Unverarschbar - Martell Beigang - E-Book

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Martell Beigang

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Beschreibung

Das Leben zeigt Vollblutmusiker Ben momentan die volle Breitseite. Nicht nur dass seine Freundin ihn gerade pünktlich zu seinem Dreißigsten verlassen hat, auch seine Band hat sich nach sieben gemeinsamen Jahren aufgelöst. Doch das Leben hat die Rechnung ohne Ben gemacht, denn was ihm bleibt, ist seine Mission, zum Guerillakrieger zu werden und den Untergang der abendländischen Musikkultur in bester Selbstjustizmanier aufzuhalten. Nach ein paar zaghaften Sabotage-Aktionen sieht sich Ben überraschend der Galionsfigur des schlechten Geschmacks gegenüber: Janine Paffrath. Der Moment scheint gekommen, ihr endlich mal so richtig die Meinung zu geigen...

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Meinen Brüdern gewidmet!

Martell Beigang

unverarschbar

- Roman -

FUEGO

„Es ist nicht so, daß ich mir nie die ultimative Frage gestellt hätte.“

„Und wie, lautet diese Frage?“

„Wo geh ich her, wo komm ich hin und was soll der ganze Scheiß?“

aus Juli Zeh: Adler und Engel

„Musik ist die Heilungskraft von dem ganzen Universum!“ Eigentlich ein ganz schön behämmerter Satz, findet Ben. Wenn er es genau nimmt, sogar ein richtig verkehrter – grammatikalisch gesehen –, denn es müßte ja lauten „des ganzen Universums“, aber Ben ist gerade überhaupt nicht in der Stimmung, um klugzuscheißen. Irgendwie mag er diesen Satz. Sehr sogar. Wo sie recht haben, haben sie recht, die post-68er von derTitanic,denn dort hat er ihn irgendwann einmal gelesen. Und für sie hofft er stark, daß sie es nicht ironisch gemeint haben, denn sonst würden sie ordentlich Ärger bekommen, denn Ben ist es bitterernst – mit der Musik. In der Mitte seines Sofas hat sich die eifrige Benutzung desselben eine veritable Delle in den dunkelbraunen Breitcordbezug gegraben. In dieser hockt Ben gerade im Schneidersitz, was ein bißchen grotesk aussieht, da sich seine langen Gräten nur mit Mühe in Position falten lassen. Er haßt es, wenn Frauen seiner Haarfarbe über sich selbst sagen, sie seien straßenköterblond, denn das klingt in seinen Ohren so selbstmitleidig. Seine Haare rangeln sich basisdemokratisch auf seinem Kopf, als habe er in einem Wäschetrockner übernachtet. In Wahrheit verwendet er viel Sorgfalt auf seine Frisur, damit man nicht erkennt, daß es überhaupt eine ist, was mitunter einiges an Zeit und Haargel erfordert. Wenn Ben so auf seinem Sofa sitzt, durchströmt ihn unmittelbar ein wohliges Gefühl. Durch die riesigen, fast bis zum Boden reichenden Fenster seiner Wohnung hat er einen Ausblick auf drei heruntergekommene Industriebaracken. Hinter ihnen verläuft eine Straße, an die sich ein kleiner, mit alten Kastanien bestandener Park schmiegt. Trotz geschlossener Fenster hört Ben, wie sich ein Zug hinter dem Park widerwillig quietschend in eine große Kurve zwingt. Dann verschwindet er hinter dem Haus Richtung Deutzer Bahnhof.

Bens Wohnung ist eine Art Loft. Allerdings kein kernsaniertes Backsteingebäude wie in New York oder inSchöner Wohnen,sondern eine schmucklose, graue Fabrik, in der die Firma Siemens in den 50er Jahren Rohrpostsysteme entwickelte.

Auf dem Hof stapeln sich rostige Bleche. Der Asphaltbelag zeigt an vielen Stellen derbe Risse. Aber Bens Vermieter denkt gar nicht daran, dem insgesamt sehr desolaten Zustand seiner Immobilie entgegenzuwirken, denn er spekuliert darauf, das ganze Gelände in absehbarer Zeit gewinnbringend zu verkaufen. Unlängst wurde nämlich in unmittelbarer Nähe die Kölnarena, eine riesige, 20.000 Besucher fassende Konzerthalle errichtet. Diese beschert der rechten Rheinseite Kölns, der Schääl Sick, gerade eine in Bens Augen abartige ‚Ver-Schickerung‘, die auf kurz oder lang solchen alternativen Wohnkonzepten wie der einer heruntergekommenen Fabrik keinen Raum mehr bieten wird.

Ben liebt seine Wohnung. Für ihn versprüht sie ihren ganz eigenen, morbiden Charme. Er steht darauf, daß sich, abgesehen von den sanitären Einrichtungen, alles, was er braucht, in einem siebzig Quadratmeter großen Raum befindet: Ein Bett aus Paletten (in einer Nacht- und Nebelaktion eigenhändig geklaut), ein Stahlspind (mit Dolly-Parton-Centerfold vom Vorbesitzer), ein Schreibtisch, darauf ein Laptop und ein graues Telephon mit Wählscheibe, ein paar Metallregale mit Büchern, ein Herd (mit Gasflasche zum Wechseln) und eine Stereoanlage (von Phillips, mit sehrrealistischemSound). Vor dem Sofa steht zudem noch ein Tischchen, das Ben aus einer Waschtrommel selbst gebastelt hat. Es dient als Untersatz für einen kleinen orangefarbigen Fernseher mit Zimmerantenne, denn Satellitenschüsseln findet Ben asozial. Alles weitere empfänd er als überflüssigen Schnickschnack. Aus der Glotze ertönt klassische Musik. Fasziniert beobachtet Ben, wie Sir Simon Rattle lächelnd, mit einem dünnen Stöckchen in der Hand, sein Orchester zu Höchstleistungen aufwirbelt. Kommt echt popstarmäßig, denkt er und registriert bewundernd die wilde Lockenpracht des Maestros.

Ben macht selbst Musik. Er ist Bassist und Sänger in Sachen Pop und Jazz.

Ergriffen sitzt er vor der Mattscheibe und hat seit langem mal wieder das seltene Gefühl, für diesen einen, kurzen Moment die Welt zu verstehen, die ihm im gerade ausklingenden Jahr so fremd und seltsam vorkam.

„Guck nicht so! ... Hey, ich red mit dir. Guck mich nicht so an, und vor allem: lächle nicht so dämlich dabei. Und den Knopf, den kannst du gleich wieder zumachen. Heute mußt du nicht sexy aussehen, du hast nämlich frei, bist nicht im Dienst. Also entspann dich.“ An Tagen wie diesem könnte sie ihr eigenes Spiegelbild mal wieder ankotzen. Einfach so, aus reinem Ekel. Und diesmal nicht, um wieder ein paar Gramm wettzumachen ...

In den letzten Monaten lief für Ben so ziemlich alles schief, was schieflaufen konnte. Seine Freundin Tine hat ihn nach fünf Jahren mit den Worten verlassen: „Werd endlich mal erwachsen!“ was an für sich schon schlimm genug ist; besonders kraß fand Ben allerdings, daß sie es feige, fernmündlich, per Telephon getan hat. Etwa zur selben Zeit wurde er dreißig, was er bis dahin immer für ausgeschlossen gehalten hatte. Das allerschlimmste jedoch war, daß sich seine Band, dieSERVOKINGS,auflöste, wodurch sich Ben unterm Strich nicht nur langsam von seiner Jugend, sondern auch von seinem größten Jugendtraum verabschieden mußte: mit einer eigenen Popband riesig berühmt zu werden. Vor diesem ganzen Wahnsinn war Ben eigentlich ganz zufrieden mit sich und der Welt. Seit etwa zehn Jahren lebt er vom Musikmachen, was für sich genommen bereits ein kleines Wunder darstellt. Denn das Business ist beinhart. Aber dieses verdammte letzte Jahr lief einfach nicht so, wie es sollte, und nun sitzt er allein auf seinem Sofa aus den 70ern, und das einzige, was ihn tröstet, ist (und war eigentlich immer schon) Musik. Musik aus einem winzigen Fernseher – und an diesem Abend interessanterweise klassische Musik. Wenn man genau hinschaut, bemerkt man: Ben hat feuchte Augen, und zwar deshalb, weil sich in diesem Moment für ihn wieder einmal zeigt, daß es einen gemeinsamen Kern in jeder Musik zu geben scheint. Eine Essenz, für die es sich zu leben lohnt und die einen vergessen machen kann, was um einen herum so alles passiert. In solchen Momenten ist Ben glücklich und traurig zugleich. Melancholisch eben, und man darf ihn getrost einen der letzten Romantiker des angehenden 21. Jahrhunderts nennen.

Ein lästiger Gedanke zerstäubt den Nebel seiner musikinduzierten Trance. Ihm kommt die Party in den Sinn, auf die er heute abend noch eingeladen ist. Lustlos bindet er sich vom Sofa heruntergebuckelt seine Adidas Samba, um sich ausgehfertig zu machen, obwohl er vielmehr Lust hätte, sich daheim mal wieder ordentlich zuzulöten. Womöglich täte es mir mal wieder ganz gut, unter Leute zu kommen, denkt er, gerade an einem solchen Tag wie heute – Silvester.

Was erwartet man von einer guten Party? Ordentlich was zu trinken, ordentlich was zu essen und, wenn man ehrlich ist, ordentlich was zu ficken. Ben ist anspruchsvoll und erwartet darüber hinaus, daß Musik läuft, die ihm gefällt. Besonders an so einem bedeutungsschwangeren Tag wie heute. Prüfend schaut er in den Spiegel und stellt fest, daß sein brauner Pulli in Kombination mit der beigefarbenen Kordhose, die er anhat, für eine Party einfach zu hängermäßig rüberkommt. So geht das nicht. Er tauscht ihn gegen ein langärmeliges T-Shirt, über das er sein neues Lieblingshemd, ein dunkelblaues Ben-Sherman-Polo, zieht. Besser. Währenddessen denkt er darüber nach, ein Taxi zu bestellen, aber das erscheint ihm an Silvester erstens aussichtslos und zweitens feige: Wo kämen wir denn da hin, wenn man nach so viel Pech wie in der letzten Zeit auch noch davon ausginge, nach der Party in eine Polizeikontrolle zu geraten? Drauf geschissen. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Ben zieht seinen Parka über und fliegt die Treppe hinunter auf den Hof, wobei er mit seinen langen Beinen immer zwei Stufen auf einmal nimmt. Damit hat er schon als Kind seine Eltern wahnsinnig gemacht. Die Tür seines weißen VW-Busses knarzt beim Öffnen, als sei ihr kalt. Ben steigt ein und läßt den Motor vorglühen.

Auf der Severinsbrücke sieht er, wie ungeduldige Knallfrösche es mal wieder nicht erwarten konnten und schon mal vereinzelte Raketen in den nachtschwarzen Himmel feuern. Überraschend findet Ben einen legalen Parkplatz ganz in der Nähe von Andreas’ Wohnung – in Köln normalerweise ein Ding der Unmöglichkeit. Ben schifft erstmal an den nächstbesten Baum, denn er haßt es, irgendwo hinzukommen und erstmal aufs Klo zu verschwinden, bevor man sich richtig eingegroovt hat. Gastgeber Andreas ist Pianist und nach einigen gemeinsamen Projekten inzwischen ein guter Freund von Ben. Sein Tonstudio im Keller beherbergt eine respektable Sammlung antiker und kurioser „Schweineorgeln“. Gefeiert wird jedoch oben in der Wohnung, im zweiten Stock, wo er gemeinsam mit seiner Freundin Andrea wohnt. Die beiden sind schon ewig zusammen, und nach Bens Theorie liegt das nicht zuletzt an ihrer beider Namen, wodurch sie irgendwie schicksalhaft verkettet sind. Tatsächlich sind sie von allen Paaren, die Ben kennt, dasjenige, was am längsten zusammen ist.

Ben geht durch ein gepflegtes Jugendstiltreppenhaus dem stetig lauter werdenden Partylärm entgegen. Die Party läßt sich eigentlich ganz gut an. Französische Freunde von Andreas haben echten Champagner aus der Champagne mitgebracht. Wie so oft fragt sich Ben, warum er damals in der Schule so blöd sein konnte, Latein statt Französisch zu wählen. Er traf seine Entscheidung, als bekannt wurde, welche Mädchen in den Lateinkurs gehen wollten. Bens Vater, der von diesen niederen Beweggründen natürlich nichts wußte, hat es damals sehr gefreut, daß sein Sohn sich für Caesar entschieden hatte. Für ihn war Latein keine Sprache, sondern eine Haltung.

„Les Champagners, äh, tres bons, Mademoiselle!“

„Qui, qui ...“ Scheiß Latein. Ben wendet sich dem Essen zu. Old Frank hat sich nicht lumpen lassen und für dreißig Personen provenzalische Hähnchenschenkel gezaubert. Ben geniert sich etwas mit seinen mitgebrachten Chipstüten. Egal. Der Champagner tut seine Wirkung, Sprachbarrieren werden eingerissen, die Schenkel schmecken einen Hammer, und schon kommt Ben mit Birte ins Gespräch. Nach seiner Schätzung ist sie Mitte zwanzig, und ihm gefällt besonders an ihr, wie sie ihre langen, blonden Haare mit schmalen Fingern beiläufig aus ihrem Gesicht streicht, während sie mit ihm redet. Ihr hellblauer, irrsinnig flauschig aussehender Pulli, schmiegt sich äußerst ansprechend um ihre BH-losen Brüste. Sie ist, wie Ben gerade erfährt, erst unlängst aus Norddeutschland nach Köln gezogen.

„Köln ist wirklich die einzige echte Alternative zu Berlin“, schreit sie ihm ins Ohr, denn die Musik ist brüllend laut.

„Hamburg vielleicht noch“, sagt er, „aber da ist immer so schlechtes Wetter.“ Keine Frage, Birte kommt extrem geschmeidig rüber, und Ben legt sich für seine Verhältnisse richtig ins Zeug. Bislang war er immer mit Mädchen zusammen, die ihn angemacht oder aufgegabelt haben, und er würde von sich sagen, daß er eigentlich gar keine Ahnung hat, wie man Mädchen klarmacht. Aber in seiner heutigen apokalyptischen Alles-Egal-Stimmung macht er auf Birte einen umwerfend coolen Eindruck, und er merkt und genießt das. Er bekommt richtiggehend gute Laune, wenn da nicht dieser nervige Sound wäre.

„So eine Scheißmusik!“ sagt er zu Birte.

Sie fragt nur: „Welche Musik?“

„Na, was hier gerade so läuft.“

„Hab gar nicht zugehört.“

„Ich muß immer hinhören. Ich kann gar nicht anders.“

„Ist doch egal.“

„Mir nicht! Was hörst du denn gerne für ‘n Sound?“

Birte denkt einen Moment nach. Dabei schaut sie nach oben und preßt ihre Lippen zusammen, wobei auf ihren Wangen zwei bezaubernde Grübchen entstehen. „Ach, alles querbeet.“ Ben denkt bereits: Auweia, das sind mir die liebsten, da gibt sich Birte selbst den Gnadenstoß: „Im Moment hör ich ganz gerne dieBest of Modern Talking.“

Danke für dieses Gespräch. Das war’s. Schade, Birte machte bis dahin auf Ben einen ganz vielversprechenden Eindruck. Aber diese Ansage entzieht ihm schlagartig die Basis weiterer Kommunikation. Alle Mädchen, die er bis dahin näher kannte, hatten einen exquisiten Musikgeschmack. Steffi war die härteste Punkrock-Expertin unter der Sonne, und Tine, seine Exfreundin, hatte er auf einem Konzert seiner eigenen Band, denSERVOKINGS,kennengelernt. Es gibt also durchaus Frauen mit passablem Musikgeschmack auf der Welt, denkt er bei sich und murmelt in Birtes Richtung: „Ich kümmer mich jetzt mal um bessere Musik“.

Er läßt sie ratlos zurück und geht ins Wohnzimmer, wo er eine Zeitlang das Treiben auf der durch weggerückte Stühle entstandenen Tanzfläche beobachtet. Eine bunte Mischung verschiedener Spezies bewegt sich auf Socken zu Dr. Motte, denn man war angehalten, sich im Flur die Schuhe auszuziehen. Hemdsärmelige Normalos, die sich ärgern, daß es damals in der Tanzschule noch kein Techno gab, Kinder alleinerziehender Mütter, Kölschrocker und vereinzelt alternativ gewandete Ausdruckstänzer (kaum zu glauben, es gibt sie immer noch!). Ben lehnt im Türrahmen und sieht sich nach dem DJ, respektive den Plattentellern um. Fehlanzeige. Quelle der geschmacklosen Musik ist ein stark nach BWL-Student aussehender junger Mann, der feist auf einem Ledersessel sitzt und mit einem Laptop auf dem Schoß gnadenlos die Top 40 der letzten Jahre raufund runternudelt.

Stilloser kann die Welt nicht untergehen, läßt es Ben erschaudern, und er verläßt, einem plötzlichen Impuls folgend, die Party. Im Hausflur sucht er den Sicherungskasten. Mit Umlegen eines einzigen Schalters gehen alle Lichter aus, und das morbide Treiben findet ein jähes Ende. Die gräßliche Musik verstummt, und man hört teils heiter überraschte, teils panische Schreie aus der stockfinsteren Wohnung. Ben muß unwillkürlich an die letzten Minuten der Titanic denken. Irgendwie ist er ein bißchen stolz auf sich und nimmt sich für das anbrechende Jahr nur eines vor:

In Sachen Musik wird er in Zukunft keine Kompromisse mehr machen!

(Ich frage mich): „Wann endlich wirst du eine Idee haben,

die auch anderen Menschen einleuchtet?“

aus Wilhelm Genazino: Ein Regenschirm für diesen Tag

Dieser Winter ist definitiv eine Krankheit. Es ist einfach nicht kalt genug.

OK, daß weiße Weihnacht ein Märchen ist, das man nur noch aus Kinderbüchern kennt, daran hat man sich inzwischen gewöhnt. Aber so ein pißwarmes Neujahr wie dieses Mal geht einfach nicht. Man ist versucht zu glauben, daß an den pessimistischen Prognosen paranoider Wetterfrösche tatsächlich etwas dran sei. Und wenn es dann doch mal schneit, verwandelt sich Köln binnen einer Viertelstunde in eine apokalyptische Wüste aus braunem Schneematsch.

Heute morgen ist weit und breit kein Schnee in Sicht, trotzdem friert sich Ben kaputt. In seinem Loft zieht es wie Hechtsuppe, und seine Ex hatte mal wieder recht, als sie sagte: „Im Winter ist hier, genau hier der kälteste Punkt südlich des Nordpols!“ wobei sie mit ihrem Finger auf den grauen Industrieboden seiner Wohnung zeigte. In eine dicke Strickjacke gehüllt, hat Ben gerade auf seinem Sofa seine Lieblingshaltung eingenommen: mit angewinkelten Beinen, auf dem Rücken liegend, quer zur Fahrtrichtung, hört er seine Lieblingsplatte (Joni Mitchell:Hejira) und denkt an den vergangenen Abend. Die Party war eigentlich nicht verkehrt, aber die Musik ging gar nicht. So etwas kann man nicht ungestraft lassen. Ich hatte einfach keine andere Wahl, denkt Ben, ich habe nun mal Ideale. Für ihn war es immer schon das Wichtigste, mit seiner Musik ein Statement abzugeben, der Welt seine Sicht der Dinge zu präsentieren, sie womöglich zu verbessern. Aber mal ehrlich, fragt er sich: Will die Welt meine Sicht der Dinge überhaupt hören? Gab es nicht unzählige Konzerte derSERVOKINGS,wo wir nur um die zwanzig zahlende Zuschauer hatten?

Und wenn schon, gibt er sich selbst die Antwort, immerhin habe ich mit diesen zwanzig Menschen etwas geteilt, als ich ihnen meine Songs vortrug.

Sein Gespräch mit Birte kommt ihm in den Sinn. Wollte sie seine Ansicht über Musik überhaupt hören? Wahrscheinlich ist anderen Menschen Musik einfach nicht so wichtig wie mir, resümiert er. Das war gestern sicher eine Art Übersprungshandlung. Ich habe keine Band, kein Sprachrohr mehr, und jetzt fange ich an, andere Menschen zu missionieren. Es wird Zeit, daß ich mich um etwas Neues kümmere.

Ben fragt sich, warum die drei SERVOS letztes Jahr nach immerhin sieben gemeinsamen Jahren getrennte Wege gegangen sind. Obwohl sehr unterschiedlich, waren sie stets ein super Team. Matze, der Gitarrist, war Schreiner, bevor er anfing, professionell Musik zu machen, was ihm eine gewisse Bodenhaftung verleiht. Er ist nicht so ein verdammter Hirnpuper wie Ben und denkt beim Musikmachen auch schon mal an das potentielle Publikum, an „Norman, den Normalverbraucher“, was an sich nicht verkehrt ist, aber in der Band immer zu endlosen Diskussionen über das Thema Kommerzialität führte. Das ist das Schlimme und Schreckliche an echten Bands: Sie sind die letzte Bastion wahrer Demokratie und dadurch hoffnungslos anachronistisch. Greg und Ben nannten Matze, wenn er nicht dabei war, immer zärtlich „das Äffchen“, denn seine Arme sind ein Stückchen zu lang, und er hat einen etwas zu großen, kahlgeschorenen Kopf. Außerdem kann er herrlich cholerisch ausrasten, wenn mal etwas nicht in seinem Sinne läuft. Immer schon diffizil war das Thema Style. Matze und Ben haben da ein komplett konträres Empfinden. Matze ist es einfach völlig egal, was er anhat. Einmal hat er es eiskalt fertiggebracht, einen orangefarbigen No-Name-Jeans-Short zu einem gelben T-Shirt anzuziehen. Und das auf der Bühne. Als Ben versucht hat, vorsichtig etwas dazu zu sagen, hat Matze ihn direkt als „Geschmacks-Nazi“ beschimpft. Solche Situationen wären mit Sicherheit öfter eskaliert, wenn Greg nicht dabeigewesen wäre. Der strohblonde Schlagzeuger war das Wasser zwischen den Brennstäben, das moderierende Element. Seine ruhige Art wirkte oftmals Wunder auf die beiden Kindsköpfe. Seit der Auflösung der Band ist er Bens bester Freund. Wenn es nach ihm ginge, hätten dieSERVOKINGSbis in alle Ewigkeit weitergemacht. Er liebte es, auf Tour zu gehen, und bei ihren gemeinsamen Fahrten in Bens VW-Bus waren seine gute Laune und positive Energie unbezahlbar. Seine Freude darüber, wenn es wieder losging, war ansteckend. Vor zwei Jahren blickte die Band plötzlich durch Matzes Augen dem wahren Leben mitten ins Gesicht: Matze heiratete seine Freundin Maria, und sie bekamen postwendend ein Kind. Plötzlich reichte es nicht mehr, ausschließlich bei denSERVOKINGSzu spielen. So ein Kind will auch ernährt werden. Statt neuer Songs mußte Matze erstmal lernen, seinen kleinen Hosenscheißer zu wickeln. Außerdem brauchte er plötzlich deutlich mehr Kohle. Zum Beispiel für Babynahrung aus dem Bioladen, die man ja bekanntermaßen nicht gerade geschenkt bekommt. Ben fand, Matze sei irgendwie „echt geschäftsmäßig“ draufgekommen. Kurz und gut, nach zwei veröffentlichten CDs und ein paar hundert Konzerten war die Luft einfach raus. Die Band lag platt am Boden wie eine geplatzte Pausenbrottüte.

Heinz lenkt seinen günstig geleasten 911er über die seltsam leere A1. Irgendwie wirkt er darin wie ein Fremdkörper, als sei er von Aliens in einem Raumschiff entführt worden. So ein nagelneuer, nachtschwarzer Porsche Targa ist einfach eine Nummer zu groß für ihn, was sich keineswegs auf sein Körpervolumen bezieht, denn Heinz’ fetter Arsch läßt sich nur unter Schmerzen in den sportlichen Schalensitz klemmen. So ne Rakete kann einfach nicht jeder fahren, jedenfalls keiner, der nicht ordentlich mit der Schaltung umgehen kann. Vor einer Baustelle schaltet Heinz viel zu früh runter in den dritten Gang, so daß der Motor ungesund aufheult, was selbst die brüllend laute Musik aus dem Radio übertönt. Eine norddeutsche Countryband besingt gerade das Leben in der Prärie, die man neben dem Seitenstreifen der Autobahn vergeblich sucht. Ja, Heinz und sein ewiges Zufrühkommen. Selbst seine eigene Geburt konnte er nicht abwarten undkam zu früh.Als er gerade in den verengten Fahrstreifen der Baustelle einfährt, wird er von einem Renault Twingo rechts überholt. Er schaut rüber und sieht einen platinblonden Zahn am Steuer. „S-C-H-L-A-M-P-E“, schreit er mit sich überschlagender Stimme, bis sein Gesicht die Farbe eines Produktes einer Firma angenommen hat, die denselben Namen trägt wie er. Mensch Heinz, sollte er sich endlich einmal eingestehen, so eine Frau ist mindestens zwei Nummern zu groß für dich. Aus den Dr. Boom Aktivboxen dringt weiterhin süße Countrymusik. Die Cowboys von der Waterkant heben gerade an zum Refrain, irgend etwas mitLove is everywhere ...

So geht es einfach nicht mehr weiter. Ich werde mich in der nächsten Zeit mal gezielt nach einem neuen Gitarristen umsehen, beschließt Ben. Aber woher nehmen, wenn nicht stehlen?

Ein Blick in dieStadtrevuekann nicht schaden. Was wird denn heute gegeben? Oh no, der ewige Wolf Maahn im Primeclub. Der ist nicht kaputtzukriegen. Der hätte nachRosen im Asphalteinfach aufhören sollen, denkt Ben. Damals war er, allein wegen der Tatsache, daß er auf Deutsch sang, ganz weit vorne. Tja damals, vor zwanzig Jahren. Aber danach? Schwamm drüber. Ben sucht ja eh nach neuen, unverbrauchten Talenten. Die findet er vielleicht eher im Underground – Kölns Gitarrenrock-Bude. Da spielen heute die Silverfucker: Emocore aus Spanien. Nicht schlecht, geiles Photo. Wie haben die das wohl hingekriegt? fragt sich Ben. Das Trio schwebt schwerelos mit seinen Instrumenten in der Luft. Unter ihnen eine gigantische Müllkippe aus Elektronikschrott. Ach nee, das ist auch kontraproduktiv, denn angenommen, Ben sieht dort heute abend seinen Mann an der Gitarre, ist dieser am nächsten Tag schon wieder über alle Berge. Die Live Music Hall kommt auch nicht wirklich in Frage. Bands, die dort spielen, sind einfach schon zu fett.

Was ist das? Get her spielen im Naturfreundehaus Kalk. Ben wundert sich: Kann man da spielen? Sofort geht in seinem Kopf die Datenbank fürs Booking auf. Das ist ein Reflex, denn jahrelang hat er die Konzerte für dieSERVOKINGSselbst gebucht, und ein neuer Spielort in Köln will sofort abgespeichert werden. Aber der Computer fährt sofort wieder runter, als er liest: „... spielen Acoustic Blues.“

Das ist nichts für Ben. Immer dieselben verdammten zwölf Takte. Langweilig. Aber irgend etwas Interessantes muß es doch heute abend geben. Guck, das klingt doch super: Um 21 Uhr spielen die Crazy Lolitas im MTC. Der Autor der Ankündigung kriegt sich gar nicht mehr ein und spricht von Kölns neuer Indie-Hoffnung: „Hamburger Schule trifft auf Industrial.“ Warum eigentlich nicht? denkt Ben, schlägt das Heft zu und geht duschen.

Das MTC ist ein ranziger Kellerladen mitten im Kwartier Latäng, dem Studentenviertel Kölns. Ben fährt mit der U-Bahn zum Zülpicher Platz und legt erstmal einen Zwischenstop beim Eurogrill 2000 ein. Hier gibt es die besten Pommes der Stadt, und vor allem nimmt man sich hier noch die Zeit, die Dinger richtig durchzubraten. Ben bestellt wie immer „einmal Spezial bitte“, den Klassiker vom Eurogrill: Pommes rotweiß mit rohen Zwiebeln obendrauf. Ab und zu braucht er das zum Glücklichsein. Sein Kumpel Tom kann gar nicht mehr ohne. Er ist pommesabhängig, und sein Körper schreit mindestens einmal am Tag nach einer adäquaten Dosis Hüftgold. Erstaunlicherweise ist Tom keineswegs dick, ganz im Gegenteil. Vielleicht ist er ja gleich auch im MTC, denkt Ben und stellt sich mit seinen Fritten an einen der leeren Tische. Die klebrige Tischdecke flüstert: Besser nicht aufstützen!

Ben ist guter Dinge und ventiliert in einem Anflug von Anfang-des-Jahres-Euphorie seine Absicht, heute abend den Gitarristen seiner neuen, noch zu gründenden Band zu finden. Zunächst versucht er sich darüber klarzuwerden, wonach er eigentlich Ausschau hält. Schließlich ist das gemeinsame Spielen in einer Band so etwas ähnliches, wie verheiratet zu sein. Dementsprechend muß der Kandidat extrem hohen Anforderungen genügen. Vor Bens Augen entsteht eine Checkliste. Unter der Überschrift „Der ideale Gitarrist muß ...“ stehen fett gedruckt folgende Punkte:

1. cool aussehen

2. super spielen können

3. abrocken wie eine Drecksau und ganz wichtig

4. die Gitarre auf Sackhöhe hängen haben und natürlich

5. dabei auch noch tierisch nett sein.

Zwei dieser Anforderungen, nämlich 2. und 4., widersprechen sich diametral: Wenn man nämlich alles spielen kann, hat man irgendwann mal in seinem Leben richtig geübt. Und wenn man übt, fällt einem auf, daß es viel schwieriger ist, Gitarre zu spielen, wenn sie einem auf den Knien hängt. Und genau in diesem Dilemma befindet sich Ben, seit er Musik macht. Schon immer fragt er sich: Wie kann es sein, daß es nur zwei Arten von Musikern zu geben scheint: Die, die üben und zu musikalischen Klugscheißern werden, oder diejenigen, die ihr Instrument nicht einmal richtig stimmen können, aber coolen Sound machen? Gibt es – verdammt noch mal – nicht irgend etwas dazwischen? Ben unternimmt an diesem Abend den Versuch der Quadratur des Kreises. Er sucht einen insgeheim versierten, potentiellen Indie-Rockstar, mit dem er seine musikalische Vision teilen kann. Entschlossen wischt er sich den Ketchup aus den Mundwinkeln und läuft die Zülpicher runter. Am Eingang des MTC macht er etwas, was er schon lange nicht mehr bei einem Konzert gemacht hat. Normalerweise wird er alle naselang eingeladen und auf die Gästeliste geschrieben. Von der Band, die spielt oder von ihrem Manager, ihrem Busfahrer, ihrem Lichttechniker oder Mischer. Oder von der Plattenfirma, die ein bestimmtes Kontingent an Karten kaufen muß, damit ihre Band in einem Laden spielen kann und die sie dann an die anderen Musiker ihres Labels verschenkt. Letztes Jahr zum Beispiel war Ben eingeladen auf das Paul-McCartney-Konzert in der Kölnarena, und zwar nur deswegen, weil er am selben Nachmittag zufällig auf seinem Fahrrad an Ulli vorbeifuhr, den er flüchtig kannte. Ulli hatte den stumpfen, aber zum Glück saugut bezahlten Job, vor der Kölnarena eine Traverse aufzubauen, an der bewegliche Lampen befestigt wurden, die den Zugang der Arena mit kleinen, sich bewegenden ARD-Logos illuminierten. Diese Aktion, mit umstrittenem Werbeeffekt, ließ sich der Sender eine schöne Stange Geld kosten. Irgendwo müssen die ganzen GEZ-Gebühren ja schließlich hin. Neben seinem Lohn bekam Ulli noch ein paar Freikarten, mit denen er zunächst gar nichts anzufangen wußte, denn er selbst hatte gar keinen Bock, Sir Paul musizieren zu sehen. Das verschaffte Ben einen 120 Euro teuren Platz in der 15. Reihe, den er sich selber nie hätte leisten können. Er war begeistert. Auch wenn Paul McCartney nicht die Beatles sind, war Ben an jenem Abend überglücklich, die wahrscheinlich letzte Gelegenheit wahrgenommen zu haben, wenigstens ein Viertel der unbestritten größten Band des letzten Jahrhunderts live auf der Bühne zu erleben. Heute abend jedoch steht er vor dem MTC, kennt keinen der Band Crazy Lolitas undbezahlt.

„Oh Mann, Fingernägel brechen immer dann ab, wenn man es gerade überhaupt nicht gebrauchen kann.“

Seit geraumer Zeit schon tut sich nichts mehr vor ihr am Lufthansa Check-in-Schalter. Abwesend nimmt sie die gerade erworbene Destiny’s-Child-CD aus der Tasche und versucht, das Preisschildchen abzuknibbeln. Klick, da knickt ihr weißlackierter, falscher Fingernagel einfach ab und schießt davon. Er titscht auf den Betonboden und kommt unpraktischerweise direkt unter dem Gepäckband neben dem Schalter zu liegen, so daß sie ihn nicht einmal aufheben und mitnehmen kann, um ihn später wieder anzukleben. Ärgerlich betrachtet sie den wieder zum Vorschein gekommenen echten Fingernagel, den sie unverzüglich in den Mund steckt und abkaut, als wolle sie ihn bestrafen.