Musik ist King - Martell Beigang - E-Book

Musik ist King E-Book

Martell Beigang

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Beschreibung

Musik ist King“ feiert die unglaubliche Kraft der Musik. In seinem vierten Buch beschreibt Martell wie sie ihn hat einmal um die Welt reisen lassen, von Australien nach Kasachstan und wie sie ihn auf die Main-Stage von Rock am Ring oder auf die Hochzeit von Pink gebeamed hat. Ein Kraft-Buch für alle die Musik lieben und die an ihrem Traum festhalten, egal was kommt. Dazu gibt es eine Playlist mit Songs aus über 100 Alben an denen er mitgewirkt hat und Musik, die ihm besonders am Herzen liegt.

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Audio-Biografie

MUSIK IST KING

Martell Beigang

Erste Auflage 2021

© 2021 Dabbelju Verlag, Köln

ISBN: 978-3-939666-55-4

Die Playlist zum Buch gibt es unter

www.martellbeigang.de

Titelfoto: Antoine Julien

Autorenfoto: Sebastian Meyer

Gestaltung: Steff Adams

Lektorat: Renée Repotente

Lizenzgeber: Martell Beigang

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

„Im Laufe eines Lebens kommt es manchmal zu jenen seltenen, überraschenden Augenblicken, wenn eine Situation den Bereich des Erwartbaren so weit überschreitet, dass die Anwesenden die Zeugenschaft ihrer Sinne in Zweifel ziehen müssen.“

Tristan Egolf

„Wenn es gut klingt, ist es gut.“

Duke Ellington

Intro

Seit dreißig Jahren lebe ich davon, genau das zu machen, was ich liebe: Musik. Sie war meine erste große Liebe und ist es bis heute. Ich bin noch genauso verliebt wie am ersten Tag. Mademoiselle Musique blieb mir bis heute treu und sorgt bei mir immer noch für dieses besondere Kribbeln im Bauch.

Freunde, die etwas über die Schattenseite meiner Kindheit wissen, sind immer wieder überrascht, wie ausgeglichen ich auf sie wirke. Und das liegt mit ziemlicher Sicherheit an der heilenden Wirkung von Musik.

Immer schon war sie mein Kompass, Motor und Anker.

Musik war da, als meine Eltern zu früh starben und meine erste große Liebe mich verließ.

Sie brachte mich auf Spur, als ich meinen Weg verloren hatte, war meine Religion und gab mir immer eine Perspektive. Der Unordnung in meinem Kopf und der Welt um mich herum gab sie Struktur.

Sie ließ mich einmal um die halbe Welt reisen und ernährt mich seit mehreren Jahrzehnten.

Noch heute wiegt sie mich in den Schlaf und gibt mir jeden Morgen einen Grund, aufzustehen. Sie macht mir immer noch kindliche Freude und zeigt mir jeden Tag, dass ich bis zum Lebensende dazulernen werde. Musik wird mir niemals langweilig und ich entdecke dauernd Neues in ihr.

Manche dieser ganz wunderbaren Musik, die ich in all den Jahren machen durfte, haben einige von Euch zu Hause. Sie führte mich an Orte, von denen Ihr schon viel gehört habt, und brachte mich mit Menschen zusammen, die Ihr alle kennt.

Musik ließ mir Flügel wachsen. Und eben dieses Wunder möchte ich mit Euch teilen. Darum habe ich meine Audio-Biografie geschrieben, eine Sammlung musikalischer Trittsteine im Strom meines Lebens.

Musik lässt sich nur schwer in Worte fassen, deswegen gibt es zu meinem Text die passenden Tracks.

Darunter werdet Ihr Hits finden und völlig unbekannte Songs, die wie ein Hit klingen, von Bands, von denen Ihr noch nie etwas gehört habt und Ihr werdet Euch wundern, über Musik, die irgendwie interessant klingt und dabei völlig anders als der Einheitsbrei, der täglich aus dem Formatradio quillt.

Die Tracks zum Text könnt Ihr beim Lesen oder einfach zwischendurch hören. Den ganzen Rest erzählt Euch dieses Buch.

„Der Spatz, der Spatz, der Sperling, der Sperling…“

Mein Vater trommelte auf einem umgedrehten Wäschekorb aus Plastik einen Marsch, deklamierte dazu diverse Vogelnamen und versuchte auf diese Weise vergeblich meinen drei größeren Brüdern und mir die Faszination klassischer Trommelkunst näherzubringen. Die ganze Szene wirkte ziemlich bizarr auf mich, aber ich bewunderte, wie geschickt er mit den Stöcken umging.

Mit dem ewigen „Bumm-Zack“, das damals täglich aus unserem Keller hoch in sein Arbeitszimmer drang, konnte er nicht viel anfangen.

Meine Eltern kamen mir zu Lebzeiten immer schon unglaublich alt vor, so als stammten sie aus einer anderen Epoche.

Mein Vater wurde im letzten Kriegsjahr noch direkt von der Schulbank aus an die Front geschickt. Glücklicherweise trat er kurz danach auf eine Mine, sodass er das Kriegsende im Lazarett er- und überlebte. Als ich geboren wurde, war er 44 Jahre alt. Meine Mutter gebar mich mit 41. Damit wäre sie in einer Stillgruppe im Belgischen Viertel in Köln, wo ich jetzt wohne, nicht mal die Älteste.

Mein Vater stand auf klassische Musik. Er dirigierte im Wohnzimmer ein imaginäres Orchester, stellte sich genau vor, wo die einzelnen Musiker saßen, und gab ihnen ihre Einsätze.

Die Moldau – Bedřich Smetana

Unser Wohnzimmer war heilig. Man durfte es als Kind nur zu Weihnachten betreten. Das Leben spielte sich in unserer Wohnküche ab. In dieser herrschte, wenn es nach meinem Vater ging, eiserne Disziplin. Er war ein pazifistischer Preuße und sein Idol war Friedrich der Große. In seinen Augen das Role Model des guten Königs, ein Herrscher, der zwar mit harter Hand regierte, aber in seiner Freizeit gerne Querflöte spielte und Deutschland die Kartoffel schenkte.

Mein Vater war ein wandelndes Lexikon und referierte beim Essen, das er gerne hinter der Anrichte der Wohnküche stehend einnahm. Beim Rasieren hörte er immer die Klassik-Sendungen des Deutschlandfunks.

Oft hockte ich mich einfach dazu, lauschte den Klängen des alten Mittelwellenempfängers und dem Geräusch, das entstand, wenn er den Nassrasierer am Waschbecken ausklopfte. Den frischen, aber männlich-herben Geruch der Rasierseife habe ich bis heute in der Nase. Meine Brüder konnte er für Klassik nie so richtig begeistern. Sie spielten im Keller Jimi Hendrix Songs.

Hey Joe – Jimi Hendrix

Zum Glück wohnten wir in einem frei stehenden Haus. Es stand im Wendekreis einer Sackgasse in einem gehobenen Viertel Ratingens, einer Mittelstadt im Speckgürtel von Düsseldorf.

Direkt hinter unserem Garten begann der Wald. Auf einer Seite grenzte die Gartenmauer an eine große Wiese. Auf dieser fand einmal im Jahr eine zweiwöchige Kirmes statt. Dort gab es Autoscooter, die Raupe, ein Karussell, das zum Ende jeder Fahrt ein Verdeck über die Fahrgäste spannte, unter dem Teenager ihre ersten Küsse tauschten. Es gab Showboxen, Zuckerwatte und Blinkerspiele. Für mich als Kind war die Kirmes ein Fenster in eine fremde und spannende Welt. In den Kirmeswochen konnte ich erst spät einschlafen, weil unzählige Lieder durcheinander spielten und die Betrunkenen über den Platz grölten. Trotz der heruntergezogen Rollläden, (übrigens, ein schönes Beispiel für ein Wort mit drei lll) drang ein Heidenlärm in mein Zimmer.

Can the Can – Suzie Quatro

Unsere Gartenmauer trennte den gehobenen Mittelstand von der rauen Welt der Kirmesschaukel-Bremser und der blondierten Kassendamen: „Kommen Sie, Kommen Sie, jetzt geht es noch mal so richtig los… und rückwärts…“ Dieses Wilde und Freie fand ich auch in der Musik wieder, die meine Brüder im Keller machten.

Mein ältester Bruder Torsten spielte Schlagzeug, Wietn E-Bass und René E-Gitarre. Mir gefiel jedes Instrument, aber irgendwie zog mich das Drumset magisch an. Ich lag meistens auf dem Boden, ganz in der Nähe der Bassdrum. Ein Wunder, dass ich damals nicht taub wurde. In den Probepausen setzte ich mich manchmal ans Set. Dabei stellte sich heraus, dass ich ein ziemlich gutes Rhythmusgefühl hatte. Meine Brüder waren richtig ambitioniert. Als Torsten einmal im Urlaub nach Portugal trampte, fand er dort schnell Anschluss an eine Profiband. Er holte Wietn dazu und sie tourten den Sommer lang durchs Land. Mein mir nächster Bruder, René, musste zu Hause bleiben, denn er war noch zu jung.

In der Zeit übte ich viel für mich allein und wurde schnell besser. In Ratingen gab es ein weit über die Stadtgrenzen hinaus bekanntes Musikgeschäft mit Namen Spiecker und Pulch. Dort gab es nicht, wie sonst üblich, Xylofone, Klaviere, Blockflöten oder Posaunen zu kaufen, sondern nur cooles Rock-Equipment. Damit war der Laden damals ziemlich weit vorne.

Man ging dorthin, um den Geruch neuer Instrumente zu riechen und um andere Musiker zu treffen. Es war immer ein Heidenlärm im Laden, denn niemanden schien es zu stören, wenn man ein Instrument in voller Gefechtslautstärke ausprobierte.

“The House of the rising sun”, “Smoke on the water” und “Stairway to heaven” verschmolzen zu einer unglaublichen Kakophonie.

Smoke on the water – Deep Purple

Mit 10 Jahren konnte ich schon ganz ordentlich trommeln und meine Brüder präsentierten mich den anderen Kunden im Musikgeschäft wie ein Zirkusäffchen. Zurück im Probenkeller musste ich das Schlagzeug allerdings wieder meinem großen Bruder überlassen.

Mein Vater war durch eine Strukturkrise in der Papierindustrie überraschend arbeitslos geworden. Mit dem Gehalt eines technischen Direktors der Papiermühle konnte er seiner Familie noch kurz zuvor ein luxuriöses Leben bieten. Wir hatten einen Gärtner und einen Chauffeur. Doch über Nacht waren wir verarmt. In dieser Zeit sah ich ihn das einzige Mal unrasiert.

Meine Mutter entwickelte durch den sozialen Abstieg eine Angststörung und ertränkte ihre Symptome in süßem ungarischen Rotwein. Sie legte sich ins Bett mit den Worten: „Ich bin froh, wenn ich´s Leben hab' und ließ sich fortan gehen. Später meinte mein Bruder René einmal zu mir: „Das Konzept der Mutter war eigentlich völlig einleuchtend. Ich leg mich auch gerne mal ins Bett, trinke Wein und rauch mir eine.“

Mein Vater suchte und fand neue Arbeit, aber war fortan als Ingenieur oft wochenlang nicht zu Hause. Und meine Brüder legten unterdessen unseren Keller in Schutt und Asche.

Auf dem Gymnasium hatte ich einen bemerkenswerten Musiklehrer. Herr Simon war eine inspirierende Persönlichkeit, zwar Alkoholiker, aber meistens gut eingepegelt.

Er konnte uns für Klassik und Jazz gleichermaßen begeistern. Sein Unterricht bestand hauptsächlich daraus, uns Vinyl-Platten vorzuspielen. Aber eben die richtigen. Für mich waren das Erweckungserlebnisse. Manchmal saß er einfach vorne am Lehrerpult und schnippte lässig mit dem Finger zu einer Aufnahme des Oscar Peterson Jazztrios.

Love for sale – Oscar Peterson Trio

Oder er legte uns Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“ auf und dirigierte wild in der Luft, bis die über seine Glatze gelegten eingeölten Haare seitlich vom Kopf standen. Dann geriet er ins Schwärmen und spielte direkt im Anschluss eine Progrock Version des Werkes von Emerson, Lake & Palmer. Das flashte mich damals total, denn es führte die Welt meines Vaters mit der meiner Brüder zusammen.

The hut of the Baba Yaga – Emerson, Lake & Palmer

Diese waren inzwischen auf dem Jazzrocktrip, hörten Miles Davis und das Mahavishnu Orchestra. Irgendwie vollzog ich ihre Entwicklungen immer etwas zeitversetzt nach. Und so übte ich mit 11 Jahren ungerade Rhythmen am Schlagzeug.

You know, you know – Mahavishnu Orchestra

Da meine Mutter immer weniger auf die Reihe kriegte und mein Vater oft nicht da war, waren meine Brüder meine Erziehungspersonen. Sie mussten dauernd auf mich aufpassen. Ihr Motto hieß damals spöttisch wie liebevoll “Your Brother is your Mother”. Als mein Bruder René Fußball spielte, war ich noch zu klein, um ernsthaft mitzuspielen, darum stellte er mich hinter das Tor als „Hintertorwart“ und wenn der richtige Torwart den Ball durchließ, musste ich ihn stoppen. Das war pädagogisch eine brillante Idee, denn ich war beschäftigt und, so dachte ich, hätte eine besonders wichtige Aufgabe. So war ich später auch nicht überrascht, als mein Bruder Lehrer wurde.

Mit meinem ältesten Bruder Torsten verbrachte ich viel Zeit im Garten. Mein Opa wohnte neben uns in seinem eigenen Haus. Neben diesem stand noch ein kleines Häuschen, das er sein Atelier nannte. Darin malte er mit Ölfarben leuchtend bunte Bilder, während er Zigarre rauchte. Der Geruch, eine Mischung aus Terpentin und Tabak, war lange das Gemütlichste, was ich mir vorstellen konnte. In Opas Wohnzimmer stand eine riesige Hammond Orgel, auf der er an besonderen Festtagen brillierte. Später vererbte er sie mir und ich komponierte meine ersten Songs darauf. Opas Garten war doppelt so groß wie unser. Irgendwann wurde ihm das zu anstrengend und so ließ er den hölzernen Gartenzaun umsetzen. Plötzlich hatten wir eine zweite Wiese, einen Rosengarten und ein Stück Wald dazu. Der Rosengarten verwilderte mit der Zeit, weil meine kranke Mutter sich um nichts mehr kümmern konnte, aber mit Torsten zusammen pflanzte ich dort Gemüse. Wir nannten das von uns bearbeitete Gebiet „Zauberwald“ und darin zu arbeiten, gehört zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen. Später als Jugendlicher trug ich ein Tablett mit Tee dorthin, setze mich auf die hölzerne Gartenbank, rauchte eine Maiskolben Pfeife und fühlte mich wie Jack Kerouac, der Tramp.

Mit meinem Bruder Wietn verband mich immer schon die Musik auf besondere Weise. Er war in jungen Jahren schon unglaublich gut am Bass und spielte mit wahnsinnig tollen Musikern. Bewundernd schaute ich zu ihm auf. Mit zwölf Jahren sagte ich meinen Eltern, dass ich von Beruf Musiker werden wollte. Mein Vater fand, das sei keine besonders gute Idee. Musik könnte man auch als Hobby machen, aber als Beruf? Undenkbar.

Mein Wunsch zu widersprechen war geweckt.

Ein Freund meines Bruders Wietn, Frank Sanden, genannt Samba, hörte mich damals im Musikgeschäft trommeln und bat meine Eltern, mich unterrichten zu dürfen. Rückblickend muss ich sagen, dass das eine große Tat war. Er wurde mein Mentor und dafür werde ich ihm zeit meines Lebens dankbar sein.

Mit 13 Jahren debütierte ich im Haus unserer Nachbarn mit der Käsekuchen Sunband. Familie Ring hatte ein unglaublich cooles Architektenhaus, einen Bungalow mit mannshohen Schiebefenstern, die sich zu einem Atrium hin öffneten, in dem japanisches Schilfgras wuchs. Eines Tages, als die Eltern von Mattes verreist waren, luden wir die halbe Jahrgangsstufe ein, um im Wohnzimmer den Putz von der Decke zu spielen.

Wir hatten eigene Jazzrock Tunes komponiert. Unser erster Stück hieß „Aufstehen“, gefolgt von „Hackfleisch mit Erdbeeren“. Das Riff habe ich bis heute noch im Ohr.

Als ich vierzehn wurde, übergab mein ältester Bruder Torsten mir symbolisch seine Stöcke. Wir standen in unserer Wohnküche und er meinte feierlich, ich könne jetzt besser spielen als er und ich durfte in die Brüderband einsteigen.

Fortan war ich Mitglied der „Freunde der bemannten Raumfahrt“. Legendär war unser Konzert im Club Heiligenhaus.

Zu Beginn wurde ich in einem Pappkarton, den ich eigenhändig mit roter Farbe bemalt hatte, auf die Bühne getragen, kletterte zu spaciger Musik heraus, bewegte mich dann eckig wie ein Roboter und wurde als “The Machine” vorgestellt.

Die Musik, die wir damals spielten, war höllenkompliziert.

1980 war mein Weltbild in Sachen Musik ziemlich schwarz-weiß. Es gab die gute, wahre und einzig richtige Musik. Musik, wie sie meine großen Brüder hörten. Hauptsächlich instrumental, anspruchsvoll, elitär und es gab die minderwertige, simple und populäre Musik, wie sie „normale Menschen“ hörten: Songs wie Y.M.C.A. oder Sun of Jamaika.

Y.M.C.A. – Village people

Manchmal träumte ich davon, als Botschafter „guter“ Musik dazu beizutragen, die so verschiedenen Welten zu versöhnen. Aber das schien auch damals schon unmöglich. Als wir mal eine Karnevalsparty in der achten Klasse feierten und jeder Kassetten mit seiner Lieblingsmusik mitbringen sollte, brachten meine Klassenkameraden so etwas wie “Grease” oder Hits der Bay City Rollers mit. Während ich eine Kassette mit Stanley Clark dabei hatte.

School days – Stanley Clark

Ein Instrumentalstück bei der ein E-Bass die Melodie spielte. Nerdiger gings nimmer. Für mich war das in dieser Zeit das Größte und ich wollte meine Musik einfach mal teilen mit meinen Schulkameraden. Aber schon nach fünfzehn Sekunden flog die Kassette nicht nur aus dem Rekorder, sondern gleich aus dem Fenster. Eine Welt brach für mich zusammen. Es war unglaublich peinlich und ich wusste, dass mein musikalischer Weg ein steiniger werden würde. Ich zog mich in meinen Keller zurück und begann zu üben. Irgendwann würde ich es der Welt schon zeigen, dass ich richtig lag.

Dummerweise hörten die Mädchen, für die ich mich interessierte, auch diese komische „normale“ Musik. Und wegen Eva wäre ich auch beinahe schwach geworden. Wir saßen bei ihr zu Hause, tranken Tee und aßen Spekulatius. Eva war so blond wie Agnetha und in meinen Augen war sie noch schöner. Gemeinsam hörten wir “Thank you for he music” von Abba und irgendwie wollte ich die tolle Stimmung des Augenblicks auch nicht kaputtmachen und ihr irgendetwas von Laid back Grooves oder Odd Rhythm erzählen. ABBA war super und in diesem Moment auch genau richtig, aber ich fühlte mich dabei wie ein Verräter.

Thank you for the music – ABBA

Irgendwie hatte ich damals das fatale Gefühl, mich zwischen Verschiedenem entscheiden zu müssen. Und es zerriss mich fast. Heute weiß ich, dass ich die musikalische Vielfalt, mit der ich aufwuchs, einfach nur hätte genießen können.

Langsam wurde ich älter, war schon richtig gut am Schlagzeug und meine Hormone vernebelten mir die Sinne. Meine Mutter trank schon tagsüber. Im Suff stürzte sie mehrmals und zog sich üble Brüche zu. Einmal schlief sie rauchend im Bett ein und trug schwere Verbrennungen davon. Irgendwann verließ sie das Bett dann gar nicht mehr. Es war schon alles ziemlich morbide bei uns im Haus am Eulenberg. So hieß die Straße, in der ich aufwuchs. Und das auch nur, weil es ein Bürgerbegehren gab. Ursprünglich sollte unsere Straße nämlich „Zum Galgenplatz“ heißen. Mein Opa hatte nämlich beim Bau seines Hauses zahlreiche Totenschädel und rostige Ketten gefunden. Diese lagen seitdem im Ratinger Stadtmuseum. Es stellte sich heraus, dass auf unserer Straße im Mittelalter der Richtplatz der Stadt lag. Inzwischen glaube ich, dass unsere Straße durch den gruseligen historischen Background ein ziemlich schlechtes Feng Shui hatte. Vielleicht erklärt das auch die hohe Anzahl psychisch auffälliger Menschen, die dort wohnten…

Unsere Straße war eine L-förmige Sackgasse. Im Knick des Ls wohnte Familie Küpper. Bärbel lag im Streit mit ihrem Mann und sprach ihn nur noch mit „Sie“ an. Sie hatten zwei hübsche Töchter und einen Sohn, Thommy, mit Downsyndrom. Thommy trug immer ein Cowboy Kostüm und bewachte das Ende unserer Sackgasse. Er war sehr musikalisch und konnte am Schlagzeug super den Rhythmus halten. Neben den Küppers wohnte Herr und Frau Müller. Er war Banker und steckte ziemlich viel Geld in eine unglaublich ausgecheckte Stereoanlage. Einmal war ich dort eingeladen und durfte eigene LPs mitbringen. Als er sie auflegte, klang es so unglaublich realistisch, als stünde die Band im Raum. Seine Frau war Lehrerin in unserer Schule. Sie muss als junge Frau ziemlich hübsch gewesen sein. Ihre Alkoholsucht leistete dem körperlichen Verfall allerdings erheblichen Vorschub. Nachts schlich sich Herr Müller manchmal zu Bärbel rüber. Als Hobbydetektiv beobachtete ich solche außergewöhnlichen Vorkommnisse natürlich ganz genau.

Meine Brüder waren nicht nur in Sachen Musik mein Vorbild. Ich als jüngster von uns vieren nahm bereitwillig jeden noch so schrägen Spleen an. Sie waren auch in der Kunstszene aktiv. Damals wurde weniger gemalt, die Performance Kunst kam auf. Meine Brüder zogen sich weiße Kittel an, stürmten in ein Nobelrestaurant, sprühten mit einer Sprühflasche rote Farbe auf den Steinboden und verbanden „die Wunde“. So etwas in dieser Art zu machen, schwebte mir auch vor, als ich mit 15 Jahren meinen Freund Sebastian, genannt “Shakin´”, fragte, ob er auch mal Lust zu einer solchen Aktion hätte. Sein Spitzname verdiente er sich durch seinen wilden Tanzstil, den er bei Partys an den Tag legte.

This ole house – Shakin´ Stevens

Als Dritten holten wir unseren Kumpel Stefan Klein mit ins Boot. Ich gab die Losung aus, originelle Klamotten anzuziehen. Für Shakin´ und mich hieß das, ein weißes Hemd mit Schlips zu tragen, für Stefan überraschenderweise, dass er sich ein Kleid anzog und wie eine Frau schminkte. Mit seinen langen blonden Haaren sah er richtig scharf aus. Unser Plan war folgender: Wir hatten vor, bei fremden Menschen zu klingeln und zu behaupten, dass wir von der Umweltbehörde seien. Daher müssten wir dringend ihre Steckdosen überprüfen. Dadurch wollten wir uns Zugang zum Hausflur verschaffen. Dann wollten wir das Kabel eines „Prüfgerätes“ einstecken. Das Gerät war ein bemalter Pappkarton, in dem ein Kassettenrekorder steckte. Sobald der Stecker eingesteckt worden wäre, käme Musik von Frank Zappa aus dem Lautsprecher.

Titties & beer – Frank Zappa

Dazu hätten wir dann ekstatisch getanzt. Der Konjunktiv lässt vermuten, dass es nicht so weit kam. Beim Besuch des dritten Hauses (die Bewohner der ersten beiden ließen uns gar nicht erst rein) nahmen uns zwei Polizisten wegen groben Unfugs fest und fuhren mit uns auf die Wache, wo sie uns für eine halbe Stunde in einer Zelle schmoren ließen. Erst dann durfte ich zu Hause anrufen. Als meine Mutter für uns bürgte, durften wir die Zelle verlassen und mussten als Strafe zu Fuß nach Hause latschen.

Mein Vater hatte einen Job in einer 300 Kilometer weit entfernten Stadt und kam nur jedes zweite Wochenende nach Hause. Meine Brüder und ich kümmerten uns um den Haushalt, weil meine Mutter jetzt komplett ausfiel. An Urlaub war nicht zu denken.

Zwei Freundinnen meiner großen Brüder hatten Mitleid mit mir und boten an, mich in den Sommerferien für drei Wochen mit in die Provence zu nehmen, damit ich mal etwas anderes sähe. Ich war 15 und sie drei Jahre älter als ich. Wir fuhren mit Claudias Renault 4 nach Aix-en-Provence. Im Auto lief die ganze Zeit Musik und auch auf dem Zeltplatz hatten die beiden immer ihren Kassettenrekorder dabei. Ich empfand diese Reise als eine Art Wunder. Mal rauszukommen aus der gewohnten Umgebung war schon besonders. Und dann noch mit so zwei aufregenden Reisegenossinnen. Es war die Zeit des Nacktbadens und wenn die beiden so ganz ohne Kleidung ins Meer rannten, sah ich zu, dass ich als Erstes ins Wasser kam, sonst wäre mir meine Erregung ziemlich peinlich gewesen. Sie waren beide ziemlich hübsch und spielten damit, mich als kleinen Jungen zu behandeln. Ich hatte damals noch so gut wie keinen sexuellen Kontakt zu anderen Mädchen gehabt und deswegen konnte ich nachts im Zelt, wenn ich zwischen ihnen lag, kaum schlafen, weil ich daran dachte, wie Beate sich am Nachmittag mit Sonnencreme ihr Brüste einschmierte und danach meinen Rücken. In einem Lokal trank ich ein seltsames Getränk namens “Diabolo menthe”. Es schmeckte nach aufgelöster Zahncreme und war giftig grün. Ich habe es danach nie mehr gesehen, aber habe den Geschmack immer noch im Mund, wenn ich an diese aufregende Zeit denke. In den französischen Lokalen gab es damals nicht selten eine Jukebox und aus einer kam eines Tages ein Song der Band The Police, der mich umhaute. Als ich “Roxanne” das erste Mal hörte, war es um mich geschehen.

Roxanne – The Police

Das war Musik, die ganz unterschiedliche Welten zu vereinen vermochte: Die hübschen Mädchen standen drauf, trotzdem war sie nicht stumpf, sondern von super Musikern leicht punkig gespielt. Beim Hören der Musik ahnte ich, dass die drei Erfahrungen in ganz verschiedenen Genres gemacht haben mussten.

Stewart Copland, der Drummer, hatte Sting und den Gitarristen Andy Summers bei seiner Arbeit für eine Jazzrock Komposition von Eberhard Schöner kennengelernt.

Die charismatische und wahnsinnig hohe Stimme Stings sägte sich durch den mitreißenden, leicht angerauten Sound der Band. Stewart Copland hatte eine ganz außergewöhnliche Art, Schlagzeug zu spielen. Die Strophe klang melancholisch und expressiv zugleich. Im Refrain peitschte er die Band brachial nach vorne, als würde ein Bildhauer seine Skulptur mit dem Meißel bearbeiten.

Ungefähr in dieser Zeit geschah etwas sehr Spannendes in Deutschland, das man später unter dem Namen „Neue Deutsche Welle“ zusammenfasste.

Es entstanden kleine Indie-Plattenlabels und eine wilde, teilweise sehr naive Punk-Popmusik. Meine großen Brüder hatten mit einem Label, Atatak, aus Düsseldorf zu tun. Dort entstanden Hits wie „Fred vom Jupiter“ und Bands wie Der Plan nahmen dort auf.

Fred vom Jupiter – Andreas Dorau

Dadurch konnte ich mit 15 Jahren umsonst meine erste Single aufnehmen. Mit unserer Band „Jung und Knackig“ hatten wir den Hitvorschlag „Ich springe von den Klippen wegen deinen Lippen“ geschrieben. Mein Vater korrigierte kurz vor der Aufnahme noch den Text zu „wegen deiner Lippen“. Seitdem weiß ich, wie der Genitiv gebildet wird.

Die Single (in der Tat, es war noch eine richtige Platte auf Vinyl) lief sogar einmal in der Eis-Disco bei uns im Ort. Ich war zufällig dabei und bin vor Stolz beinah geplatzt. So lässig, wie ich konnte, hing ich in Schlittschuhen an der Bande in der Nähe des DJ-Pults rum und hoffte auf positives Feedback. Und tatsächlich kam kurz darauf Sabine zu mir rübergeskatet und fragte mich, ob wir das extra so gemacht hätten, dass man zu dem Stück nicht tanzen könne. Tanzen? Wir hatten einen unfassbar coolen Song geschrieben, ein bisschen wie Police auf Deutsch und Sabine fand, man könne dazu nicht tanzen? Das verschlug mir die Sprache und so wurde leider auch nicht viel aus uns beiden.

Sammler zahlten später übrigens richtig Geld für die Scheibe. Leider wurde der Song bislang nicht digital veröffentlicht. Ich würde ihn auch gerne mal wieder hören.

In der Oberstufe hatte ich dann noch eine tolle Musiklehrerin, Frau Abd del Hady. Ich fand ihren Namen damals echt kurios, weil sie so gar nicht arabisch aussah. Sie gab einen spannenden Unterricht und spielte uns viel Klassik vor. Das Requiem von Fauré haute mich damals so um, dass ich mir von ihr die Schallplatte auslieh, um sie mir in unserem „heiligen“ Wohnzimmer anzuhören.

Pie Jesu – Gabriel Fauré

Ich lag auf dem Boden und die Sonne schien durch die halbgeschlossenen Rollläden. Das war wie eine Botschaft des Himmels an mich. Mein Wunsch, für immer Musik zu machen, formte sich in mir. Und schönerweise nahm mich Frau Abd el Hady eines Tages nach dem Unterricht zur Seite, um mir genau das zu raten: „Martell, du solltest später unbedingt etwas mit Musik machen!“ Ich war ihr positiv aufgefallen, weil ich für eine Schulaufführung “Habanera” der Oper „Carmen“ von Bizet für eine ganz kuriose Besetzung arrangiert hatte. Zufälligerweise bestand unsere Musical AG damals aus einem Drumset, einem Cello, einer Geige, zwei Querflöten und einer E-Gitarre.

Habanera – Georges Bizet

Hochmotiviert schrieb ich mich in der Musikschule in Ratingen zum Schlagzeugunterricht ein, weil ich dort lernen wollte, wie man Jazz spielt. Als ich zur ersten Stunde bei Peter Weiß in den Unterrichtsraum kam, lag mein Lehrer platt auf dem Boden. Er grummelte in seinen Bart, ich solle erst mal Kaffee kochen, es sei gestern ziemlich spät geworden im Jazzclub. Ich hatte nur eine halbe Stunde Unterricht bei ihm und brachte ab da immer einen Küchenwecker mit, denn ich wollte wirklich etwas lernen. Das war schon ziemlich nerdig, aber Peter schien das zu respektieren und gab mir ab da inspirierenden Unterricht. Ich übte viel und machte rasch Fortschritte.

Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich den Drumpart des Stücks “Phase Dance” von Pat Metheny (Drums Danny Gottlieb) Note für Note raushörte.

Phase dance – Pat Metheny Band

Aber Peter wollte, dass ich erst mal den „klassischen“ Jazz lernte, also Musik, die weit früher gespielt wurde. Er riet mir, Musik des Saxofonisten Charly Parker zu hören. Daraufhin besorgte ich mir alle Platten, die ich finden konnte, und überspielte sie auf Musikkassetten. Dann konnte ich sie nämlich mitnehmen in meinem Walkman, den mir mein Bruder Wietn aus New York mitgebracht hatte. Er hatte einen Lautsprecher und so beschallte ich meinen Schulweg vom Skateboard aus nicht mit Hip Hop, was ein stimmiges Bild abgegeben hätte, sondern mit Bebop aus den späten 40er Jahren.

Relaxin´ at the Carmarillo – Charly Parker

Neben dem Schlagzeugspielen faszinierte mich immer schon das Schreiben von Songs. In Joni Mitchell fand ich meine Göttin. Die platte “Hejira” gehört zu meinen all time Lieblingsscheiben. Schlagzeug spielte da eigentlich keine besondere Rolle. Aber was Jaco Pastorius da auf dem Frettless Bass machte, war etwas ganz Besonderes. Er spielte nicht nur die tiefen Töne, sondern zwischendurch auch ganz viel Melodie.

Hejira – Joni Mitchell

Jaco war ein Jahrhundertbassist. Er spielte später bei Weather Report, einer unglaublichen Jazzrockband, die ich als Jugendlicher viel hörte. Sein Stück “Teen Town” ist ein richtiger Jazzhit und wurde oft gecovert.

Teen Town – Weather Report

Einmal nahm ich mit Adriano Batolba die Single für seine Bigband-Scheibe in einem kleinen Studio in Dortmund auf.

Der Studiobesitzer Bernie Adamkewitz spielte mehrere Jahrzehnte im Musical Starlight Express in Bochum Gitarre.

Er studierte in Amerika und lebte dort in einer WG mit Jaco. Als ich in seinem Studio aufnahm, erzählte er uns die Story. Nachts fuhr ich heim nach Köln und stellte das Radio an. Es kam eine Dokumentation über Jaco Pastorius. Was für ein unglaublicher Zufall oder anders ausgedrückt: Es fiel mir schwer, bei einem solchen Ereignis an Zufall zu glauben. Ich war mir ganz sicher, dass solche Erlebnisse sich „anziehen“, in meinem Weltbild gab es so etwas wie ein „magnetisches Feld“. Und ratet mal, wer als Experte für Fragen über Jaco aus erster Hand eingeladen war? Bernie, den ich gerade erst kennengelernt hatte.

Kaum zu glauben, aber so wars.

Right time for love – Adriano Batolba Orchestra

Mit 17 meldete mich mein Schlagzeuglehrer Peter Weiß bei Jugend jazzt in Dortmund an und siehe da, für eine Solointerpretation von Chick Coreas Klassiker “Spain” bekam ich den ersten Preis. Das war ziemlich unglaublich und bestärkte mich auf meinem Weg.

Mein Vater, der mich bis dato immer großartig unterstützt und mich mit meinem Schlagzeug überall hingefahren hatte, war sicher stolz auf mich, aber zog aus meinem Sieg einen ziemlich absurden Schluss. Er sagte nur lapidar: „Wunderbar, jetzt hast du doch alles erreicht und kannst endlich aufhören!“

(Mit dem sinnlosen Scheiß!)

Ein Jahr später war er tot.

Er schlief auf dem Rücksitz eines Autos ein, als er gerade in Belgien auf Geschäftsreise war. Das Leben hatte ihn ausgelaugt. Er konnte sich nie richtig entspannen. Die Situation mit seiner trinkenden Frau und die Last, vier Jungs allein durchzubringen, dazu der späte Wechsel seiner Arbeitsstelle waren zuviel für ihn. Sein Tod machte mich sehr traurig. Ich zog mich zurück in unseren Probekeller. Unser altes, leicht verstimmtes Klavier spendete mir Trost. Ich spielte stundenlang melancholische Akkordfolgen im Kreis. Die Zeit stand still. Damals begann ich auch erste Songs zu schreiben. Meine unbeholfenen Versuche, sie aufzunehmen, kommentierte mein Schlagzeuglehrer trocken: „Bleib lieber beim Schlagzeug.“ Aber für mich ging damals eine neue Tür auf in eine Welt, in der ich mich sicher fühlte und die ich nach meinen Vorstellungen gestalten konnte. Ich vermute, dass ich ohne diese Möglichkeit der Flucht schwer depressiv geworden wäre.

Wie wichtig die Eltern einem sind, merkt man erst, wenn sie nicht mehr da sind.

Kurz nachdem mein Vater verstorben war klingelte das Telefon, ein graues Wählscheibengerät, das in unserer Wohnküche an der Wand hing. Ich nahm ab und hörte genau, dass meine Mutter am zweiten Apparat, der im Stockwerk drüber an ihrem Bett stand, mithörte. Diese Mithörsituation und die Tatsache, dass über kurz oder lang immer ein Kommentar zur Länge des Telefonats durch das Haus schallte, verursachte ein Trauma bei mir, was mich noch Jahre danach hinderte, unbeschwert zu telefonieren. Auf der anderen Seite war ein freundlicher Herr, der mich einlud, im Landes-Jugend-Jazzorchester NRW mitzuspielen, einer Bigband aus lauter Musiktalenten aus ganz Nordrhein-Westfalen.

Wir tourten damit durch Portugal und Spanien und ein Jahr darauf, als ich eigentlich fürs Abitur lernen sollte, durch Amerika. Und das alles kostenlos. Solche Reisen hätte ich mir nie leisten können. Mein Abi bestand ich übrigens trotzdem und das mit einem ziemlich guten Schnitt, mit dem ich sogar Medizin hätte studieren können. Kurz danach flatterte der Musterungsbescheid ins Haus und ich musste mich unverzüglich ins Kreiswehrersatzamt begeben.

Da ich gegen Hausstaub allergisch war, hatte ich mir eine Staubsaugertüte zum Inhalieren mitgenommen. Beim Amt wurden meine Lungen abgehorcht, aber zum Ausmustern reichte es leider nicht:

T drei, bedingt tauglich.

Daraufhin verweigerte ich den Kriegsdienst mit der Waffe und bewarb mich auf eine Zivildienststelle in der Landesklinik in Düsseldorf Grafenberg. Das war damals noch ein Krankenhaus im Stil von „Einer flog über das Kuckucksnest“. Dort gab es sogar eine forensische Abteilung, wo straffällige Patienten wohnten. Ich war auf dem Gelände im Wohnheim der Angestellten untergebracht und die Laute, die man manchmal abends beim nach Hause Kommen hörte, waren ziemlich gruselig. Eigentlich wollte ich mich dort als Gärtner bewerben, aber die Dame, die im Zivibüro saß, meinte nur, das sei die Strafkompanie, da würden nur Leute arbeiten, die woanders rausgeflogen wären, aber sie hätte da eine schöne Stelle für mich, in der Beschäftigungstherapie.

Dort gab es nur leichte Fälle, meist depressive und harmlose Langzeitpatienten. Ich hatte immer viel Spaß bei meiner Arbeit. Manchmal spielten wir ein Spiel, das ich bis heute mag: Man saß sich zu zweit gegenüber und wer zuerst lachte, hatte verloren. Ich verlor meistens, weil die Patienten im Vorteil waren: Durch ihre Medikamente war ihre Mimik ziemlich verlangsamt. Mein Vorgänger dort war der damalige Drummer der Toten Hosen.

Verschwende Deine Zeit – Die Toten Hosen