Unverblümt und stets bemüht - Sonja Oetting - E-Book

Unverblümt und stets bemüht E-Book

Sonja Oetting

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Beschreibung

Das Familienleben von Kerstin und Michael mit zwei entzückenden Kindern und einer überaus nachsichtigen Katze könnte so schön sein – wären da nur nicht die lästigen Verpflichtungen des Alltags wie Kochen, Elternabende oder die Telefonate mit der Mutter. Oder der innere Schweinehund, für den regelmäßiger Sport oder die Vorbereitung der Steuererklärung schier unüberwindbare Hürden sind. Und nicht zuletzt: andere Menschen, die mit den empathischen Fähigkeiten eines Holzklotzes gesegnet sind, ungefragt gute Ratschläge verteilen oder durch ihr leuchtendes Vorbild die Unzulänglichkeiten ihrer Mitmenschen im hellsten Licht erstrahlen lassen. Aber davon mal abgesehen, ist alles … na gut, man sollte nichts beschreien.

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Sonja Oetting

Unverblümt und stets bemüht

Geschichten aus dem alläglichen Familienwahnsinn

Über die Autorin

Sonja Oetting ist gebürtige Bremerin. Nach ihrem Sozio­logiestudium arbeitete sie einige Jahre als Angestellte in der freien Wirtschaft, bis sie 2019 dem Ruf ihres Herzens folgte und sich als freiberufliche Texterin und Autorin selbstständig machte. Seither hat sie einzelne Kurzgeschichten in verschiedenen Antholo­gien und eine eigene Kurzgeschichtensammlung veröffentlicht. Ihr Buch „Adventslektüre“ erschien 2020 im net-Verlag.

Dieses Buchprojekt wurde durch ein Stipendium der VG WORT im Rahmen von NEUSTART KULTUR gefördert.

Texte: © Copyright by Sonja Oetting 2022

Umschlaggestaltung und Grafiken: Barbara Litza, Wilhelmshaven

Lektorat und Satz: Dr. Valeska Lembke, Lektorat Leseleuchte, Wilhelmshaven

Verlag:

Sonja Oetting

Augsburger Straße 47

28215 Bremen

www.oetting-text.de

[email protected]

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

ISBN 978-3-756518-89-0 (Print)

ISBN 978-3-756518-90-6 (ePUB)

Für alle Menschen mit charmanten Schwächen.

Für alle Katzen, die nachsichtig mit ihren

Dosenöffnern sind.

Inhalt

Neues Jahr, neues Glück?!

Genieße den Flow

Sie meint es doch nur gut

Ski heil!

Bei Erwachsenen ist das was anderes

Cooler Papa

Monster unterm Bett

Fräulein Krügers Gespür für Regen

Operation „Texaner“

Klar höre ich dir zu, Schatz

Die Monster-Torte

Das Schuh-Mysterium

Wie kommt das Plastik ins Meer?

Bitte einmal rechts ranfahren

Die Steuererklärung

Party, Party, Party

Weder Tarzan noch Jane

Die Schultüten­problematik

Es ist so schwer, gutes Personal zu finden

Das Blaue vom Himmel

Dafür muss man doch kein Handwerker sein

Der Hochzeitstag

Wo ist denn das Antennenkabel?

Kochen mit Etienne

Bitte lächeln!

Dank

Neues Jahr, neues Glück?!

„Ich weiß, gute Vorsätze halten meistens nicht lange, aber wollen wir es nicht doch noch mal versuchen? So richtig ernsthaft und nur mit Dingen, an die wir uns wirklich, wirklich halten wollen? Bitte bitte bitte!“

Kerstin schaute in die Runde und versuchte dabei, mit ihrem süßen Welpenblick zu punkten. Michael fing an zu lachen.

„Oh, netter Versuch, mein Schatz. Du weißt ganz genau, dass dieser irre Blick bei mir nicht funktioniert.“

„Ach komm schon“, mischte Annette sich ein und knuffte Michael in die Seite. „Gib dir einen Ruck. Außerdem finde ich gute Vorsätze auch klasse. Die gehören doch zu Silvester dazu. Was hätten wir für ein tristes Leben, wenn wir nicht wenigstens einen Abend im Jahr an das Gute in uns glauben könnten? Was sagst du denn dazu, Jakob?“

Annette imitierte Kerstins Blick, sodass ihren Gatten jetzt vier riesige Augen anschmachteten.

„Ach, meinetwegen. Ihr Frauen kriegt doch am Ende eh euren Willen. Und bevor ihr noch auf die Idee kommt, Monopoly spielen zu wollen, lasst uns lieber gute Vorsätze ausdenken und damit unsere Unzulänglichkeiten ein für alle Mal besiegeln.“

Jakob hob sein Bierglas, prostete den anderen zu und leerte den Rest mit einem Schluck. Bei dem Wort Monopoly zuckte Kerstins Mundwinkel kurz und sie hielt den Atem an, denn das war eigentlich ihr Stichwort. Doch bevor sie etwas sagen konnte, ergriff Jakob wieder das Wort.

„Zu spät, meine Liebe, jetzt machen wir schon das mit den Vorsätzen.“

„Mist“, antwortete Kerstin.

Jakob lachte laut und freute sich wie ein Schneekönig, dass er Kerstin zuvorgekommen war.

„Aber erst mal hole ich mir noch ein Bier. Möchte sonst noch jemand was?“

Während Jakob die Getränke holte, wandte Kerstin sich Michael zu und kam ihm mit ihrem Gesicht so nah, dass sich ihre Nasenspitzen berührten.

„Du wurdest überstimmt. Schon wieder.“

Blitzschnell küsste sie ihn auf die Nase und ergriff dann die Flucht. Michael zog nämlich auch im Kreis der Familie regelmäßig den Kürzeren. Die beiden hatten zwei Kinder, den neunjährigen Ben und die fünfjährige Emma. Und Kerstin schaffte es üblicherweise äußerst zuverlässig, sich mit dem Nachwuchs gegen Michael zu verbünden.

„Na warte, das werde ich dir schon noch heimzahlen!“, rief er ihr hinterher.

„Oh, war das etwa ein erster Vorsatz?“

„Wohl eher ein Versprechen, meine Liebste, nimm dich in Acht.“

Da Jakob noch mit dem Mixen eines Cocktails beschäftigt war, nutzte Kerstin die Gelegenheit, um kurz nach den Kindern zu sehen. Annette und Jakob hatten ihre siebenjährige Tochter Lea mitgebracht, die sich glücklicherweise wunderbar mit Ben und Emma verstand.

„Hey ihr Süßen, spielt ihr noch schön?“, fragte Kerstin, als sie die Tür zu Bens Zimmer öffnete. Alle drei hatten sich verkleidet und spielten offensichtlich gerade: Der Boden ist Lava.

„Ja, Mama, alles gut“, keuchte Ben, während er versuchte, von einem Kissen auf ein anderes zu springen.

„In einer Stunde ist Mitternacht. Kommt rechtzeitig runter zum Anstoßen, und wir haben auch noch Knallerbsen und Wunderkerzen.“

„Jaaa“, brüllten alle drei im Chor.

Als Kerstin wieder im Wohnzimmer ankam, waren Michael und Jakob damit beschäftigt, ein Konfetti-Knallbonbon zu öffnen. Jeder zog an einem Ende und Jakob hielt theatralisch ein Sofakissen schützend vor sich. Doch außer einem leisen Plopp, ein paar Konfettistückchen und Miniluftschlangen, die wohl einzig und allein die Schwerkraft dazu ermutigte, langsam aus der Öffnung zu kriechen, hatte auch dieses Exemplar nichts zu bieten. Michael riskierte einen Blick in das Innere der Hälfte, die er noch in seiner Hand hielt. Dann zuckte er mit den Schultern und warf sie hinter sich. Diese Dinger waren wieder mal ein absoluter Reinfall. Warum kauften sie die bloß in jedem Jahr wieder?

Annette winkte Kerstin zu und zeigte auf die beiden gefüllten Sektgläser, die vor ihr standen.

„Komm schnell rüber, wir sind startklar. Ich schlage vor, dass sich jeder von uns zwei Vorsätze überlegt. Also nur für den ganz unwahrscheinlichen Fall, dass eine Sache doch nicht klappt. Dann scheitern wir nicht gleich komplett.“

„Gute Idee“, sagte Jakob. „Dann fange ich mal an. Kurz und schmerzlos. Ich werde im neuen Jahr weniger Zeit am Handy verbringen und werde wieder mehr lesen. Wer will jetzt?“

„Na ganz so leicht kommst du uns aber nicht davon“, antwortete Annette. „Was heißt denn weniger Zeit? Wie viel weniger?“

„Willst du jetzt eine Minutenangabe von mir hören, oder was?“

„Nicht unbedingt, aber etwas konkreter muss es schon sein. Wir wollen hier überprüfbare Vorsätze hören. Und ich hab’ auch schon eine Idee für dich. Du könntest zum Beispiel ab sofort das Handy nicht mehr mit aufs Klo nehmen.“

Kerstin, die gerade an ihrem Sektglas nippte, verschluckte sich fast.

„Du machst was?!“

„Na ja, da hab’ ich wenigstens meine Ruhe“, versuchte Jakob sich zu rechtfertigen.

„Und deine Sitzungen dauern ewig“, fügte Annette hinzu. „Dass du noch keine Hämorrhoiden hast, überrascht mich sehr.“

„Jetzt übertreibst du aber.“

„Nein, da hab’ ich letztens einen Artikel drüber gelesen.“

Kerstin konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Schön, dass andere Paare auch ihre Problemchen hatten.

„Okay, okay, ist ja gut. Ich nehme das Handy nicht mehr mit aufs Klo und ich lese jeden Tag mindestens drei Seiten. Zufrieden?“ Jakob setzte sich auf dem Sofa zurück und verschränkte die Arme. „Jetzt seid ihr aber dran.“

Michael stand vom Sofa auf, atmete tief ein und ging ein paar Schritte, um die Bilder aus seinem Kopf zu vertreiben. Nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte, sagte er: „Ich hole Zettel und Stift. Das müssen wir unbedingt festhalten. Und dann schauen wir nächstes Silvester, was aus unseren Vorsätzen geworden ist.“

Michael malte ein Männchen, ein Handy und eine Toilette und strich dann das Handy durch.

„Bilder sagen doch mehr als tausend Worte.“

Alle lachten.

„Diesen Unterhaltungswert kann ich zwar nicht bieten, aber ich mache jetzt trotzdem weiter“, sagte Kerstin. „Ich fahre ab sofort kurze Strecken nicht mehr mit dem Auto. Und bevor ihr jetzt nachfragt, ich fahre keine Strecken unter fünf Kilometern mehr mit dem Auto, sondern nehme das Fahrrad. Und ich mache einen Kochkurs.“

„Wollten wir nicht realistisch bleiben, mein Schatz?“, fragte Michael und zog dabei seine rechte Augenbraue hoch. „Nie im Leben fährst du bei Regen Fahrrad – und einen Kochkurs? Dein Ernst? Welche Kochschule möchtest du denn damit bestrafen?“

Nach kurzem Zögern sah Kerstin ein, dass der Kochkurs tatsächlich keine gute Idee war. Sie hasste es, zu kochen, das würde sich wohl auch unter professioneller Anleitung nicht ändern. Aber am Fahrradfahren wollte sie festhalten, denn sie mussten alle mehr tun, um das Klima zu schützen. Und da die Kinder jetzt auch alt genug waren, um Fahrrad zu fahren, wollte sie einen Anfang machen und mit gutem Beispiel vorangehen.

„Na gut, dann nehme ich das Fahrrad und ich werde mir einen neuen Yogakurs suchen.“

„Und teilnehmen?“, fragte Annette mit einem Augen­zwinkern.

„Sehr lustig“, antwortete Kerstin. „Ja, und teilnehmen. Ihr seid aber auch pingelig.“

Michael zeichnete auch Kerstins Vorsätze fleißig auf und achtete dabei bewusst auf die Regentropfen, die Kerstin auf dem Fahrrad heimsuchen würden.

Jetzt meldete sich Annette zu Wort.

„So, ihr Lieben. Es wird euch zwar überraschen, aber ich werde ab sofort kein Fleisch mehr essen und ich werde mit Kerstin zum Yoga gehen.“

„Wie, kein Fleisch mehr?“, fragte Jakob. „Aber für mich und Lea kochst du schon noch was Richtiges, oder?“

„Vegetarisches Essen ist auch richtiges Essen. Aber bevor du jetzt hier zusammenbrichst: Ja, ich koche noch ab und zu Fleisch für euch. Aber ich möchte es nicht mehr essen.“

„Ab und zu. Darüber reden wir aber noch. Was hab’ ich denn mit deinen Vorsätzen zu tun?“

„Jetzt stell dich mal nicht so an. Oder soll ich Kerstin fragen, ob sie für dich mitkochen kann?“

„Hey, lasst mich da raus.“

„Keine Sorge, Kerstin. Das will ja nun wirklich niemand“, sagte Jakob mit einem verschmitzten Lachen.

„Na schönen Dank auch. Michael, wäre das nicht ein guter Zeitpunkt, um mich in Schutz zu nehmen?“

Michael blickte auf die Uhr. „Sorry, leider keine Zeit. Es ist schon zwanzig vor zwölf. Sonst kann ich ja meine guten Vorsätze gar nicht mehr loswerden.“

„Mit solchen Freunden braucht man zumindest keine Feinde“, sagte Kerstin, nahm Michael den Stift aus der Hand und zog das Papier zu sich herüber. „Dann mal los.“

„Na gut, na gut. Ich werde im neuen Jahr Gitarre spielen lernen und ich werde immer sofort ans Telefon gehen, wenn meine Mutter anruft.“

„Ha, das will ich sehen. Du lässt das Telefon nicht mehr klingeln, wenn Trudi anruft, und bittest nicht mich, dranzugehen? Nie wieder?“

„Na ja, das ist ein Vorsatz für dieses Jahr. Was danach kommt, kann ich jetzt noch nicht sagen.“

„Und Gitarre? Wo kommt das denn her?“

„Das ist doch süß“, fiel Annette dazwischen. „Er will romantische Lieder für dich am Lagerfeuer spielen, so à la Ed Sheeran.“

Jakob prustete los, und auch Kerstin konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.

„Ja ja, lacht ihr nur. Ihr werdet es schon erleben.“

Als das Bild mit den guten Vorsätzen fertig gezeichnet war, unterschrieben es alle vier, um ihre Vorhaben zu besiegeln. In diesem Moment stolzierte Katze Lucy unbeteiligt an der Vierergruppe vorbei. Kerstin lachte laut auf.

„Beinahe hätten wir Lucy vergessen! Ich finde, sie könnte auch mal ein paar gute Vorsätze fürs neue Jahr fassen. Hey, Lucy-Maus, komm doch mal her“, flötete Kerstin mit ihrer Katzenstimme, wie Michael den Tonfall nannte, wenn Kerstin mit oder über Lucy sprach. Lucy kam tatsächlich auf Kerstin zu und stupste mit ihrer Stirn gegen Kerstins Hand, woraufhin Kerstin anfing, sie hinter ihren Ohren zu kraueln. Ein lautes Schnurren erklang. „Seht ihr, sie hat auch zwei Vorsätze. Sie möchte nicht mehr so mäkelig sein und ab sofort immer schön brav in ihre Transportbox gehen, wenn wir zum Tierarzt müssen.“

„Sag mal, Annette, wie viel Sekt hast du Kerstin denn schon eingeflößt?“, fragte Michael und tätschelte Kerstin den Kopf. Dabei fiel sein Blick auf seine Uhr. „Oh, jetzt aber schnell. Gleich ist es so weit!“

Sie riefen die Kinder runter und reichten ihnen mit Apfelsaft gefüllte Sektgläser zum Anstoßen. Alle standen im Kreis und zählten laut: „Zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins, YEAH! Frohes neues Jahr!“

Sie fielen sich in die Arme, freuten sich über die gemeinsame Zeit und waren gespannt auf das, was das neue Jahr bringen würde. Und darauf, wer als Erster mit seinem guten Vorsatz scheiterte. Denn es war nur eine Frage der Zeit.

Genieße den Flow

Michael und Kerstin lagen gemütlich auf dem Sofa. Plötzlich schlug Kerstin ihr Buch zu und rappelte sich auf.

„So ein Mist, heute ist Dienstag“, seufzte sie und versuchte, sich aus der Wolldecke zu befreien.

Michael fuhr hoch und blickte mit aufgerissenen Augen zu ihr herüber. „Was ist passiert?“, fragte er alarmiert und hielt dabei sein Ende der Wolldecke fest.

„Heute findet doch der neue Yogakurs statt“, erklärte Kerstin. „Es ist schon kurz nach sieben und ich muss noch meine Sporttasche packen.“

„Da willst du wirklich hin? Gleich zum ersten Termin nach den Ferien? Ist doch gerade so gemütlich. Und schau mal, wie dunkel es draußen ist.“

„Netter Versuch, mein Schatz. Ich werde ganz bestimmt nicht die Erste sein, die einen ihrer Vorsätze bricht.“ Kerstin stand vom Sofa auf und marschierte in Richtung Schlafzimmer.

„Es ist nicht schlimm, zu scheitern. Wir sind doch alle nur Menschen“, rief Michael ihr hinterher. Nur ein paar Sekunden später zischte Kerstin auch schon wieder an ihm vorbei.

„Hast du meine Trinkflasche irgendwo gesehen?“

„Äh“, sagte Michael. „Du hast eine Trinkflasche?“

„Ach komm, jetzt hör schon auf. Klar habe ich eine Trinkflasche. Du tust ja so, als hätte ich noch nie in meinem Leben Sport gemacht.“

„Na ja … also deinen letzten Yogakurs willst du ja wohl nicht wirklich als Sport bezeichnen, oder? Ihr habt ja mehr gequatscht als alles andere.“

„Trotzdem hatte ich eine Trinkflasche dabei, denn auch vom Reden kriegt man Durst.“ Kerstin merkte, dass sie sich gerade ein Eigentor geschossen hatte, und fing an zu lachen. „Ist ja gut“, sie ging auf Michael zu und gab ihm einen sanften Kuss auf die Nase. „Dann werde ich wohl heute ohne Trinkflasche auskommen. Ist ja schließlich nur Yoga. Ich muss jetzt los. Du bringst Emma ins Bett.“ Mit großen Schritten ging sie zur Haustür und ignorierte Michaels gespielte Empörung.

Als sie beim Kursraum ankam, ließ Kerstin suchend den Blick schweifen. Sie hatte gehofft, Annette schon vor der Tür zu treffen, doch sie war nirgends zu sehen. Nervös schrieb Kerstin ihr eine Nachricht, um zu fragen, wo sie blieb. Schließlich hatte ihre Freundin an Silvester versprochen, auch an dem Yogakurs teilzunehmen. Die Vorstellung, das zu zweit zu machen, fand Kerstin sehr schön, denn sie war nicht so der Typ, der schnell mit neuen Leuten in Kontakt kam. Bei Sportgrüppchen war es nach ihrem Empfinden besonders schwierig. Das war auch der Grund, warum sie sich noch keine neue Gruppe gesucht hatte, nachdem sich ihr vorheriger Yogakurs aufgelöst hatte.

Bisher waren insgesamt sechs Frauen eingetroffen. Kerstin ging ein paar Schritte in den Raum hinein und stellte sich dann an die Wand. Sie wollte sich erst mal einen Überblick verschaffen. Alle Frauen waren in äußerst schicken Yogaoutfits gekleidet, und ihr Körperbau unter dem eng anliegenden Stoff verriet, dass hier wohl nicht so viel gequatscht wurde wie in Kerstins altem Kurs. Aber davon wollte sie sich nicht abschrecken lassen. Sie war schließlich hier, um ihre Fitness zu verbessern. Und außerdem war es Yoga – wie schlimm konnte das schon werden?

Kerstin schlenderte mit ihrem Handtuch über der Schulter möglichst lässig zum Ende des Kursraumes, um sich eine Matte zu nehmen. Als sie sich für einen Platz entschieden hatte, versuchte sie, Blickkontakt zu der Teilnehmerin neben ihr aufzunehmen, doch die schien gerade noch mit der Einstellung ihrer Fitnessuhr beschäftigt zu sein.

Na super, dachte Kerstin. Jetzt bloß nicht verunsichern lassen. Während sie wieder einmal hoff­nungsvoll zur Tür blickte, leuchtete das Display ihres Handys auf. Es war eine Nachricht von Annette. „Sorry Trainingspartnerin, Lea ist krank und Jakob ist noch im Büro. Sondiere doch schon mal für uns die Lage und dann bin ich nächste Woche dabei. Viel Spaß und Bussi.“

Für den Bruchteil einer Sekunde überlegte Kerstin, noch schnell zu verschwinden, doch da ertönten schon sanfte Klänge aus den Boxen. Was für ein Timing. Und wohin sollte sie jetzt nur so schnell mit ihrem Handy? Hektisch scannte sie ihre nähere Umgebung, um eine Ablagemöglichkeit zu finden. Doch da war nichts. Also platzierte sie es kurzerhand unter dem Handtuch neben ihrer Matte, richtete sich in Windeseile wieder auf und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Lächelnd blickte sie zur Seite und sah, wie ihre Mattennachbarin sie mit hochgezogener Augenbraue musterte und dabei leicht ihren Kopf schüttelte. Wunderbar. Jetzt nahm sie sie also doch wahr. Der Kurs hatte noch gar nicht begonnen und schon hatte sie sich ihren ersten Fauxpas geleistet.

Passend zur Musik fing die Trainerin sanft und ruhig an zu sprechen: „Schön, dass ihr heute wieder hier seid und euch Zeit für eine Yogaeinheit nehmt. Ihr dankt damit eurem Körper für die geleistete Arbeit an diesem Tag.“

Bei diesem besonnenen Einstieg fiel Kerstin ein Stein vom Herzen. Das Schlimmste, was ihr hier passieren konnte, war vermutlich, während Shavasana einzuschlafen.

„Ich sehe gerade, dass wir heute ein neues Gesicht unter uns haben. Mein Name ist Evelin und ich begleite euch durch die heutige Ashtanga-Yoga-Einheit. Hast du schon Yogaerfahrung?“, fragte sie Kerstin mit einem Lächeln, als hätte sie zu viel Johanniskrauttee getrunken.

Die anderen Kursteilnehmerinnen drehten daraufhin ebenfalls ihre Köpfe in Kerstins Richtung. Ihr war diese schlagartige Aufmerksamkeit unangenehm, deshalb nickte sie Evelin zu, lächelte und hob beide Daumen. Vielleicht wäre es besser gewesen, zu fragen, was Ashtanga genau war, aber das würde sie ja gleich herausfinden. Sie hatte schließlich schon Yogaerfahrung. Auch wenn sie nicht jede Position benennen konnte, würde sie dem Ablauf schon folgen können und spätestens nach ein paar Wiederholungen ganz geschmeidig hindurchfließen.

„Beginnen wir nun mit dem Warm-up, dem Sonnengruß A“, raunte Evelin im Meditationston und drehte die Musik etwas lauter.

Kerstin war erleichtert, den Sonnengruß kannte sie. Doch bereits in der zweiten Wiederholung kamen ihr erhebliche Zweifel. Die waren hier aber fix unterwegs. Seit wann wurde Yoga denn in diesem Tempo praktiziert? Noch während sie damit beschäftigt war, sich im herabschauenden Hund einigermaßen einzurichten, waren die anderen bereits wieder in der Planke. Drei weitere Wiederholungen später spürte Kerstin ihre Halsschlagader pulsieren – vor Anstrengung und vor Wut. Warum war sie nur so überheblich gewesen? Sie konnte doch hier nicht schon beim Warm-up zusammenbrechen. Sie biss sich auf die Zähne und versuchte, sich auf ihre Atmung zu konzentrieren.

„Nicht verkrampfen!“, rief Evelin in Kerstins Richtung. „Immer schön locker bleiben, genieße den Flow.“

Klar doch, dachte Kerstin. Sie versuchte zu lächeln und fragte sich gleichzeitig, welch ein perfides Spiel hier gespielt wurde. Ein, aus, ein, aus. Sie war kurzatmig, hatte Seitenstechen und beim Aufrichten in die Berghaltung wurde ihr leicht schwummerig. Wie viele Wiederholungen denn noch? Kerstin machte sich keine Illusionen darüber, wie dilettantisch ihre Ausführungen aussahen, aber darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Hier zählte einzig und allein das nackte Überleben.

Nach sechs, zehn oder fünfzig weiteren Wiederholungen – Kerstin konnte es nicht genau sagen, denn sie hatte inzwischen sowohl jegliches Zeitgefühl als auch die Fähigkeit zum Zählen verloren – war das Warm-up zu Ende. Sie sank in die Kindhaltung und dankte allen Göttern, von denen sie je gehört hatte. Das waren zugegebenermaßen nicht viele, aber darum ging es ja auch nicht.

„Jetzt trinkt alle noch mal einen Schluck und dann beginnen wir mit unserer Einheit“, sagte Evelin.

Trinken, oh ja. Kerstins Kehle fühlte sich an, als sei sie einen Marathon gelaufen. Noch nie hatte sie sich mehr nach einem Schluck Wasser gesehnt. Hätte sie sich zu Hause doch bloß noch ein wenig mehr Zeit genommen, um nach ihrer verdammten Trinkflasche zu suchen! Kurz überlegte sie, den Schweiß von ihren Armen zu lecken, doch das war natürlich keine Lösung. Sie hätte sich gern erspart, schon wieder negativ aufzufallen, doch sie musste sich eingestehen, dass sie ohne Wasser in kürzester Zeit zusammenbrechen und mit unschönem Röcheln die Atmosphäre im Kurs wahrscheinlich noch empfindlicher stören würde. Also rappelte Kerstin sich auf und schlich aus dem Kursraum.