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Eine verzweifelte Diebin, ein unmöglicher Raub - Überleben oder Zersplittern
Cemmys Welt wird vom Konflikt zwischen zwei verfeindeten Mächten beherrscht: die magischen Schattenwesen auf der einen und die kirchentreuen Menschen auf der anderen Seite. Cemmy ist ein Halbschatten und wird von beiden gejagt: von der Kirche wegen ihrer magischen Kräfte, und vom Rat der Schatten, weil sie Macht aus der Schattenwelt zieht, dem Grau, das am Rand der Stadt lauert. Sie schlägt sich als Diebin durch, bis sie in eine Falle tappt und gezwungen ist, einen Deal mit einem Schattenrebellen einzugehen. Gemeinsam mit Chase – attraktiv, gefährlich und voller Geheimnisse – soll sich Cemmy ins Grau wagen und ein gefährliches Relikt stehlen. Gefangen zwischen zwei Welten, Schatten und Licht, Lügen und Geheimnissen, muss Cemmy ihre Angst vor dem Grau überwinden, die Mission überleben ... und sich nicht von Chase' silbernen Augen ablenken lassen.
Enemies-to-Lovers Fantasy Romance in einer Welt voller Farbmagie und Schatten
»Until We Shatter ist eine mitreißende Mischung aus Magie, Raubüberfällen und Chaos, mit einer Besetzung aus eng verbundenen Charakteren, die alles tun würden, um einander zu beschützen.« - Emily Thiede, Autorin von This Vicious Grace
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Zum Buch
Cemmy ist ein Halbschatten und wird von zwei Seiten gejagt: von der Kirche wegen ihrer magischen Kräfte, und vom Rat der Schatten, weil sie Macht aus der Schattenwelt zieht, dem Grau, das am Rand der Stadt lauert. Sie schlägt sich als Diebin durch, bis sie in eine Falle tappt und gezwungen ist, einen Deal mit einem Schattenrebellen einzugehen. Gemeinsam mit Chase – attraktiv, gefährlich und undurchschaubar – soll sich Cemmy ins Grau wagen und ein mächtiges Relikt stehlen. Gefangen zwischen zwei Welten, Schatten und Licht, Lügen und Geheimnissen, muss Cemmy ihre Angst vor dem Grau überwinden, die Mission überleben ... und sich nicht von Chase’ silbernen Augen ablenken lassen.
Zur Autorin
Kate Dylan lebt in London und arbeitet tagsüber als Videoeditor und nachts als Fantasy- und Science-Fiction-Autorin. Ihre Leidenschaft fürs Schreiben von Jugendbüchern wird von ihrer Liebe für neckische Dialoge und Marvel befeuert, von ihrem leidgeprüften Freund unterstützt und von ihrer Katze weitestgehend missachtet.
Kate Dylan
Until We Shatter
Eine verweifelte Diebin * Ein unmöglicher RaubÜberleben oder Zersplittern
Aus dem Englischen von Katharina Diestelmeier
dragonfly
Deutsche Erstausgabe
© 2025 Dragonfly in der
Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH
Valentinskamp 24 · 20354 Hamburg
Alle Rechte für die deutschsprachige Ausgabe vorbehalten
Text © Published by Arrangement with Kate Dylan
Originaltitel: »Until We Shatter«
First published in Great Britain in 2024 by Hodderscape
An imprint of Hodder & Stoughton Limited
An Hachette UK Company
Übersetzung aus dem Englischen: Katharina Diestelmeier
Coverillustration © Jeff Langevin 2024
Covergestaltung von Frauke Schneider nach einem Entwurf von Natalie Chen
ISBN9783748802846
E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck
www.dragonfly-verlag.de
Facebook: facebook.de/dragonflyverlag
Instagram: @dragonflyverlag
Jegliche nicht autorisierte Verwendung dieser Publikation zum Training generativer Technologien der künstlichen Intelligenz (KI) ist ausdrücklich verboten. Die Rechte der Urheberinnen und des Verlags bleiben davon unberührt.
Hiermit wollte ich mir selbst beweisen, dass ich es kann.
Rotkontrollieren
Orangestärken
Gelbverändern
Grünheilen
Blaubeschleunigen
Indigovorhersehen
Violettwissen
Der Nachteil daran, ein Halbschatten zu sein, ist, dass man nur über halb so viel Magie verfügt.
Und halb so viel Magie bedeutet halb so viel Macht.
Was durch eine grausame Fügung des Schicksals wiederum zu doppelt so vielen Problemen führt.
Zur Hölle, in einer schlechten Nacht sind es sogar dreimal so viele Probleme. Ich verkrieche mich tief in meiner Kapuze und mustere mit zunehmendem Unbehagen die Gouverneursvilla. Das Haus ragt hoch auf, ein einschüchternder Bau mit aschfarbenen Ziegeln, weiß gerahmten Fenstern und einem steilen Schindeldach, umgeben von einem perfekt getrimmten Rasen, der viel zu weitläufig ist.
Viel zu gefährlich.
Schweißperlen treten mir auf die Stirn, und am liebsten würde ich die Flucht ergreifen. Vargas hat versprochen, mir die Wachen vom Leib zu halten und die beiden Türen, durch die ich muss, offen zu lassen. Aber jetzt, da ich wirklich hier stehe und zu diesem kirchlich gesegneten Riesen aufsehe, habe ich plötzlich das Gefühl, eine unmögliche Aufgabe erfüllen zu müssen. Weil ich Vargas nicht komplett vertraue, wage ich es nicht, das Grundstück in der echten Welt zu durchqueren. Ich habe vor, es im Grau, dem Schattenreich, zu versuchen, weshalb mir nur eine Minute Zeit bleibt, um das Arbeitszimmer zu erreichen.
Wie gesagt: Halbschatten gleich doppelt so viele Probleme. Ich kann die Schattenwelt nicht einfach nach Belieben betreten und verlassen, wie Ma es früher konnte; ich brauche dazu eine Brücke. Ein Zwischenstadium. Und Mitternacht ist die Königin aller Zwischenstadien. Eine ganze Minute zwischen Nacht und Tag, in der ich mich frei in der Welt bewegen kann, die wie ein Zwilling neben unserer existiert, wie ein darübergelegtes Echo. Und in der ich nicht so große Angst haben muss.
Dann hör auf zu zögern wie ein Feigling und benimm dich endlich wie eine Diebin. Als der zwölfte Glockenschlag durch die Stadt hallt, aktiviere ich den Zeitmesser, der an meinem Handgelenk tickt. Genau in dem Moment, als sich das zeitliche Zwischenstadium manifestiert, gleite ich ins Grau. Die Nacht wird zu Rauch und alle Farbe zu tiefer Schwärze, was Diskretion überflüssig macht. Da die Nomalis die Schattenwelt nicht einsehen können, ist Schnelligkeit im Grau nützlicher als Heimlichkeit. Deshalb muss ich keine wertvolle Zeit damit verschwenden, von einer Ecke zur anderen zu schleichen oder darauf zu achten, mich lautlos zu bewegen.
Zehn große Schritte, und ich habe den Vorgarten durchquert.
Fünfzehn kurze Sekunden, und ich bin sicher durch die Haustür gelangt.
Fünf weitere Sekunden, und ich stürme auf das Arbeitszimmer zu, das Vargas für mich in einen Plan eingezeichnet hat.
Die Räume um mich herum sind in ein Farbspektrum aus Aschgrau und Anthrazit getaucht, die antiken Möbel ihres honigfarbenen Glanzes beraubt, als blickte man durch eine einfarbige Linse. So sieht im Grau alles aus … grau und verschwommen, wie eine rauchverhangene Kopie der echten Welt. Oder zumindest sieht es für mich so aus. Wie wir das Schattenreich wahrnehmen, hängt von der Schattierung unserer Magie ab, von der unterschiedlichen Art, wie unser Nomali-Elternteil die Farbe, die durch unsere Adern fließt, verdünnt hat. Von der Nuance unseres Farbtons, wenn man so will. Deshalb bezeichnet man uns auch oft als Nuancen. Nachdem Ma ein Orangeschatten ist, ergibt ihre Blutfarbe zusammen mit einem Nomali Bronze. Und nachdem Orangeschatten auf die Magie der Stärke spezialisiert sind – Zauber, die kräftigen, beeinflussen oder schwächen können –, wird meine Macht im Grau zu einer körperlichen Gabe. Es ist keine direkte Übertragung – unsere Gaben zeigen sich nicht auf ganz eindeutige, eindimensionale Art. Es ist eher so etwas wie ein Ableger der Spezialisierung unserer Grundfarbe, ein Nebenzweig der magischen Fähigkeiten, über die die Schatten verfügen. In meinem Fall ist es das Talent, Gegenstände spüren, bewegen, anfassen – und stehlen – zu können. Und wenn ich etwas im Grau stehle, stehle ich es gleichzeitig auch außerhalb des Grau, ohne dass mich dabei jemand sehen kann.
Das perfekte Verbrechen.
Zumindest wäre es das.
Wenn mein Komplize daran gedacht hätte, beide Türen offen zu lassen.
Bei allen Farben, Vargas, du hattest genau eine Aufgabe, fluche ich, als sich der Riegel an der Tür zum Arbeitszimmer quietschend sträubt. Das Metall klirrt laut unter meinen Fingern. Ich mach dich fertig, du aufgeblasenes, scheinheiliges, unzuverlässiges Stück …
Tief durchatmen, Cemmy. Ich rüttle erneut an der Klinke, wieder und wieder, und übertöne damit das rhythmische Ticken meines Zeitmessers. Mit Panik kommst du nicht durch diese Tür. Und mit Wut auch nicht. Was äußerst schade ist, denn mit beidem bin ich immer schnell zur Stelle. Dabei ist mein Gebell deutlich gefährlicher als mein Biss – oder meine Konsequenzen. Ich bin die Faust, die kurz vor deiner Nase haltmacht. Und wenn ich mich nicht zusammenreiße, verliere ich gleich komplett die Nerven.
Also, weniger fluchen, mehr nachdenken. Ich atme bewusst tief ein, während ich das Schloss mustere. Wenn ich genug Zeit hätte, könnte ich es aufbrechen, aber die Zeit habe ich nicht. Der einzige Grund, warum ich mich überhaupt darauf eingelassen habe, den verdammten Gouverneur von Isitar zu bestehlen, ist, dass es hieß, es sei ganz einfach. Im Unterschied dazu, was meine Freunde möglicherweise sagen, verspüre ich nämlich keinen Todeswunsch. Und in keinem Fall wäre der Tod, der einen erwartet, wenn man die Mächtigen zu bestehlen versucht, meine erste Wahl. Ich würde nicht darauf vertrauen, dass mich der blutdürstige sadistische Henker sauber hinrichtet. Deshalb halte ich mich generell von der herrschenden Klasse fern. Kann schon sein, dass diese verkniffenen Geizhälse mehr Geld für ihre Särge ausgeben, als der Durchschnittsbürger in mehreren Leben verdienen könnte, aber auch die Kaufleute der Stadt sind ziemlich gut betucht, und die zu bestehlen, gilt wenigstens nicht als Kapitalverbrechen.
Und deshalb hättest du dich auch weigern sollen. Vargas’ Angebot war sowieso suspekt, vor allem, da er gar nicht weiß, dass ich eine Nuance bin. Denn wenn er es wüsste, wäre ich jetzt tot und würde nicht versuchen, seinen Herrn auszunehmen. Als er mich beim Flirt mit seinen Taschen erwischte, hätte er mich direkt vom Wirtshaus zu den Gesetzeshütern schleppen müssen, schon allein, weil ich so unvorsichtig war, den persönlichen Berater des Gouverneurs zu bestehlen – einen Mann, dessen Gesicht ich problemlos erkannt hätte, wäre ich vom Inhalt seiner Geldbörse nicht so abgelenkt gewesen. Stattdessen hatte er sich vorgebeugt und geflüstert: Wie wär’s, wenn du dich nicht länger mit Kleinkram abgeben müsstest? Und wenn jemand aus Isitars unbarmherziger Elite dir unerklärlicherweise anbietet, deine Gefängnisstrafe gegen einen größeren Gewinn einzutauschen, sind die einzigen Fragen, die du stellst: Wo? Wann? Und: Wie hoch ist mein Anteil?
Vargas versprach mir genug Geld, um damit jahrelang über die Runden zu kommen.
Und ich war verzweifelt genug, ihm zu glauben.
Seit Ma krank ist, ist Verzweiflung sozusagen mein Grundzustand.
Du musst dich entscheiden, Cemmy. Mein Fuß tappt ein nervöses Stakkato auf das lackierte Parkett. Der Zeitmesser hat bereits achtunddreißig Klicks in seiner Umdrehung zurückgelegt, das heißt, es bleiben nur noch zweiundzwanzig Sekunden, bis meine Nomali-Hälfte im Grau nicht länger willkommen ist. Meine Möglichkeiten sind also – nach Grad der Dummheit aufsteigend: den Einbruch abbrechen und es ein andermal erneut versuchen, zurück in die echte Welt gleiten und hoffen, dass mich die Leute des Gouverneurs dabei nicht erwischen, oder versuchen, mein eigenes Zwischenstadium zu schaffen, sobald die Mitternachtsminute verstrichen ist.
Das wäre ein riskanter Zauber. Einer, der geistige Stärke und Beherrschung erfordert. Allein durch meine Worte und meinen Willen müsste ich die Schemen der Schattenwelt körperlich abwehren, meine Macht an einem Punkt in meiner Umgebung verankern, um das Grau davon abzuhalten, über mir zusammenzuschlagen.
Was schwierig sein mag, aber nicht unmöglich … Die Stimme in meinem Kopf suggeriert Zuversicht. Die luxuriöse Villa hier bietet auf jeden Fall genug pompösen Plunder, um den Zauber zu unterstützen. Im Moment stehe ich am Ende eines schmalen holzvertäfelten Flurs zwischen zwei riesigen Porträts von Geistern früherer Gouverneure. Ihre Größe und Nähe müssten es leicht möglich machen, die Magie aufrechtzuerhalten – je voluminöser und unmittelbarer meine Ankerobjekte sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass mein Zwischenstadium hält –, und sobald ich in der Abgeschiedenheit des Arbeitszimmers in Sicherheit bin, könnte ich das Grau verlassen und mich in Ruhe mit dem Tresor beschäftigen, genau wie ursprünglich geplant. Selbst der Fluchtweg wäre nicht allzu riskant angesichts der unanständigen Menge an überteuerten Möbeln zwischen mir und der Haustür. Unzählige metaphorische Sicherungshaken, an denen ich mein Zwischenstadium befestigen könnte.
Unmöglich ist es auf keinen Fall.
Bis letztes Jahr hätte ich es, ohne zu zögern, getan.
Noch dreizehn Sekunden, Cemmy. Ja oder nein?
Aus alter Gewohnheit drehe ich Pas Ring an meinem Finger, um mich stärker zu fühlen. Das vertraute Gefühl des Metalls auf der Haut beruhigt erfolgreich meine Nerven. Ja. Ich fische den Dietrich aus meiner Gesäßtasche, seinem festen Platz seit dem Tag, an dem ich gelernt habe, ein Schloss zu knacken. Es dürfte nicht lange dauern, mit diesem hier fertigzuwerden. Die Null-Toleranz-Strategie des Gouverneurs gegenüber Magie bedeutet, dass es nicht mit einem Zauberspruch gesichert ist – einer der wenigen Vorzüge des reformierten Teils von Isitar, wo im Kampf gegen die Schatten der gesunde Menschenverstand von Religion verdrängt wurde. Es gibt also keinen Grund, warum es nicht möglich sein sollte, es aufzubrechen und gleichzeitig ein Zwischenstadium um mich herum aufrechtzuerhalten. Keinen Grund außer Angst.
»Ich bin zwischen den beiden Porträts und der Tür.« Laut deklamiere ich die Worte und lege meine ganze Überzeugungskraft in jede Silbe. Streng genommen bin ich zwischen einer Menge Dinge – dem Boden und der Decke, dem Arbeitszimmer und dem Flur, der Veranda vor der Villa und dem Garten dahinter … oder im übertragenen Sinne zwischen einem Nomali und einem Schatten, meinem neunzehnten und zwanzigsten Namenstag, zwischen Geburt und Tod. Theoretisch könnte ich jeden dieser imaginären Zustände in ein Zwischenstadium verwandeln – das Grau zurückdrängen, indem ich den Gedanken daran im Kopf behalte und meine Magie darauf anwende –, aber in der Praxis wäre das, als versuchte man, ein Seil am Meer festzubinden. Körperliche Anker sind wirksamer als bildliche, statische wirksamer als bewegliche, und je massiver sie sind, desto besser. Weshalb ich mein Leben den nächstgelegenen greifbarsten Gegenständen hier im Raum anvertraue.
»Ich bin zwischen den beiden Porträts und der Tür.«
Um mich herum kräuselt sich die Luft und verfestigt sich dann, während meine Magie aus mir herausströmt und einen Schild bildet, eine undurchdringliche Barriere zwischen mir und dem Grau.
»Zwischen den beiden Porträts und der Tür.«
Die Sache ist die: Das Grau schert sich nicht besonders um durchtriebene kleine Halbschatten, die ihr Besuchsrecht missbrauchen. Wenn man die Schemen zu sehr bedrängt, drängen sie einen mit größtem Vergnügen zurück.
»Ich bin zwischen den beiden Porträts und der Tür.«
Ich wappne mich für die Verschärfung der Lage, sobald mein Zeitmesser zum letzten Mal klickt. Dafür, wie die Düsternis mich umschließen und versuchen wird, meine Knochen zu zerbröseln.
»Zwischen den beiden Porträts und der … Scheiße.«
In dem Augenblick, als das mitternächtliche Zwischenstadium kollabiert, verliere ich die Nerven und gleite zurück in die echte Welt. Vergessen ist die versprochene Beute, und in meinem Kopf dröhnt die Erinnerung an den letzten Halbschatten, der die Gastfreundschaft des Grau überstrapaziert hat. An das Geräusch, das Magdalena machte, als die Schemen sie zerschmetterten.
Knacks, knirsch, klong, klirr.
Keine noch so große Menge an Geld ist es wert, wie Glas zu zersplittern.
Egal, wie nötig ich es habe.
Nötig ist es jetzt erst mal, von hier zu verschwinden. Und zwar sofort. Ich presse mich flach an die Wand und bete zu allen drei Göttern, dass die Wachen noch eine weitere dahintickende Minute wegbleiben werden. Dass sie sich nicht die Mühe machen, dem lauten Quietschen von Stiefeln auf dem Parkett nachzugehen, oder die Gestalt mit der Kapuze bemerken, die auf den Ausgang zuschleicht. Der zum Glück noch immer unverschlossen ist. Ich zucke zusammen, als die Holztür knarrend aufgeht; die kalte Nachtluft brennt mir in der Kehle, genau wie die Erleichterung.
Geschafft. Du hast es rausgeschafft. Ich beschwöre mein Glück, mir treu zu bleiben, während ich mich geduckt und leise von der Villa entferne, bis ich wieder sicher auf der Straße stehe. Erst da fällt mir auf, dass mein Oberteil durchgeschwitzt ist und mir das Blut in den Ohren rauscht. Dass meine Finger unkontrolliert zittern.
Das war viel zu knapp.
Viel zu leichtsinnig und unvorsichtig.
Schon das Bestehlen des Gouverneurs hätte mein Todesurteil bedeutet, aber wenn nur ein einziger Wachmann beobachtet hätte, wie ich das Schattenreich verlasse, wäre es wirklich vorbei gewesen mit mir. Als Halbschatten ist bereits meine bloße Existenz illegal – auf beiden Seiten der magischen Grenze –, und wenn die Reformierten von meiner Existenz erfahren würden, dann … tja, dann wäre ein schneller Tod vom Tisch. Die Vorlieben der Kirche sind deutlich grausamer.
Verdammt sei die tiefste aller Höllen. Meine Nägel bohren blutige Halbmonde in meine Handflächen. Ich hatte genau einen Versuch, um diesen Treffer zu landen, und ich habe es verbockt – und das nur, weil Vargas sein Versprechen nicht gehalten hat und ich zu feige bin, ein echtes Risiko einzugehen. Ich hätte dieses Zwischenstadium lange genug aufrechterhalten können, um ein mickriges Schloss zu knacken; ich habe es bereits öfter getan. Halbschatten oder nicht, das kriegen meine magischen Fähigkeiten schon hin. Es gibt sogar Geschichten von Nuancen, die ihre Schilde über Kontinente hinweg verankern und furchtlos ganze Gebirgszüge im Grau durchqueren. Aber jetzt, da die Krankheit Mas Lunge erreicht hat, hat mich permanent die Angst im Griff. Die teure Palette von Tinkturen, die sie benötigt, damit ihr Blut nicht verklumpt, ist fast unmöglich zu stehlen, und um die Kosten dafür aufzubringen, brauche ich deutlich mehr Raubzüge, als in der Mitternachtsminute in einem ganzen Jahr möglich wären. Wenn ich also zu leichtsinnig bin und geschnappt werde oder zersplittere, bedeutet das nicht nur meinen sicheren Tod.
Da die Gouverneursvilla im Westen des heiligen Viertels liegt – nur einen Steinwurf entfernt vom Parlamentsgebäude, der Kaserne und dem berühmten heiligen Marktplatz der Stadt –, brauche ich eine Stunde zurück zum ungläubigen – pardon, dem östlichen – Teil Isitars, in dem der Einfluss der Kirche nachlässt und die Schemen die Zähne zeigen. Natürlich gibt es keine offizielle Grenze. Keine Mauer, kein Tor, auch keine aufgemalte Linie im ringförmigen Labyrinth der kopfsteingepflasterten Gassen. Warum auch, wenn es dem Konklave zufolge offiziell gar kein Problem gibt. Es gibt nur die, die bereits reformiert sind, und die, bei denen noch etwas … Überzeugungskraft nötig ist. Und nachdem inzwischen alle außer einem unserer gewählten Vertreter der Religion anhängen, haben die Eiferer begonnen, Stimme um Stimme, Viertel um Viertel zu gewinnen.
Als Erstes ersetzten sie die Aurenlichter durch eine Magie aus Wissenschaft und Kohle. Als Nächstes waren die Zaubersprüche dran, die Talismanläden, die Zaubertrankschenken, all die kleinen Möglichkeiten, mit denen ein Schatten das Gewöhnliche verbessern kann – gegen Geld. Das alles verärgerte die Ungläubigen, ließ den fragilen Waffenstillstand bröckeln und brachte die leise schwelenden Spannungen langsam zum Überkochen. Daraufhin folgten die Unruhen. Die Verhandlungen. Ein weiterer brüchiger Waffenstillstand. Der Rat der Schatten beansprucht den Osten, während die Kirche sich den Westen einverleibt hat, aber wegen der Berge im Norden und dem Ozean im Süden gibt es kaum noch Ausweichmöglichkeiten für die wachsende Wut. Daher steht die große Stadt Isitar kurz vor einer Entscheidungsschlacht. Mit ihrer hohen Mauer ist sie vor allem geschützt, außer vor dem Krieg, der sich in ihrem Inneren zusammenbraut.
Wie die Jahresringe einer alten Eiche verlaufen die Straßen der Stadt spiralförmig von einer zentralen Anhöhe bis zu den Klippen an der Küste. Je näher sie der Stadtmauer kommen, desto kleiner werden die Häuser. Mein Gang ist weniger hastig, seit ich das ungläubige Viertel betreten habe, aber als ich die dicht gedrängten Gassen erreiche, die Isitars äußersten Ring bilden, ist mein Ärger einer finsteren einschnürenden Furcht gewichen, von der Art, die sich durch die Haut frisst und sich tief in die Knochen gräbt. Heute habe ich die möglichen Taschendiebstähle einer ganzen Nacht gegen ein Fantasiegebilde eingetauscht. Gerade als ich einen richtig großen Coup nötig gehabt hätte. Vielleicht kehre ich auch deshalb nicht nach Hause zurück und stelle mich den Konsequenzen, sondern taste nach den drei Kristallen, die mir um den Hals hängen. Nach meiner direkten Verbindung zu Novi, Ezzo und Eve.
Zeigt sie mir. Ich umklammere die Kristalle und beschwöre die schattengeschmiedeten Bande, mir meine Freunde wach und in unserem üblichen Unterschlupf zu zeigen. Die verdammten Dinger haben mich ein kleines Vermögen gekostet – mit Zaubersprüchen versehene Talismane sind generell nicht billig, und speziell Indigoschatten-Magie ist besonders teuer –, aber ich habe die Ausgabe noch keinen Augenblick bereut. Es ist ein gutes Gefühl, nach den Menschen sehen zu können, die mir am meisten bedeuten. Praktisch, ihnen nach Belieben Nachrichten übermitteln zu können und die Möglichkeit zu haben, ihren Aufenthaltsort herauszufinden, sicherzugehen, dass sie nicht mit einem Vollstrecker der Kirche aneinandergeraten sind oder ihr Leben durch die Klinge eines Ratshäschers verloren haben. Zu wissen, dass sie in Sicherheit sind.
Die Kristalle erwärmen sich in meiner Hand und belohnen mich mit dem Anblick der drei zusammen, genau dort, wo ich gehofft hatte, sie zu finden. Zumindest eine Sache geht heute Nacht nicht schief. Ich bahne mir bereits einen Weg zu dem verlassenen Kloster, das wir für uns beanspruchen. Von außen wirkt es immer noch genauso zerstört, wie die Unruhen es hinterlassen haben: verbrannte Mauern, rußgeschwärzte Fenster – man spürt noch die explosive Wut gegen die Kirche. Aber im Inneren sieht es ganz anders aus. Novi ist eine Kobaltnuance, daher ist ihre Gabe im Grau die Schnelligkeit, aber in der echten Welt ist sie Spezialistin dafür, Gefallen einzufordern. Mit nichts weiter als einem Lächeln ist es ihr gelungen, einen Orangeschatten dazu zu überreden, unser Versteck durch Magie zu verbessern. Egal, wie kalt die Nächte sind, im Mittelschiff herrscht immer Idealtemperatur, das eingefallene Dach bewahrt uns vor Regen, und ein leicht abgeänderter Schutzzauber hält uns die Kakerlaken, die Ratten – und die Häscher – vom Leib.
Dieselbe Art Magie sollte ich eigentlich auch zu Hause genießen können, aber selbst wenn der Rat Mas Magie nicht gebannt hätte, hätte sie bestimmt einen Weg gefunden, sich selbst zu bannen. Taten ziehen Konsequenzen nach sich, Cemilla, hat sie mir früher immer erklärt, bevor ich erkannt habe, dass es keinen Zweck hat, mit ihr darüber zu diskutieren. Als ich bewusst die Regeln gebrochen habe, habe ich eine Entscheidung getroffen.
Diese Entscheidung war übrigens ich, denn die Regeln des Rats beschränken sich im Prinzip auf folgende: keine Magie für Nomalis ohne Bezahlung, keine Nomalis im Grau und zur Reinhaltung der Blutfarbe auf gar keinen Fall mit Nomalis fortpflanzen. Denn die unvermeidlichen Halbschatten leben nicht in Balance mit dem Grau; sie saugen es aus. Entziehen den Schemen Macht, anstatt den Dunst zu nähren. Und entgegen dem, was man den Gesetzen der Logik zufolge glauben könnte, entsteht aus zwei Halbschatten kein ganzer, sie bringen bloß unzählige weitere Halbschatten hervor – nur mit noch etwas weniger Macht und einer noch schwächeren Kontrolle über ihre Gaben. Eine weitere Verdünnung der Verdünnung. Ein Aderlass, der nur noch ungeheuerlicher würde, wenn diese Halbschatten sich ebenfalls mit Nomalis fortpflanzen würden.
Die Existenz zu vieler von uns ließe die Schattenwelt verblassen.
Die Magie würde ihre Kraft verlieren.
Deshalb gibt sich das Grau so große Mühe, uns abzuweisen.
Als der Rat erfuhr, dass Ma die Unverfrorenheit besessen hatte, heimlich einen Nomali zu heiraten, taten sie, was sie immer mit Verrätern tun – sie bestraften sie. Was auf beschönigende Weise nichts anderes bedeutet, als dass sie meinen Vater umgebracht haben. Auch mich hätten sie umgebracht, wenn Ma nicht geflohen wäre, während der Bannspruch des Rats noch dabei war, ihr die Magie zu entziehen. Wenn sie nicht ihr letztes Geld dafür ausgegeben hätte, ihren Namen zu ändern und ihr Gesicht zu verfremden, um ihren Häschern zu entkommen und zu verhindern, dass diese von ihrer Schwangerschaft erfuhren.
Ich nähere mich dem Kloster nicht in aller Öffentlichkeit. Selbst in einer mondlosen Nacht, am vergessenen Rand der Stadt, könnte ein solcher Akt der Loyalität gegenüber den Reformierten Aufmerksamkeit erregen. Stattdessen klettere ich über die verfallene Mauer des Friedhofs, der das Kloster umgibt, und gleite ins Grau. Grabstätten stellen ein dauerhaftes Zwischenstadium dar, eine räumliche Brücke zwischen Leben und Tod, die unbegrenzten Zugang ins Schattenreich erlaubt, egal zu welcher Tageszeit. Solche Brücken nennen wir Zufluchtsorte. Und dieser Zufluchtsort erlaubt mir, mich unsichtbar zu machen und ohne Angst durch die Tür zu treten.
Wenn auch nicht ohne Schuldgefühle.
Mas Gesicht hinterlässt eine Spur der Scham in meinen Gedanken. Sie macht sich Sorgen, wenn ich nach Mitternacht noch unterwegs bin – denn sie ist zwar krank, aber nicht blöd, und sie weiß ganz genau, welcher Art Arbeit ich nachgehe, damit wir über die Runden kommen. Auch wenn sie nicht weiß, dass ich es im Schattenreich tue.
Ich bleibe nur ein paar Minuten, gelobe ich, als ich das Gebäude betrete und das Grau verlasse. In zehn Minuten gehe ich nach Hause. Obwohl ich bereits in dem Moment, in dem ich die magisch verschönerte Ruine betrete, weiß, dass das eine Lüge ist. Seit Ma krank ist, ist dies hier mein Refugium, der einzige Ort, an dem ich nicht die Schultern bis zu den Ohren hochziehe und der die Anspannung meiner Nerven löst. Die Aurenlichter, die Novi wie Sterne an die gewölbte Decke gehängt hat, die zusammengewürfelten Möbelstücke, die Ezzo im Ausverkauf ergattert hat, und der lebendige Dschungel aus Wildblumen, die Eve an die Wände gemalt hat, haben einfach etwas ungeheuer Tröstliches. Es ist unser Zuhause jenseits unseres Zuhauses. Eben eine richtige Zuflucht.
»Wie ist es gelaufen?« Sobald ich eintrete, sieht Novi mich an, und die Intensität ihres Blicks lässt mich erröten. Sie ist die Einzige von uns vieren, die dem von der Kirche ausgeübten Druck widersteht, sich anzupassen. Sich kleiner zu machen. Unauffälliger. Unsichtbar. Ihre Haare sind von einem unglaublichen, magisch erzeugten Weiß, an den Seiten kurz rasiert, in der Mitte lang und verwuschelt, ein starker Kontrast zu ihren kohlrabenschwarzen Augen, ihrer dunkelbraunen Haut und den silbernen Ranken, die sie sich auf die Kopfhaut tätowiert hat. In diesem Teil der Stadt sind Zauber, die das Aussehen verändern, nicht verboten – noch nicht, zumindest –, und allen Nuancen, Schatten oder Nomalis mit dem nötigen Kleingeld zugänglich. Aber sich irgendwie als ungläubig zu kennzeichnen, ist gefährlich in diesen Zeiten des Reformeifers. Und macht einen zur Zielscheibe.
Novi ist das egal. Wenn ich die Faust bin, die kurz vor deiner Nase haltmacht, ist sie der Hieb, der sie blutig schlägt, und sie versteckt nur das an sich, was ihr wirklich ein Todesurteil einbringen würde.
Das liebe ich am meisten an ihr.
Das und die Tatsache, dass sie mich nicht zwingt, mein Scheitern laut auszusprechen; sie kennt mich gut genug, um die Antwort an meiner Miene abzulesen.
»Scheiße, Cemmy. Ich wusste, dass der Auftrag zu gut war, um wahr zu sein. Der Bastard hat versucht, dich abzuziehen, oder?«
»Nicht ganz so dramatisch.« Ich streife meine Kapuze ab. Wenn Vargas gewollt hätte, dass ich erwischt werde, hätte er Wachen an jeder Ecke der Villa postiert – und die hätten mich auf jeden Fall entdeckt, wie ich in meiner leichtsinnigen Panik aus dem Grau aufgetaucht bin. Nein, es fühlt sich eher an wie ein Fall von Gier, die die Macht übersteigt. Ein Mann, der ein Versprechen gibt, das er nicht halten kann. »Er hat die Tür zum Arbeitszimmer nicht wie vereinbart offen gelassen. Hat wahrscheinlich Schiss gekriegt.«
»Dann ist er trotzdem ein Bastard, Cemmy«, ruft Ezzo vom anderen Ende des Kirchenschiffs herüber, wo er und Eve auf dem ramponierten Tagesbett sitzen. Sie hat den Kopf in seinen Schoß gelegt, und er flicht ihre Haare gedankenverloren zu einem Zopf.
»Und ein Feigling.« Eve lächelt mich mit ihren Grübchen an. »Ich spüre hier eine echt feige Kleriker-Aura.«
Niemand von ihnen bedrängt mich wegen Einzelheiten – oder fragt, warum ich das Schloss nicht aufgebrochen habe. Das tun sie nie, wenn eine Sache schiefgeht, denn wir alle wissen, dass ich jetzt feiern wäre, wenn ich nicht solche Angst vor den Schemen hätte oder wenn ich ihr Angebot angenommen hätte, mir bei dem Einbruch zu helfen. Und bevor ihr das denkt: Nein, es geht mir nicht darum, dass ich die Beute nicht teilen will. Möglicherweise bin ich die amtierende Meisterin, was schlechte Entscheidungen angeht, aber ich bin kein selbstsüchtiger Geizhals. Es ist nur so: Als ich das letzte Mal eine Freundin überredet habe, mir zu helfen, habe ich es aus dem Grau rausgeschafft und Magdalena nicht.
Und ich werde mir nicht noch eine weitere zersplitterte Nuance aufs Gewissen laden.
Das würde ich nicht überleben.
»Versuchst du’s noch mal?«, fragt Eve und macht mir Platz zwischen den abgenutzten Kissen. »Falls ja, steht mein Angebot: Ich kann dir so viel Zeit verschaffen, wie du brauchst.« Wo meine Haut weiß und blass ist, ist ihre goldbraun. Meine Haare sind blond, ihre schwarz, meine Augen stahlblau, ihre von einem sanften Braun in einem unschuldigen Gesicht, so liebenswürdig wie sie. Eve ist eine Smaragdnuance, daher ist das Schaffen von Zwischenstadien ihre Gabe im Grau. Der Zauber liegt ihr instinktiv; sie kann einen Schild viel länger aufrechterhalten als andere Nuancen, ihn an kleineren Ankern über größere Entfernungen befestigen – ihn sogar im Schlaf bestehen lassen. Und im Unterschied zu uns anderen kann sie ihn auch ohne die Hilfe von Körperkontakt dazu bringen, einen weiteren Halbschatten zu umfassen. Sie wäre also ganz offensichtlich die beste Wahl für einen solchen Auftrag – abgesehen von der Tatsache, dass das Schaffen eines Zwischenstadiums um andere herum für sie selbst das Risiko erhöht zu zersplittern.
»Ich weiß nicht, vielleicht.« Ich wippe auf den Füßen vor und zurück und halte an der Überzeugung fest, dass ich gar nicht lange bleiben werde. »Wenn die Bezahlung stimmt.«
»Nicht, wenn es dich in Gefahr bringt.« Ezzo wirft mir einen missbilligenden Blick zu, und die Wärme verschwindet aus seinem braunen Gesicht. Er mag es nicht besonders, wenn ich Eve in meine Pläne einbeziehe, und hasst es geradezu, wenn ein Einbruch uns in den reformierten Teil Isitars führt. Er findet, dass es das Risiko nicht wert ist, jetzt, da der Rat wegen allem – oder jedem –, das oder der die wachsenden Spannungen anfachen könnte, in Alarmbereitschaft ist. Denn das Einzige, das für die Schatten noch schlimmer ist, als Krieg gegen eine Kirche zu führen, die wild entschlossen ist, sie auszulöschen, ist ein Haufen illegaler Nuancen, die in der Stadt Amok laufen und gedankenlos das Feuer schüren.
»Ich passe schon auf, Ez. Das weißt du doch«, sage ich.
Solange ich nicht in Panik verfalle, passe ich auf, so gut es geht.
»Dann pass noch besser auf.« Novi schleicht sich von hinten an mich an und schiebt eine Hand in meine Gesäßtasche. Wenn ich nachher gehe, werde ich ein paar Münzen darin finden. Längst nicht so viele, wie ich brauche – so viel kann sie nicht entbehren, und das würde ich auch nie annehmen –, aber genug, um mich ein oder zwei Tage lang über Wasser zu halten.
Deshalb bin ich doch hergekommen, oder nicht?
Denn wenn ich in Schwierigkeiten stecke, ist es Novi, die mich da rausholt.
Und das hat sich auch nicht geändert, im Gegensatz zu allem anderen zwischen uns.
Es dämmert bereits, als ich mich auf den Heimweg mache – angespannt, ausgelaugt und absolut abgekämpft –, der Geist meines Scheiterns hämmert rhythmisch in meinem Schädel. Auf dem Weg ins Haus schiebe ich Novis Münzen unter Madam Berskas Tür hindurch, damit sie mich in Frieden lässt. Ich gebe es zwar nur ungern zu, aber eigentlich ist sie kein böser Mensch; ich habe es bei ihr einfach nur ein bisschen zu weit getrieben. Ich muss mir mehr Mühe geben, ihr zu beweisen, dass ich tue, was ich kann.
Als ich mich in die Wohnung schleiche, empfängt mich Mas schwere Atmung und verkündet mein letztes Scheitern dieser Nacht: Ich war schon wieder zu lange fort. Bin schuld, dass sie sorgenvoll in einen unruhigen Schlaf gefallen ist. So leise ich kann, gehe ich auf Zehenspitzen ins Bad und schließe mich ein, lasse die Wanne mit kochend heißem Wasser volllaufen. Schrubbe die Schamgefühle weg.
Dann breche ich in Tränen aus – unter der Wasseroberfläche, damit sie Mas Träume nicht belasten.
Aber sobald das Wasser abgekühlt ist, sind meine Augen trocken, und ich habe mich entschieden.
Morgen bringe ich den Auftrag zu Ende.
Den Auftrag zu Ende zu bringen, ist allerdings leichter gesagt als getan, denn ohne Vargas habe ich keine Chance, auch nur in die Nähe des Tresors zu kommen. Und genauso wenig weiß ich, wie ich ihn davon überzeugen soll, es mich noch mal versuchen zu lassen, jetzt, da meine wütende Entschlossenheit von gestern sich verflüchtigt hat.
Wenn du doch bloß Novis Zauberkraft hättest! Mein gesamter Körper wird warm unter der Bettdecke, eine glühende Hitze durchläuft meine Adern, als ich an all die Male denke, zu denen sie mich damit bedacht hat. Wie gefährlich ihr Lächeln wird, wenn wir lange aufbleiben und trinken. Wie sehr wir aufpassen müssen, uns nicht zu sehr zu betrinken, damit wir nicht vergessen, dass wir schon mal in dieser Situation waren und uns anschließend geschworen haben, es nie wieder zu tun. Dass ich geschworen habe, es nie wieder zu tun. Denn lieber verzichte ich auf das berauschende Vergnügen ihrer Berührung, ihres Geruchs und ihrer Küsse, als der Wahrheit ins Auge zu sehen, die alles zerstören würde.
Warum sagst du mir nicht, was los ist, Cemmy? Seit wann hast du kein Vertrauen mehr zu mir?
Es ist erstaunlich, wie viel Schaden eine einzige Lüge anrichten kann.
Selbst wenn sie eigentlich genau das Gegenteil bewirken soll.
»Cemilla?« Mas Besorgnis klingt schroff durch die papierdünnen Wände, holt mich in die Gegenwart zurück und aus dem Bett, um mich um das morgendliche Ritual zu kümmern, für ihr Essen und ihr Wohlbefinden zu sorgen.
»Komme schon, Ma.« Ich ziehe eine weite Hose in meiner Reichweite und ein übergroßes Wollhemd über. Die morgendliche Kälte lässt meine Finger erstarren. Verklumpte Venen hat der Arzt ihren Zustand genannt, eine degenerative Krankheit, die das Blut verdickt, wodurch es ihr immer schwerer fällt, sich zu bewegen, zu essen und irgendwann auch zu atmen. An einem guten Tag kann sie ihre Grundbedürfnisse selbst befriedigen. Unsere Wohnung ist klein, da kommt sie gut zurecht, und ich habe die Küche schon längst an ihre nachlassenden Kräfte angepasst. Aber wenn sie sich an einem guten Tag überanstrengt, folgt mit Sicherheit ein schlechter. Und ein schlechter Tag kostet uns beide mehr, als wir uns leisten können. Es gelingt mir schon fast nicht mehr, uns an den guten durchzubringen.
»Du warst gestern so lange weg, dass ich mir nicht sicher war, ob du überhaupt nach Hause gekommen bist«, sagt sie, als ich ins Wohnzimmer trete. Jeder Atemzug fällt ihr schwer, und jede Silbe strengt sie an. Der Schmerz in ihren Augen trübt den blauen Glanz. Früher, bevor die Krankheit sie ausgemergelt hat, sahen wir uns sehr ähnlich. Das gleiche herzförmige Gesicht mit den zarten Zügen. Die gleichen hohen Wangenknochen und das leicht nach oben weisende Kinn. Aber jetzt sind ihre blonden Haare nur noch struppige Strähnen, und wenn sie lächelt, spannt die Gesichtshaut sich unbehaglich, als versuchten die Knochen darunter, aus ihrer Umhüllung zu entkommen.
»Ich weiß, tut mir leid. Ich habe nicht auf die Zeit geachtet.« Mit einer säuerlichen Mischung aus Schuldgefühlen und Hunger im Magen mache ich Frühstück. In einer perfekten Welt würde ich Ma einen Kristall besorgen, dann müsste sie sich keine Sorgen machen; sie könnte jederzeit sehen, wo ich bin, und mir Nachrichten schicken. Was zufälligerweise genau der Grund ist, weshalb ich ihr keinen Kristall geben kann. Denn wenn Ma auch nur die geringste Ahnung davon hätte, wie groß meine Verzweiflung wirklich ist – oder herausfinden würde, dass ich mich nicht nur dazu hergegeben habe, den Klerus zu bestehlen, sondern es außerdem im Grau tue –, würde sie mich nie wieder aus den Augen lassen. Sie würde aufhören zu essen, zu schlafen und ihre Medizin zu nehmen, bis sie in ihrem klapprigen Sessel zu einer leblosen Mumie dahingesiecht wäre. Und obwohl ich nicht verhindern kann, dass in unserer Wohnung die Farbe von den Wänden blättert und die Gefahr einer Zwangsräumung ständig über uns schwebt, kann ich wenigstens genug Hoffnung vortäuschen, um ihr Lebenslicht vor dem Verblassen zu bewahren. Seit ich mitangesehen habe, wie Magdalena zersplittert ist, täusche ich mehr Hoffnung vor als die meisten anderen.
»Hast du noch deinen Ring?« Diese Frage regt mich jedes Mal auf.
»Hier ist er, Ma.« Ich hebe die Hand, damit sie ihn sehen kann. »Ich nehme ihn nie ab.« Obwohl all unsere Probleme gelöst wären, wenn ich ihn verkaufen würde. In den schmalen Goldreif sind ein Dutzend Diamanten eingelassen, ein Schatz, der unsere Geldschatulle und Mas Arzneiflasche für Jahre auffüllen würde. Aber ihr zufolge ist der Ring ein unbezahlbares Erbstück. Ein Geschenk des Vaters, den ich nie kennengelernt habe.
Er hat diesen Ring gemacht, um deine Magie zu verschleiern, hat sie mir immer wieder erzählt, damit ich es auf keinen Fall vergesse. Egal, was passiert, du darfst ihn nie weggeben. Warum sie sich eine so unrealistische Lüge ausgedacht hat, weiß ich nicht. Schließlich kann niemand mir ansehen, was ich bin, und egal, ob Schatten oder Halbschatten – unser Blut ist gleichermaßen rot. Unsere Farben sind eher eine Art Essenz im Blut. Eine Aura. Ein Schatten kann einen anderen an der Ausstrahlung erkennen, aber wir Nuancen sind nicht so leicht zu identifizieren. Gerade weil wir zu wenig Farbe im Blut haben. Nur wenn man uns beim Betreten oder Verlassen des Grau erwischt, kann man uns entlarven. Aber da es keinen Zweck hat, Ma davon zu überzeugen, dass ihr Leben mehr wert ist als irgendein sentimentaler Plunder, trage ich den Ring. Den ganz gewöhnlichen, machtlosen Ring, der uns aus der Armut befreien könnte, denn das eine Mal, als ich ihr vorgeschlagen habe, ihn zu verkaufen, wurde sie so wütend, dass ich es nicht wagte, mich ihr zu widersetzen.
»Gutes Mädchen, Cemilla«, sagt sie, als ich ihr ein Tablett mit honigsüßem Haferbrei und Ingwertee auf den Schoß stelle. »Ich wünschte, du müsstest nicht so viel für mich tun.«
»Dann lass uns zu einem Grünschatten gehen.« Die Bitte entschlüpft mir, bevor ich mir in Erinnerung rufen kann, dass wir diese Diskussion schon in allen Varianten durchgespielt haben. »Ich treibe das Geld dafür auf.« Irgendwie. »Genug, um die Heilung und das Schweigen des Schattens zu bezahlen. Und sobald es dir besser geht, wäre alles wieder wie …« Mas bedrohlicher Gesichtsausdruck lässt mich mitten im Satz abbrechen.
Mit zitternder Stimme wiederholt sie dieselben vier Wörter wie immer, wenn ich diesen Vorschlag mache. »Kein Schatten, keine Heilung. Das haben wir doch schon besprochen, Cemilla. Ich werde dein Leben nicht in Gefahr bringen.«
Du bringst es aktuell in Gefahr. Mit einem Schluck meines glühend heißen Tees spüle ich die Widerrede herunter, die mir auf der Zunge liegt. Und das ohne einen vernünftigen Grund. Es ist jetzt zwanzig Jahre her, dass der Rat Mas Macht gebannt hat, und in all diesen Jahren ist uns kein einziger Häscher auf die Spur gekommen. Die einzige Bedrohung für unser Leben war ihre Blutkrankheit, und für dieses Problem gibt es eine einfache Lösung. Das alles ist jetzt so lange her, dass wir es auf einen einzigen Zauberspruch ankommen lassen könnten. Der betreffende Schatten müsste ja noch nicht mal erfahren, dass sie eine Tochter hat; ich könnte eine mitfühlende Nomali dafür bezahlen, die Vereinbarung für mich zu treffen. Aber seien es Schuldgefühle, Scham oder die immer noch vorhandene Angst vor dem Rat, Ma hat mehr als deutlich gemacht, dass sie lieber sterben würde, als meine Entdeckung zu riskieren – und in der Zwischenzeit sterbe ich vielleicht beim Versuch, genau die zu verhindern.
Wahrscheinlich heißt es deshalb, Liebe sei die tödlichste Schattierung von allen.
»Du hast recht, tut mir leid.« Nach meinem Scheitern letzte Nacht bringe ich es nicht über mich, die Diskussion fortzusetzen, um ein weiteres Mal vergeblich zu versuchen, sie zu überzeugen. »Ich gehe heute noch mal zur Apotheke. Mal sehen, ob sie neue Flaschen mit Grünschatten-Medizin bekommen haben.« Diese Lüge habe ich ihr schon so oft aufgetischt, dass sie mir leicht über die Lippen kommt. Ihre magielosen Tinkturen halten Ma zwar am Leben, aber das einzige Mittel, das ihre Gesundheit vollständig wiederherstellen könnte, wäre ein Zaubertrank. Der wiederum so unglaublich teuer ist, dass ich ihn niemals bezahlen könnte, selbst wenn Isitar nicht von Lieferschwierigkeiten betroffen wäre. Ein weiterer Punkt auf der langen Liste meiner Vorbehalte gegen die Kirche: Sie versucht, die Anzahl der Schatten in der Stadt systematisch zu reduzieren, und treibt sie in die Suche nach einem besseren Leben – wo immer das auch sein mag. Daher kostet eine Tinktur, die sowieso schon teurer wäre als das, was ich in einer Woche stehlen könnte, mehr, als ich mit monatelangem Stehlen zusammenbringen kann. Und Novi würde mir zwar helfen, einem der Grünschatten, die die Stadt noch nicht verlassen haben, eine Heilung abzuluchsen, aber die Apotheker sind leider nicht so nachsichtig. Nicht, solange ich bei allen von ihnen noch Schulden habe.
»Selbst wenn nicht, kriegen wir das schon hin«, sagt Ma, und als sie mich wieder ansieht, ist ihr Blick gleichzeitig glühend und klar. »Ich weiß, dass du dein Bestes gibst, Cemilla. Hauptsache, du bist in Sicherheit.«
Sicherheit.
Das Wort quält mich den ganzen Vormittag über, sein naives Gewicht lastet schwer auf mir. Ich kann Ma eigentlich nicht vorwerfen, dass sie keine Ahnung hat, denn der Grund dafür, dass sie nicht weiß, wie schlimm es um uns steht, ist, dass ich es vor ihr verheimliche. Aber an manchen Tagen schmerzt mich die Erkenntnis, wie gut ich bereits im Lügen bin. Und dass die Maske, die ich zu Hause trage, die einzige Version ihrer Tochter ist, die sie sich wünscht.
Aber diese Version hilft dir hier nicht weiter. Unterwegs zu meinem Treffen mit Vargas ziehe ich mir die Kapuze über und wappne mich für ein Gespräch, das ich zu meinen Gunsten entscheiden muss. Er muss sich bereit erklären, mir bei einer Wiederholung des Einbruchs zu helfen. Und da ich auf Novis Gebiet der magisch verstärkten Überzeugungskraft erschreckend unfähig bin, muss ich auf die eine Karte setzen, die immer gewinnt: die gute alte Gier. Das Einzige, was reichlicher fließt als Bier in der Schenke zum Versteckten Sohn.
Wo Ungläubige und Reformierte sich in Sünde vereinen, steht auf dem Schild über der Tür. Eine passende Beschreibung für die Gästeschaft, die mich im Inneren erwartet. Als eins der zwielichtigsten Lokale am äußeren Ring Isitars ist dieser Ort eine Oase für diejenigen, die behaupten, Magie zu verabscheuen, aber die Bequemlichkeit und den Luxus schätzen, den ein Schatten zu bieten hat.
Bevor das Konklave beschloss, energischer gegen die Blutfarben vorzugehen, konnten sich die obersten Würdenträger der Kirche eine magische Lösung für all ihre Probleme leisten. Wenn ihre Körper Schaden nahmen, konnte ein Grünschatten sie heilen. Wenn ihre Häuser Schutz nötig hatten, konnte ein Orangeschatten-Zauber ihre Knochen stärken. Warum jahrelang über langweiligen Texten brüten, wenn ein Violettschatten mühelos Wissen vermitteln kann? Warum sich sorgfältig herausputzen, wenn man einen Rotschatten für einen Wandlungszauber bezahlen kann, oder warum mühsam ackern, wenn man unangenehme Aufgaben mithilfe von Blauschatten-Magie viel schneller erledigen kann? Und warum grübeln und sich sorgen, wenn der Indigoschatten einen Blick in die Zukunft im Angebot hat und die Macht eines Gelbschattens dir Reichtum verschaffen kann?
Und dann gibt es da noch die weniger sichtbaren – aber genauso nützlichen – magischen Möglichkeiten: die Zaubertränke, Amulette, vorgefertigten Talismane und Glücksbringer; all die Aurenlichter, Stimmungssteine und Kristalle. Schattenfabriziert, aber frei verkäuflich. Nutzbar von jedem und jeder. Die Gläubigen waren zwar gern bereit, die Zaubersprüche im Tausch gegen Macht herzugeben, tatsächlich auf die Magie zu verzichten, erwies sich dann jedoch als deutlich schwieriger. Daher kommen sie jetzt an solche Orte, an denen die Böden klebrig und die Stühle durchgesessen sind, der Met abgestanden und gestreckt, wo es dagegen nicht an Bösem mangelt. Wo die Kirche niemals nach ihren geschätzten Geistlichen suchen würde.
Oder ihren verräterischen kleinen Beratern.
Wie von Vargas gefordert, komme ich beim vierten Glockenschlag. Als ich eintrete, sehe ich, dass er am hinteren Ende des Tresens auf mich wartet, die Kapuze seines Umhangs tief ins Gesicht gezogen, in der Hand einen fast leeren Krug. Wäre der Einbruch verlaufen wie geplant, hätten wir uns hier getroffen, um die Beute zu teilen; er hatte genug Vertrauen zu mir, um sich an diese dürftige Vereinbarung zu halten. Hauptsächlich – vermute ich – wegen der Autorität, über die er als Berater des Gouverneurs verfügt. Hätte ich ihn übers Ohr gehauen, hätte er zweifellos seine beträchtlichen Mittel eingesetzt, um mich zu finden. Da er wusste, wie dringend ich das Geld brauche, weiß er vermutlich auch, warum ich es brauche und dass ich nicht einfach mit dem Inhalt des Tresors aus der Stadt fliehen kann. Er hätte Ma aufgestöbert und mich damit unter Druck gesetzt.
Das könnte er immer noch.
Nicht übers Ziel hinausschießen, Cemmy. Ich zwinge mich, meine Wut nur ganz leise köcheln zu lassen, als ich mich auf den Hocker neben ihm setze. Vargas mag ein schrecklicher Verbündeter sein, aber als Feind wäre er brandgefährlich, deshalb kann ich es mir nicht leisten, seinen Zorn zu entfachen.
»Die Arbeitszimmertür war verschlossen; ich konnte nichts stehlen.« Meine Worte sind die Spitze eines sorgfältig abgewogenen Eisbergs und vermitteln nur den Hauch eines Vorwurfs.
»Der Gouverneur hat mich frühzeitig entlassen.« Vargas’ Blick ist fest auf die bernsteinfarbene Flüssigkeit am Boden seines Krugs gerichtet. »Warum hast du das Schloss nicht aufgebrochen?«
Weil wir das so nicht vereinbart hatten, du Bastard. Meine Kiefermuskeln verspannen sich. »Zu wenig Zeit.«
»Hast du es überhaupt versucht?«
Es hätte nicht nötig sein sollen, dass ich es versuche. Wenn ich die Zähne noch fester zusammenbeiße, zermalme ich sie gleich zu Staub. Sich um die Schlösser zu kümmern, war seine Aufgabe – der einzige Grund, warum ich mich überhaupt zu diesem extrem gefährlichen Einbruch bereit erklärt habe, und das einzige Hindernis, von dem ich dachte, dass nicht ich es überwinden müsste. Das einzige Versprechen, das Vargas halten musste.
Und jetzt tut er so, als wäre es meine Schuld. Am liebsten würde ich ihm die Kapuze vom Kopf reißen und den Feigling darunter entblößen. Soll die ganze Schenke doch die hässliche Wahrheit über Isitars selbst erklärte Elite erfahren. Dass sie keinen Deut besser sind als wir. Stattdessen schlucke ich den Ärger runter und sage: »Sie hätten mich irgendwie warnen müssen, dass Sie Ihren Teil des Plans nicht eingehalten haben.« Und uns beide davor bewahren, ein unnötiges Risiko einzugehen.
»Ganz vorsichtig, Cemilla.« Vargas spricht meinen Namen bedrohlich aus. Erinnert mich daran, dass er lange, bevor ich versucht habe, ihn zu bestehlen, wusste, wer ich war. Wusste, was ich tun kann – und was ich zu tun bereit war, wenn er mein Interesse auf den verführerischen Reichtum lenken würde, der mich erwartete. Er hatte sich vergewissert, dass ich die richtige Verzweifelte für diesen Auftrag war. »Ich werde nicht zögern, dich zu verraten.« Seine Stimme klingt eisig, und seine spitze Nase zeigt in meine Richtung. Obwohl ich weiß, dass er die Diebin meint und nicht die Nuance, sind seine Worte dennoch ein Schlag ins Gesicht.
Ich bewege mich hier auf sehr dünnem Eis.
Und aus einem Kampf mit dem Klerus gehen die Ungläubigen selten als Sieger hervor.
»Aber du hast Glück, dass ich das Geld genauso dringend brauche wie du«, fährt Vargas fort und erlöst mich von dem Drang, seine Hand auszuschlagen. »Und deshalb wirst du es heute Nacht noch mal versuchen.« Er schiebt mir einen schweren Schlüssel über den Tresen zu.
Unglaublich.
»Und den hätten Sie mir nicht schon vorher geben können?«
»Ich sollte ihn dir auch jetzt nicht geben.« Trotz des Schattens, den seine Kapuze wirft, leuchten seine Augen golden. Das ist keine natürliche Farbe – zumindest nicht für die Frommen oder für Menschen mit Blasphemie im Blut –, sondern ein Kennzeichen der Kirche. Ein Pigment, das diejenigen zu sich nehmen, die auf die Verlockungen der Magie verzichten, und das sich in den Augen und auf der Haut niederschlägt. »Wenn du geschnappt wirst, werde ich bei den heiligen Sakramenten schwören, dass du ihn mir gestohlen hast.«
Und man wird ihm glauben. Zuckend schließen sich meine Finger um das kalte Metall. Mich beunruhigt nicht nur das Risiko, das ich – erneut – eingehe. Oder die Tatsache, dass wir hier ein Kapitalverbrechen begehen und dass Vargas, wenn es Aussage gegen Aussage steht, auf jeden Fall gewinnen würde. Aber irgendetwas an seinem Verhalten macht mich ganz nervös. Als er mir seinen Plan zum ersten Mal erläutert hat, war er schon so zappelig wie ein gefangenes Eichhörnchen, aber jetzt ist seine Nervosität geradezu ansteckend. Seine Hände umklammern den Krug zu fest, die Schultern hat er verkrampft hochgezogen, der Kopf hängt verdächtig tief, und Schweiß steht ihm auf der Stirn, als hätte er endlich begriffen, was der Preis für seinen Verrat sein könnte.
Der Bastard wünscht sich die Beute, will aber nichts mit den Risiken zu tun haben, die damit verbunden sind.
Nichts mit dem Verrat.
Wenn der Einbruch schiefgeht, will er seine verdammte Stellung behalten und nicht nur dem Henker entkommen.
»Sie müssen mir wieder die Wachen vom Hals halten«, sage ich. Denn ich will nicht die Einzige sein, die Kopf und Kragen für das Geld riskiert, außerdem werde ich mich – soweit Vargas weiß – nicht im Grau durchs Haus schleichen.
»Meine Verpflichtungen sind mir durchaus bewusst, Cemilla. Und du erfüllst besser die deinen.« Nach einem letzten Schluck Bier steht er vom Tresen auf. Erst nachdem er die Schenke verlassen hat, geht mir auf, dass er sich nicht die Mühe gemacht hat, mir die Einzelheiten unseres nächsten Treffens mitzuteilen.
Das hat nichts zu bedeuten, Cemmy. Ich versuche die Zweifel abzuschütteln. Vermutlich hat er einfach angenommen, dass ich automatisch morgen wieder herkommen werde, und hielt es für unnötig, »zur selben Zeit am selben Ort« zu sagen.
Aber sosehr ich meine Besorgnis auch zu unterdrücken versuche, meine Haut kribbelt weiterhin unbehaglich.
Als würde ich ein entscheidendes Puzzleteil übersehen.
Als würde ich beobachtet.
Als würde ich gejagt.
Nicht, dass es einen Unterschied macht, ich werde den Einbruch trotzdem durchführen.
So ist das mit der Verzweiflung: Wenn sie dich im Griff hat, bleibt wenig Raum für Vernunft.
Als die Nacht hereinbricht, hat sich meine Verzweiflung von einem hartnäckigen Geflüster zu einem durchdringenden Schrei gewandelt. Weshalb ich trotz meiner großen Angst wieder auf dem Weg ins heilige Viertel bin und durch die kleinen Gassen Isitars den leichten Abhang hinabgehe, immer von einer Ringstraße zur nächsten belebteren.
Schließlich hast du gar keine andere Wahl. Der Schlüssel, den Vargas mir gegeben hat, wiegt schwer in meiner Hand, wie eine noch nicht getroffene Entscheidung. Den ganzen Abend über habe ich mein Misstrauen hinterfragt, die innere Stimme zum Schweigen gebracht, die mir sagt, ich solle diesen Auftrag in den Wind schreiben und mir eine andere Möglichkeit suchen, um über die Runden zu kommen. Eine weniger gefährliche. Vorzugsweise eine, bei der ich nicht den höchstrangigen Geistlichen der Stadt beklaue.
Aber das geht nicht.
Ich kann ein solches Angebot doch nicht ausschlagen, wenn mir kein einziger Grund einfällt, warum Vargas lügen sollte. Wegen einer einfachen Diebin würde man sich doch keine derart komplizierte Geschichte ausdenken. Schon allein, weil sich der Schlüssel, den er mir über den Tresen zugeschoben hat, in meinem Besitz befindet, hätte er mich verhaften lassen können. Ohne weitere Untersuchungen. Und falls ich heute Nacht geschnappt werde, ist er die Hälfte der Beute los – vielleicht sogar seinen ganzen Kopf –, warum sollte er mich also verpfeifen? In dieser Angelegenheit haben wir dieselben Interessen.
Warum zögerst du dann immer noch? Die Stimme in meinem Kopf klingt verdächtig nach Novi. Hätte ich ihr und Ezzo von meinen Zweifeln erzählt, hätten sie mich schon längst überredet, diesen unsinnigen Einbruch abzublasen. Ma auch, wenn ich vernünftig genug gewesen wäre, in die Wohnung zurückzukehren. Mit einem einzigen Blick hätte sie erkannt, dass ich etwas Unvorsichtiges in ihrem Namen plane. Deshalb gehe ich ihr auch schon seit Stunden aus dem Weg – und habe auch auf Eves immer häufiger eintreffende Kristallanfragen nicht reagiert. Du musst das nicht allein machen, Cemmy, hat sie mir immer wieder gesendet. Du weißt ganz genau, dass ich mit meiner Gabe ein Zwischenstadium um uns beide aufrechterhalten kann. Also, wenn du mich brauchst, sag einfach Bescheid, und ich komme, okay? Um Hilfe zu bitten, hat noch nie geschadet.
Doch, das hat es.
Es hat Magdalena getötet.
Aber nachdem ich nie den Mut aufgebracht habe, ihnen die ganze Wahrheit darüber zu erzählen, wie genau sie gestorben ist, verwechseln meine Freunde meine Angst mit Stolz. Und ich bringe es nicht über mich, das Missverständnis aufzuklären, denn dann verliere ich auch sie.
Also finde dich damit ab und bring’s hinter dich. Ich versuche, den Gedanken an Eve wegzuschieben. Sie meint es nur gut, wenn sie mich bedrängt, und in letzter Zeit respektiert sie meine Entscheidungen immer, obwohl sie sie nicht versteht oder sie sie verletzen oder verwirren. Obwohl sie sich fragt, warum ich ihr nicht mehr so vertraue wie früher. Dabei vertraue ich eigentlich bloß mir selbst nicht mehr. Meiner Fähigkeit, sie zu beschützen.
Konzentration, Cemmy, sonst verpasst du noch die Zeitbrücke. Ich zwinge mich, mich wieder auf das Problem vor mir zu konzentrieren. Die Häuser um mich herum sind inzwischen vornehm und bedrohlich, bedrückend in ihrer Uniform aus Feuerstein, Onyx und Knochen. Selbst außerhalb der reformierten Gegenden ziehen Isitars Gebäude schon immer diesen zurückhaltenden Baustil vor, versuchen den Eindruck zu erwecken, die Stadt wäre direkt in die Klippen gebaut worden, in betörender Symmetrie und subtiler Eleganz. Aus der Nähe haben die kirchlichen Bauten allerdings gar nichts Subtiles an sich. Sie sind größer als ihre Entsprechungen in den ungläubigen Stadtteilen, die Dächer spitzer, die Umrandungen um die Türen und Fenster heben sich weiß leuchtend von den aschgrauen Rahmen ab. Aber ohne die Macht eines Schattens zu ihrem Schutz sind sie nicht schwerer auszurauben. Vor allem, wenn dein Komplize die Wachen woandershin lockt und dir einen Schlüssel gibt.
Ich erreiche die Gouverneursvilla genau in dem Moment, als der zwölfte Glockenschlag über der Stadt verhallt, den Beginn des mitternächtlichen Übergangs verkündet und mir ein beunruhigendes Déjà-vu-Erlebnis beschert.
Da bin ich wieder. Mit einem vorsichtigen Blick über die Schulter setze ich den Zeitmesser an meinem Handgelenk in Gang und gleite ins Grau, verwandele die Welt in Rauch, Schwärze und Schatten, einen Widerhall des Lebens im farbigen Dunst.
Zehn große Schritte, und ich habe den Vorgarten durchquert.
Fünfzehn kurze Sekunden, und ich bin sicher durch die Haustür gelangt.
Fünf weitere Sekunden, und ich stehe mit Vargas’ Geschenk in der Hand am Ende des Flurs, bereit, die Tür aufzuschließen, um den Auftrag zu Ende zu bringen.
Der Schlüssel gleitet problemlos ins Schloss, und der Mechanismus gibt nach wie Butter, die unter einer heißen Messerklinge schmilzt. Vargas hat zwar zwei Anläufe gebraucht, aber sein Versprechen gehalten. Er hat mich hier reingebracht.
Und mir bleiben noch dreißig ganze Klicks in meinem Zwischenstadium.
Wenn ich etwas langsamer gewesen wäre, hätte ich keine Zeit gehabt, im Schattenreich herumzutrödeln, mich über das absurde Übermaß an luxuriösen Möbeln lustig zu machen, zum riesigen Bücherschrank aus Mahagoni hinüberzuschlendern, der eine gesamte Wand einnimmt, oder die Nase über die Entscheidung des Gouverneurs zu rümpfen, sich ein riesiges Selbstporträt über den Tresor zu hängen.
Vielleicht hätte ich das Grau dann direkt wieder verlassen.
Zu spät.
Mein Fehler blitzt am anderen Ende des Arbeitszimmers auf und lächelt so überheblich wie ein Raubtier, das seine Beute in die Enge getrieben hat. Das ist das Problem an den vollblütigen Schatten: Sie herrschen nicht nur über das Schattenreich, sie sind das Schattenreich. Das Grau bedroht sie nicht, es entfesselt ihre Macht. Sie winden sich hindurch wie Schlangen durchs hohe Gras, beinahe unsichtbar inmitten der fehlenden Farben, bis sie beschließen, sich plötzlich hell strahlend zu zeigen. Und dieser Schatten hier lässt sich erst dazu herab aufzutauchen, nachdem er sich nah genug angeschlichen hat, um eine Fessel um mein Handgelenk zu schließen.
»Nein!« Ich greife nach meinem metallenen Gefängnis, kratze mir die Nägel an dem eisernen Reif blutig. Aber es hat keinen Zweck; die Fessel ist mit Magie an meinem Arm befestigt. »Nimm das ab!«, schreie ich den Schatten an. »Nimm es sofort ab!« Der Befehlston in meiner Stimme passt nicht zu meiner Angst. Nicht im Geringsten, denn einen so bösartig aussehenden Schatten habe ich noch nie gesehen. Spindeldürr, das schwarze Haar teerartig zurückgegelt, Nase, Wangenknochen und Kinn ganz spitz. Wie ein Mann aus Messern. Oder ein Messer aus Fleisch und Blut. Der gehört auf keinen Fall zum Rat der Schatten – die lassen ihre Augen an den Rändern nicht schwarz werden, weil das die Nomalis verstört und den Verschwörungserzählungen der Kirche Vorschub leistet. Aber was mich noch mehr ängstigt als der Schattenrebell selbst, ist seine Vorgehensweise.
Eisen.
Besser bekannt als der Fluch des Rats.
In der echten Welt ist Eisen Gift für die Vollblüter, es beraubt sie all ihrer Magie und Stärke. Zwingt sie, sich in die Schattenwelt zurückzuziehen, bevor sie so schwach werden, dass sie auch dieses Privileg verlieren. Das ist ein Grund dafür, warum es der Kirche gelang, ihre Kontrolle über Isitar so stark auszubauen: indem sie die gesamte Stadt mit Eisen durchdrang. Sie haben die Straßen und Häuser damit versehen, um die Schatten aus dem heiligen Viertel zu verdrängen, sie davon abzuhalten, ihre Magie gegen die Wachen der Geistlichen einzusetzen. Nachdem wir Nuancen über keine äußeren magischen Eigenschaften verfügen, gegen die sich das Eisen richten könnte, sind wir weitgehend immun dagegen. In beiden Welten. Außer eine größere Menge davon kommt direkt mit unserer Haut in Berührung. Dann unterdrückt das Metall die eine Fähigkeit, über die wir alle verfügen: die Möglichkeit, uns zwischen den Welten zu bewegen. Jetzt, da mir nur noch wenige Sekunden im Zwischenstadium bleiben, hat mich dieser Schatten ans Grau gefesselt.
»Bitte nimm es ab«, flehe ich ihn an. »Ich werde auch nie wieder stehlen, versprochen. Aber bitte lass mich gehen.« Lass mich gehen, lass mich gehen, lass mich gehen.
»Nein.« Seine Stimme klingt rau. Wie Stahl verglichen mit meinem gläsernen Kieksen. »Gib mir deine Kristalle.«
»W…was? Ich weiß nicht, was du …«
»Die Lügen kosten dich Zeit, kleiner Halbschatten. Und über viel Zeit verfügst du nicht mehr.« Er zeigt auf den tickenden Zeitmesser an meinem Handgelenk.
Noch zwölf Klicks.
Verdammt. Mist. Scheiße. Zur Hölle. Wenn ich meine Kristalle hergebe, kann er auch die anderen aufspüren – die Verbindung besteht zwischen den Steinen, nicht zwischen den Personen; deshalb sind diese vorgefertigten Talismane auch so viel billiger als ein maßgeschneiderter Zauber, sie dienen bloß dem Gebrauch. Diskretion kostet extra. Wobei meine Sorge darauf beruht, dass der Rebell die anderen sucht. Dabei ist es wahrscheinlicher, dass er nur versucht, mir den Kontakt zu meinen Freunden zu versperren.
»Also gut, hier.« Mit einer treulosen Geste reiße ich mir die Kristalle vom Hals. Ich verrate meine Freunde, um hoffentlich lange genug am Leben zu bleiben, damit ich diesen Fehler wiedergutmachen kann.
Und das kann ich nicht, wenn das Grau mich zerschmettert.
Die Kristalle würde er sowieso bekommen, sobald sie auf meinen zersplitterten Überresten liegen bleiben.
Ich muss hier raus, um die anderen zu schützen.
Ma zuliebe muss ich hier raus.
»Und jetzt … bitte … lass mich gehen.« Mein Flehen ist ein brüchiges Echo, die Summe all meiner Ängste kondensiert in einem verzweifelten Flüstern, das sich an den rachsüchtigen Rebellen richtet.
»Du konzentrierst dich besser, kleine Nuance.« Anstatt mir die Freiheit zu schenken, bewegt sich der Rebell schimmernd zum anderen Ende des Arbeitszimmers und hängt einen Orangeschatten-Talisman an die Tür. »Deine Rettung ist nur ein Zwischenstadium entfernt.« Damit verlässt der vollblütige Schatten das Grau und lässt mich fünf Sekunden vor meinem sicheren Tod gefangen und allein zurück.
Erst handeln, dann denken. Ich setze mich in Bewegung, stürme jedoch nicht auf den Talisman zu, sondern auf den kleinen Spalt zwischen dem alten Bücherschrank und der Wand. Auf die beiden nächstgelegenen – und massivsten – Anker, die ich erreichen kann.
»Ich bin zwischen dem Bücherschrank und der Wand.« Die Magie strömt schwallartig aus mir heraus und steigt auf, verbindet sich über mir zu einem Schild gegen die Schemen. Bleib einfach ruhig und verlier nicht den Kopf. Diesen Zauber aufrechtzuerhalten, ist nicht so schwer, wie du … aah! Der Augenblick, in dem das mitternächtliche Zwischenstadium kollabiert, ist deutlich zu spüren. Das Grau zerrt an mir wie eine Welle, die zurück ins Meer fließt.
»Ich bin zwischen dem Bücherschrank und der Wand«, presse ich erneut hervor und lege jedes bisschen Stärke, das ich habe, in den Schild.
Ich werde nicht im Arbeitszimmer des Gouverneurs von Isitar sterben.
Nicht heute.
Nicht so.
Nicht auf die Art, wie Magdalena ge…
Hör auf. Ich schiebe den Gedanken an sie weg und übertöne ihn mit einer weiteren Runde Beschwörungen.
»Ich bin zwischen dem Bücherschrank und der Wand. Zwischen dem Bücherschrank und der Wand.«
Magdalena ist gestorben, weil sie mir zu viel zugetraut hat. Das Schloss zu knacken, gleichzeitig die Beschwörungen zu sprechen und nicht feige in Panik zu verfallen.
Den Fehler werde ich nicht noch mal machen.
Ich werde mich nicht von der Stelle rühren und am Leben bleiben, bis mein Peiniger zurückkehrt.
Wenn ich mich nicht ködern lasse, dann wird er zurückkehren. Da bin ich sicher.
Denn egal, wie man es dreht und wendet, das kommt sicher nicht dabei heraus: Schattenrebell beobachtet zufällig die Villa des Gouverneurs, um einer neunzehnjährigen Nuance Kristalle zu stehlen. So etwas passiert einfach nicht. Im Gegenteil, je länger ich darüber nachdenke, desto weniger an meiner aktuellen Situation kommt mir wie Zufall vor.
»Ich bin zwischen dem Bücherschrank und der Wand.«
Nein. Vargas ist nicht eines Tages zufällig auf der Suche nach einer Diebin im Versteckten Sohn aufgetaucht. Er hat mir diesen Job nicht wegen meiner Fähigkeiten als Taschendiebin angeboten oder wegen des Gouverneurs neulich die Tür zum Arbeitszimmer nicht offen gelassen.
Er hat mich reingelegt.
Er arbeitet mit dem Schatten zusammen – obwohl ich mir beim besten Willen nicht erklären kann, warum.
Was hat ein Schattenrebell davon, mich ans Schattenreich zu ketten? Damit er mich auf frischer Tat ertappt scheint eine zu einfache Erklärung zu sein. Er hätte viel mehr davon, wenn er den Tresor des Gouverneurs selbst aufzaubern würde, und seine bedrohlichen schwarzen Augen verraten mir, dass er weder im Auftrag des Rats handelt noch vorhat, sich bei der Kirche einzuschleimen.
Er will irgendetwas anderes von mir. Will es so dringend, dass er das Risiko eingegangen ist, sich selbst durch Eisen zu schwächen. Im Grau hat es nur dann eine Wirkung, wenn es die Haut umschließt, aber in der echten Welt hätte es ihn in ernsthafte Gefahr gebracht – und ihm nicht zuletzt große Schmerzen zugefügt. Was einen ziemlich hohen Einsatz bedeutet, wo eine Nuance einem vollblütigen Schatten eigentlich nichts zu bieten hat.
»Ich bin zwischen dem Bücherschrank und der Wand. Zwischen dem Bücherschrank und der Wand.«
