Unterwegs zum Leben - Eberhard Müller - E-Book

Unterwegs zum Leben E-Book

Eberhard Müller

4,8

Beschreibung

Wenn das Leben auf der Erde vorbei ist, beginnt die Reise ins Jenseits. Die Medizinstudentin Sophia begegnet auf diesem Weg einem Selbstmord-Attentäter, der sich mit 13 Personen in die Luft sprengte; dazu einer Filmschauspielerin, die Suizid begann und einem jüdischen Rabbi, der einem Attentat zum Opfer fiel. Sie durchlaufen verschiedene Stationen, zur Aufarbeitung ihrer Vergangenheit. Zum Schluss endet ihre Totenreichs-Tour vor einem Lebens-Gericht. Wird am Ende, aus dem alles offenbarenden Gericht, die Liebe steigen?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 208

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (18 Bewertungen)
14
4
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Vorwort

Unsere vergängliche Welt ist eine Raum-Zeit-Blase am Rande der Dimensionen, gewissermaßen eine Insel der Verbannten im Meer der Unendlichkeit. Es ist eine Zauberinsel! - auf der sich in grotesker Weise Glück und Unglück miteinander mengen. Die Menschheitsgeschichte wird einerseits mit Blut und Tränen geschrieben, andererseits erwächst aus den widerstreitenden Kräften eine Entwicklung, aus der nicht nur Kunst, Wissenschaft und Technik entsteht, sondern letztlich ein neuer Mensch aufersteht.

Ob wir Atheisten, Christen oder Islamisten sind, einst wird, wie in vorliegender Geschichte, unser Dasein die Raum-Zeit-Blase verlassen. Zurück bleibt lediglich unsere zerfallende sterbliche Hülle. In dem nächsten Gastland – dem Toten- oder Geisterreich spielt sich der vorliegende Roman ab.

Das vorliegende Buch ist keine religiöse Schrift, schon gar kein Lehrbuch über das Totenreich. Es ist ein Roman, der sich eben in diesem Raum abspielt, wo die Bleibedauer in der Regel viel länger als auf Erden ist. Der Verfasser hat sich ca. ein Jahrzehnt mit diesem Thema befasst und seine Vorstellungen aus den unterschiedlichsten Quellen gebildet. Es entstand dadurch ein Handlungsrahmen, der nach seinem Ermessen der Wirklichkeit nahe kommt. Selbst wenn die geschilderten Erlebnisse im Totenreich als illusorisch empfunden werden, kann doch das Buch mit Gewinn gelesen werden, denn es geht in jener Welt um nichts anderes als hier auf Erden: Versöhnung mit der Macht, die uns aus Sternenstaub werden ließ, Versöhnung untereinander und Versöhnung mit dem eigenem Schicksal. Der Verfasser wünscht allen Lesern reichen Segen durch die vorliegende Schrift. Möge am Ende aller unserer Wege Heimat sein.

Stuttgart, November 2016

Kapitelverzeichnis

Die Krankheit

Die Oase

Emigranten von der Erde

Unterweisungen

Mache Frieden mit Deiner Vergangenheit!

In der Unterwelt

Canossagänge

Sophias Traum

Ein Gerichtsverfahren

Das Gericht über Achmed

Beurteilungsgespräche

Die Demut Gottes

Literaturverzeichnis

Inhaltsnachweis und Danksagung

1 Die Krankheit

Sophia war 20 Jahre alt und fröhlich in einem wohlsituierten Elternhaus aufgewachsen. Schon als Kind war sie sehr sozial veranlagt und wollte einmal Krankenschwester oder Ärztin werden. Die Eltern standen diesem Wunsch wohlwollend gegenüber. Der Vater allerdings gab ihr zu verstehen, dass sie mit einem guten Notendurchschnitt ihr Abitur abschließen müsste, wenn sie Medizin studieren wolle. Insgeheim vermutete er, dass sie den hohen Anforderungen nicht gewachsen war. Doch er hatte sich in Sophias Beharrlichkeit und Zielstrebigkeit getäuscht.

Nachdem sie ihre Reifeprüfung mit der Note 1,5 abgeschlossen hatte, gestanden die Eltern es ihr zu, in einer entfernten Stadt Medizin zu studieren. Es wurde ein einfaches Studentenzimmer bezogen, und der erste Weg in die Fremde war beschritten. Sie ließ die elterliche Fürsorge und die unbekümmerte Zeit ihrer Kindheit zurück.

Ein hartes Studium begann und die Anspannung eifersüchtiger Leistungsstreberei ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Nur die besten wurden auf ihrer Uni gefördert und sie wollte nicht auf der Strecke bleiben. Täglich studierte sie sieben bis acht Stunden und mühte sich ab den komplexen Lehrstoff zu erfassen.

Ab dem dritten Semester hatte sie als Dozenten auch den Chef der Hautklinik vom naheliegenden Krankenhaus. Nach einer Vorlesung kam sie etwas verlegen auf ihm zu und fragte, ob sie ihn etwas zeigen dürfte. Sie setzten sich auf einer nahegelegenen Bank im Garten. Sophia streifte ihr sommerliches Kleid zurück und zeigte auf ein haselnußgroßes schwarzglänzendes Muttermal über dem rechten Knie. Sie blickte den Arzt fragend an und sagte: „Meinen Sie, ich sollte das wegmachen lassen?“ Im Gesicht des Arztes war ein kurzes Erschrecken festzustellen, dann antwortet er sachlich: „Ja, das sollten wir entfernen lassen. Wir dürfen keine Zeit verlieren und bald klären, um was für eine Geschwulst es sich handelt“.

Der Hautarzt war in der Tat erschrocken. Mit hoher Wahrscheinlichkeit handelte es sich um ein bösartiges Melanom, das bereits an anderen Stellen den Keim zu Tochtergeschwülsten gelegt hatte. Im jugendlichen Alter gewährt dieser gleichzeitig in die Tiefe und Höhe wachsender Geschwulsttyp, der im Volksmund als schwarzer Krebs bezeichnet wird, eine nur sehr begrenzte Überlebenschance. Gerade vor wenigen Wochen hatte er an einem Lehrgang teilgenommen, wo ähnliche Fälle in ihrer ganzen Dramatik vorgestellt wurden. „Vierzehn bis sechzehn Monate Überlebenszeit“, hörte der Klinikchef noch in seinen Ohren, sind bei beginnender Metastasierung in jungen Jahren zu erwarten.

Die Operation wurde gleich für den folgenden Tag angesetzt. Das Melanom wurde entfernt und die tiefe breitklaffende Wunde mit kräftigen Nähten zusammen gezogen. Ein großer Verband deckte zunächst alles gnädig ab, so dass man nichts Böses mehr darunter vermutete. Schließlich lag Sophia auf Zimmer 13 des alten, hochräumigen Klinikgebäudes, zusammen mit einer anderen unglücklichen Melanompatientin.

Für den nächsten Tag wurde Sophias Mutter zum Klinikchef gebeten um ihr den Pathologiebefund zu eröffnen. Es war eine schwerwiegende Diagnose. Die Geschwulst war bösartig und aller Wahrscheinlichkeit nach hatten sich bereits Metastasen gebildet. Es wurde beschlossen weder Chemotherapie noch Bestrahlung einzusetzen. Nach den seinerzeitigen internationalen Statistiken hatte beides, bei diesem gefährlichen Melanomtyp, kaum Erfolg gebracht, sondern nur erhebliche Nebenwirkungen hervorgerufen. Stattdessen sollte durch regelmäßige, hochdosierte Injektionen eines speziellen Mistelpräparates die Immunabwehr des Körpers gesteigert werden, zusammen mit einer geeigneten Diät, mit den für die Tumorabwehr wichtigen Mineralstoffen und Vitaminen. Sophias Mutter, die neben dem Arzt saß weinte still. Sophia hatte sofort verstanden was der Arzt sagen wollte. Sie blieb gefasst, dennoch rannen auch ihre Tränen in das Kissen.

Als der Arzt und schließlich auch die Mutter wieder fort waren, überkam sie der Jammer. Sie protestierte innerlich! Sie war verlobt und träumte von einer Familie mit vielen Kindern. Vor allem wollte sie den Menschen als Ärztin dienen. Deswegen hatte sie sich für das Abitur so sehr ins Zeug gelegt und danach ein Medizin-Studium angefangen. Und nun kommt einer daher und sagt, dass sie in die Ziel-Gerade zum Sargempfang einläuft. Innerlich seufzte sie: „Ich dachte, ich könnte durchs Leben stürmen und alles erreichen was ich mir vorgenommen habe. Aber als ich zum ersten Mal das Melanom über meinem Knie sah, begann bereits mein Abstieg. Warum? Was hab ich verbrochen, dass man ein so hartes Urteil über mich hat gesprochen?“

Die Eltern wollten sie wieder nach Hause holen und mit ihr zusammen den Kampf gegen den Krebs aufnehmen. Sophia aber wollte ihr Studium fortsetzen. Sie argumentierte: hier sei sie in besten Händen. Ein Lehrer sei sogleich ihr Arzt, der sie betreute, und das Krankenhaus mit den erforderlichen Einrichtungen und Experten auch gleich in der Nähe. Schließlich akzeptierten die Eltern ihren Wunsch.

Etwa ein Jahr ging es Sophia noch relativ gut. Sie setzte ihr Medizinstudium fort – allerdings gelassener. Der ehrgeizige Leistungsdruck unter den Besten zu sein war weg. Warum sollte sie sich jetzt noch übermäßig abstrampeln? In den Semesterferien machte sie mit ihrem Verlobten eine Rundreise durch die USA, um noch etwas von der Welt zu sehen. Daheim berichtet sie mit Begeisterung davon. Ihre Angehörigen fingen an, wieder Hoffnung zu schöpfen.

Doch nach 13 Monaten wurde sie schwächer und es stellten sich Rückenschmerzen ein. Eine Kernspintomografie wurde angeordnet. Reglos wie eine Tote lag sie in dem Scanner, als läge sie schon im Sarg. Ihr Kopf war mit Riemen festgeschnallt, und sie trug Ohrstöpsel, um den Lärm der Apparatur zu dämpfen, die um sie herum stampfte, surrte und klopfte. Während der Spintomograf Schnittbilder von ihrem Gehirn erzeugte, fragte sie sich, ob irgendwo auf der Welt eine Macht existierte, die sie retten konnte. Sophia schloss die Augen. Sie kämpfte gegen die wachsende Furcht an, die in ihr aufstieg.

Dann kam die Stunde, in der der Arzt sie bestellte, um das Ergebnis der Computertomografie mit ihr zu besprechen. Für einen Bruchteil einer Sekunde hatte sie den Gedanken, dass der Dozent in seiner unnachahmlichen Art ihr mitteilen würde, dass sie krebsfrei sei. Aber dann gewann die Wirklichkeit wieder die Oberhand und sie setzte ihre Füße fest auf den Boden, um ihre Beine am Zittern zu hindern. Als sie schließlich das Sprechzimmer verließ, war der anfängliche Schock von Erleichterung abgelöst worden. Erleichterung weil sie sich keiner qualvollen Therapie aussetzen musste. Der Arzt hatte ihr erklärt, dass sich Tumore an ihrem Gehirnstamm gebildet hatten, welche die Rückenschmerzen verursachten. Eine Behandlung würde aber die stark belastenden Nebenwirkungen nicht rechtfertigen.

Der Kampf war vorüber. Der Krebs hatte gesiegt. Sie hatte nicht mehr lange zu leben; diese Aussicht trug seltsamerweise zu ihrer Erleichterung bei. Es würde keine Angst vor dem Unbekannten mehr geben und keine Zweifel hinsichtlich der Zukunft. Furcht hatte sie lediglich, ihren Eltern die düsteren Aussichten zu eröffnen. Aber es blieb ihr nichts anderes übrig. Sie ließ ihren Vater und ihre Mutter sowie ihren Verlobten zu sich kommen. Als sie vor ihr saßen, überlegte sie, ob sie mit der guten Nachricht beginnen sollte, dass sie keine Behandlung mehr brauche. Aber das wäre grausam gewesen, so sagte sie: „Ich habe drei Tumore, die sehr schnell wachsen. Die einzige Behandlung die noch in Frage kommt, ist palliativer Art.“

Ein schockiertes Schweigen antwortete. Ihre Mutter wurde kreidebleich und strebte der Toilette zu. Die Augen ihres Verlobten waren vor Schreck geweitet. „Palliativ?“ fragte er. „Sterbebegleitung“ sagte Sophia und nahm seine Hand. „Morphium, speziell ausgebildete Pfleger, Hospiz, all so was.“ „Das war es dann also?“ erwiderte er mit zitternder Stimme. Sophia antwortete: „Es tut mir leid, Frank, aber es ist Zeit ans Loslassen zu denken.“

Nach einem viertel Jahr hatte sich der Zustand von Sophia so verschlechtert, dass sie stationär ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Kurz darauf wurde sie auf die Palliativ-Station verlegt. Da lag sie nun und starrte zur weißen Zimmerdecke. War dies nun alles? In Gedanken verfolgte sie ihr Leben zurück. Sie war dankbar, dass sie eine fröhliche Kindheit und relativ unbeschwerte Jugendzeit erleben durfte. Vom Konfirmandenunterricht wusste sie nur noch, dass der Pfarrer eine interessante Rechnung aufgemacht hatte. Er sagte damals: „Zur Konfirmation bekommt ihr im Schnitt Geschenke im Wert von 2000 Euro. Bei etwa 40 Besuchen ergibt dies einen Stundenlohn von 50 Euro. Das bekommt sonst kein Handwerker oder Büroangestellter“. Ja, das leuchtete ein. Aber sie bekam dazu noch einen Konfirmationsspruch. Der hing heute noch in ihrem Zimmer im Elternhaus. Er lautete: „Christus spricht: Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe“. Verstanden hatte sie diesen Spruch nie. Aber jetzt berührte sie diese Aussage. „…der wird leben, ob er gleich stürbe“? Mit dem Tod ist doch alles aus? Oder geht es trotzdem noch weiter?

Nach zwei Wochen, spät am Abend, als sie schlaflos vor sich hindöste, sah sie einen Engel am Fuß ihres Bettes stehen. Oh, eine Morphium-Halluzination vermutete sie. Dann verschwand die Gestalt wieder und ein gestresster Pfleger kam. Er meinte in dieser Nacht wäre er allein in der Abteilung und hätte bereits zwei Sterbefälle. Wenn möglich sollte sie in dieser Nacht nicht abtreten. Sophia nickte müde mit dem Kopf. So pressiert es nun auch wieder nicht, dachte sie. Am anderen Tag, als die Sonne am höchsten stand, bemerkte sie den Engel wieder. Er sah sie mit einem Blick an, der unmissverständlich ausdrückte: jetzt aber keine Ausflüchte mehr. Auf einmal wurde es ihr ganz leicht zumute. All ihre Schmerzen verschwanden. Ein unbeschreibliches Wonne-Gefühl durchflutete sie – und dann sah sie ihren leblosen Körper unter sich. Verblüfft schaute sie darauf. Fast sachlich stellte sie fest: jetzt haben sie genügend Personal um meinen Fall zu abzuschließen. Nur der Gedanke an ihre Eltern betrübte sie, als sie sich vorstellte, wie sie demnächst schmerzvoll an ihrer Bahre stehen würden. Doch der Engel ließ sie nicht bei ihrem Grübeln. Mit einer Kopfbewegung deutet er an: Auf, die Reise ins Jenseits beginnt!

Das himmlische Wesen hatte kein Wort gesprochen und Sophia fand, dass es auch etwas müde aussah. Später, als sie mehr mit dieser Gattung vertraut war, erfuhr sie, dass die Todesengel pro Tag etwa 250.000 Seelen an die unterschiedlichsten Plätze ins Geisterreich zu bringen hatten. Fast immer benötigt jede Seele eine besondere Führung. Nur bei Katastrophen und Kriegen konnte ein Engel auch mal eine ganze Schar von Seelen in einem Transportverband zum vorläufigen Bestimmungsort geleiten. Doch jetzt galt es für Sophia erst einmal den Anschluss zu halten und schwerelos hinter ihrem Engel herzuschweben.

Bald sah sie das Krankenhaus unter sich, dann die Uni, in der sie das sechste Semester nicht mehr vollenden konnte. Dann kam ihr Elternhaus in Sicht. Ja, hier hatte sie ihre Kindheit und Jugendzeit erlebt. Demnächst würde hier die Trauer einziehen - aber wo würde sie hinziehen? Doch es gab keine Zeit zum Überlegen, die Fahrt ging flott weiter. Nun zog der Engel eine Schleife über einem großen Friedhof, in der die Gräber in einer schönen Parkanlage eingebettet waren. Er lag am Rande großer Wälder und auf einem der Waldrücken stand das Schloss Solitude1. Diesen Friedhof kannte sie, ihr Opa lag dort und sie würde wohl demnächst an diesem Ort vorzeitig ihre Ruhe finden. Die „Ehrenrunde“ über diesem Totenfeld war wohl die Antwort des Engels auf ihre unausgesprochene Frage. Freundlich von ihm, mir alles nochmals zu zeigen, dachte sich Sophia. Doch die Reise ging weiter.

Der Engel ging nun in einem Steigflug über. Bald verschwanden beide in einer dunklen Wolke, die sich intern zu einem Tunnel ausbildete. Durch diese Himmelstraße flogen sie eine Weile, bis die Wolke sich lichtete und unter ihnen wieder Land sichtbar wurde. Neugierig schaute Sophia herab. Unter ihr breitete sich ein flaches Land aus, durch das ein mächtiger Strom floss. Die Ebene war, parallel zum Gewässer, von bewaldeten Bergen begrenzt. Der Fluss kam von einem hohen schneebedeckten Gebirge und strömte in einen großen See. Nun begann der Abstieg. Tiefer und tiefer sanken sie, immer mehr Einzelheiten konnte Sophia erkennen. Schnell bewegten sie sich auf eine großflächige Parkanlage zu, auf der zwei Gebäude standen. Vor dem kleineren Gebäude landeten sie. Der Engel ging unverzüglich ins Gebäude und Sophia trottete brav hinterher. Sie traten in einen Empfangsraum, in dem einfache Tische und Stühle standen. Der Engel wies mit einer Hand auf die Stühle und löste sich in Nichts auf. „Puh“ stieß Sophia aus, als sie sich setzte. Das war viel Überraschendes auf einmal.

2 Die Oase

Doch ganz allmählich ordneten sich ihre Gedanken zu. Wo war sie denn eigentlich gelandet? Was war dies für ein Ort? Dann sah sie an sich herab. Sie hatte einen engen Rock und eine gelbe Bluse an. Ein Outfit das sie gewöhnlich als Studentin trug. Ihre Reise trat sie aber an, als sie mit einem Nachthemd bekleidet im Krankenhausbett lag. Wie kam diese Verwandlung zustande? Ihr Verstand, der nun nicht mehr unter den Betäubungsnebeln der Medikamente litt, war jetzt ungewöhnlich scharf. Sie wusste, sie war tot und würde nie wieder ins Elternhaus zurückkehren. Wie aber war es möglich, dass sie dennoch sehen, sprechen und denken konnte? Ihre Sinne und ihr Gehirn blieben doch im toten Körper zurück, der bald auf dem schönen Friedhof zerfiel. Als Medizinstudentin folgerte sie, dass es ein transzendentes Redundanzsystem geben musste, in dem ihr Leben gespeichert war und das über alle Sinne verfügte; schließlich konnte sie sich jetzt noch an ihre Kindheit erinnern. Medizinisch gab es keinen Ansatzpunkt dies zu erklären. Auch hatte sie in keinem ihrer Schulbücher je eine Bemerkung dazu gefunden. Die Medizin stand, trotz all ihrer anerkannten Fortschritte, wohl noch am Anfang.

Plötzlich wurde sie aus ihren Überlegungen gerissen. Eine gegenüberliegende Tür ging auf und vor ihr stand eine Person. Sie hatte ein schwarzes Kleid an, trug eine weiße Haube und sah aus wie eine Diakonisse. Trotz ihres strengen Blickes wirkte ihre Stimme nicht unfreundlich, als sie sagte: „Willkommen, Sophia Linda, in unserem Reich“. Dann setzte sie sich neben Sophia und stellte sich vor: „Ich heiße Schwester Edith Friedensreich und bin Leiterin und Lehrerin in diesem Gästehaus. Die Einrichtung heißt Oase. Auf der Parkanlage haben wir noch ein größeres Gebäude, welches Quelle heißt. In diesem sind derzeit 100 Syrer untergebracht, die im Krieg umgekommen sind“.

Sophia fragte schüchtern dazwischen: „Bin ich hier schon im Himmel?“ Schwester Edith lachte: „Nein, leider noch nicht. Wir haben aber die Aufgabe euch in den Himmel zu bringen. Es ist ein Reich zwischen den Welten. Auf Erden wird es meist als Totenreich bezeichnet. Dies ist aber ein missverständlicher Ausdruck. Du bist natürlich nicht tot, sonst könnten wir uns jetzt nicht unterhalten. Zutreffender ist der Begriff „Geisterreich“, denn der einzige Unterschied zum irdischen Dasein ist, dass der materielle Körper abgelegt wurde. Ansonsten ändert sich vorerst nichts. Manche die hier eintreffen haben noch nicht einmal gemerkt, dass sie gestorben sind. Dieses Zwischenreich hier ist ein mächtiges und vielfältiges Reich. Es hat derzeit mehr als 80 Milliarden Bewohner – von der Steinzeit bis zur Gegenwart. Grob gesagt geht es hier darum, dass die Ankömmlinge zur Ruhe, zur Besinnung, zu Recht und schließlich nach Hause kommen. Die meisten kommen erst hierher wenn die „Unruhe“ ihrer Erdenzeit an stillen Aufenthaltsorten etwas abgeklungen ist. Bei dir haben wir eine Ausnahme gemacht, da du noch nicht in die Händel des irdischen Dasein verwickelst warst. Aber jetzt zeige ich dir dein Zimmer, so dass du erst einmal von deiner Reise zur Ruhe kommst“.

Sie gingen ein Stockwerk höher. Am Ende eines langen Flures lag das Zimmer 39. Sie traten ein und die Schwester meinte, „dies ist für die nächste Zeit deine Bleibe“. Es war ein geräumiges und geschmackvoll eingerichtetes Zimmer mit Bett, Tisch, Stühlen, Schränken und Bildern. Durch das Fenster hatte man einen schönen Blick zu den Bergen am Rande der Ebene. „Gibt es hier irgendwo auch eine Nasszelle?“ fragte Sophia indem sie sich umschaute. Schwester Edith schmunzelte: „Vergiss nicht, dass du jetzt ein Geist bist. Du brauchst dich hier weder zu waschen noch zu kleiden. Die Geiststoffmasse formt sich zur Gestalt die im irdischen Dasein typisch war. Ich war früher Diakonisse und trete daher hier in der Gestalt einer Diakonisse auf, brauche also keine Kleider zu wechseln oder zu reinigen, sie sind teil meines Astral-Leibes. Ganz schön praktisch, was? Es kommt aber eine Zeit, wo wir mit der Auferstehung einen neuen unverweslichen Körper bekommen – dann geht es wieder los mit anziehen, Haare kämmen und dergleichen.“

„Wir haben im Haus drei verschieden große Versammlungsräume“, fuhr die Schwester fort. „Morgen um 9 Uhr treffen wir uns im obersten und kleinsten Raum, der Himmelsblick heißt. Wir sind derzeit nur 6 Personen, die dort zusammen treffen. Dort wird euch gesagt wie es hier weiter geht. Bis dahin kannst du den Park mit seinen Einrichtungen etwas erkunden und auch anschauen was in den Schränken für dich bereit liegt“.

3 Emigranten von der Erde

Am nächsten Tag stieg Sophia vorzeitig die Treppe zum Raum Himmelsblick hoch. Es war ein kleiner Saal, der, abgesehen von der Türwand, von Glaswänden eingegrenzt war. Der Raum war noch leer. Sie war die Erste. Schon von der Türwand aus sah sie die Berge, die sie bereits von ihrem Zimmer aus bemerkt hatte. Allerdings entdeckte sie von ihrer jetzigen Lage, dass an den Hängen eine Burg mit Turm stand. Durch die linke Glaswand sah sie in der Ferne das grandiose Gebirge aufragen, aus dem der Strom herkam. Rechtsseitig konnte sie im Dunst gerade noch die Wasserfläche erkennen, in die das Gewässer mündete. Beeindruckt setzte sie sich und genoss die phantastische Rundschau.

Da traten zwei jüngere Männer in den Raum und blickten sie erstaunt an. Sie gingen dann aber auf sie zu und gaben ihr die Hand. „Friede sei mit Dir, ich heiße Achmed Bin Layla2“, sagte der eine und der andere „Schalom, ich bin der Jakob Morgenrot“. Sophia nannte nun auch ihren Namen und lächelte ihnen dabei freundlich zu. Dann kam Schwester Edith, schaute auf die Uhr und setzte sich zu ihnen an den runden Tisch. Danach trat eine ca. 30-jährige schöne Frau durch die Tür, grüßte etwas verlegen in die Runde und ließ sich ebenfall auf einem Stuhl nieder. Zum Schluss kam eine Person, die wie ein Wandergeselle aussah, mit Knickerbocker, Schnürschuhen und auf dem Kopf einen Hut mit Gamsbart. Ohne ein Wort zu sagen ließ er sich auf die nächste Sitzgelegenheit fallen.

Schwester Edith räusperte sich und sprach: „Wie ich sehe sind wir jetzt vollzählig. Für euch bricht nun ein neuer Abschnitt an. Ich freue mich, euch über die nächsten Jahre begleiten zu dürfen. Es wird für euch eine wichtige Zeit werden. Ihr bekommt eine Einführung in unser großes und komplexes Zwischenreich, und werdet auch ein wenig mit eurer Umgebung vertraut gemacht. Dabei werdet ihr manche Schicksale und Einrichtungen kennenlernen. Wir werden dazu einige Exkursionen unternehmen. Grundsätzlich gilt für jeden, dass er hier seine Erdenzeit aufzuarbeiten hat. Auf Erden ward ihr in einer Raum-Zeit-Blase gefangen und euer begrenztes Wissen mitsamt all seinen Irrtümern muss nun der universellen Wirklichkeit Platz machen. Ihr bekommt entsprechenden Unterricht und werdet auch etwas über unseren Präsidenten erfahren. Zum Schluss wird es ein Beurteilungsgespräch oder ein Gerichtsurteil über jeden einzelnen geben, in dem auch die Weichen zu eurer künftigen Bestimmung gestellt werden. Letztlich sollt ihr das werden, was als Berufung schon über euch stand, als ihr geboren wurdet.

Ich werde euch nicht allein unterrichten, wir haben für den Lehrgang noch einen qualifizierten Lehrer gewonnen, es ist der Engel Urusedek. Er wird sich jetzt gleich vorstellen – und dann seid ihr an der Reihe“. Ein verblüfftes Raunen war zu hören als sich der „Gamsbartmann“ erhob und sich zur Runde verneigte und betont langsam zu sprechen begann:

„Ich stamme aus einer anderen Welt und habe weder Vorfahren noch Nachkommen – ich bin, wie bereits erwähnt wurde, ein Engel. Ich habe bereits existiert bevor die Erde entstand. In der Vorzeit der Menschengeschichte, in der noch keine Offenbarungsreligion sich breit machte, war ich als ein Wächter auf Erden eingesetzt. Wir passten uns seit jeher der Umgebung und den Kulturen an, so dass uns niemand erkannte. So konnten wir im Hintergrund als Wesen aus einer anderen Welt wirken. Auf Erden war meine Tarnung besser als sie hier ist. Meine Aufgabe ist es, euch ein umfassendes Weltverständnis zu vermitteln. Was euch verborgen war soll ans Licht kommen und das Hintergründige offenbar werden. Ich habe euch in der nächsten Zeit viel zu sagen, aber jetzt sollt ihr zuerst drankommen. Damit wir uns kennenlernen, darf jeder sich vorstellen, sagen woher er kommt und was er auf Erden getrieben hat“.

Schwester Edith blickte zu Achmed und forderte ihn auf: „Fang du mal an“.

Zögernd begann Achmed: „Ich heiße Achmed Bin Layla und wurde im Iran geboren. Ich wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf und sehnte mich seit meiner Kindheit immer nach dem Paradies. Deswegen ging ich bei einer strengen Moslembruderschaft in eine Koranschule. Dort wurde mir der Hass auf Ungläubige eingeflößt, vor allem auf Juden und Amerikaner, den Erzfeinden des Islams. Wir wurden bereits in der Schule vormilitärisch ausgebildet, bekamen Softair-Gewehre und mussten damit durchs Gelände robben und auf Attrappen von US-Soldaten schießen. In der Schule wurde uns gelehrt, dass es für einen Moslem das höchste ist für den Glauben zu sterben. Man wird dadurch zum Märtyrer, und einzig dadurch bekommt man direkten Zugang zum Paradies. Uns wurde weiter erzählt, dass der Islam im Begriff ist einen weltweiten Gottesstaat aufzurichten. Um dieses Ziel zu erreichen würden viele Kämpfer gegen die Ungläubigen benötigt, die bereit sind für Allah ihr Leben zu opfern. Wer wolle könne sich für diesen Dienst weihen und ausbilden lassen. Ich habe mich damals im Alter von 14 Jahren dafür entschieden. Mit 17 Jahren wurde ich nach Afghanistan geschickt und als Gotteskämpfer ausgebildet. Zwei Jahre lang dauerte die harte Ausbildung.

Danach, im Alter von 19 Jahren habe ich geheiratet und mich als Bauhandwerker ausbilden lassen. Es gab bei uns nach dem Golfkrieg viel aufzubauen und ich bekam genügend Arbeit, so dass ich meine Familie gut ernähren konnte. Doch immer wieder wurde ich zu Militärübungen eingezogen. Als ich 25 Jahre alt war, bekam ich meinen ersten und letzten selbständigen Auftrag. Ich hatte eine Gruppe von Polizeianwärtern mit einer Sprengladung unter Aufopferung meines Lebens zu töten. Alle Vorbereitungen liefen gut und auch der Einsatz klappte wie vorgesehen. Ich bin überzeugt, dass ich meinen Auftrag ordentlich ausgeführt habe und es war mir unverständlich, dass ich danach nicht ins Paradies gelangt bin. Statt im Paradies bin ich in einem düsteren Wald angekommen. Sieben Tage irrte ich ziellos zwischen den Bäumen hindurch. Es war unheimlich still und zwielichtig. Einen eintönigeren und lebloseren Ort konnte ich mir nicht vorstellen. Dann traf ich auf Jakob, er war offensichtlich ein Jude. Ein Erzfeind, einer von denen die den Arabern das Land gestohlen hatten. Blitzartig schoss mir der Gedanke durch den Kopf, Allah wollte, dass ich meine Laufbahn als Gotteskrieger vollende. Bisher hatte ich nur ungläubige verräterische Landsleute getötet. Aber hier saß ein Jude, die Inkarnation des Bösen. Wenn ich ihn tötete, dann bin ich nicht nur ein Märtyrer sondern ein Glaubensheld mit Anrecht auf einen der besten Plätze im Paradies. Ich fand eine Steinplatte schwang sie mit beiden Händen über den Kopf und ließ sie mit aller Macht auf meinem Gegenüber niedersausen.