Urban Shadows - Joan Darque - E-Book
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Joan Darque

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Beschreibung

Nominiert für den Seraph 2019 als bestes Debüt 2018 Die 21-jährige Clover ist der einzige normale Mensch in ihrem Magiestudiengang. Niemand weiß, dass sie in der Lage ist, die Magie zu sehen. Sie erhofft sich, aus der Mittelmäßigkeit zu entkommen, als ihr ganzes Leben über ihr zusammenbricht und sie ohne alles dasteht. Aus ihrer Verzweiflung heraus nimmt sie widerstrebend den Vorschlag des attraktiven Magiers Shade an, eine der reichsten Familien Skaimors auszurauben. Ein riskantes Unterfangen, schon allein, weil Shade ihr viel mehr unter die Haut geht, als ihr lieb ist.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Danksagung

Über die Autorin

GedankenReich VerlagDenise ReichowHeitlinger Hof 7b30419 Hannoverwww.gedankenreich-verlag.deUrban Shadows

Text ©Joan, Darque, 2018

Cover & Umschlaggestaltung: Jaqueline KropmannsLektorat & Korrektorat: Kolibri LektoratLayout: Phantasmal Image

Covergrafiken & Innengrafiken: depositphotos

E-Book: Grittany Design, www.grittany-design.de

ISBN Buch: 978-3-947147-22-9

© GedankenReich Verlag, 2018Alle Rechte vorbehalten.

„Kommt schon, Leute, ihr seid jetzt im zweiten Studienjahr, der Welpenschutz ist vorüber“, rief Professor Tomaz und verzog das Gesicht. Der Mittvierziger ließ den Blick durch den Hörsaal streifen.

Clover drehte sich nach hinten. Der Vorlesungssaal war nicht einmal zur Hälfte gefüllt und zwischen den Anwesenden waren mehrere Stühle frei. Die Studenten verteilten sich lieber gleichmäßig im ganzen Saal, als in einem Pulk zu sitzen. Obwohl der Studiengang noch nie zu den vollsten gehört hatte, bekamen die Magiestudenten stets die größten und modernsten Räume der Universität von Skaimor.

Eine Studentin meldete sich zu Wort. Dankbar nickte Professor Tomaz ihr zu.

„Aber, Professor Tomaz, ich habe nachgeschlagen, wir hatten Heizungen wirklich noch nicht.“

Clover unterdrückte ein genervtes Aufstöhnen. Oder den Impuls, ihren Kopf auf das Pult vor sich zu schlagen.

Professor Tomaz’ Augen richteten sich nach oben, als wollte er eine höhere Macht anflehen, ihm beizustehen. „Das ist richtig, Ms. Burnard, aber ich kann Ihnen versichern, dass ich Ihnen bereits alle Elemente beigebracht habe, die dafür nötig sind. Ich hatte auf ein wenig Eigeninitiative gehofft. In unserem Metier zeichnen sich die Besten dadurch aus, dass sie mitdenken und neue Wege für sich erschließen. Das erwarte ich noch nicht von Ihnen. Aber wenn Sie langsam anfangen könnten, eins und eins zusammenzuzählen …“

Clovers Mundwinkel zuckten. Sie mochte den Lehrer für magische Theorie und belegte alle seine Seminare. Die meisten hielten den theoretischen Anteil für öde, für sie war es jedoch der Grund, weswegen sie das Studienfach belegt hatte. Ihre Mitstudenten spielten lieber in ihren Laboren herum, panschten Zutaten zusammen und schauten, was dabei herauskam. Für Clover war das Ergebnis erst interessant, wenn sie vorher wusste, was dabei herauskommen würde und sie hatte vor, die Beste auf diesem Gebiet zu werden. So gut, bis sie unentbehrlich war.

Clover überlegte, ob sie sich melden sollte. Die Antwort wusste sie, wie bei eigentlich jeder Frage, aber der Professor hatte sie heute schon zweimal aufgerufen. Ihre Regel war es, innerhalb eines Vorlesungsblocks nicht mehr als dreimal die Hand zu heben. Clover wollte nicht vorgaukeln, zu den anderen zu gehören, denn das tat sie keineswegs. Aber um ihre Ruhe zu haben, musste sie sich auf diesen Seiltanz einlassen, damit sie nicht Zielscheibe diverser Sticheleien wurde. Diese Erfahrung hatte sie schon in der Schule machen müssen, auch wenn sie damals noch gehofft hatte, dass Menschen mit dem Alter reifer wurden. Ein Trugschluss. Die Sticheleien wurden nur gemeiner und weniger offensichtlich.

„Na los jetzt.“ Professor Tomaz ruderte mit den Händen, als könnte er so seine Studenten ankurbeln. „Mr. Sawyer?“

In der letzten Reihe saß ein dunkelhaariger, junger Mann mit beinahe saphirblauen Augen, der seinen Blick von seiner Sitznachbarin nun überrascht auf Professor Tomaz richtete. Fast, als würde er ihn jetzt erst bemerken. „Hm, was war noch mal die Frage?“

Professor Tomaz’ Lippen wurden einen Hauch schmaler. „Heizung“, presste er hervor.

Clover konnte seinen Ärger nachvollziehen. Elementzauber hatten sie im vergangenen Semester behandelt, das Wissen dazu musste bereits sitzen, damit sie schneller durch die praktischen Anwendungen und Kombinationsmöglichkeiten kamen. Ihre Hand umschloss den Stift und drückte so fest zu, dass sie fürchtete, er würde zerbrechen, wenn dieser Idiot nicht bald antwortete.

„Ja, also Wärmezauber.“

Ein Geniestreich, schoss es ihr sarkastisch durch den Kopf.

„Würde es Ihnen etwas ausmachen, ein wenig spezifischer zu werden?“, hakte Professor Tomaz nach.

Die drei bildhübschen Mädchen neben Mason klimperten ihn mit ihren langen Wimpern an, als hätte er soeben eine komplizierte Gleichung gelöst. Clover fragte sich, ob diese Groupies ebenfalls die angewandten Magiewissenschaften im zweiten Semester studierten, oder ob sie nur hier saßen, um sich an ihn heranzumachen. Wer sich einen Sawyer angelte, hatte schließlich fürs Leben ausgesorgt, selbst wenn Mason bloß um ein paar Ecken mit der eigentlichen Kernfamilie verwandt war.

„Na ja, das Übliche, Wärme- und Kälte-Zauber sind zusammengepresst und neutralisieren sich. Mit einer Dreh- oder Hebelbewegung trennen sie sich und fertig.“

„Ich lasse das ausnahmsweise gelten.“

Clover wusste, dass diese Antwort stark vereinfacht war, gelinde ausgedrückt. Aber sie wusste ebenso, dass man aus Mason nicht mehr herausbekommen würde.

Man hätte hinzufügen können, dass Kälte- und Wärmezauber im gleichen Verhältnis zueinander stehen mussten, um sich vollständig zu neutralisieren, wenn die Heizung aus war. Und dass diese Art von Zauber nur möglich war, weil Wärme- und Kältezauber einer Magieklasse entsprachen und deswegen auch noch nach dem Auftragen miteinander reagierten. Im Gegensatz zu Zaubern, die nicht der gleichen Klasse entsprachen.

Clover wandte sich ab und zwang sich, den Stift loszulassen, ehe er eine dauerhafte Kuhle in ihrer Handfläche hinterließ. Es brachte nichts, sich darüber aufzuregen. Die Mächtigen wurden immer reicher und einflussreicher, die anderen durften zusehen, wo sie blieben. Egal, wie hart sie arbeiteten, sie würden nie den Status von einem Sawyer erreichen. Oder einem Vaziri oder einem Arora. Es gab Leute, die einfache Magier waren oder eben die, die zusätzlich den genetischen Jackpot gezogen hatten. Während sich die einen abmühten, jeden Zentimeter ihrer gezeichneten Magiespur auszumessen, um die gewünschte Wirkung zu erzielen, hatten andere es einfach im Gefühl. Wussten, wann sie aufhören mussten, Körperenergie zuzufügen, um die beabsichtigte Reaktion zu erreichen.

Clover war keins von beidem. Nur ein ganz normaler Mensch, wie der Großteil der Bevölkerung. Dieses Studium, dieses Stipendium waren ihre eine große Chance, ihr Sprungbrett in eine Welt, in der sie mehr Möglichkeiten hatte, als ein Lemming im Laufrad zu sein, den Magiern stets untergeordnet.

„Und welche Wege gibt es, um den Wärmegrad zu regulieren?“, fragte Professor Tomaz.

Clover hielt es nicht länger aus, sie reckte ihren Arm in die Höhe. Sie glaubte, den stechenden Blick von Masons Clique in ihrem Nacken zu spüren, aber sie drehte sich nicht um, um sich zu vergewissern. Der Professor nickte ihr wohlwollend zu.

„Moderne Modelle benutzen Schalter, um das zu ermöglichen. Jeder von ihnen aktiviert einen eigenen Wärme- beziehungsweise Kältezauber, die Wirkung wird akkumuliert. Je mehr Schalter gedrückt sind, desto wärmer. Üblich sind fünf“, sprudelte es aus ihr heraus.

Clover war erst neulich in ein Kaufhaus gegangen, um sich das näher anzuschauen. Das tat sie oft, denn es gab kaum einen spannenderen Ort für sie. Allerdings erntete sie nur wenig Verständnis, wenn sie nah an die von Magie betriebenen Geräte herankroch. Sie war schon des Diebstahls verdächtigt worden, also hatte sie gelernt, vorsichtiger zu sein.

„Sehr gut. Und der Wärmezauber, welche Kräuter-Basis verwenden wir?“

Die Frage ging nicht mehr an Clover. Ein anderer meldete sich.

„Hahnenfußgewächse. Am besten scharfer Hahnenfuß, aber es wird auch Scharbockskraut verwendet. Erkennungsfarbe ist ein orangenes Gelb.“

Professor Tomaz nickte zufrieden. Die Lachfalten um seine Mundwinkel herum waren zurückgekehrt. „Gute Antwort. Obwohl ich nicht nach der Farbe gefragt habe. Ich hoffe doch sehr, dass meine Schüler sich ihre Zauber selbst mischen und nicht im Magie-Shop kaufen.“

Ein paar Studenten lachten amüsiert. Natürlich war davon auszugehen, dass die meisten von ihnen auf die fertigen Zauber zurückgreifen würden. Sie wurden dazu ausgebildet, die Präparate eigenständig anzumischen, aber häufig war der Aufwand zu groß. Obwohl Clover vermutete, dass viele der privilegierten Studenten einen kleinen Garten oder zumindest einen Balkon für sich hatten, in dem sie etwas anpflanzen konnten. In ihrer Wohnung wäre das undenkbar. Sie war jedes Mal froh, wenn sie selbst noch hereinpasste.

„Dann entlasse ich Sie für heute. Wenn ich in der nächsten Stunde nach der Funktionsweise eines Herdes frage, erwarte ich mehr erhobene Hände, ist das klar?“

Zustimmendes Gemurmel, übertönt durch das emsige Treiben von lieblos eingepackten Utensilien und aufstehenden Menschen.

Als Clover ihren Block verstaute, waren die meisten schon beim Ausgang, doch sie ließ sich nicht hetzen. Die Uni war für sie der schönste Ort in ganz Skaimor, warum sollte sie es also eilig haben, von hier wegzukommen? Zumal sie heute keine Schicht im Diner hatte.

Alles zog sich in ihr zusammen, wenn sie daran dachte. Sie hasste diesen Job. Sie hasste es, immer freundlich sein zu müssen, immer zu lächeln. Sie hasste es, die Beleidigungen herunterzuschlucken für Dinge, für die sie nichts konnte, nur weil jemand einen schlechten Tag hatte. Sie hasste es, von vielen Menschen umgeben zu sein, die sie bedienen musste, statt Zeit für sich selbst zu haben. Aber sie hatte keine andere Wahl. Ihr Stipendium deckte die Kosten ihrer Ausbildung ab und brachte ihr etwas zu essen auf den Tisch, aber wenn sie ein Dach über dem Kopf haben wollte, brauchte sie neben dem Studium einen Job. Und da der Besitzer des Diners der Einzige war, der sie hatte einstellen wollen, war es eben dieser.

Nur noch drei Jahre, rief sie sich in Erinnerung. Nur noch drei Jahre, dann hatte sie ihr Studium abgeschlossen. War Diplom-Magierin, ohne Magierin zu sein. Aber von da an würden ihr alle Optionen offenstehen und sie würde die besten für sich ausloten. Sie würde unabhängig sein. Vielleicht sogar reich. Der Gedanke zauberte ein Lächeln auf ihre Lippen. Etwas zu kaufen, schlicht, weil es ihr gefiel und nicht, weil sie es dringend brauchte, würde eine vollkommen neue Lebenserfahrung für sie werden. Eifrig schulterte sie ihre Tasche.

„Ms. Daves, könnten Sie für eine kurze Unterredung noch bleiben?“, wandte sich Professor Tomaz an sie.

Clover schluckte und nestelte nervös an dem ausgefransten Träger ihrer Tasche herum. „Natürlich.“

Sie wartete an seinem Tisch, während alle anderen auf dem Weg nach draußen an ihr vorbeiliefen. Einige warfen ihr neugierige Blicke zu, die meisten interessierten sich jedoch nicht für sie.

Professor Tomaz ordnete in Ruhe seine Notizen und steckte sie in seine Aktentasche, während Clover versuchte, Ruhe zu bewahren. Es gab keinen Grund, nervös zu sein. Sie hatte nichts falsch gemacht. Aber das ungute Gefühl nistete sich dennoch in ihrer Magengrube ein. Vielleicht war es schon immer da gewesen und regte sich jetzt wieder, hatte Futter bekommen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann solche Gespräche jemals mit guten Neuigkeiten geendet hatten.

Alle Studenten waren weg. Eine bedrückende Stille breitete sich aus, die Professor Tomaz’ raschelnde Kleidung ungewöhnlich laut klingen ließ. Endlich drehte er sich zu ihr um. Sein Gesichtsausdruck war ernst. Das ungute Gefühl in Clover griff nach ihrem Herz und drückte es fest zusammen.

Er atmete hörbar ein und aus. „Ich habe leider keine guten Neuigkeiten für Sie.“

Clover ließ den Kopf hängen. Ihre aschblonden Haare fielen wie ein Schleier vor ihr Gesicht, dann besann sie sich eines Besseren. Ihre Verzweiflung nach außen zu tragen, war nicht ihre Art. Sie zwang sich, wieder in Professor Tomaz’ dunkle Augen zu schauen. Egal, was er sagte, sie würde sich davon nicht unterkriegen lassen.

„Ihr Stipendium wird aller Voraussicht nach nicht weiter verlängert.“

Ihr Herz schien kurz stehen zu bleiben, alles in ihr war wie eingefroren. „Mit welcher Begründung?“, fragte sie steif. „Meine Noten erfüllen alle Anforderungen.“ Ihre Stimme hörte sich weiter weg an, als es anatomisch möglich war.

Professor Tomaz nickte. „Das ist richtig und ich muss zugeben, in meinem Fachbereich sind Sie eine der besten Studentinnen, die ich je hatte.“

Stolz regte sich in ihr, aber er war gegen die eisige Kälte in ihr machtlos.

„Aber Sie müssen auch in die Zukunft sehen. Sie sind ein besonderer Fall. Noch nie zuvor hat sich ein einfacher Mensch für das Stipendium beworben. Wussten Sie das? Aufgrund Ihres Falles wird eine praktische Komponente für die Kandidaten hinzugefügt.“

Natürlich. Dass sie es gewagt hatte, sich zu bewerben, war reiner Irrsinn gewesen, darüber war sie sich im Klaren. Doch sie hatte es gewollt. So sehr. Es hatte für Aufruhr gesorgt, aber da sie die Testaufgaben als Beste bestanden hatte, hatten sie nichts dagegen tun können. Bis jetzt. Anscheinend hatten sie doch noch einen Weg gefunden.

„Und das hat nichts mit Diskriminierung zu tun“, fügte Professor Tomaz hinzu. „Aber Fakt ist, Sie werden körperlich nicht in der Lage sein, alle Prüfungen zu bestehen.“

Clover nickte. Sie wusste das. Es hatte mit der Energie zu tun, die sie zur Verfügung hatte. Jeder Mensch konnte theoretisch jeden Zauber ausführen, wenn er wusste, wie er es anstellen musste. Doch nur Magier brachten die nötige körperliche Energie auf, um es zu tun, ohne sich dabei zu schaden. Die Prüfungen im letzten Jahr konnte sie bestehen, weil sie sich ausgiebig darauf vorbereitet hatte. Sie hatte sich vom Diner freigeben lassen, genügend geschlafen und gegessen. Hatte abgewogen, welche Aufgaben ihr die meisten Punkte einbringen würden und welche sie weglassen konnte. Danach war sie vollkommen fertig gewesen, als hätte sie drei Tage durchgefeiert, ohne zu schlafen. Doch schon damals hatte sie gewusst, dass das nur der Anfang gewesen war.

Trotzdem war es nicht fair. Jemand wie Mason konnte gut und gerne durch den theoretischen Teil fallen und hätte durch die praktische Komponente der Prüfung immer noch genug Punkte, um zu bestehen.

Clover war davon ausgegangen, dass sich eine Lösung für ihr Problem finden würde. Vielleicht hatte eine kleine naive Seite in ihr auch gehofft, man würde die Regeln für sie ein wenig beugen. Weil sie einige Dinge physisch nicht konnte. Aber weil sie es dennoch so sehr wollte. Und weil sie alles getan hatte, um das zu beweisen. Hatte er nicht gesagt, dass sie eine seiner besten Studentinnen war? Erkannte er nicht, dass sie trotz ihres Handicaps wertvoll sein konnte?

„Gibt es denn nichts, was ich tun kann?“, fragte sie, ihre Stimme klang kratziger, als sie es gewohnt war.

Er schüttelte den Kopf. Eine kleine Geste, die ihr ganzes Leben zertrümmerte. Tiefes Bedauern stand in Professor Tomaz’ Augen. Bedauern und Mitleid. Er bemitleidete sie. Müsste er nicht wütend sein? Wollte er nicht auch, dass sie blieb?

„Ich werde ein gutes Wort für Sie einlegen, aber ich denke nicht, dass ich etwas ausrichten kann. Und um ehrlich zu sein, weiß ich auch nicht, ob es das Beste für Sie wäre.“

Clover rang nach Luft. Wie konnte er ihr nur derart in den Rücken fallen? Es schmerzte so sehr, dass sie wusste, dass sie ihm mehr vertraut hatte, als sie sollte. Dabei war er nur ihr Lehrer und Tutor. Dabei hatte sie es nicht einmal gewollt.

„Verstehen Sie mich nicht falsch, ich sehe, wie passioniert Sie sind, aber selbst wenn man auf den praktischen Teil der Prüfung verzichten würde – und damit ignoriert, dass sich unser Studiengang die angewandte Magiewissenschaft nennt –, liegt in diesem Bereich keine Zukunft für Sie.“

Clover stand einfach nur da. Sie tat nichts. Sagte nichts.

„Ich meine, haben Sie sich schon einmal Gedanken darüber gemacht, welchen Berufsweg Sie später einschlagen wollen? Ohne Ihr theoretisches Wissen in die Praxis umsetzen zu können, ist Ihre beste Chance auf einen Job meine Stelle.“ Er schenkte ihr ein kleines Lächeln, aber es wirkte nervös. „Und ich habe nicht vor, in den nächsten zwanzig Jahren abzutreten. Aber so oder so: Niemand wird Ihnen magische Dinge anvertrauen, wenn Sie nicht über genügend Praxiserfahrung verfügen. Dazu ist unser Gebiet zu wichtig.“

„Das weiß ich.“ Sie schaffte es, ruhig zu sprechen, obwohl ein Sturm in ihr toste. Auf gar keinen Fall durfte sie das hier verlieren. Das hier war ihr Lichtstreif am Horizont. „Magie ist auch keine Spielerei für mich. Ich denke, dass ich ein umfassendes theoretisches Wissen mitbringe, das uns auf lange Sicht helfen könnte, neue Wege zu erschließen. Vielleicht sogar neue Magie.“

Das war sehr weit vorausgegriffen, aber dann wiederum wäre es auch naiv, zu glauben, sie hätten schon alle Magie erkundet, die es geben konnte. Clover hatte ihre Kommilitonen beobachtet. Sie alle dachten darüber nach, was sie mit dem Erlernten anstellen konnten, aber niemand sah dabei über den Tellerrand. Vielleicht, weil sie nicht ihre Gabe hatten, vielleicht, weil ihr Interesse ganz woanders lag.

Der Professor legte den Kopf leicht schief und betrachtete sie eine Weile. „Ich spreche das ungern so deutlich aus, Ms. Daves, aber niemand wird einen Menschen einstellen. Unabhängig von Ihren Fähigkeiten.“

Clover ballte die Hände zu Fäusten. Es war ihnen also egal, ob sie etwas beitragen konnte oder nicht. Wichtig war nur, dass die bestehende Ordnung nicht ins Wanken geriet.

„Denken Sie nicht, dass ich in einer beratenden Position wertvoll sein könnte?“, wandte sie sich an den Professor.

Er wich ihrem Blick aus. Eine kleine Geste, die ihr zeigte, wie recht sie hatte. Sie war nicht nur eine hoffnungslose Träumerin, die sich komplett verrannt hatte.

„Das spielt keine Rolle“, sagte Professor Tomaz. „Sie können Ihr Studium aufgrund Ihrer mangelnden Kräfte nicht antreten und ohne Studium wird sie keiner einstellen.“

„Aber …“

„Es reicht“, unterbrach er sie ein wenig harscher und seufzte schwer. „Niemand hat damit gerechnet, dass Sie sich so gut machen würden. Man dachte wohl, dass Sie freiwillig aufgeben. Doch jetzt ist es an der Zeit, Sie vor sich selbst zu schützen. Ich bewundere Ihren Ehrgeiz, sehr sogar. Aber seien Sie nicht dumm, verschwenden Sie nicht Ihre Zeit. Nutzen Sie Ihre Intelligenz für etwas, das Sie als Mensch weiterbringt.“

Sie zwang sich zu einem Lächeln, das Professor Tomaz sichtlich irritierte.

„Ich verstehe“, sagte sie. „Ich wüsste es zu schätzen, wenn Sie trotzdem ein gutes Wort für mich einlegen könnten, das Studium bedeutet mir viel.“

„Natürlich.“ Er nickte. „Aber Sie sollten sich bereits nach Alternativen umschauen.“

Das Lächeln auf ihrem Gesicht schmerzte körperlich. „Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“

Sie drehte ihm den Rücken zu, ihre Mimik wurde ausdruckslos. Mit schnellen Schritten eilte sie aus dem Raum und durch die Flure. Vorbei an den Gängen, den gewölbten Bögen, die zur Bibliothek führten, vorbei an den detailgetreuen Modellen der Uni und Skaimor, die sie so gerne neugierig betrachtete, auf den gläsernen Fahrstuhl zu.

Clover blieb auf dem Bürgersteig stehen. Menschen eilten an ihr vorbei, ohne Rücksicht auf sie zu nehmen. Hier fühlte sie sich sicher, niemand achtete auf sie. Sie sah zurück zum Universitätsgebäude. Ein eindrucksvoller Bau, der sich gegen die anderen Gebäude deutlich abzeichnete. Die meisten Wolkenkratzer bestanden lediglich aus Glas und Stahl. Aber die Universität war aus massivem Stein erbaut worden, sodass sie sich optisch abhob, stabiler und majestätischer wirkte. Seit drei Monaten war das Hochhaus von einem rosafarbenen Schleier umgeben. Eine Schutzhülle, wie sie seit einiger Zeit immer wieder um einzelne Gebäude auftauchte. Vollkommen unnütz, da die ganze Stadt bereits von einer riesigen Hülle umgeben war, die die giftige Luft und den sauren Regen filterte. Der Schleier schützte sie vor allem, was sie dort draußen innerhalb von Sekunden umgebracht hätte. Die kleinen Extrahüllen dagegen schützten höchsten vor Feinstaub. Aber wenn man mehr Geld als nötig hatte, leistete man sich wohl gerne unnötigen Schnickschnack.

Clover fühlte unbändige Wut in sich aufsteigen und ballte die Hände zu Fäusten. Sie fragte sich, was die magische Hülle der Universität gekostet hatte. Sicherlich hätten mindestens hundert Leute ihr Studium davon finanzieren können. Zu gern wäre sie in das Büro des Rektors gestürmt, um ihm das unter die Nase zu reiben. Aber damit würde sie ihr Ass ausspielen. Das einzige, das sie hatte. Zwar war es bekannt, dass einige Menschen in der Lage waren, Magie zu sehen, doch dass Clover dieses Talent besaß, wusste niemand. Damit gehörte sie zu unter einem Prozent der Bevölkerung. Sie sah es als Talent, auch wenn alle anderen diese Gabe als genetischen Defekt hinnahmen. Nur, weil sie damit nichts anzufangen wussten, nicht verstanden, wie viel Wert das hatte, was sie sehen konnten. Medien nannte man sie. Keine Magier, aber eben auch keine einfachen Menschen.

Clover war noch ein kleines Mädchen gewesen, als es bei ihr angefangen hatte. Sie konnte sich vorstellen, dass es für die meisten lästig war. Wenn man müde war oder betrunken, tauchten plötzlich bunte Lichter auf, die für andere unsichtbar waren. Man lernte, es beiseitezuschieben und es nicht zu beachten. Aber Clover hatte den bunten Schleier faszinierend gefunden. Sie hatte sich das Radio geschnappt, es ganz nah vor ihr Gesicht gehalten. Bis sie lernte, wie sie ihn absichtlich auftauchen lassen konnte. Es erforderte Konzentration, aber inzwischen klappte es fast automatisch. Und sie hatte so viel mehr entdeckt als einfach nur einen Schleier. Wenn man nah genug heranging, erkannte man darin Schriftzeichen, Symbole, Runen – wie auch immer man es nennen wollte. Sie waren der Schimmer, den sie wahrnahm, wenn sie sich konzentrierte. In keiner Aufzeichnung hatte sie darüber Genaueres herausfinden können, was sie letztendlich zu dem Schluss kommen ließ, dass es eine einzigartige Gabe war.

Ihre Gesellschaft erschloss sich die Regeln der Magie über Versuch und Irrtum und führte Aufzeichnungen, damit die nachfolgende Generation nicht wieder von vorn anfangen musste. Clover könnte das ändern.

Als sie begriffen hatte, dass sie etwas Besonderes konnte, war ihr erster Impuls gewesen, es allen zu erzählen. Angefangen mit ihrer Mutter, die sie hatte stolz machen wollen. Aber als sie versuchte, es ihr zu erklären, hörte sie Clover nicht einmal zu. Und da beschloss sie, es vorerst für sich zu behalten. Als ihr großes Geheimnis und ihre Magie, die allein ihr gehörte. Sie tat das nun schon so lange, dass die Vorstellung, irgendwer würde davon erfahren, immer befremdlicher wurde.

Clover schlängelte sich auf dem Weg zur U-Bahn durch die Menschenmenge. Die ganze Stadt platzte aus allen Nähten, vor allem jetzt gegen Abend. Ihr Kopf nahm die vertraute Umgebung kaum wahr, während sie ihre Möglichkeiten abwog. Ob es etwas bringen würde, wenn sie davon erzählte, dass sie Magie lesen konnte? Vielleicht würde man ihr mit diesem Talent nicht das Stipendium entziehen. Doch die Wahrscheinlichkeit war gering, vermutlich würde man sie gar nicht für voll nehmen. Sie erinnerte sich an die Worte von Professor Tomaz. Es ging nicht darum, was sie beitragen konnte, solange sie kein Magier war. Das würde sich auch nicht ändern, wenn sie Dinge preisgab, die sie noch für sich behalten wollte.

Ihre Nasenflügel zitterten, als sie die Luft tief einsog, ihre Augen brannten. Aber sie würde nicht weinen. Sie weinte nie und wenn, dann ganz bestimmt nicht in der Öffentlichkeit.

Clover trat auf eine der Hauptstraßen, näherte sich der Station der Linie, die sie am nächsten an ihre Wohnung heranbringen würde. Sie legte den Kopf in den Nacken und versuchte durch die Lücken, die die riesigen Wolkenkratzer ließen, den Himmel zu erkennen. Den echten Himmel und nicht das, was sich in den gläsernen Fenstern spiegelte. Purpurfarben und wunderschön. Sie blieb an einer Straßenkreuzung stehen, um ihn zu betrachten. Wenn sie sich konzentrierte und die rosafarbene Hülle dazu sah, war er noch beeindruckender. Sie bedauerte die Menschen um sich herum, die nie durch ihre Augen würden sehen können. Der Staub und Smog, der nicht durch die Hülle dringen konnte, wirbelte daran entlang und zeichnete abstrakte Muster.

Eine Weile stand sie bewegungslos da. Der Anblick beruhigte ihr aufgewühltes Innerstes. Sie ignorierte die Menschen, die sie anblafften, weil sie ihnen im Weg stand. Egal, was schiefging, sie würde immer das hier haben.

Die U-Bahn der Linie 8 verließ die Innenstadt. Je weiter sie kam, desto öfter rumpelte es, schüttelte die eingequetschte Menge durch und sorgte dafür, dass sie mehr Körperkontakt erdulden musste, als ihr lieb war.

Clover presste sich zwischen einem Kinderwagen, der ihr in die Rippen stach, und einem älteren Mann hindurch, der aussah, als würde es ihm nichts ausmachen, dass sie sich notgedrungen an ihn schmiegte. Sie unterdrückte den Impuls, das Gesicht zu verziehen, und schob sich in Richtung Ausgang.

Zögernd blieb sie stehen. Sie hatte einen grauenvollen Tag gehabt. Wenn sie jetzt nach Hause fahren würde, würde sie mit ihren düsteren Gedanken in ihrer düsteren Wohnung sitzen. Diese Aussicht war nicht besonders ermutigend.

Sie drückte sich an den Rand der Tür, erntete böse Blicke, als sie nach dem Gedrängel nun doch nicht ausstieg.

„Compton Street. Endstation. Übergang zur Linie U78“, blaffte der Fahrer ein paar Minuten später. Die Replikationszauber ließen seine Stimme in jeden Winkel des Wagons hallen. Es war unüberhörbar, dass er das öfter am Tag sagte, als ihm lieb war. Die Menschen strömten nach draußen. Fluteten aus der Bahn und rissen jeden mit sich, der nicht schnell genug begriffen hatte.

Draußen auf der Straße hatte sie wieder das Gefühl, atmen zu können. In den U-Bahnschächten war es unerträglich schwül. Alles heizte sich durch die Körperwärme der Menschen auf und fand kein Ventil, zu entweichen.

Sie setzte ihren Weg fort, bog an einer Kreuzung rechts ab. Die Wolkenkratzer hier waren eckig, schmucklos, grau. Viele kleine Fenster durchbrachen den Beton, hinter jedem eine andere Seele, die ihr Dasein fristete.

Clover folgte dem ehemaligen U-Bahnverlauf bis zu einem stillgelegten Bahnhof. Das alte Einkaufscenter ragte vor ihr auf. Mit steigenden Lebenserhaltungskosten hatte es in dieser Gegend keine Verwendung mehr gefunden. Zusammen mit den Parkplätzen davor und der U-Bahnstation rottete es vor sich hin und wartete darauf, abgerissen zu werden. Irgendwann, wenn man darüber entschieden hatte, was man mit dem verlassenen Fleck anstellen sollte. In diesem Fall wurde schon zwei Jahre darüber diskutiert. Zwei Jahre, in denen man neuen Wohnraum hätte schaffen können, der bitter nötig war. Bis dahin gehörte das Fleckchen Erde den Randgruppen und Obdachlosen.

Graffiti ließen den Beton gleichzeitig bunt und trostlos erscheinen. Leere Spritzen lagen auf dem Boden und Clover bemühte sich, nicht draufzutreten. Ihr Blick glitt über die Graffiti, als sie am Parkhaus entlangging. Sie wusste, nach was sie insgeheim suchte. Es gab einen Künstler, der unter allen anderen herausragte. Seine Signatur war ein kleiner, schwarzer Geist.

Normalerweise schenkte sie der Straßenkunst wenig Beachtung, aber dieser Sprayer war anders. Das erste Mal hatte sie es an einem leer stehenden Gebäude weiter im Osten gesehen. Er hatte auf den Glasriesen eine Ruine gemalt, wie Clover sie nur aus Geschichtsbüchern kannte. Aus Stein, verfallen und doch wunderschön. Er hatte einen Wachstumszauber benutzt und das erste Unkraut hatte sich bereits an der gemalten Ruine hochgerankt. Magie funktionierte über Farbspuren, aber die meisten benutzten Stifte oder Pinsel, sie hatte noch nie jemanden mit einer Spraydose gesehen.

Ein weiteres seiner Werke hatte sie entdeckt, als sie hier vorbeigekommen war. Er hatte eine Frau gemalt, die die Hände hochreckte. Für die Sonne über ihren Fingerspitzen hatte er einen Lichtzauber verwendet, der wahrscheinlich Kilometer weit gestrahlt hätte, wenn das nächste Hochhaus ihn nicht abgeschirmt hätte. Sicherlich war es deswegen entfernt worden, obwohl man sich um das Grundstück im Moment nicht sonderlich kümmerte. Ganz abgesehen davon, dass der Zauber ohne Glasschutz – wie es bei Lampen der Fall war – einen Sonnenbrand verursachen konnte, wenn man sich dem Licht lang genug aussetzte.

Clover hoffte darauf, noch mehr von seinen Kunstwerken zu finden. Sie waren wie ein gutes Buch, nur besser.

Sie umrundete das Zentrum und das Parkhaus, ließ ihre Augen über den gesamten Platz streifen bis hin zum Horizont. Die U-Bahnstation war einst die letzte gewesen. Das ehemalige Einkaufszentrum lag nah an der westlichen Grenze. Dahinter gab es nicht mehr viel. Ein paar flache Häuser, dann die Sicherheitszone bis zum Schutzwall und Wartungsgebäude der Regierung. Death Zone nannten die meisten den letzten Kilometer vor der Grenze. Vor dem Ende ihrer Welt. Karg und tot ließ es erahnen, wie die Welt da draußen inzwischen aussehen musste. Näher als hier kam der normale Bürger nicht an den Rand der Stadt. Es war verboten und entsprechend bewacht. Clover wusste nicht, wie genau man die Magiespur sicherte, die für ihren Schutzwall vor der Außenwelt verantwortlich war, aber solange es funktionierte, war ihr alles recht.

Clover konzentrierte sich auf das Einkaufszentrum und schärfte ihren magischen Blick. Kein farbiger Schimmer weit und breit. Sie seufzte schwer. Es wäre ja zu schön gewesen, dem Tag noch irgendetwas abgewinnen zu können.

Sie bewegte sich an der leeren Hülle des Einkaufszentrums vorbei. Es war nur halb so hoch wie die Mehrzahl der anderen Gebäude, irgendwas zwischen 30 und 40 Stockwerken. Jemand hatte seiner Zerstörungswut an den Schaufenstern freien Lauf gelassen und einen Großteil zerschlagen. Sie fröstelte und schlang die Arme um ihren Körper. Durchbrochen wurde die Stille nur von dem Geräusch ihrer Sohlen auf dem unebenen Boden.

Die Sonne senkte sich immer weiter zum Horizont. Das Licht wurde spärlicher, die Dämmerung hatte eingesetzt. Clover legte einen Schritt zu, obwohl sie es nicht besonders eilig hatte. Irgendwas würde schon noch in ihrem Kühlschrank zu finden sein, aber ansonsten gab es nicht viel, auf das sie sich freuen konnte. Normalerweise wäre sie noch einmal den Unterrichtsstoff durchgegangen, aber heute war ihr nicht danach. Allein das Gewicht des Lehrbuchs in ihrer Tasche erinnerte sie daran, was sie bald verlieren würde.

Immerhin war Wochenende. Zwei Tage konnte sie es sich leisten, nicht über die Uni nachzudenken. Sich vielleicht für ein paar Stunden vorgaukeln, es gäbe überhaupt kein Problem. Am liebsten hätte sie sich ins Bett gelegt. Wo sie sich elend fühlen durfte und niemand sie sah. Zumindest bis zum nächsten Morgen. Dann würde der Alarmzauber ihres Weckers um sechs Uhr losgehen und sie daran erinnern, dass sie ihre Schicht im Diner antreten musste.

Sie machte einen Schlenker, um einem umgestürzten Einkaufswagen auszuweichen, dessen Metallstreben lose in die Luft ragten. Es wäre schön, das Gelände zu verlassen, ehe sie nichts mehr sah, stolperte und sich auf so etwas aufspießte.

Sie tappte in etwas Nasses. Ihre dünnen Schuhe sogen die Flüssigkeit auf wie ein Schwamm. Angewidert wich sie zurück. „Scheiße.“ Es hatte seit Tagen nicht mehr geregnet, was sie zu dem Schluss kommen ließ, dass sie gerade in Urin getreten war. Was hatte sie eigentlich so Schlimmes getan, um das zu verdienen?

Sie warf der Pfütze einen gereizten Blick zu. Doch noch bevor ein erneuter Fluch ihre Lippen verlassen konnte, hielt sie inne. Das Wasser zu ihren Füßen schimmerte bläulich. Sie bückte sich, um es näher in Augenschein zu nehmen. Schwarze Farbe vermittelte den Eindruck, dass der Asphalt aufgerissen war. Aus dem Riss quoll Wasser hervor, immer breiter werdend, bis aus der Spalte ein Fluss wurde.

Der schwarze Geist hatte die blaue Farbe mit einem starken Wasserzauber versetzt. Hätte sie es nicht schon vorher gewusst, wäre ihr spätestens jetzt klar, dass er ein Könner war. Eindeutig war das hier sein Werk. Elementzauber waren simpel von ihrem Aufbau und konnten theoretisch auch von einem Anfänger durchgeführt werden, aber in diesem Ausmaß erforderten sie unglaublich viel Energie. Ein Anfänger hätte das niemals hinbekommen.

Clover kniete sich hin und betrachtete den Magieschimmer aus unmittelbarer Nähe. Das Blau war so schön. Schimmernd. Glänzend. Die Symbole für Wasser weich und rund wie ihr Element. Sie tauchte ihre Finger in das kühle Nass, das nur wenige Zentimeter tief war. Den Zauber störte sie dadurch nicht, er befand sich darunter, in der Farbe, die nicht so leicht zu entfernen war.

Clover sah genau, wo der Zauber begann. Die Symbole, die jeden Elementzauber einleiteten, leuchteten ihr entgegen. Sie hatten sich aus der Fichtenessenz der Mischung gebildet. Hätte er diesen Bestandteil weggelassen, würde es allemal feucht sein, aber er hatte sich für echtes Wasser entschieden.

Fasziniert rappelte sich Clover auf und folgte dem Flussverlauf. Gespannt darauf, ob er noch mehr hinterlassen hatte. Das Graffiti führte die Treppen hinunter. Hinein in den verlassenen U-Bahn-Schacht. Das alte Schild „Dedfilt End“ lag im Halbdunkeln, die abgeblätterten Lettern waren gerade noch zu lesen.

Sie zögerte. Wenn sie sich konzentrierte und die Magie sah, war das Schimmern hell genug, um ihr den Weg zu leiten. Aber sie wusste nicht, was sie dort unten erwartete. Immerhin bestand die Gefahr, dass sie in eine Drogenbrauerei oder ein Junkie-Lager stolperte. Sie wägte kurz den Gewinn gegen das Risiko ab, und begann, die Treppen runterzusteigen.

Stufe für Stufe lief Clover neben dem Fluss. Sie war fast auf der letzten Stufe angekommen, als ein schabendes Geräusch sie erstarren ließ. Er war noch da. Der schwarze Geist war noch da. Er hockte auf dem Boden und hatte sie noch nicht bemerkt. Stumm schaute sie auf seinen Rücken, der sich dunkel von der Lichtquelle abhob, die er vor sich gelegt hatte. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, aber die Statur war die eines jungen Mannes. Er war schlank, aber seine Arme, die unter den Ärmeln seines T-Shirts hervorlugten, waren keineswegs dünn oder schwächlich. Seine dunklen Haare hatte er in einen nachlässigen Zopf gezwängt.

Der aufgemalte Fluss spaltete sich und umschloss etwas, das eine Insel sein sollte oder bald sein würde. Wenn das grünliche Schimmern sie nicht täuschte, war er gerade dabei, einen Wachstumszauber aufzusprayen, wie bei der Ruine in seinem anderen Bild. Offenbar hatte er diesmal vor, sein ganzes Potenzial zu nutzen. Die meisten Magier wären schon nach dem Fluss vollkommen ausgebrannt gewesen. Clover erkannte anhand der einleitenden Symbole, dass er nur einmal abgesetzt hatte, dort, wo der Fluss sich spaltete und Platz für die kleine Insel schuf, an der er nun arbeitete.

Die leere Spraydose mit dem Wasserzauber lag achtlos neben ihm. Doch er wirkte noch voller Energie, als er die Dose in seiner Hand kräftig schüttelte, sodass die Kugel darin ein klickendes Geräusch verursachte. Dann trug er weiter die Farbe auf.

Clover drehte sich zurück zur Treppe. Jemand, der Graffiti in einem verlassenen U-Bahnhof sprayte, war sicherlich nicht sonderlich erpicht auf Zuschauer und sie wollte keinen Ärger. Schon halb von ihm abgewandt, zögerte sie. Da war diese wissenschaftliche Neugier, die sich einfach nicht abstreifen ließ. Sie hatte schon Magier – vor allem ihre Kommilitonen – dabei beobachtet, wie sie Zauber wirkten, aber es waren Anfänger gewesen. Selbst die Lehrer passten sich dem derzeitigen Niveau der unteren Semester an. Der junge Magier schien so vertieft in seine Arbeit, vielleicht konnte sie noch ein bisschen näher heran. Wenn sie sich weiter im Schatten aufhielt, sah er sie eventuell gar nicht. Nur noch ein, zwei Minuten länger bleiben.

Ganz vorsichtig bewegte sie sich auf ihn zu. Schwungvoll füllte er die kleine Insel mit dem Zauber. Clover sah, wie die Magie fast wellenartig aus ihm herauspulsierte. Sobald sich seine Energie mit der Mischung aus den Spraydosen verband und aufgetragen war, war sie in der Lage, es zu sehen. Dann fügte er per Hand noch weitere kleine Details hinzu. Sie lächelte, als er aus der Hosentasche ein paar Pflanzensamen nahm und sie auf den inzwischen fruchtbaren Boden streute, um den Prozess zu beschleunigen.

Es war ein starker Zauber. Als die Samen die grüne Farbe berührten, platzten sie auf und zeigten ihre ersten grünen Triebe. Es würde nicht mehr lange dauern und sie würden auf dem Fleck wuchern.

Plötzlich richtete er sich auf. Clover versteifte sich. Sie bemerkte, wie nah sie schon herangekommen war. Sie stand kaum einen Meter hinter ihm mitten in dem aufgemalten Fluss. Ihre Schuhe waren bereits durchgeweicht, aber bis eben hatte sie das kaum wahrgenommen.

Er griff nach einer schwarzen Sporttasche, wühlte darin herum und ihre Anspannung löste sich. Noch hatte er sie nicht entdeckt. Er holte mehrere Dosen heraus und schien abzuwägen, welche er als Nächstes nehmen sollte.

Er drehte sich leicht, sodass Clover nun mehr von seinem Profil sah. Ihr Atem stockte. Sein Körper verdeckte nicht mehr die Lichtquelle. Würde sie auch nur mit dem Arm zucken, würde er sie bemerken. Ein paar Strähnen fielen ihm ins Gesicht. Sie schätzte ihn auf Mitte zwanzig. Sein Gesicht war markant und erwachsen, in seinen Augen glomm jedoch eine jungenhafte Freude.

Schließlich schien er fündig geworden zu sein. Er nahm die Dose, ein rötliches Orange. Vielleicht ein Wärmezauber, vielleicht nur ganz normale Farbe. Da er seine Mischungen selber herstellte, konnte es so gut wie alles sein. Erst am Farbschimmer würde sie erkennen können, um was für einen Zauber es sich handelte.

Er drehte sich zu ihr herum und setzte die Spraydose an. Hielt inne. Und hob seinen Kopf. Sah sie an. Clover fühlte sich, als hätte man einen Scheinwerfer auf sie gerichtet und hielt die Luft an. Sie überlegte, ob weglaufen eine geeignete Option war.

Er hob die Augenbrauen. „Sieh an, wen haben wir denn da?“

„Ich … Es tut mir leid.“ Clover bemühte sich um ein höfliches Lächeln. „Ich hatte nur den Fluss bemerkt und war neugierig.“ Sie umgriff ihre Tasche, hielt sie vor sich wie ein Schutzschild.

Er wurde nicht wütend, stattdessen lächelte er sie breit an. Der Ausdruck war so sympathisch, dass es ihn noch attraktiver machte. Er war genau der Typ Mann, nach dem sich Frauen umdrehten. Talentiert und gut aussehend. Er hatte bei seinen Genen den Jackpot gezogen, aber Clover interessierte nur eine dieser beiden Eigenschaften.

„Nur zu. Es ist ja da, um gesehen zu werden.“ Er schüttelte die Dose und zwinkerte ihr zu.

Clovers Herz machte einen freudigen Hüpfer. Sein Drang nach Aufmerksamkeit kam ihrem Interesse zugute. Sie ging näher heran, stellte sich zu ihm auf die gemalte Oase, als er sich wieder hinkniete und begann, die Farbe großzügig zwischen der Wassergrenze und der grünen Insel aufzutragen. Der Schimmer war orange, ein Wärmezauber, wie sie es sich gedacht hatte.

Langsam konnte man einen Strand erkennen, der die Lücke zwischen dem Wasser und der grünen Insel füllte. Warmer Sand, wie von der Sonne aufgeheizt. Der Geist war wieder vollkommen konzentriert, als hätte er erneut vergessen, dass sie da war.

Clover schaute ihm auf die Finger und spürte eine innere Ruhe, die sie nur überkam, wenn sie Magie betrachtete. Doch als er den Kreis um die Insel schon fast geschlossen hatte, wurde ihr etwas anderes klar. Die Symbole unterschieden sich je nach Element, aber ihre Basis aus Fichte war die gleiche.

„Nein!“

Clover überbrückte den Abstand zu ihm, versuchte, ihm die Spraydose aus der Hand zu reißen. Zu spät. Ihre Finger berührten seine Hand, da verband sich die Magiespur des Wärmezaubers mit der Elementbasis des Wasserzaubers. Der Kreis schloss sich. Feuer loderte um sie herum auf.

„Fuck!“, stieß er aus und stolperte rückwärts.

Clover wich ebenfalls vor dem Feuer zurück. Eine zwei Meter hohe Wand aus Flammen umringte sie und fuhr unter einem stetigen Rauschen in Richtung Decke. Schweißperlen standen ihr auf der Stirn und der aufsteigende Qualm brannte in ihrer Kehle. Scheiße, scheiße, scheiße … Sie zerrte den Saum ihrer Bluse über den Mund. Sie würden ersticken. Panisch sah Clover sich um, ihr Blick fiel auf seine Tasche. Sie griff danach, hob sie an, und drückte sie dem Magier unsanft gegen die Brust.

„Luftzauber! Sag, dass du einen hast!“, fuhr sie ihn an. Der beißende Geruch kroch tiefer in ihre Lunge und ließ sie husten.

Wir werden sterben.

Es schien ewig zu dauern, bis er die verdammte Dose gefunden hatte. Weiß, mit einem kleinen Stich ins Hellblaue.

„Das bringt uns aber nur Luft, das Feuer kann es nicht löschen“, rief er gegen das Getöse an.

Sie nickte nur hastig. Natürlich wusste sie das. Aber es war ein Anfang.

Die Hitze war so unerträglich heiß. Ihre Kleidung klebte bereits feucht an ihrem Körper.

Eilig streckte sie ihm ihre Hand entgegen. „Sprüh es auf meine Handfläche!“

Verstehen zeichnete sich in seinen Zügen ab. Wortlos trug er eine Schicht auf, die Farbe trocknete fast im selben Moment. Clover riss sich die Hand vor den Mund und nahm einen tiefen Zug. Reine Luft füllte ihre Atemwege, die sich verklebt anfühlten. Sie atmete gegen das Gefühl an. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, wie der Magier dasselbe tat. Clover hustete. Vielleicht würden sie nicht mehr ersticken, aber der Käfig aus Feuer würde sie früher oder später umbringen. Was sollte sie tun? Laut zu rufen, würde ihnen nicht helfen, hier war niemand.

Sie schaute an der Feuerwand hoch. Sie war enorm. Und wenn man daran die Qualität des Zaubers maß, dann war es wohl ebenso heiß. Der gottverdammte Magier war zu gut.

Wieder kramte er in seiner Tasche.

„Was hast du vor?“, fragte Clover.

Sein Gesicht war angespannt, aber konzentriert. Er geriet nicht in Panik und dafür war sie ihm dankbar, aber sie befürchtete, dass es nur eine Frage der Zeit war. So wie die Panik in ihr spürbar hochbrodelte, sie bald überfluten und unter sich begraben würde.

Er fand, was er suchte. Der Magier umschloss mit seinen Fingern fest eine blaue Dose und sprayte eine Wasserlinie um sie herum, nah am Feuer. Die Farbe, die das Feuer berührte, verbrannte sofort, ohne seine magische Wirkung entfalten zu können. Wenn er gehofft hatte, das Feuer so löschen zu können, war das ein Trugschluss.

„Mist!“ Das Wort klang dumpf durch seine Handfläche hindurch. Eine Sorgenfalte hatte sich zwischen seinen Augenbrauen gebildet.

„Was?“

„Es reicht nicht mehr, um uns einzusprühen. So schaffen wir es nicht durch die Flammen!“

Clover raufte sich die Haare. „Scheiße!“

Hatten sie überhaupt noch Optionen? Gab es noch etwas, was sie tun konnten?

Sie ließ sich auf die Knie fallen. Kroch so nah an das Feuer heran, wie sie es nur aushalten konnte. Es roch nach verbranntem Haar, weil es ihr mit einer Hand nur teilweise gelang, die Strähnen vom Feuer fernzuhalten. Sie kniff die Augen zusammen. Es war schwierig, etwas unter den Flammen zu lesen.

„Was machst du da?!“

Sie schwieg und versuchte, ihn vollkommen auszublenden. Das Feuer verschlang die Luft um sie herum in einem so lauten Rauschen, dass er sie ohnehin nicht verstanden hätte, ohne ihm den Kopf zudrehen zu müssen.

Sie könnte die Farbe wegkratzen. Aber der Boden war hart und die Farbe leider keine Kreide.

Denk, Clover, denk.

Ihr ganzes Leben schon beschäftigte sie sich mit Magie. Jetzt war der Zeitpunkt, wo sie zeigen konnte, dass ihr Wissen auch in der Praxis nützlich war. Und ganz nebenbei könnte es ihnen das Leben retten.

Sie spürte eine warme Hand an ihrem Gesicht und schreckte zurück, bis sie merkte, dass der Magier ihr half, die Haare zurückzuhalten. Er konnte nicht wissen, was sie tat, aber offenbar begriff er, dass sie hier nicht kniete, um zu beten, sondern um ihnen zu helfen. Und er vertraute ihr. Wahrscheinlich war er nur verzweifelt genug, um alles zu versuchen, aber das spielte keine Rolle.

Clover beugte sich noch ein wenig weiter vor. Der Rauch brannte in ihren Augen, ließ sie tränen, aber sie ignorierte es. Schweiß verfing sich in ihren Wimpern, unwirsch wischte sie ihn mit der freien Hand weg. „Gib mir den Wasserzauber.“

„Hier!“ Er drückte ihr von hinten die Dose in die Hand.

Prüfend wog sie den Inhalt ab. Sah sich das Ventil an, aus dem die Farbe gesprüht kam. Überlegte, wie nah sie herankonnte, damit die Stoffe reagieren konnten, bevor sie verbrannten. Nur leider sah sie keine Möglichkeit, das zu tun, ohne ihre Hand dabei dem Feuer auszusetzen.

„Beschissene Fichte“, murmelte sie.

Panisch schaute sie an ihre Seite. Ihre Tasche hing ihr immer noch über der Schulter. Erleichterung durchfloss sie, aber sie versuchte, sie zu zügeln. Nur keine falschen Hoffnungen.

Für den praktischen Teil verwendeten sie meist eine Mischpalette und einen Pinsel, aber gerade im ersten Semester waren sie dazu ermuntert worden, verschiedene Methoden auszuprobieren, um ihren eigenen Stil zu finden.

Sie kramte in der Tasche, bis sie die lange Pipette fand. Sie war wirklich noch da, sie hatte sie schon seit fast einem Jahr nicht mehr benutzt, obwohl Clover die Methode mochte.

„Füll die Farbe da herein!“, befahl sie dem schwarzen Geist.

Wieder zögerte er nicht. Clover nahm einen tiefen Luftzug aus ihrer Hand, mit der anderen riss sie an den obersten Knöpfen ihres Oberteils, um sich ein wenig Kühle zu verschaffen. Vergebens.

Das mit blauer Farbe versetzte Kräutergemisch floss in ihre Pipette. Clover nahm sie entgegen. Das Glas war sehr dick und stabil. Sie war zuversichtlich, dass sie den Temperaturen eine Weile standhalten würde. Hoffentlich lang genug.

Der Geist griff an seine Haare, löste seinen Zopfgummi und reichte ihn ihr. Die dunkelbraunen Haare fielen ihm bis auf die Schultern. Hastig griff sie danach, band sich nachlässig einen Zopf.

Clover beugte sich so nah an das Feuer heran wie nur möglich und konzentrierte sich. Sie fand die Grenze. Die Zeichen schimmerten unter dem Feuer. Die Elementbasis aus Fichte war deutlich von der Magiespur zu unterscheiden, die aus Hahnenfuß entstanden war. Die Energie des Magiers hatte die Bestandsteile gespalten. Sie hatten sich genau dort angeordnet, wo sie hinmussten, um ihre Wirkung zu entfalten. Flammend rot taten sich die Symbole vor ihr auf. Der Anfang, der das Element einleitete, nicht ganz so intensiv farbig wie die restlichen Symbole, die auch aus sehr viel weicheren Linien bestanden.

Vorsichtig streckte sie die Pipette aus, ließ sie genau darüber schweben und drückte den Knauf am Ende. Sie sandte die menschliche Energie in sich in das Gemisch und zog sie dann wieder zurück. Es fühlte sich an wie ein Ziehen zusammen mit einem leichten Prickeln. Ein wenig, als würde ihr jemand Blut abzapfen, nur dass das Blut Brausepulver war.

Es zischte und unablässig bildete sich Dampf. Die Symbole hatten sich verändert, wenn auch nur auf einem winzigen Punkt.

Schritt für Schritt bahnte Clover sich einen Weg durch das Feuer und verwandelte es in Dampf. Clover presste die Lippen so fest aufeinander, bis es wehtat.

Die meisten Menschen würden nicht mehr sehen als den orangenen, dicken Kreis, der durch eine gesprenkelte, blaue Linie geteilt wurde. In ihren Augen überdeckte der Schimmer der Magie fast die Farben der Realität. Sie hielt die Luft an, als sie die letzten Symbole von Feuer zu Dampf umwandelte. Bis jetzt war das Feuer um sie herum keinen Deut schwächer geworden. Sie wagte es noch nicht, zu hoffen. Bitte, bitte, bitte … Das Feuer erlosch augenblicklich, war nun nicht mehr als ein warmer Streifen Farbe. Angenehme Kühle schlug ihr ins Gesicht.

Clover riss sich die Hand vom Mund und stieß ein schrilles Lachen aus. Sie war ausgebrannt. Konnte kaum ihre Augen offen halten. Wusste nicht einmal, ob sie noch stehen konnte. Aber es fühlte sich toll an, am Leben zu sein.

Erschöpft ließ sie sich nach hinten fallen. Sie rechnete damit, auf den harten Boden aufzuschlagen, landete aber in den Armen des Magiers. Den hatte sie vollkommen vergessen. Er hatte sich während der gesamten Prozedur still verhalten, als wäre er gar nicht mehr da. Nur ein Geist. Aber er war ihr so nah, dass er wohl ganz genau beobachtet hatte, was sie getan hatte. Grünblaue Augen tauchten über ihr auf und sahen sie direkt an.

„Ich weiß nicht, wie du es gemacht hast, aber das war unglaublich.“

Lachend drehte sie sich zur Seite, landete auf dem Boden. Ihre Glieder waren schwer wie Blei. Gleichzeitig war sie trunken von ihrer Euphorie, sodass sie es am liebsten noch einmal getan hätte.

Kurz gab sie sich dem Gefühl hin und versuchte sich schließlich aufzurappeln. Schwankend kam sie auf die Beine. Der Magier griff nach ihren Armen, stützte sie, als sei es selbstverständlich. Sie sah zu ihm hoch, seine Stirn hatte sich in Falten gelegt.

„Du bist keine Magierin“, stellte er verblüfft fest.

„Nein, bin ich nicht“, sagte sie kurz angebunden. Clover begriff, dass ihm diese Erkenntnis tatsächlich erst gerade aufgrund ihres Zustands gekommen war. Sie hatte nicht viel Zauber gewirkt, selbst ein Magier mit äußerst schwacher Blutlinie hätte das vollbringen können, ohne vollkommen ausgelaugt zu sein. Doch einfache Menschen machten nicht, was sie gerade getan hatte.

Sie versuchte, sich von ihm loszureißen. Es gelang ihr auch, aber als sie nach hinten taumelte, griff er wieder zu. Diesmal umschlang sein Arm ihre Taille und machte es ihr viel schwerer, sich aus seinem Griff zu winden. Zugegebenermaßen aber auch, umzufallen. Aber sie lag lieber auf dem Boden, als sich von ihm helfen zu lassen. Sie brauchte keine Hilfe, von niemandem. Das hatte sie gerade eindrucksvoll bewiesen. Sie hatte sie gerettet, der Mensch, nicht der Magier.

„Loslassen!“, zischte sie.

Er betrachtete sie nachdenklich. Dann löste er sich langsam von ihr. Seine zweite Hand blieb lange auf ihr ruhen, als wollte er erst sicherstellen, dass sie wirklich allein stehen konnte. Dann trat er zu ihrer Erleichterung noch einen Schritt nach hinten und schaffte Distanz zwischen ihnen.

„Shade“, stellte er sich vor, streckte ihr die Hand zur Begrüßung hin.

Sie starrte auf seine Finger. Auf die Finger des Kerls, dem sie bis vor Kurzem noch nichts als Bewunderung für seine Kunst entgegengebracht hatte. Der Kerl, der sie beinahe das Leben gekostet hatte. Plötzlich wurde die Erleichterung in ihrem Inneren durch Wut ersetzt. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten, sie starrte ihn finster an und ignorierte die dargebotene Hand. Sie war so ausgelaugt, dass sie es nicht mehr schaffte, freundlich zu ihm zu sein, selbst wenn sie ihn dann schneller losgeworden wäre.

„Du hast uns fast umgebracht!“, fuhr sie ihn an.

Er grinste sie breit an. „Schon, ja, obwohl ich noch nicht genau weiß, wie genau. Aber du wusstest es. Noch bevor es passiert ist. Was mich zu der Frage führt: Wie?“

Es durchfuhr sie heiß und kalt. Sie griff nach ihrer Tasche, verstaute hastig die Pipette und eilte davon. Leider nicht so schnell, wie sie wollte, die Erschöpfung machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Aber hoffentlich verstand er die Botschaft und würde ihr nicht folgen.

Doch sie kam nur wenige Meter, da hatte er sie bereits mühelos eingeholt. Immerhin hielt er seinen Lichtzauber in den Händen und leuchtete ihnen beiden damit den Weg aus.

„Bitte sag mir, wie du das gemacht hast, ich will es wissen.“

Clover presste die Lippen aufeinander und sagte kein Wort. Irgendwann würde er schon aufgeben.

„Ich gebe zu, ich habe in der Uni nicht immer aufgepasst. Aber ich denke, ich könnte mich daran erinnern, wenn mir so etwas schon einmal untergekommen wäre“, fuhr er unbeirrt fort.

Also hatte er sein Diplom in Magie, schlussfolgerte sie. So wie sie es wollte, aber vielleicht nie bekommen würde.

Ein Magier wurde als solcher geboren, aber dennoch brauchten sie eine entsprechende Bildung, wenn sie es in die Toppositionen schaffen wollten. Und als Diplommagier war einem gut bezahlte Arbeit sicher, obwohl Clover nicht daran zweifelte, dass selbst der bildungsloseste Magier immer noch bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt hatte als ein ganz normaler Mensch mit solidem mittlerem Abschluss.

Sie presste sie Lippen aufeinander, starrte nach vorn und lief weiter.

„Ich werde dir solange folgen, bis du es mir gesagt hast.“

Er war unanständig gut gelaunt.

Sie knirschte mit den Zähnen. „Die Fichte aus dem Wasserzauber hat sich mit dem Wärmezauber verbunden und Feuer ist entstanden, so schwer ist das doch nicht zu verstehen.“

„Doch, es ist schon schwer zu verstehen. Da war überall Wasserzauber, aber es fing erst ab einer Stelle an zu brennen und du wusstest, welche. Und dann hast du diese Präzisionsarbeit mit der Pipette geleistet. Ich weiß vielleicht nicht viel, aber ich weiß, dass ich so etwas noch nie gesehen habe.“

Verdammt. Clover entgegnete nichts, versuchte, noch ein wenig schneller zu gehen, aber Shade war nicht abzuhängen, auch als sie belebtere Straßen passierten. Er schlenderte neben ihr her, als gehörte er dahin.

Irgendwann blieb sie abrupt stehen. „Willst du mir jetzt allen Ernstes bis nach Hause folgen?“

Er zuckte nur mit den Schultern. „Ich verstehe nicht, warum du es mir nicht einfach sagst.“

Zum zweiten Mal heute brannten ihre Augen verdächtig. Dreimal, wenn man den beißenden Rauch mitzählte. Sie war müde, sie wäre gerade fast gestorben und sie war niedergeschlagen. Ihre Zukunft sah nicht gerade rosig aus und sie hatte keine Lust, sich mit diesem Kerl herumzuschlagen. Sicher war er genau wie Mason: ein privilegiertes Arschloch, das es nicht nötig hatte, sich anzustrengen, weil ihm ohnehin alles von selbst zuflog.

„Hey, alles in Ordnung?“ Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und musterte sie.

Vehement schüttelte sie ihn von sich ab. „Natürlich ist nicht alles in Ordnung! Ein vollkommen Fremder will mich einfach nicht in Ruhe lassen!“

Ergeben hob er seine Hände. „Tut mir leid. Dann hör mir nur zu, okay?“

Sie funkelte ihn an. „Wenn du dann verschwindest?“

„Deal.“ Er sah sich um. Anschließend bedeutete er ihr mit einer Geste, dass sie ihm in eine der dunklen Seitengassen folgen sollte.

Clover blieb, wo sie war. Sie überlegte, ob sie die Gelegenheit nutzen und sich aus dem Staub machen sollte.

Er drehte sich zu ihr um und lief rückwärts. „Hast du Angst, dass ich dir etwas tue?“ Um seinen Mund lag ein belustigter Zug, aber seine Augen fixierten sie ernst.

Clover kannte die Antwort auf die Frage: Nein. Aber vielleicht sollte sie das. Dennoch schüttelte sie den Kopf.

„Ich will dir eine Idee unterbreiten, die dir sicher gefallen wird, aber ich kann sie nicht vor allen Leuten besprechen. Also entweder diese Gasse oder wir gehen zu einem von uns.“

Clover riss die Augen auf. Ganz gewiss würde sie ihn nicht in ihre Wohnung lassen oder zu ihm mitgehen. Und eigentlich sollte sie ihm nicht einmal in die Gasse folgen, in die er deutete. Sie sah die Straße entlang. Es war nicht mehr weit bis nach Hause. Aber gegen ihren Willen hatte er ihre Neugier geweckt. Was hatte sie nach diesem Tag schon noch zu verlieren? Mit einem Seufzen folgte sie ihm.

Hinter einem Müllcontainer blieben sie schließlich stehen. Der perfekte Ort, um jemandem Drogen zu verkaufen. Clover rümpfte die Nase, als ihr der süßliche Geruch der Abfälle in die Nase stieg. Die Gasse war schmal und dunkel, die Fenster der Hochhäuser begannen erst einige Meter über ihnen.

„Also, hör zu“, begann Shade. „Hast du schon mal überlegt, deine Fähigkeiten für etwas anderes zu nutzen?“

„Etwas anderes?“ Sie hob eine Augenbraue.

„Zum Beispiel … etwas Illegales?“

„Bitte was?“

Seine Worte klangen locker, aber um seinen Mund hatte sich ein ernster Zug gebildet. Clover studierte sein ebenmäßiges Gesicht, aber außer Entschlossenheit konnte sie nichts entdecken.

„Ich frage, weil ich einen sehr großen Raub plane. Und wenn du mir nicht sagen willst, wie man das macht, was du getan hast, dann frage ich dich eben, ob du mitmachen willst.“

Mehrere Sekunden sah Clover ihn nur an. Blinzelte und hoffte, dass sich ihr irgendwann die Pointe erschloss. Aber es kam keine. Vielleicht lag sie mit den Drogen gar nicht daneben. „Und du meinst, das nehme ich dir ab? Dass du mir einfach so von deinem geplanten Verbrechen erzählst?“

Vielleicht war er ein Undercover-Bulle? Wobei das keinen Sinn ergab. Soweit sie wusste, gab es keine Strafe auf möglicherweise zukünftig begangene Verbrechen, die einem aufgeschwatzt wurden.

„Ich habe noch ein Problem, das ich nicht umgehen kann, also gibt es kein Verbrechen, bis ich jemanden finde, der mir dabei hilft.“

„Ja dann … viel Glück dabei … oder so.“

Sie bewegte sich langsam rückwärts, doch sein Arm schnellte vor und hielt sie zurück. „Ich habe alles genau bedacht. Und ich zahle dir einen Vorschuss.“

Er sah ihr in die Augen und hielt sie mit seinem Blick fest. Er meinte es absolut ernst, dessen war sie sich sicher. War der Kerl irre? Bis jetzt hatte er vollkommen klar im Kopf gewirkt.

„Ich habe kein Interesse an irgendeinem illegalen Scheiß.“

„Das verstehe ich. Aber du müsstest nicht viel tun und bekämst dafür sehr viel Geld. Eine kleine Sache und du hättest ausgesorgt. Für immer. Wir alle hätten das.“

Clover fragte sich, wie viele Leute dieses Wir bereits einschloss. Sie jedenfalls würde kein Teil davon sein. Obwohl sie nicht abstreiten konnte, dass die Worte „für immer ausgesorgt“ sehr verlockend in ihren Ohren klangen.

Dennoch schüttelte sie den Kopf. „Das ist verrückt. Du kennst mich außerdem überhaupt nicht. Wieso bist du dir so sicher, dass ich dich nicht verpfeife?“

Er hob die Augenbrauen. „Und was genau würdest du sagen? Du kennst weder meinen vollen Namen noch den ganzen Plan.“

Da hatte er recht.

„Diese Sache ist mir wichtig. Es würde sich auf jeden Fall für dich lohnen. Denk nur einen kurzen Moment an all die Dinge, die du dir kaufen könntest.“

Seine Augen sahen sie eindringlich an, schienen in sie einzutauchen. Das Bitte konnte sie so direkt herauslesen, als hätte er sie angefleht. Aber sie würde einem Magier nicht einfach so einen Gefallen tun, egal, was er ihr als Gegenleistung anbot. Dabei konnte man als einfacher Mensch nur den Kürzeren ziehen.

Er lächelte sie an. Ehrlich. Offen. Hinreißend. Aber bei ihr würde er damit nicht weit kommen. „Ich weiß, du denkst jetzt vermutlich, dass ich dich hereinlegen will, dass es einen Haken gibt, aber es gibt keinen. Natürlich kann ich für nichts garantieren, aber ich kann dir versichern, dass das Risiko minimal ist.“

Sie zögerte. Wieso zögerte sie? Sie sollte sofort umdrehen. Ohne auch nur einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden. Es war absurd. Und trotzdem war da diese kleine Stimme in ihr, die fragte: Was wäre wenn?

Shade griff in die ausgebeulte Tasche mit den Spraydosen, die ihm über der Schulter hing, als würde sie nichts wiegen, und holte eine Visitenkarte heraus. Als sie sie nahm, erkannte sie, dass es nicht seine war, sondern die eines Clubs – das Mystra. Clover hatte noch nie davon gehört. Er lag weiter weg, in einem besseren Stadtteil.

„Dort wirst du mich die nächsten fünf Tage finden. Überleg es dir.“ Er schenkte ihr ein schiefes Grinsen. „Ich warte auf dich.“

Er ließ sie verdutzt stehen, die Karte in der Hand. Als er aus ihrem Sichtfeld verschwunden war, musterte sie die eingestanzte Schrift der schwarzen Karte. Sie sollte sie einfach wegwerfen. Diesen Tag vergessen. Das Angebot vergessen. Stattdessen ließ Clover das Stück Papier in ihre Hosentasche gleiten. Sie konnte es genauso gut auch zu Hause noch wegwerfen.