweise.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2019 transcript Verlag, BielefeldAlle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Covergestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Korrektorat: Julia Bauer, Bielefeld Print-ISBN 978-3-8376-4786-0 PDF-ISBN 978-3-8394-4786-4 EPUB-ISBN 978-3-7328-4786-0https://doi.org/10.14361/9783839447864

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1.Wofür steht der Name Bourdieu?
2.In der Lehr-Werkstatt
3.Forschen mit Bourdieu
4.Soziologie publizieren. Bourdieu als Herausgeber
5.Öffentlicher Auftritt
6.Raisons d’agir. Bourdieu als Leitfigur der »Gauche de la Gauche«
7.Das Projekt »Für einen Raum der Europäischen Sozialwissenschaften«
8.Die Fondation Pierre Bourdieu
9.Bilanz. Was bleibt?
Literatur

Ich kann sagen, dass ich wohl derjenige bin, der am beharrlichsten versucht hat, Kollektives zu schaffen und damit auch am meisten gescheitert ist.

Diese fast resignierte Feststellung traf Pierre Bourdieu am Ende seines Lebens anlässlich einer Tagung in Cérisy.1 Sie bildet das Leitmotiv für die hier versuchte Annäherung an Bourdieu und den Kreis der mit ihm arbeitenden Wissenschaftler und Intellektuellen. Anhand der Erfahrungen aus einer langjährigen aktiven Teilhabe an diesem Kollektiv und seiner soziologischen Praxis soll herausgearbeitet werden, wie und warum die Idee, bzw. die »Realutopie«, wie Bourdieu zu sagen pflegte, eines »kollektiven Intellektuellen« von solch enormer Bedeutung für sein wissenschaftliches und politisches Wirken werden konnte und welches spezifische intellektuelle Ethos sich in ihr spiegelt. Gleichzeitig geht es auch darum, die Gründe des Scheiterns dieser Idee nachvollziehbar zu machen.

1 | Dieses Gespräch wurde mit großer Verspätung publiziert und deshalb bei der Rezeption Bourdieus kaum zur Kenntnis genommen (vgl. Bourdieu 2015, 339).

1.Wofür steht der Name Bourdieu?

Pierre Bourdieu zählt zu den herausragenden Vertretern der Sozialwissenschaften des 20. Jahrhunderts. Sein umfangreiches Werk liegt in zahlreichen Übersetzungen vor und wird auch über die akademische Fachwelt hinaus breit diskutiert. Über die Hintergründe der fulminanten Karriere Bourdieus wurde viel spekuliert und geschrieben, zu seinen theoretischen Entwürfen und empirischen Forschungen liegt eine kaum noch zu überschauende Menge an Sekundärliteratur vor. Das »Phänomen« Bourdieu könnte also als ausreichend thematisiert und durchleuchtet gelten. Doch beschränkt sich dieses Phänomen wirklich auf das gedruckte Werk des Autors? Welche vielfältigen Aktivitäten gehen ihm voraus? Müsste man nicht auch die spezifische Praxis Bourdieu’schen Forschens, Vermittelns und Wirkens in den Blick nehmen – umso mehr, als dessen praxeologischer Ansatz immer wieder die gesellschaftliche Genese, Dynamik und Einbettung von »Werken«, z.B. in Literatur oder bildender Kunst, betonte? Wie Bourdieu oft – Marx paraphrasierend – feststellte, verkehren Texte ohne ihre Kontexte und werden bei der grenzüberschreitenden Rezeption aus ihren spezifischen soziohistorischen und kulturellen Zusammenhängen, in denen sie entstanden und eingebettet sind, herausgelöst. Durch die Dekontextualisierung gehen konkrete Bezüge verloren, verändern sich Konnotationen und verschieben sich Akzente von Stellungnahmen, die jeweils aus einer spezifischen Konfiguration des Feldes und einer bestimmten politischen Konjunktur heraus zustande kamen. Mehr noch: Mit seinem posthum erschienenen »Soziologischen Selbstversuch« hat Bourdieu selbst eine »soziobiographische« – was gerade nicht mit autobiographisch verwechselt werden darf – Objektivierung vorgenommen und einen Beitrag zum Verständnis der sozialen Möglichkeitsbedingungen seiner Biographie vorgelegt (Bourdieu 2002). Dort wird an verschiedenen Stellen, allerdings in aller Kürze und oft nur für Vertraute des französischen Feldes der Soziologie nachvollziehbar, angesprochen, für welche Form kollektiver Vernetzung und Kooperation der Name Bourdieu steht.

Ohne die Vertrautheit mit diesem sozialen Feld und weitere Informationen zu dessen Strukturen und Funktionsweisen ist eine adäquate Einordnung der soziologischen Praxis Bourdieus kaum möglich. So ist etwa die für die Entwicklung seines Ansatzes seit den 1960er-Jahren prägende enge Zusammenarbeit einer kleinen Gruppe gleichgesinnter junger Forscherinnen und Forscher, Dissidenten des etablierten Mainstreams der französischen Soziologie wie auch der sich schon anbahnenden globalen Hegemonie US-amerikanischer Theorie, trotz verschiedener Hinweise in Bourdieus Werk und in einschlägigen Interviews, außerhalb Frankreichs weitgehend unbemerkt geblieben. Auch die Namen wichtiger Wegbegleiter Bourdieus wie Jean-Claude Passeron, Abdelmalek Sayad oder Claude Chamboredon haben, sieht man von Luc Boltanski und Robert Castel ab, jenseits des »Bourdieu et al.« kaum Eingang in die ausländische Bourdieu-Rezeption gefunden.1

Dieser blinde Fleck dürfte zum guten Teil der vorherrschenden Rezeptionslogik geschuldet sein, die weiter dazu tendiert, singulären Genies zu huldigen.2 Auch die Zeitschrift »Actes de la Recherche en Sciences Sociales« (ARSS), deren Gründung im Jahre 1975 in jeder Beziehung eine bahnbrechende Innovation kollektiver sozialwissenschaftlicher Produktionsformen darstellte, ist außerhalb Frankreichs weitgehend unbekannt geblieben. Ihre Entdeckung als eigentliches Flaggschiff des sozialwissenschaftlichen Kollektivs rund um Bourdieu steht aufgrund von Sprachbarrieren und den Zugangshürden zum französischen Feld der Soziologie noch aus. Gleiches gilt für das Unternehmen Liber, das Bourdieus Realutopie eines »internationalen kollektiven Intellektuellen« prototypisch inkarnierte. Nicht zuletzt bleibt auch Bourdieus Wirken als Professor am Collège de France, wo seine Vorlesungen seit 1980 regelmäßig von hunderten Zuhörern verfolgt wurden, der grenzüberschreitenden Rezeption weitgehend verborgen; ebenso wie der enorme Einfluss seiner Forschungsseminare an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences en Sciences Sociales (EHESS) auf mehrere Generationen junger Sozialwissenschaftler.

EINE UNWAHRSCHEINLICHE SOZIOLOGISCHE PRAXIS

»Mit Bourdieu arbeiten. Was heißt das?« »Wie war er als Mensch?« »Wie war der Umgang mit ihm?« Solche und ähnliche Fragen wurden mir im Laufe der Jahre immer wieder gestellt, sobald ein Hinweis auf meine Nähe zu ihm fiel. Aufgrund einer engen Zusammenarbeit, aber auch Freundschaft mit Bourdieu konnte ich von 1986 bis zu seinem Tod im Jahr 2002 intensive Primärerfahrungen auf diesem Gebiet sammeln, die ich bisher nur punktuell und beiläufig thematisiert habe.

Wenn in diesem Band eine Tour d’Horizon ausgewählter und signifikant erscheinender Einblicke eines teilnehmenden Beobachters vorgelegt wird, so geht es nicht primär darum, die angesprochene Neugier auf eine herausragende Figur der Sozialwissenschaften zu befriedigen. Die Frage nach der sozialen Einbettung dieser Soziologie und Bourdieus Rolle als wissenschaftlichem Entrepreneur ist vielmehr gerade deshalb von Bedeutung, weil die Rahmenbedingungen seines Schaffens und Wirkens diesseits des Rheins weitgehend unbekannt geblieben sind: Mit dem Namen Bourdieu wird in der Regel eben nur das Werk eines singulären Forschers und Autors identifiziert. Daneben gibt es aber noch eine andere Seite des »Phänomens« Bourdieu, die es zu erhellen gilt, wenn man dieses adäquat verorten, vielleicht sogar soziologisch »objektivieren« will. Ähnlich wie die visuelle Soziologie Bourdieus aus den Zeiten seiner ethnographischen Feldforschungen in Algerien wurde der Umstand, dass der Name Bourdieu von Anfang an für ein kollektives Unternehmen mit einer Vielzahl von Akteuren in wechselnder Zusammensetzung stand, bei der Rezeption bis weit nach seinem Tod weitgehend ignoriert.

Hierfür mögen die unterschiedlichsten Gründe wie die angesprochene mangelnde Vertrautheit mit dem französischen Feld der intellektuellen Produktion, die geringe Kenntnis der Haus-Revue »Actes de la Recherche en Sciences Sociales« (ARSS), in der diese komplexe soziale Vernetzung Bourdieus offenkundig wird, oder aber auch die analog zur Welt der Kunst vorherrschende Verengung des Blicks auf den vermeintlich singulären Schöpfer eines Werks verantwortlich sein.

Im vorliegenden Buch wird es darum gehen, diese Lücken ein wenig zu füllen und aus dem Binnenraum der Bourdieu’schen Unternehmung auf die mit seinem Namen verbundene soziologische Praxis zu blicken. Wenn Bourdieu in immer neuen Variationen des gleichen Themas auf den unweigerlich und unverzichtbar kollektiven Charakter der Hervorbringung von »Werken« verweist, so gilt dies nicht nur für die Sphäre der Kunst, in der die sozialen Möglichkeitsbedingungen ihres Entstehungsprozesses systematisch durch die Überhöhung der Signatur eines vermeintlich singulären Schöpfers verschwiegen bzw. verschleiert werden. In der Wissenschaft zeigen sich ähnliche blinde Flecken beim Rückblick auf die Entstehungsprozesse von Werken und die dort zur Geltung kommenden genealogischen Beziehungen zwischen einer Vielzahl von Akteuren. Dies erstaunt umso mehr, wenn es sich wie im Falle Bourdieus um einen Forscher handelt, der über mehr als vier Jahrzehnte seine Theorie der sozialen Welt aus der empirischen Feldforschung in enger Zusammenarbeit mit Mitarbeitenden und Kolleginnen heraus entfaltete. Mit einem solchen Blick auf wissenschaftliche Praxis soll die Anerkennung von Bourdieus herausragender Rolle nicht geschmälert, sondern vielmehr neu akzentuiert werden.

In meiner persönlichen Erfahrung zeichnet sich Bourdieu durch die Koexistenz zweier Rollen- und Handlungsmuster aus, die in einer klaren, wenn auch nicht rigiden zeitlichen Arbeitsteilung zum Ausdruck kamen. Tagsüber war er, von den Wochenenden und Ferien mal abgesehen, ein unablässig in soziale Prozesse und Konstellationen eingebundener Kommunikator: Er oszillierte zwischen administrativen Aufgaben in Zusammenarbeit mit den engsten Mitarbeiterinnen am Collège, allen voran Marie-Christine Rivière und Rosine Christin, über die auch der offizielle Kontakt zur »Außenwelt«, etwa die umfangreiche Korrespondenz, ablief, Teamsitzungen mit den Forschenden, dem Austausch mit Kolleginnen und Kollegen, Gesprächen bei Verlagen, nicht abreißenden Anfragen für Interviews, der Lektüre von Beiträgen für die von ihm herausgegebenen Revuen und Editionen und vielen anderen »öffentlichen« Pflichten. Zum Verfassen seiner zahlreichen Publikationen kam er erst, wenn er sich nach Hause an den Schreibtisch zurückzog und bis tief in die Nacht intensiv arbeitete.

In diesem Buch beschäftigen wir uns mit Bourdieus Alltag am Centre. Mit seiner nächtlichen Produktivität wurde man als Mitglied seiner Forschungsgruppe in der Regel nicht nur durch die Lektüre der allmorgendlich ins Sekretariat mitgebrachten Manuskripte konfrontiert, die man, abgetippt und in Form gebracht, regelmäßig von ihm weitergereicht bekam. Oft genug erhielt man auch in den frühen Morgenstunden versandte Mails, in denen es z.B. um geplante Vorhaben, organisatorische Fragen oder öffentliche Stellungnahmen ging. Bindeglied zwischen Tag und Nacht war häufig aber auch der allmorgendliche Telefonanruf Bourdieus, bei dem er spontane Projektideen, strategische Fragen im Umgang mit den Medien, nächste Schritte der Zusammenarbeit mit sozialen Bewegungen, immer wieder aber auch Sorgen rund um das Centre und seine Mitarbeiter besprechen wollte.

BOURDIEU – PATRON EINES WISSENSCHAFTLICHEN UNTERNEHMENS

In dem hier angelegten Porträt Bourdieus als Sozialforscher tritt dieser in der Rolle des »Patron« eines Kleinunternehmens, einer soziologischen Forschungswerkstatt, auf den Plan. Diese Bezeichnung mag zunächst überraschen, ja konsternieren. Tatsächlich aber wurde sie von engen Mitarbeitern, zuletzt etwa von Luc Boltanski (2008, 18), oft als halb humorige, immer aber respekt- und durchaus liebevolle Charakterisierung des Chefs dieser »Denkfabrik« verwendet. Dass der vom Begriff des »pater familias« abgeleitete Patron durchaus eine mit Macht ausgestattete Position kennzeichnet, die sich in unserem Fall aus einem beeindruckenden symbolischen Kapital und der damit einhergehenden Autorität ergibt, muss auch in unserem soziologischen Gruppenbild thematisiert werden. Wo eine solche Fülle symbolischen Kapitals in einer Person inkarniert ist, lassen sich Erfahrungen symbolischer Gewalt und Verletzung wohl kaum vermeiden: Auch Bourdieus beachtliche Verlustrate an engen Mitarbeitern über die Jahre verweist auf diese besondere sozialpsychologische Problematik.

In den ersten Jahren seiner Existenz dürfte das »Unternehmen Bourdieu« nach den Erzählungen befragter Zeitzeugen in Sachen Corporate Identity Ähnlichkeiten mit einem »Startup« heutiger Machart gehabt haben, etwa in den hier hoch gehaltenen, wenn auch oft trügerischen Vorstellungen von einer Assoziation »auf Augenhöhe« und einem egalitären Zusammenwirken an einer gemeinsamen Sache. Schon damals erwies sich diese Unternehmensphilosophie als eine nach dem Prinzip des »als ob« kontrafaktisch hochgehaltene kollektive Illusion, die über noch so offenkundige Differenzen von Positionen, Rollen und Ressourcen der Gruppenmitglieder hinwegzutäuschen half. Was in dieser ersten Phase aufgrund des eher geringen Alters- und Statusunterschieds der Mitglieder, in etwa derselben Generation zuzurechnen und sozusagen eine »peer group«, durch den kameradschaftlichen Umgang miteinander noch stimmig und wirksam erschien, verlor im Laufe der Jahrzehnte die Plausibilität. Bei meinem Eintritt in diese Lebenswelt füllte Bourdieu die Rolle des souveränen Soziologie-Entrepreneurs aufgrund seines rasch gewachsenen symbolischen Kapitals mit all ihren Anrechten und Ansprüchen bereits unverkennbar aus.

ALS TEILNEHMER UND BEOBACHTER BERICHTEN

Wie aber ist die hier von mir eingenommene Perspektive zu verstehen? Es wäre verführerisch, hier retrospektiv die Rolle eines distanzierten ethnographischen Beobachters zu behaupten. Die persönlichen Verstrickungen mit und in diesem Kollektiv, auch die affektive Bindung an und Identifikation mit Bourdieu und seinem Centre, lassen sich aber nicht abstreiten. Aus ihnen sind einige heute schon mehr als dreißig Jahre andauernde enge Freundschaften entstanden. Ebenso wenig zu leugnen sind die eigenen durch Immersion in dieses Soziotop – wenn auch weitgehend unbewusst – entstandenen habituellen Prägungen. Meine Publikationen tragen deutliche Spuren dieser intensiven und langjährigen soziobiographischen Erfahrungen. Jedoch handelt es sich dabei um eine Art akademischer Sekundärsozialisation: Dank eines Auslandsstipendiums der deutschen Studienstiftung konnte ich nach einem Jahr an der französischen Universität Nancy II mein Studium mit einer Licence-ès-Lettres abschließen. Beim Eintritt ins Centre im Alter von über dreißig Jahren brachte ich deshalb die nötige Sprachkompetenz mit. Durch das Magister- und Promotionsstudium an einer deutschen Universität war mein akademischer Habitus nachhaltig von einer anderen »Kultur« geprägt.

Als »Kollege aus Deutschland« nahm ich im Centre eine Sonderstellung ein: dabei, aber doch nicht so ganz, Mitglied, aber kein normaler Mitspieler im Feld, etwa bei der Konkurrenz um Titel und Stellen. Der komfortable, ja privilegierte Status desjenigen, der nach den immer zeitlich begrenzten Präsenzen im Centre wieder »nach Hause« fuhr, erlaubte auch ein anderes persönliches Verhältnis zu Bourdieu. Er erzählte mir regelmäßig von seinen Sorgen rund um das Centre oder konkrete Mitarbeiter und sprach hierbei auch private Angelegenheiten an, die er aus Diskretionsgründen den Pariser Kollegen niemals so freimütig hätte weitergeben können.

Die bleibende Fremdheit des intermittierenden Migranten, meine sprachlichen wie auch anderweitigen Besonderheiten, schienen eher der nationalen Zugehörigkeit zugerechnet worden zu sein, denn meiner sozialen Herkunft als Abkömmling einer bildungsfernen Familie aus der deutschen Provinz. Im Vergleich zu den leidvollen Erfahrungen, von denen Didier Eribon mit einem vergleichbaren Hintergrund zu berichten weiß (Eribon 2016), war das im Pariser Intellektuellen-Milieu ein beachtlicher Vorteil. Zwar schlug sich diese Zwitterrolle wohl auch in meinem Fall in einem »gespaltenen Habitus« – von dem Bourdieu in seinem Selbstversuch und Eribon in seinen daran angelehnten biographischen Rekonstruktionen sprechen – nieder, auf den die neue Umwelt allerdings mehrheitlich wohlwollend-nachsichtig reagierte.

Die relative Fremdheit ging unvermeidbar mit einer gewissen Distanz zu den in der »communauté d’accueil« geltenden Spielregeln – der Volkskundler würde von »Sitten und Gebräuchen« sprechen, der heutige Sprachgebrauch von »Code of conduct« – einher. Sie erlaubte es mir, bestimmte ungeschriebene Gesetze zu missachten und jenseits des – gegen andere Institutionen relativ abgeschotteten – Centre de Sociologie Européenne zahlreiche Kontakte mit Forschern wie Bernhard Lahire, François de Singly oder Serge Paugam zu pflegen. Diese vielfältigen und oft konträren Außenperspektiven brachten die jeweils spezifischen Effekte des Feldes der französischen Soziologie zum Ausdruck und trugen auch zu einer gewissen kritischen Reflexivität in und gegenüber der Praxis am Centre bei.

War es für einheimische Mitglieder des Centre nach dem Bruch mit Luc Boltanski »undenkbar«, mit ihm und den ihm nahestehenden Alain Desrosières und Laurent Thévenot Kontakte zu pflegen, konnte ich dies problemlos tun. Während dieser Jahre kooperierte ich nicht nur mit ihnen am Statistischen Bundesamt Frankreichs rund um die Frage des interkulturellen Vergleichs sozioprofessioneller Klassifikationen. Ich führte auch ein EU-Projekt mit Castels Groupe d’analyse du social et de la sociabilité (GRASS) durch, vertrat François de Singlys Professur an der Sorbonne, trug in Bernhard Lahires Forschungskolloquium in Lyon vor und publizierte bei ihm. Weiter hatte ich kollegiale Beziehungen zu Bourdieus »Erzfeind« Raymond Boudon, der Lehrbeauftragter am von mir geführten Departement de Sociologie an der Universität Genf tätig war, oder publizierte gemeinsam mit Serge Paugam oder Louis Chauvel. In der von mir herausgegebenen Edition Discours bei UVK veröffentlichte ich neben Bourdieus Werken auch Bücher von Luc Boltanski, Pierre-Michel Menger oder François de Singly: eine Mischung, die im französischen Kontext gewagt, wenn nicht sogar konsternierend gewirkt hätte.

So weit die Offenlegung der Position, die ich als Autor innerhalb des beobachteten Gegenstandsbereichs eingenommen habe. Dieser wird nun anhand einer Reihe von unterschiedlichen Szenen aus der Alltagswelt des Centre de Sociologie Européenne einer dichten Beschreibung unterzogen und analysiert. In einem ersten Schritt wird Bourdieus Rolle als – wie man heute sagen würde – »Coach« einer Forschungswerkstatt dargestellt und mit seinem Wirken am Collège de France kontrastiert. Darauf folgt eine Auseinandersetzung mit der Forschungspraxis am Centre und der zentralen Rolle von »Actes de la Recherche en Sciences Sociales« für die Durchsetzung von Bourdieus Konzeption des »kollektiven Intellektuellen«. In einem nächsten Schritt wird Bourdieu als Herausgeber von »Le sens commun«, einer Art »Ideal-Bibliothek« der Sozial- und Kulturwissenschaften vorgestellt und ausführlich auf die von ihm begründete europäische Buchrevue »Liber« eingegangen. Ein kurzes Kapitel mit Eindrücken zu Bourdieus Auftritten bei wissenschaftlichen Anlässen und öffentlichen Stellungnahmen leitet dann über zum für seine letzten Lebensjahre entscheidenden politischen Engagement als Intellektueller. Hier wird die von ihm gegründete Bewegung »Raisons d’agir« im Zentrum stehen und Bourdieu in seiner ihm ab 1995 mehr und mehr zugedachten und angetragenen Rolle als Leitfigur der französischen »Gauche de la Gauche« präsentiert. Abschließend wird es darum gehen, das gemeinsam mit Bourdieu initiierte Projekt »Für einen europäischen Raum der Sozialwissenschaften« und die daraus resultierenden Forschungen, wie auch die Gründung der seinen Namen tragenden Stiftung zu rekonstruieren.

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