Urban Fantasy: going intersectional -  - E-Book

Urban Fantasy: going intersectional E-Book

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Beschreibung

Urban Fantasy, eines der spannendsten Genres der phantastischen Literatur, bietet den Raum für die literarische Verarbeitung dessen, was uns als Gesellschaft umtreibt.

Das urbane Setting, in dem magische Wesen oft unerkannt unter Menschen leben und wirken, ist ideal, um auf die verschiedenen Diskriminierungsformen in unserer Gesellschaft aufmerksam zu machen: Rassismus, Sexismus, Ableismus, Antisemitismus und weitere Arten der Menschenfeindlichkeit gehören nicht nur in Deutschland zur Alltagswirklichkeit. Auch der privilegierten Öffentlichkeit ist das inzwischen bekannt.

Doch die wenigsten haben bisher etwas von Intersektionalität gehört. Dieser Begriff drückt aus, dass eine Person nicht nur von einer, sondern von mehreren Diskriminierungsformen betroffen ist. Schon eine einzelne Unterdrückungsform macht es für Menschen fast unmöglich, als gleichwertig respektiert zu werden, sich in den Medien repräsentiert zu sehen und gehört zu werden – und je mehr Unterdrückungsformen auf einer Person lasten, desto unmöglicher wird es.

In der deutschsprachigen Fantasy sind intersektionale Charaktere bisher leider rar gesät. Daher räumen wir in Urban Fantasy: going intersectional den Geschichten einen Platz ein, die Intersektionalität im Fokus haben, wie die der asexuellen Vampirin, der chronisch kranken lesbischen Hexe, der muslimischen Superheldin, der übergewichtigen Sirene oder der trans Elfenprinzessin.

Die Anthologie enthält neben einem ausführlichen Vorwort der beiden Herausgeber*innen 21 bisher unveröffentlichte Kurzgeschichten von Nora Bendzko, Jenny Cazzola, Aşkın-Hayat Doğan, Luna Day, Patricia Eckermann, David Grade, Stefanie Huber, Antonia Knoll, Oliver Kontny, Jade S. Kye, Marcel Lewandowsky, Victoria Linnea, Robin Nayeli, Isabella von Neissenau, Lena Richter, Ronja Schrimpf, Schwartz, James A. Sullivan, Teresa Teske, Judith Vogt, Annie Waye und Amalia Zeichnerin.

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Seitenzahl: 427

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Herausgegeben von

Aşkın-Hayat Doğan & Patricia Eckermann

Urban Fantasy:

going intersectional

Ach je Verlag

Berlin – AT&Tlantis – Tschuri

https://ach.je

Erstausgabe 2021

© 2021 der einzelnen Beiträge Die Autor*innen

© 2021 Ach je Verlag, Berlin

Ein Imprint der Ach je’schen Verlagsanstalt oHG

Lektorat: Aşkın-Hayat Doğan & Patricia Eckermann

Korrektorat: Giulia Pellegrino

Umschlagillustration: Mia Steingräber

Covergestaltung und Satz: Tobias Rafael Junge

Ebook herstellung: im Verlag

ISBN 978-3-947720-63-7

eISBN 978-3-947720-64-4

Kindle 978-3-947720-65-1

Vorwort

Die Prinzessin

Die letzte Heimkehr

Vegan für fortgeschrittene Tote

Das Innerste der Welt

Die Pirouette

BURKITTY

Zuhause

ZuneigungsFormen

Antimykotikum

Magiebegabt, 35F, in Ausbildung

Majas Queste

Serenade und die Berge

Platanendom

Korallen

Gezeiten

Kein Allheilmittel

Wünsch mir die Apokalypse

Todesduft um Mitternacht

Die Jurte des Todes

Kreise

Me Time

Autor*innen

Vorwort

Liebe Leser*innen,

herzlich willkommen in unserer Anthologie, in der das Alltägliche mit dem Fantastischen verschmilzt – in der Urban Fantasy. In der übernatürliche Wesen, aber auch Menschen, oft mit magischen Fähigkeiten, in uns vertrauten urbanen großstädtischen Umgebungen für bessere Lebensbedingungen, für eine bessere Welt, für ein selbstbestimmtes Leben kämpfen. Dem urbanen Handlungsort kommt dabei eine wesentliche Rolle zu: Die anonyme Stadt mit ihrem U- und S-Bahnnetz, den Autostraßen, Bürogebäuden, Neonreklamen, Hochhäusern, Fahrstühlen und Szene-Läden bietet einen Wiedererkennungswert, der uns hilft, uns schnell in der Geschichte zurecht zu finden.

Gleichzeitig bietet die Stadt aber auch Räume, die unter der uns bekannten Oberfläche liegen, abseits der großen Straßen, in den Kellern, Seitengassen und verlassenen Gebäuden. Oder auch mittendrin im Geschehen, allerdings nur sichtbar für Eingeweihte oder Befähigte.

Diese Gegensätze, das Sichtbare und das Verborgene, zeichnen auch einen Großteil der handelnden Figuren in den Geschichten der Urban Fantasy aus: Mal wirken sie wie »normale« Menschen, mal offenbaren sie ihre fantastische Seite, ihr »Anderssein«.

Superheld*innen, mystische Wesenheiten, Gottheiten, Dämon*innen, Naturgeister, Magier*innen. Mal ist es die Magie oder eine Superkraft, die eine Figur von den anderen unterscheidet und sie zum Ziel von Spott und Angriffen macht. Mal ist es die geschlechtliche Identität oder die Art zu lieben, mal ist es eine Krankheit, eine Behinderung, die Hautfarbe, der Herkunftsort oder die Religion. Hier stellt die Urban Fantasy einen deutlichen Bezug zu den gegenwärtigen Problemen her, vor denen die Gesellschaften unserer Zeit stehen. Und sie leistet noch mehr:

All die Themen, die uns in der Realität umtreiben, finden sich wieder in den Geschichten dieses Genres. Doch während die Medien es oftmals versäumen, die Perspektiven der »Anderen« (Marginalisierten) für nicht-Betroffene nachvollziehbar und empathisch darzustellen, rücken Urban Fantasy-Autor*innen sie in den Mittelpunkt ihrer Geschichten. Sie geben denjenigen eine Stimme, die sonst überhört werden. Sie machen diejenigen sichtbar, die sich mitten unter uns befinden und trotzdem übersehen werden.

Für uns als Herausgeber*innen lag es deshalb nahe, eine Anthologie zum Thema Intersektionalität mit dem Genre der Urban Fantasy zu verquicken.

Intersektionalität beschreibt den Umstand, dass eine Person nicht nur von einer, sondern gleichzeitig von mehreren Diskriminierungsformen betroffen ist. Der Begriff wurde Ende der 70er Jahre von Kimberlé Crenshaw geprägt. Die Juristin befasste sich damals mit der besonderen Diskriminierungserfahrung von Schwarzen Frauen. Die bekamen oft keine Jobs, obwohl Firmen dazu verpflichtet waren, auch Minderheiten einzustellen. Bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, dass eine Firma, die sowohl weiße Frauen, als auch Schwarze Männer einstellte, juristisch korrekt handelte. Obwohl sie dabei diejenigen diskriminierte, die die Schnittmenge bildeten, weil sie gleichzeitig zu beiden Minderheitsgruppen gehörten: Schwarze Frauen. Mit dem Begriff »Intersektion«, zu deutsch: »Straßenkreuzung«, machte Crenshaw auf dieses Phänomen aufmerksam.

Insbesondere bei Antirassismus- und Empowerment-Seminaren wird deutlich, wie sehr Intersektionen das eigene Selbstverständnis, die Identitätssuche und den Lebensweg bestimmen, sei es bei queeren Muslim*innen, PoC mit körperlichen Behinderungen, traumatisierten Geflüchteten und, und, und ...

Heute wissen wir längst, dass viele Menschen Mehrfachdiskriminierungen ausgesetzt sind. Dabei sorgt schon eine einzelne Unterdrückungsform dafür, dass eine Person nicht als gleichwertig angesehen wird. Marginalisierte Menschen werden in den Medien deutlich unterrepräsentiert, ihre Bedürfnisse werden übergangen. Die gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft ist deutlich eingeschränkt. Intersektionen verstärken das: Je mehr Unterdrückungsformen auf einer Person lasten, desto unsichtbarer und handlungsunfähiger wird sie.

Für nicht-Betroffene ist es schwierig nachzuvollziehen, wie sich Rassismus, Sexismus und andere Arten der Menschenfeindlichkeit auf das Leben einer Person auswirken. Auch der Einfluss auf die Gesundheit, Gefühlswelt und das Selbstbewusstsein wird noch immer unterschätzt.

Die Zusammenarbeit an dieser Anthologie war sehr bereichernd. Wir Herausgeber*innen teilen die Erfahrung der Intersektionalität – Aşkın als homosex-ueller Moslem mit türkischer Migrationsgeschichte und Patricia als Schwarze und als Frau. Trotz dieser Gemeinsamkeiten haben wir einen teilweise sehr unterschiedlichen Blick auf die einzelnen eingereichten Kurzgeschichten. Darauf, was sie in uns triggern und wo sie uns empowern. Das ein oder andere Mal haben wir stark diskutiert, über Erzähl-Perspektiven, den Weltenbau und unsere persönlichen Interpretationen.

Dabei herausgekommen ist eine im besten Sinn diverse und bereichernde Sammlung von Kurzgeschichten, die meist auch einen Bezug haben zu den Themen, die uns als Gesellschaft aktuell umtreiben, wie Covid19, Rassismus, LGBTQI-Feindlichkeit oder Antisemitismus.

Mit dieser Anthologie präsentieren wir ein Universum fantastischer Geschichten, die mehrfach diskriminierte Figuren in den Fokus rücken. Dieses Universum wächst, je mehr ihr selbst dazu etwas beisteuert. Sei es durch weitere Geschichten oder auch nur durch eure Träume und Gedanken, die ihr miteinander teilt. Lasst uns Grenzen sprengen und das, was »mensch erzählen kann«, noch einmal ganz neu denken.

Denn es ist an der Zeit, dass wir uns einschreiben in die deutsche Fantasyliteratur, die für unser Verständnis einer diversen Gesellschaft immer noch viel zu weiß ist, viel zu alt, viel zu heteronormativ und privilegiert.

Gleichzeitig möchten wir nicht von Diskriminierungen betroffene Leser*innen einladen, sich für die Thematik der Intersektionalität zu sensibilisieren.

Euch allen viel Spaß beim Lesen!

Aşkın-Hayat Doğan & Patricia Eckermann Berlin und Köln im November 2020

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Die Prinzessin

Isabella von Neissenau

Sie wünschen?«

Für einen Augenblick überlegte Alena einfach weiterzulaufen, doch sie erinnerte sich an die Worte ihrer Schwester, dass sie als Frau höflich zu sein hatte. Mit gezwungenem Lächeln blieb sie stehen und musterte den schmächtigen Pförtner in seiner etwas zu großen Uniform. Tiefe Augenringe dominierten sein müdes, faltiges Gesicht und passten gut zum gelangweilten Ton seiner Stimme. »Sind Sie Frau Schäfer?«

Alena ging ein paar Schritte auf seine Kabine zu, zog ihr kurzes Kleid gerade und überprüfte flüchtig ihr jugendliches Aussehen im Glas der Trennscheibe. »Ja, ich suche Dr. Hochwart.«

Der Mann betrachtete sie skeptisch von oben bis unten und kontrollierte ihren Ausweis, bevor er widerwillig lächelnd den Gang hinunter deutete. »Einmal um die Ecke, dann die letzte Tür links.«

Ein gehauchtes Dankeschön später ging Alena tiefer in das Gebäude des Berliner Kriminaltechnischen Instituts. Mit seinen blassgrünen Böden, weißen Wänden und automatischen Türen erinnerte es unweigerlich an ein Krankenhaus und auch die sterile, metallisch riechende Luft unterstrich dieses Bild. Die junge Frau passte hingegen mit ihrer dunklen Schminke, ihrem Kleid in warmen Rottönen und ihrer teuren Handtasche kaum in die kalten Räume, doch Alena genoss diesen Kontrast. Selbstbewusst schritt sie an den Angestellten des Instituts in ihren weißen Kitteln vorbei, bis sie das Büro von Dr. Hochwart erreichte. Durch ein offenstehendes Fenster war der kleine Raum unangenehm kalt, doch Alena kümmerte sich wenig darum und schlug demonstrativ ihre unbekleideten Beine übereinander, während sie vor dem Schreibtisch der fülligen Ärztin Platz nahm.

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie auf das Hilfegesuchen der Polizei geantwortet und uns bei der Identifizierung des Opfers geholfen haben. Aber ich kann mir trotzdem beim besten Willen nicht erklären, wie der Staatsanwalt Ihrem Anliegen zustimmen konnte,« begann Dr. Hochwart und rückte dabei ihre modische Brille zurecht. »Haben Sie sich das wirklich gründlich überlegt?«

»Ja«, entgegnete Alena knapp und beugte sich nachdrücklich nach vorne. »Ich will die Leiche meiner Schwester sehen!«

Die Ärztin nickte nachdenklich, öffnete suchend zwei Schubladen und reichte ihr schließlich aus der dritten eine Aktenmappe mit einigen Fotografien. »Wie Ihnen glaube ich bereits erklärt wurde, hat der Täter ihre Schwester schrecklich verstümmelt. Ich will Sie nicht bevormunden, aber vielleicht ist es besser, wenn Sie ihre Schwester so in Erinnerung behalten, wie sie zu Lebzeiten war.«

Alena schob die Mappe sofort zurück. »Ich bin nicht hier für Fotos«, zischte sie wütend, auch wenn ihre verstorbene Schwester diesen harschen Ton als unweiblich verurteilt hätte.

Die Ärztin seufzte leise, während sie aufstand und resigniert zur Tür ging. »Bitte folgen Sie mir.«

Wieder führte der Weg durch die sterilen Gänge des Kriminaltechnischen Instituts, doch dieses Mal ging es zum Fahrstuhl. Im zweiten Untergeschoss zog sich Dr. Hochwart dann Kittel, Haube, Mundschutz und Handschuhe über und Alena tat es ihr gleich. Immer wieder zupfte sie im Laufen an dem blassgrünen, unförmigen Outfit, das bis auf ihre roten Schuhe ihre figurbetonte Kleidung vollständig verbarg. Deren Absätze hallten dafür umso lauter durch die unterirdische Leichenhalle, bis Dr. Hochwart schließlich einen der Räume aufschloss und Alena hineinführte.

Regale mit medizinischen Utensilien und unleserlich beschrifteten Schubladen pressten sich hier zwischen nicht weniger als fünf Waschbecken. Auf den Anrichten darüber lagerten grell-gelbe Schläuche und ganze Wannen mit Desinfektionsmittel. Doch Alena schenkte den Gerätschaften der Gerichtsmedizin kaum Beachtung. Ihr Blick haftete starr auf der humanoiden Form, die unter einer schwarzen Plane auf der mittleren von drei metallenen Liegen lag.

Dr. Hochwart legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. »Ich weiß nicht, warum Sie sich das antun, aber noch können Sie es sich anders überlegen.«

Mit einem kleinen Ruck befreite sich Alena von der Hand der Ärztin und schüttelte nur wortlos den Kopf. Dr. Hochwart seufzte ein weiteres Mal und zog langsam die Plane bis zu den Schultern der Verstorbenen zurück.

Das Gesicht von Prinzessin Iloris Torell, dem aufgehenden Stern, der Dritten ihres Namens und Generälin der geflügelten Ritter war entstellt. Ihre Ohren waren abgeschnitten, die Augen nur noch leere Höhlen und tiefe Schnitte zeichneten Runen in ihre Haut. Alena flüsterte eine Grußformel in der ältesten aller Sprachen, während ihr Blick ruhig über die einst vollkommenen Züge ihrer Schwester schweifte. Wer kann dir das angetan haben?, dachte sie und erinnerte sich, wie Iloris und sie sich einst Riesen und Trollen entgegenstellten und selbst in die Tiefen der jenseitigen Höllen vorgedrungen waren. Sind wir so schwach geworden?

Während Alena noch in Erinnerungen versunken auf ihre Schwester starrte, machte sich Dr. Hochwart bereits daran, den Leichnam wieder zuzudecken. Alena sah das nur aus dem Augenwinkel und doch hielt sie blitzschnell die Hand der Ärztin fest.

»Frau Schäfer, Sie haben Ihre Schwester jetzt gesehen und das muss reichen!«, rief Dr. Hochwart energisch und wollte noch etwas hinzufügen, doch als die Haut von Alena zu flimmern begann, hielt sie inne. Stumm und verwirrt starrte sie auf die junge Frau vor sich, während Alena sich auf die Ley-Linien, das immer schwächer werdende magische Skelett der Welt, konzentrierte. Unter der Erde fiel es ihr leichter sie zu spüren und doch waren sie fast gänzlich verschwunden. Nur wenige Funken vermochte sie zu sammeln und formte sie zu einer schimmernden Schlange, die ihre Fangzähne in der Ärztin versenkte und sie in einen traumlosen Schlaf versetzte. In ein paar Stunden würde sie erwachen und sich an nichts erinnern was seit Sonnenaufgang geschehen war. Alenas Arbeit konnte beginnen.

Langsam enthüllte sie den geschundenen Leib ihrer Schwester und begann mit ihren Fingern über die blutigen Runen zu fahren, die am ganzen Körper in ihre Haut geschnitten waren. Alenas prüfender Blick suchte nach Kampfwunden von Waffe oder Zauber, doch sie entdeckte nichts außer schwarzen Äderchen an der Kehle ihrer Schwester. Wer immer der Täter war, hatte aber zumindest durch die abgeschnittenen Ohren und die ausgestochenen Augen sichergestellt, dass kein menschlicher Arzt ihre wahre Identität sofort bemerken würde. Oder aber der Täter hatte sie als Trophäen an sich genommen. Alenas Gedanken rasten um längst vergessene Schrecken, die gegen Iloris auf Rache sinnen könnten. Immer wieder schlug sie wütend mit der Faust auf die metallene Liege. Das Material bog sich unter ihrer Kraft und der Körper ihrer Schwester erzitterte.

»Wer hat dir das angetan?«, brüllte Alena mit aller Kraft, doch die Lippen ihrer Schwester blieben versiegelt und hallten ungehört von den kalten Wänden wider. »Wer wagt es uns anzugreifen?«, wiederholte sie ihre Frage, doch erneut gab es keine Antwort. Wütend schnaubend blickte Alena sich um und versuchte wieder die Kraft der Ley-Linien zu nutzen, um den Schleier der Vergangenheit magisch zu durchdringen. Doch die Ley-Linien waren zu schwach und ihre Konzentration reichte nicht aus. Es war als wollte sie mit einem Netz Wasser schöpfen. Alles was sie erreichte war ein leichtes Flimmern der Luft und ein Vibrieren der Utensilien in den Schränken um sie herum.

Der gescheiterte Versuch hatte mehr Kraft verbraucht als gewonnen und Alena spürte, wie der Glimmer, der ihr Aussehen formte, nachgab. Hektisch tastete sie über ihr Gesicht, suchte eine spiegelnde Oberfläche und untersuchte ihre Erscheinung. Höchstens einen Menschen würde ihr Glimmer noch täuschen können und die konnten ihr bei der Lösung des Rätsels nicht helfen. Trotzdem wollte sie nicht warten, bis sich ihre Kräfte erholt hatten. Sie brauchte Antworten und es gab andere, die zweifellos mehr über diese Runen und den Tod ihrer Schwester wussten und die königlichem Blut Gehorsam schuldig waren. Alena nickte entschlossen, zog eine Phiole aus ihrer Handtasche, hielt sie an das Ohr ihrer Schwester und öffnete sie behutsam. Ein in allen Farben des Regenbogens schimmernder Käfer kam aus dem Inneren hervor, streckte seinen vielfach gehörnten Kopf in alle Richtungen und kroch in das Ohr der Toten.

»Der Yetari wird deinen Leib verschlingen, Schwester, und du wirst wieder eins mit der Erde. Doch mein Kampf ist noch nicht vorbei!« Ohne eine weitere Geste des Abschieds machte sich Alena auf den Weg heraus aus dem Institut, legte die medizinische Schutzkleidung schon im Laufen wieder ab und begann mit den ersten Anrufen, sobald sie im Erdgeschoss wieder Empfang hatte. Die Jagd hatte begonnen.

§§§

Etliche Gespräche mit alten Kontakten und eine unangenehme Taxifahrt später stand Alena zwischen alten Plattenbauten im Osten Berlins. Der Himmel über ihr war trüb, die von Abgasen schwere Luft roch noch schlimmer als die in dem gammeligen Taxi und selbst eine lästige Fliege schien ihr aus dem Auto gefolgt zu sein, um ihr weiter mit ihrem Summen den Verstand zu rauben. Die junge Frau konnte ihre Wut nur schwer zügeln, doch zumindest fand sie nach einer Weile die gesuchte Adresse und konnte auch die Fliege mit einem gezielten Schlag verjagen.

Sie stand vor einem großen Elektromarkt, dessen blau-weiße Einrichtung genau wie bei jedem anderen seiner Art gestaltet war. Alena schritt durch die Eingangstür, vorbei an Sicherheitssensoren und Regalen voller Kabel, Batterien, Druckerpatronen, Kopfhörern und Computertastaturen. Die anderen Kunden kümmerten sie genauso wenig wie das immer gleiche Warenangebot. Sie suchte einen der Mitarbeiter, den sie schließlich im zweiten Stock zwischen den Waschmaschinen fand. Er war gerade im Gespräch mit einem älteren Ehepaar und bemerkte sie zuerst gar nicht. Stattdessen erzählte er in blau-weißem T-Shirt und mit fachkundigem Ton von den Vorzügen der verschiedenen Modelle und schien sich dabei sehr zu gefallen. Was das Ehepaar mit seinen menschlichen Augen jedoch nicht sah, war, dass sich unter der Illusion eines Mannes mittleren Alters, mit Geheimratsecken und flüchtendem Kinn, ein alter Satyr mit Hufen und Hörnern verbarg, dessen einst braunes Fell grau und dünn geworden war.

Als Jens Iwanow, wie er sich laut Namensschild nannte, Alena jedoch schließlich bemerkte, brachte er das Beratungsgespräch zu einem schnellen Stopp und ließ die beiden Kunden mit ihrer Entscheidung allein. Stattdessen trat er auf die junge Frau zu und deutete eine Verbeugung an. Ihr geschwächter Glimmer war für seinen geschulten Blick mühelos durchschaubar.

»Mein Prinz, es ...« begann er, doch Alena unterbrach ihn mit erhobener Hand.

»Wo können wir ungestört sprechen?«, fragte sie barsch und folgte dem Satyr in einen der Lagerräume, auf dessen Tür groß »Zutritt verboten!« stand. Eine Kollegin und ein Kollege von Jens bemerkten zwar, wie er die junge Frau unerlaubt dorthin führte, doch wenn Alena die Blicke der beiden richtig deutete, schienen sie Jens in Gedanken mehr zu seiner guten Partie zu gratulieren. Doch im Augenblick gab es für sie Wichtigeres, als sich mit den vorschnellen Vermutungen von Menschen aufzuhalten.

In dem Lagerraum angekommen, verneigte sich der alte Satyr noch einmal ehrfürchtig vor ihr. »Wenn ich mich vorstellen darf, mein Name ist Orrus und es ist mir eine Ehre Euch zu dienen, Prinz Alenios.«

Alena atmete tief ein und konzentrierte sich auf ihre Mission. »Es heißt jetzt Prinzessin Alena«, korrigierte sie Orrus und konnte nicht anders als daran zu denken, wie er durch ihren Glimmer auf ihren männlichen Körper sah. Alle medizinischen Versuche ihn zu ändern scheiterten an der rasanten Selbstheilung ihres Leibs und ihre Magie an den geschulten Augen von Orrus. Doch bevor der Satyr etwas dazu anmerken konnte, fuhr sie fort, ohne Widerworte zu dulden. »Du weißt, weswegen ich dich aufgesucht habe?«

»Mein Prinz,« setzte Orrus an, kam ins Stocken und strich sich hastig über seinen Kinnbart, bevor er fortfuhr. »Eure Hoheit, es wurde mir in der Tat berichtet. Und ich war überrascht von Euch zu hören, Ihr wart so lange verschwunden, dass ich Euch tot glaubte.«

Erneut deutete Orrus eine unterwürfige Verbeugung an, doch Alena mochte sein Gehabe nicht. Sie standen nicht im einst gold-schimmernden Palast ihres Vaters, sondern zwischen Paletten mit braunen Kartons. In der Luft tanzten keine Feen, sondern nur Staubkörner im Sog der Klimaanlage und das Licht der surrenden Lampen war kalt und grau.

»Ich brauche deinen Rat, Wissenssucher.«, sagte sie und zeigte ihm eine Zeichnung der Runen. »Was bedeuten diese Symbole, die in den Leib meiner Schwester geschnitten wurden?«

Orrus nahm das Papier, führte es nahe vor seine Augen und musste sich schließlich auf eine der Paletten setzen, während auch er kräftezehrend versuchte die versiegende Macht der Ley-Linien zu nutzen. Sein Glimmer flackerte und für einen Moment fürchtete Alena jemand könnte hereinkommen und seine wahre Gestalt erblicken, doch sie blieben allein. Stattdessen formte sich ein schwerer, mit Juwelen verzierter Foliant aus funkelnder Energie in der Hand des Satyrs und er begann murmelnd auf alten Seiten Formeln und Zeichen zu studieren. Alena begann währenddessen unruhig auf und ab zu gehen, knickte dabei einmal fast mit ihren hohen Absätzen um und verfluchte sich für ihre Schuhwahl. Doch sie störte Orrus nicht bei seiner Suche und wartete geduldig, bis er langsam und wohlüberlegt zu sprechen begann.

»Eure Hoheit, die Runen sind dunkle Magie der Menschen, die nicht mit der Kraft der Ley-Linien, sondern mit Fleisch und Blut zaubern.«

»Blutmagie,« zischte Alena. Ihre schlimmste Befürchtung hatte sich bestätigt. »Doch was für ein Zauber ist es, den der Mörder wirken will?«

Orrus hielt kurz inne, als würde es etwas ändern, wenn er seine Erkenntnisse geheim hielt. Doch schließlich begann er leise, fast hauchend weiterzusprechen. »Es ist eine Beschwörung. Der Blutmagier will den Höllenfürsten Ashmodai in diese Welt rufen.«

»Ashmodai?« Alena erstarrte für einen Augenblick. Schon einmal hatte sie sich dem Feuer des Dämons in den jenseitigen Höllen gestellt, damals mit ihrer Schwester, und beide überlebten sie den Kampf nur knapp. »Zweifellos weißt du, dass ich diesen Namen nicht zum ersten Mal höre. Hat der Tod meiner Schwester mit unseren früheren Taten zu tun? Ist der Mörder ein Anhänger des Höllenfürsten, der seinem Herrn gefallen will?«

»Ja und Nein«, entgegnete Orrus und deutete auf den schweren Folianten in seinen Händen. »Die alten Schriften künden davon, dass Ashmodai nur mit königlichem Blut beschworen und beherrscht werden kann, das bereits von seinem weiß-glühenden Feuer berührt wurde.« Er atmete tief ein, bevor er fortfuhr, während Alena ihn mit ihrem Blick durchbohrte. »Und Ihr seid in großer Gefahr, Eure Hoheit. Denn der Blutmagier braucht euer beider Blut.«

»Halte mich nicht unnötig hin, Wissenssucher!« befahl Alena dem alten Satyr und hatte noch im selben Moment Iloris mahnende Stimme im Kopf, dass eine Frau nicht so barsch sein darf.

Orrus fuhr seinerseits augenblicklich fort: »Das Blut einer Prinzessin lockt den Dämon herbei, Eure Hoheit, aber nur das Blut eines Prinzen vermag ihn zu beherrschen.« Der Satyr fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut und schaute an Alena vorbei auf die unzähligen braunen Kartons, wo sein Blick schließlich an einer fetten Fliege hängen blieb. Alenas sah das und mit einem schnellen Hieb erschlug sie das Tier. »Richte deine Augen auf mich, Wissenssucher, wir …«

Alena unterbrach ihre wütende Rede, da sich die Augen des Satyrs plötzlich geweitet hatten und blickte auf ihre Hand. Schwarzer, teerartiger Schleim und Klumpen geronnenen Blutes klebten daran. Sie war keine Gelehrte, doch auch sie wusste sofort, dass sie keine Fliege erschlagen hatte. Ein Homunculus, ein Blutgolem, hatte sie belauscht. Blitzartig suchte sie den Raum ab und auch Orrus sprang erschrocken auf. Aus der Verkaufshalle war bereits Tumult zu hören.

»Es tut mir leid, aber dieser Bereich ist nur für Mitarbeiter!«, betonte einer der Kollegen von Orrus mit Nachdruck und als Alena die Tür des Lagerraums einen Spalt breit öffnete sah sie, wie er mit dem Pförtner aus dem Kriminaltechnischen Institut sprach. Doch dessen faltiges Gesicht wirkte jetzt alles andere als gelangweilt. Seine Augen funkelten böse, als sich ein kleiner Schnitt in seiner Hand bildete und der Mitarbeiter des Ladens sich im nächsten Moment röchelnd an die Kehle faste. Schwarze Adern zogen sich dort über seine Haut, wie Alena sie bereits bei ihrer Schwester gesehen hatte. Und während der so Verzauberte zu Boden sank, trafen sich die Blicke Alenas und des Pförtners und der Mann lächelte siegessicher.

Ruckartig zog Alena die Tür wieder zu und schaute kurz zu Orrus, doch der alte Satyr würde ihr kaum helfen können. Noch einmal tastete sie mit ihren Sinnen nach den Ley-Linien, konnte sie nur wie einen Silberstreif am Horizont erahnen und formte mit großer Mühe einen goldenen Speer aus funkelnder Magie. Was ihr einst so leicht gefallen war wie Atmen, erforderte nun ihre vollständige Konzentration und ließ ihren Glimmer erlöschen wie eine Flamme, der die Luft geraubt wurde. Lange schwarze Haare, spitze Ohren, reptilienhafte Augen und ein immer noch schlanker, aber falscher Körper. Alena konnte nicht anders, als an ihre Erscheinung zu denken und doch war da auch die Kriegerin in ihr, die sich an alte Schlachten erinnerte. Schnell waren die unpraktischen Schuhe abgestreift und der Speer zum Kampf erhoben. Orrus verbarg sich hinter Kisten und Paletten und für einen Moment war es ruhig in dem kleinen Lagerraum.

Dann flog die Tür krachend aus den Angeln. Ihr Holz war schwarz und verrottet, als sei es hundert Jahre alt. Noch bevor sich der aufgewirbelte Staub legen konnte, trat der Pförtner durch das entstandene Loch, einen schwarzen Stab in der einen Hand, eine Kristallkugel mit rot waberndem Nebel im Inneren in der anderen. Ohne zu zögern ließ Alena ihren Speer auf ihn niederfahren, doch eine unsichtbare Kraft schleuderte sie zur Seite. Orrus nahm seinen Mut zusammen und wollte verzweifelt eine Kiste nach dem Blutmagier werfen, doch plötzlich griff auch er sich an die Kehle und sank atemlos zu Boden.

»Jämmerlich!« rief der Blutmagier mit unnatürlich schriller Stimme und während er sprach, begann sich sein Gesicht wie eine Maske von seinem Kopf zu lösen und gemeinsam mit seiner zu großen Uniform zu Staub zu zerfallen. Statt dem einfachen Pförtner stand eine hochgewachsene Frau mit schlohweißem Haar und ausgemergeltem Gesicht vor Alena. Unter ihrer hellen Haut zeichneten sich zahllose blaue Adern ab und ihr langes, dunkles Kleid stank nach geronnenem Blut.

»Dass ich deine lächerliche Verkleidung zuvor nicht durchschauen konnte, beschämt mich, Prinz Alenios.«

Abfällig musterte die Blutmagierin Alena, doch die hatte den Kampf noch nicht aufgegeben. Sie sammelte ihre Wut auf die Magierin, sprang mit einem schnellen Satz auf und schleuderte ein kleines Paket auf eine der Deckenlampen, deren Leuchtröhren funkenstäubend zersprangen. Für einen Wimpernschlag blickte die Blutmagierin zur Decke und dieser Moment reichte Alena. Blitzschnell stieß sie ihren Speer nach vorne, traf die Magierin zwischen die Rippen und verfehlte ihr Herz nur knapp. Erstickt rang die Magierin nach Luft, als statt dem Herzen ihre Lunge durchbohrt war, während Alena bereits zum nächsten Schlag ansetzte. Wirbelnd zog sie den Speer zurück, ließ ihn schwingend niederfahren und zielsicher traf die Klinge die Kehle der Frau. Dunkles Blut spritzte aus der Wunde auf Pakete und Alenas Kleid. Die Blutmagierin brach zusammen wie eine Marionette, deren Fäden durchtrennt waren.

Alena wollte aufatmen, doch Orrus rang immer noch verzweifelt nach Luft. Der Zauber hatte noch Kraft und die Blutmagierin … Einen Augenblick zu spät setzte Alena zu einem weiteren Schlag an, doch noch bevor sie die Magierin traf, begann das Blut in ihrem Leib wie Feuer zu brennen und zwang sie mit einem Schmerzensschrei in die Knie. Klirrend entglitt der goldene Speer ihren Händen, während sich die Blutmagierin unnatürlich wie eine gliederlose Puppe wiederaufrichtete. Ihre Wunden waren nicht verheilt, doch sie bluteten auch nicht mehr. Unheilige Magie gab der Frau neue Kraft und nahm Alena gleichzeitig die Kontrolle über ihren Körper, als würden ihre Muskeln gegen eine unsichtbare Kraft in ihrem Inneren ankämpfen und die Magierin das Blut in ihren Adern kontrollieren.

»Ich mag es kaum glauben, dass ihr einst uns Blutmagier erniedrigt und gerichtet habt, Prinz Alenios«, begann die Frau aus ihrer aufgeschlitzten Kehle zu gurgeln, während sie ihren dunklen Stab auf Alenas Brust legte. »Es widert mich an, dass die euren einst die Jäger waren und die meinen die Gejagten. Doch wie sich das Blatt nun gewendet hat, da eure Macht versiegt.«

Wie die Schnitte eines unsichtbaren Dolches bildeten sich im nächsten Augenblick klaffende Wunden auf Alenas Haut. Mühevoll unterdrückte sie es vor Schmerzen zu schreien und doch musste sie hilflos mitansehen, wie sich auf ihrem Leib dieselben blutigen Runen bildeten wie auf dem ihrer Schwester.

»Nun werden die Meinen über die Welt herrschen und Armeen von Dämonen werden Menschen und magische Wesen gleichermaßen in die Knie zwingen!« Die Magierin schrie ihre Worte mit übermenschlicher Lautstärke, die Deckenlampen im ganzen Gebäude zersprangen in tausend Scherben und eine unnatürliche Finsternis begann sich auszubreiten. Aus dem Verkaufsbereich waren ängstliche Rufe zu hören, Menschen verließen das Gebäude fluchtartig und während Alena noch um ihr Leben rang war Orrus bereits bewusstlos zusammengesunken.

Mit ihrem Stab begann die Magierin nun rot leuchtende Runen in die Luft zu zeichnen, sprach mit dunkler, verzerrter Stimme verbotene Formeln und schleuderte ihre Kristallkugel wuchtig auf den Boden. Klirrend zersprang sie und der rote Nebel in ihrem Innern, das Blut von Prinzessin Iloris Torell, begann sich in einem Wirbel mit dem aus Alenas Wunden zu vermischen. Die Beschwörung des Höllenfürsten Ashmodai war nicht mehr aufzuhalten.

Risse bildeten sich in der Zwischenwand zum Verkaufsraum, ließen sie stückweise zusammenbrechen und gaben die Sicht frei auf die in Dunkelheit gehüllten Regale voller Elektronikartikel. Das ganze Gebäude begann zu beben, ängstliche Menschen kauerten sich hinter Kühlschränke und Computergehäuse, während sich ein Spalt im Gefüge der Realität zu öffnen begann. Es war als würde ein Blitz von der Decke zum Boden zucken, der in der Zeit eingefroren war und wütend gegen die Kraft ankämpfte, die ihn festhielt.

Gerade gelang es noch einigen Menschen durch die zertrümmerten Eingangstüren ins Freie zu fliehen, als schwarze Klauen aus dem Blitz wuchsen, diesen auseinander rissen und ein Portal in eine Welt voller Klagen und Leid öffneten. Weiße Flammen züngelten aus dem Dimensionstor, ließen Metall und Plastik schmelzen und hüllten eine vielleibige Gestalt ein, die sich in den Raum zu wälzen begann. Ashmodai war erschienen - eine gewaltige, unförmige schwarze Masse aus Zähnen und Klauen inmitten eines Meeres aus weiß-glühenden Flammen.

Die Stimme des Dämons war ein gurgelndes Donnern, voller Schmerz und Zorn. »Wer wagt es, mich in diese sterbende Welt zu locken? Wer wagt es, mich aus meinem ewigen Schlaf zu erwecken?«

Alena hatte bereits kraftlos die Augen geschlossen, alles um sie herum drehte sich und sie vermochte durch den Blutverlust und die Schmerzen kaum noch zu atmen. So hörte sie nur, wie die Blutmagierin dem Dämon mit gebieterischer Stimme antwortete. »Ich habe dich beschworen, Höllenfürst! Mit dem Blut einer Prinzessin lockte ich dich aus deinem Reich und mit dem Blut eines Prinzen gebiete ich dir. Sei fortan mein Sklave und verneige dich vor mir!«

Eine unbeschreibliche Hitze erfüllte den Raum, als die Flammen des Dämons wütend aufloderten. Die Farbe an Wänden und Decken bekam Risse, der Boden platzte auf, Handys und Fernseher zerschmolzen zu unförmigen Haufen und auch vor der Blutmagierin machten die Flammen nicht halt. Ihre Haare fingen Feuer, ihre Haut warf Blasen und schreiend ging sie zu Boden. Mit schmerzverzerrtem Blick starrte sie in Richtung des immer größer werdenden Dämons, der sich brennend vor ihr aufbäumte.

»Du Närrin, keines Prinzen Lebenskraft bindet mich!« Die Blutmagierin begriff zu spät. Brennend und schwer verwundet konnte sie Ashmodai nichts entgegensetzen und war machtlos als sein glühender Leib sie erdrückte und ihren Körper zu Schlacke und Asche zermalmte. Doch ohne die Blutmagierin begann auch das Höllentor seine Kraft zu verlieren und der weiß-glühende Höllenfürst wälzte sich, von unsichtbaren Kräften gezogen, in seine Welt zurück.

Als er verschwunden war, brannte das Gebäude. Wo die Flammen des Dämons nicht nur Asche und zerschmolzenes Plastik zurückgelassen hatten, hatten sie Kartons und Styropor entzündet. Zahllose Brandherde breiteten sich rasend schnell aus. Der Rauch entlockte Alena ein schmerzhaftes Husten, während sie halb bewusstlos in dem einstigen Lagerraum lag. Von draußen hörte sie die Sirenen der Feuerwehr, musste an die Worte des Höllenfürsten denken und konnte nicht anders als mit ihrem letzten Atemzug triumphierend zu lachen.

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Die letzte Heimkehr

James A. Sullivan

Er wartete, bis meine Schicht im Lagerhaus vorüber war, und lauerte mir in der Gasse auf, die zwischen zwei Warendepots verlief und durch die ich oft den Weg zu meinem Wagen abkürzte. Er zog erst an meinem Rucksack, dann an meinem Haar, und schließlich trat er mir die Beine weg und verspottete mich. Und bei all dem konnte er nicht ahnen, worauf er sich einließ und wie es deswegen für ihn enden musste.

Sein starker deutscher Akzent ließ mich vermuten, dass dieser Mann in Irland fremd war – fremder noch als ich. Er erklärte mir, dass ich in solchen Sommernächten als Sexarbeiterin mehr Geld verdienen könne als im Lagerhaus als Nachtwächterin. »Alle stehen auf exotische Frauen«, fügte er hinzu.

Ein überhebliches Grinsen zog sich über seine gerötete Miene. Doch der Tritt in den Magen, der mich noch weiter hätte demütigen sollen, wurde zu einem Angriff gegen einen Körper, der sich gedankenschnell verwandelt hatte, als sammelten sich kalte Steine unter meiner Haut, ohne dass sich etwas nach außen hin andeutete.

Es knackte, als hätte mein Widersacher meinen Magen verfehlt und sich an meiner Hüfte den Fuß gebrochen. Während in mir der Schmerz nur kurz aufflackerte, stachelte er meinen Gegner zu einem langen Schrei an und brachte ihn aus dem Gleichgewicht, sodass er aus dem Licht der Laterne hinaustaumelte und stöhnend zu Boden fiel.

Ich nahm meine verborgene Verwandlung zurück, und das Verschwinden des Druckgefühls bescherte mir für einen Moment die Empfindung von Leerstellen zwischen Haut und Fleisch.

Langsam erhob ich mich vor dem Fremden. Er fluchte, löste vor Schmerz grunzend die Hände von seinem Fuß und griff in seine Jackentasche.

Ich musste lachen. Hier draußen in dem kleinen Gewerbegebiet am Rande von Tallaght würde uns mitten in der Nacht niemand hören – außer vielleicht Glenn, der mich drüben bei Almandine Logistics abgelöst hatte und wenig Sympathie für Menschen hegte, die nachts Leute überfielen.

Mein Angreifer fluchte mir variierende Bezeichnungen für Sexarbeiterinnen entgehen und zog einen Elektroschocker aus der Innentasche seiner Jacke.

»Ich hätte ja mit einem Messer gerechnet«, erwiderte ich. »Vor einer Pistole hätte ich sogar Respekt gehabt.«

Mit seinen Flüchen fand er schließlich das, was solche Kerle so oft finden, wenn sie mit mir zu tun haben und merken, dass sie unterlegen sind: Er verknüpfte rassistische und sexistische Schimpfwörter miteinander, als wären es Zaubersprüche, die im Verbund mehr Kraft entfalteten.

Mit einer schnellen Bewegung und angetrieben von der kühlen Magie, die in mir pulsierte, packte ich mit der einen Hand den Arm meines Angreifers, mit der anderen entriss ich ihm den schmalen Elektroschocker und warf diesen zur Seite.

Der Fremde griff nach meinem Arm, aber ich versetzte ihm einen Tritt zwischen die Beine und brach damit seine Angriffslust. »Das war von einer exotischen Frau!«, stieß ich ihm entgegen, während er nur ein Wimmern ausstieß. Ich trat ihm in den Magen. »Das war für die unverlangte Karriereberatung.« Ich trat immer wieder auf ihn ein. »Und der ist dafür, dass du was gegen Sexarbeiterinnen hast! Der hier ist für das N-Wort! Und das ist für die jämmerlichen Wortkompositionen!«

Mein Widersacher schaute schließlich mit hassverzerrter Miene zu mir auf und ballte seine Faust.

»Und der ist für all die, denen du vorher aufgelauert und was auch immer angetan hast«, sagte ich und versetzte dem Mann einen Schlag ins Gesicht. Er sank zusammen und starrte mich nur noch an.

Die Versuchung war groß, mich vor seinen Augen komplett in meine andere Gestalt zu verwandeln. Bisher war ich für ihn ein Mensch, der sich als wehrhaft erwiesen hatte. Zu gerne hätte ich ihm gezeigt, wie meine braune Haut ebenso ergraute wie meine schwarzen Locken. Früher hatte ich mich an den vor Angst geweiteten Augen meiner Widersacher erfreut. Aber damit hätte ich hier zu viel offenbart. Natürlich hätte man ihm zunächst einmal nicht geglaubt, dass er einer Frau aus Stein begegnet war. Aber es gab da draußen Leute, die es glauben würden – Leute, die nur darauf warteten, dass Meinesgleichen sich zu etwas hinreißen ließen.

»Wenn ich rauskriege, dass du noch mal irgendwem auflauerst, leg ich dich um«, sagte ich, und was immer der Angreifer, den ich gerade zum Opfer gemacht hatte, in meinem Gesicht fand, es brachte ihn zum Zittern.

Ich prüfte, ob mit meinem Rucksack alles in Ordnung war, und setzte den Weg zu meinem Wagen fort. Als ich am Ende der Gasse noch einmal zurückblickte, lag mein Opfer noch immer schwer atmend da und starrte mir hinterher.

In aller Ruhe näherte ich mich meinem Wagen – einem kotzgelben Haufen Schrott, der mich daran erinnerte, dass ich meinen geliebten Viertürer hatte verkaufen müssen, weil das Geld sonst nicht gereicht hätte.

Ich legte meinen Rucksack auf den Beifahrersitz ab, und nach dem üblichen Widerstand des Wagens und meinem Ritual des guten Zuredens sprang der Motor an. Während ich in Tallaght durch leere Straßen vom Industriepark in Richtung M50 fuhr, fragte ich mich, wie lange ich dieses Spiel des allmählichen Niedergangs noch spielen konnte.

Das neue Jahrhundert war nicht gut zu mir. Im letzten hatte ich mehr Geld gehabt, als ich gebraucht hätte. Aber mit meiner Ankunft in Dublin, abgeschnitten von fast allem, hatte ich nur von dem leben müssen, was mir geblieben war.

Als Schwarze Frau, am Akzent leicht als Amerikanerin zu erkennen, war meine Irland-Erfahrung eine der Fremdheit gewesen. Die Iren waren überwiegend freundlich zu mir, aber auch neugierig. Ich hatte lernen müssen, nicht viel zwischen mir und anderen entstehen zu lassen. Ich ging nicht mehr aus, wie ich es in den frühen 1920ern in New York mit Sema noch gerne getan hatte, oder mit ihren Vertrauten in den 1970ern in und um Seattle und Vancouver. All das war vorüber. Semas Vertraute waren fort, die wenigsten von ihnen dürften die Angriffe unserer Feinde überlebt haben – und falls doch, sind sie nun uralt und sehen ihrem Ende entgegen.

Das Altern ist eine Last, von der Sema mich befreite, indem sie mich zu einer Gargoyle machte. Aber was nützte es mir, nicht mehr zu altern, wenn ich einsam war und jedes Sichtbarmachen meiner selbst die Gefahr barg, dass dadurch auch Sema sichtbar wurde.

Glenn und die anderen kannte ich nur von der Arbeit. Es gab keine Überschneidung mit meinem Privatleben. Und bei den Leuten in meiner Straße, den Ladenbesitzern und bei den anderen Menschen, auf die ich immer wieder traf, achtete ich darauf, dass ich sie viel über sich selbst reden ließ, ich aber nur Unverfängliches von mir preisgab.

Die Neugier der Menschen zu befriedigen fiel mir leicht. Anders als die Schwarzen Iren war ich fremd in diesem Land und beantwortete gerne, woher ich kam und wie mein Leben in den USA gewesen war. Dabei merkte niemand, dass ich einen Teil meiner Erfahrungen aus dem 19. aufs 20. und 21. Jahrhundert übertrug.

Egal, wie gut ich darin war, das Gespräch vom Kern meines Wesens und meiner Erfahrung fernzuhalten, früher oder später würde irgendjemand merken, dass ich nicht alterte. Irgendwann würde ich auf die Verbindungen zurückgreifen müssen, die mir mit neuen Papieren eine neue Identität bescherten – ein neues Geburtsdatum.

Anders als Sema konnte ich mein menschliches Äußeres nicht nach Belieben anpassen. Mein menschlicher Körper sträubt sich gegen jede Veränderung. Schneide ich mir das Haar ab, wird es binnen Tagen nachwachsen. Nur in meiner Steingestalt kann ich mein Aussehen ein wenig verändern, habe es dabei aber nie so weit gebracht wie manche meiner Geschwister, die sich in alle möglichen Formen verwandeln können.

Offiziell war ich damals Anfang vierzig, sah aber auch da aus wie Mitte Zwanzig. Mein natürliches Haar verbarg viel meines Gesichtes. Dennoch würde ich die Leute, die mich kannten, nicht ewig täuschen können. Die Frage war: Durfte ich die alten Verbindungen nutzen – wie das letzte Mal vor einundzwanzig Jahren? Jeder der alten Kontakte barg die Gefahr, dass unsere Feinde uns auf die Spur kamen.

Aber selbst, wenn ich das Wagnis einging, konnte ich diese Kontakte nur gegen Bezahlung nutzen. Und an Geld mangelte es mir seit Jahren. Das erinnerte mich an die bitteren Jahre, ehe meine Eltern Sema gefunden hatten. Ich hatte in schlimmster Armut begonnen und fürchtete nun, dort wieder zu enden.

Trotz der nachtstillen M50, von der ich nach einer Weile auf die ebenso ruhige R148 abfuhr, hielt ich mich an die Geschwindigkeitsbegrenzung. Jede noch so kleine Abweichung mochte die Polizei oder irgendwen sonst auf mich aufmerksam machen. Der alte Wagen mit seiner unmöglichen Farbe stach schon genug hervor.

Damals, als Sema und ich noch menschliche Vertraute gehabt hatten, die alles für uns regelten, war ich nur selten einmal aus meinem Statuenschlaf aufgewacht – meist nur, wenn die Vertrauten mich weckten, weil sie meine Gesellschaft genießen wollten. Sie waren gewöhnliche Menschen gewesen, die ihr Wissen und die ihnen verliehene Verantwortung von Generation zu Generation weitergaben. Diese Gemeinschaft hatte sich wie ein Schutzwall um uns geschlossen.

Als unsere Feinde – die Söhne des Perseus – uns damals in Vancouver aufgespürt hatten und unsere Vertrauten Sema und mich – beide als scheinbare Statuen – per Frachtschiff auf Umwegen nach Europa geschickt hatten, da rechnete ich bei unserer Ankunft in Italien mit neuen Vertrauten. Aber da erwartete uns niemand. Also war es an mir, die Verantwortung zu übernehmen.

Fast aller Beziehungen beraubt blieb mir nur das Geld. Ich zog von Stadt zu Stadt und verwischte unsere Spuren. Erst in Dublin fand ich eine echte Zuflucht. Inzwischen aber war mir kaum etwas geblieben als das schmale Haus in der Amberson Street, das mir nur noch auf dem Papier gehörte. Und der Wagen, der nicht mehr lange durchhalten würde. Dagegen standen all die Schulden, die ich jonglierte.

Je weiter ich in dieser Nacht in die Stadt kam, um so dichter wurde der Verkehr. Nicht nur hatte Irland am Abend im Männerfußball gegen England gewonnen; die Band Seas of Hypnos hatte heute ein großes Konzert gegeben – ausgerechnet heute, da ich nach dem Angriff in der Gasse nur noch schnell nach Hause wollte.

Ich war zwar erleichtert darüber, dass es nur einer der üblichen Straßenlurche gewesen war, der mich angegriffen hatte, aber im ersten Augenblick, noch ehe er mich zu Boden geschickt hatte, war ich vom Schlimmsten ausgegangen: dass die Söhne des Perseus uns aufgespürt hatten. Sie hätten wahrscheinlich darüber gelacht, dass ich die Einzige war, die Sema beschützte. Oft flüsterte ich ihr verzweifelt zu, dass sie aufwachen müsse, um mir dabei zu helfen, eine neue Gemeinschaft aufzubauen. Aber sie schwieg jedes Mal.

Als ich mich im Stadtzentrum endlich aus dem triefenden Verkehr über die Talbot Street in die Amberson Street rettete, freute ich mich, dass ich diesmal einen Parkplatz kurz vor unserem Haus fand.

Niemand war unterwegs, und obwohl auf den Hauptstraßen Autos hupten und Fans sangen, drang kaum etwas in die kleine Straße zwischen der Marlborough Street und der Gardiner Street ein. Ich liebte es hier – mitten in der Stadt und doch weitgehend vor dem Lärm und der Geschäftigkeit verborgen.

Ich weiß noch, wie ich damals, als ich zum ersten Mal nach Dublin kam, das ganze Zentrum der Stadt zu Fuß erkundete und die Stellen sah, von denen man mir erzählt hatte – wo früher unser Untergrund gewesen war, an den heute nur noch einige tief hinabführende Einfahrten unter Gebäudekomplexen erinnerten. Wo heute Waren angeliefert wurden, hatten sich früher Alte Wesen verborgen. In geheimen Tunneln hatten sie sich unbemerkt durch die halbe Stadt bewegen können.

Doch all das war längst vorüber. Die Polizei war dem Untergrund zu nah gekommen. So hatte sich die Gemeinschaft aufgelöst und war nach England übergesiedelt – einige Gruppen in die Midlands, die meisten aber nach London. Dublin galt daraufhin als Ort, an dem es zu gefährlich war, um sich als magisches Wesen verborgen zu halten.

Ich war – soweit ich das sagen kann – die Erste, die in Dublin wieder Fuß fasste. Nach langem Zögern und zahlreichen Umwegen hatte es mich dorthin verschlagen. Aber ganz gleich, wohin ich gezogen wäre, meine Konten wären irgendwann leer gewesen, und ich hätte mir wie hier Jobs suchen und mich damit sichtbarer und sichtbarer machen müssen.

Ich näherte mich unserem Haus. Das Licht im Wohnzimmer brannte. Es war mein jämmerlicher Versuch zu signalisieren, dass jemand daheim war. Denn jedes Mal, wenn ich nachts ausging, fürchtete ich, jemand könne einbrechen, in meinem Schlafzimmer die verschlossene Tür aufbrechen und Sema finden. Mit der Zeit verblasste diese Angst, aber das Licht ließ ich immer noch an.

Unser schmales Haus wirkte im schwachen Schein der Straßenlaterne wie ein Lückenfüller zwischen zwei richtigen Häusern. Ich schloss die Haustür auf und war froh, sie schnell wieder abschließen zu können. Das Licht aus dem Wohnzimmer fiel auf die Wendeltreppe zur Rechten. Wie jeden Abend stellte ich meinen Rucksack auf der Treppe ab und betrat dann das Wohnzimmer, das sich neben dem Flur und der Küche entlang zog. Es war einmal gemütlich gewesen, nun aber gab es hier nur die Stehlampe und die alte Kommode.

Ich sehnte mich nach der Atmosphäre zurück, die dieser Raum früher versprüht hatte. Das ganze Haus hatte nach und nach seinen Charme eingebüßt. Zuerst hatte ich meinen Schmuck und all die anderen Wertsachen verkauft, die ich in den Jahren, in denen Sema wach gewesen war, zusammengetragen hatte. Dann hatte ich die Möbel versteigert. Mit meinen Erinnerungsstücken verlor ich den klaren Blick in meine Vergangenheit. Es gab nichts mehr, das mich beim Anblick zu einer Erinnerung stimulierte. Alles war nun von meinen Sehnsüchten nach besseren Tagen getrieben.

Ich knipste die Stehlampe aus, sah aber noch die kahle Umgebung mit meinem grauen Blick, der alles wie an einem trüben Tag erscheinen ließ.

Ein Knarzen von oben ließ mich erstarren. Ich lauschte, ob sich auf der Treppe jemand bewegte. Ich hatte zwei Gedanken, und beide drehten sich um Sema. Der eine wurde von meinen Wünschen bestimmt, der andere von meiner Sorge. Und wie so oft war meine Sorge stärker.

Ich wagte mich in den Flur und schaute die Treppe hinauf. Es war unmöglich, sich geräuschlos auf ihr zu bewegen. Dennoch stieg ich lauschend Stufe um Stufe empor und sog den starken Holzduft ein, den ich über die Jahre zu schätzen gelernt hatte. Auf den letzten Schritten hatte ich die geschlossene Badezimmertür im Blick. Links, wo die Treppe in den zweiten Stock begann, war es dunkel, rechts aber stand die Schlafzimmertür einen Spalt offen. Der Schein, der dort schlummerte, machte mich unruhig. Sollte es nun so weit sein? War sie endlich erwacht?

Trotz meiner Erwartung missachtete ich nicht die Vorsicht, die sich über die Jahre tief in mich eingeprägt hatte. Langsam schob ich die Tür auf, und mein Blick fiel auf mein Bett, auf dem sechs schwere Taschen lagen. Aus einigen von ihnen quollen Werkzeuge heraus. Ich schob die Tür weit genug auf, um alles zu sehen.

Die Tür zu Semas Zimmer hätte dreifach verschlossen sein sollen, aber sie stand offen und bot den Blick auf zwei Gestalten. Ich stürmte sofort auf sie los, doch kaum war ich über die Türschwelle, hielt ich inne, denn diese beiden Gestalten – zwei junge Männer mit verzweifelten Mienen und ausgestreckten Armen – waren offenbar auf ihrem Weg zu Semas Bett in der Bewegung zu Stein erstarrt.

Semas Bett – es war leer.

Auf dem Boden neben den Versteinerten lag ein Dolch mit gewundener Klinge. Ich kannte solche Waffen – magische Waffen, die Sema und ihren Schwestern schaden konnten und auch für mich – selbst in meiner Steingestalt – eine Gefahr darstellten. Der Dolch hatte einen goldenen Knauf, der das Haupt der Medusa zeigte. Es hätte unser Zeichen sein sollen – ein Zeichen, vor dem sich unsere Feinde fürchteten. Aber sie hatten es missbraucht. So wie Perseus in den Sagen Medusas Haupt wie eine toxische Trophäe vor sich hertrug, so trugen sie unsere Feinde auf Dolchen, an Halsketten, auf Ringen und anderen Schmuckstücken als Macht- und Siegessymbol. Aber beim Anblick der Versteinerten und bei dem würzigen Duft, der sie umgab, musste ich lächeln. Sema hatte sie für ihr Eindringen bestraft.

Meine Schadenfreude verschwand sofort, als mich ein weiteres Knarzen auf der Treppe daran erinnerte, dass da noch jemand auf mich lauerte. Sema hätte mir mit einem Schwall Magie, für die ich empfänglich war, signalisieren können, dass sie da war. Deswegen fürchtete ich, dass unsere Feinde sie entführt und einen oder mehrere Mörder zurückgelassen hatten, die sich um mich kümmern sollten.

Ich hob den Dolch vom Boden auf. Seine Magie war ein Kribbeln in der Luft. Diese Waffe konnte mir zwar schaden, aber es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass ich die magische Waffe, die für mich oder Sema gedacht war, gegen unsere Feinde einsetzte. (Ja, ich habe schon Menschen getötet.)

Aus meiner Schadenfreude wurde Sorge; aus meiner Sorge wurde Tatendrang; und alles in mir drängte auf die Verwandlung. Als schöben sich Steinchen unter meiner Haut entlang, durchfuhr mich ein Schauer, dann festigte sich alles und wurde zäh. Im ersten Moment fühlte sich jede meiner Regungen an, als müsste ich meinen Körper dehnen und winden, damit er das tat, was ich wollte. Man sagt uns nach, unsere Bewegungen wären stockend und knirschend, aber das stimmt nicht. Wir sind zwar aus Stein, aber so flexibel wie Schlangen.

In meinem Menschen-Körper war ich von Semas in mein Zimmer gegangen, in meiner Gargoyle-Gestalt betrat ich nun den Flur. Da knarzte es erneut auf der Treppe.

Ich war bei den ersten Stufen angelangt, als mich ein Luftsog von rechts überraschte. Ein Mann stürzte mir aus dem Badezimmer entgegen, packte mich und stach mit einem Dolch zu. Eine gewöhnliche Klinge wäre an meinem steinernen Körper abgeprallt oder sogar zerbrochen, aber die Magie dieser Klinge öffnete unterhalb der linken Schulter einen Weg in mein Inneres.

Vom Schmerz gedrängt sprang ich zurück und wäre beinahe die Treppe nach unten gestürzt. Der magische Dolch wies darauf hin, dass mein Angreifer, ein blasser Mann, den ich auf kaum älter als dreißig schätzte, auf eine magische Kreatur gewartet hatte. Seine verwirrte Miene ließ mich jedoch vermuten, dass er noch nie ein Wesen wie mich gesehen hatte. Hätte ich das Licht im Schlafzimmer ausgeschaltet oder auch nur die Tür hinter mir geschlossen, hätte er mich nun nicht im Schein, der in den Flur fiel, sehen können.

Die Verwirrung verschwand aus dem Gesicht meines Angreifers, und er griff mich erneut mit seinem Dolch an. Ich wich zur Seite aus und riss den Dolch, den ich in Semas Zimmer gefunden hatte, quer durch die Luft.

Mit einem Schrei sprang der Fremde zurück zur Badezimmertür und hielt die freie Hand auf die Hüfte gepresst. Ich wollte die Atempause nutzen, um aufzustehen, doch er trat mir den Arm weg, auf den ich mich stützte. Und wenngleich es meinem Gegenüber so vorkommen musste, als hätte er gegen eine Steinsäule getreten, verlor ich den Halt und stürzte wieder zu Boden.

Der Schmerz schien meinem Widersacher Kräfte zu verleihen, und ich fragte mich, ob er wirklich ein Mensch war. Er trat mir den Dolch aus der Hand, und mit weit aufgerissenen Augen holte er aus, um mir mit seiner Klinge eine weitere Wunde zu bescheren.

Ich war bereit, mich rückwärts die Treppe hinunterzustürzen. Es würde weh tun, aber brechen würde ich mir nichts. Da knarzte es erneut oben auf der Treppe, und der Mann verharrte – den Dolch erhoben, mit Hass in der Miene und Angst in den Augen. Mit einem schlürfenden Geräusch verwandelte er sich. Sein Gesicht, eben noch blass, wurde nun grau und hob sich nicht mehr von der Farbe seiner Jacke ab. Alles war grau geworden; alles war miteinander zu einer steinernen Masse verschmolzen: das Haar, die Finger – selbst sein linker Arm war mit dem Körper verwachsen. Der Dolch aber entglitt seiner erhobenen Hand und fiel zu Boden.

Langsame Schritte drangen auf der Treppe zu mir herab. Meine Angst schwand dahin, nur der Schmerz durch den Stich, den der nun Versteinerte mir eben noch versetzt hatte, strahlte über die Schulter in meinen Arm.

Da war sie – Sema. Sie trug das schwarze Kleid, das ich ab und zu wechselte, wenn es zu sehr Staub ansetzte. Da war sie – meine Gorgone. Ihre Magie drängte sich mir wie ein kühler Luftschwall entgegen, in den sich der würzige Duft des Versteinerten mischte.

Sema tauchte mit ihrem Schlangenhaupt unter dem Arm des Versteinerten weg, ging um ihn herum und lächelte mir entgegen. Ihre glänzenden Augen waren komplett schwarz. Als Kind hatte ich mich zuerst vor dieser Gestalt gefürchtet – besonders vor den einundzwanzig langen Schlangen, von denen jede ein eigenes Leben zu haben schien und die auch nun die Umgebung musterten und leise zischelten – waldfarbene Schlangen mit silbernen Augen.

Sema reichte mir die Hand, wie damals, als meine Eltern tot waren, und sie mich vor den Söhnen des Perseus in Sicherheit brachte. Sie hatte mir geholfen, und dann hatte ich ihr geholfen.

»Elena«, sagte sie mit ihrer hauchenden Stimme, nach der ich mich jahrzehntelang gesehnt hatte.

Ich fasste Semas Hand. Sie war kühl. »Ich bin es«, sagte ich leise. »Und ich habe dich vermisst.«

»Ich dich auch.« Sie atmete tief ein und weit aus. Nach einem Blinzeln strich sie mir über die Wange und verwandelte sich vor meinen Augen in eine Menschengestalt zurück – in die, als die ich sie kennengelernt hatte. Die graue Haut wurde braun, aus Rehaugen wurden braune Menschenaugen, und aus Schlangen wurde langes Lockenhaar. Sie war eine Schwarze Frau – Schwarz wie ich und Schwarz wie meine Eltern. Unser Schwarzsein hatte uns zusammengebracht. Sie war mitten im Bürgerkrieg erwacht, und ohne meine Eltern, die miteinander aus der Sklaverei geflohen waren und mit mir der anschließenden Armut entkommen wollten, wäre sie verloren gewesen. So groß Semas Macht war, so hilflos hatte sie damals der jahrhundertelange Schlaf gemacht.

Sie hatte sich mir auch in anderen Gestalten gezeigt, aber mit dieser Frau, die nun wieder vor mir stand, hatte ich gelebt. Sie hatte ich geliebt und liebte sie noch immer.

»Ich spüre meine Schwestern«, sagte sie. »Einige sind tot; einige sind erwacht. Die Zeit der Entscheidung ist nicht mehr fern. Und ich bin froh, dass du es bist, die mir geblieben ist.«

Sie fuhr mir durchs Haar. Nur sie durfte das. »Du trägst es wieder offen.«

»Das fällt heute weit weniger auf als früher«, sagte ich.

Ein Klingelton erklang. Sema stutzte. Ich aber ging ins Schlafzimmer und erblickte das Smartphone, das zwischen den Taschen lag. Auf dem Display sah ich das Bild des Mannes, der mich auf dem Heimweg attackiert hatte. Als Name stand dort: »Felix«.

»Was ist los?«, fragte Sema und strich mir von der Seite über den Rücken. »Was ist das für ein Ding? Und wer ist Felix?«