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Victoria Credo

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Beschreibung

Nicht ganz freiwillig stolpert der fünfzehnjährige Oliver Hansen in eine fremde Welt und verschwindet damit auf mysteriöse Weise. Während seine Eltern sich im Hier und Jetzt um den verschwundenen Jungen sorgen, trifft Oliver in einem verborgenen, jedoch unbarmherzig stillen Kosmos auf die schöne Mia. Sie fasziniert ihn sehr und auch Mia kann sich seinem besonderen Reiz nicht entziehen - kommt er doch aus einer Welt in die es sie schon seit Jahren hinzieht. Wäre da nur nicht Mias Vater, der ihre Gedanken kontrolliert und eine Flucht zu verhindern weiß. Mia möchte mit Olivers Hilfe dieser fantastischen Umgebung entfliehen, deren zermürbende Stille Oliver schon nach kurzer Zeit sehr zu schaffen macht. Doch ganz so einfach wird es nicht.

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Victoria Credo

urbem silere

Band 1

Wenn Stille tötet

urbem silere

Die lautlose Stadt

Victoria Credo

Impressum

Texte: © Victoria CredoCover layout:© www.etcetera.de

Bildnachweise:© istockphoto.com/D-Keine

Verlag:Victoria Credo

c/o AutorenServices.de

Birkenallee 2436037 Fuldawww.victoriacredo.de

Druck:epubli - ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Kapitel 1

Die erste Begegnung mit der fremden Welt

»BÄM!« Mit einem lauten Knall schlägt Oliver wütend die Wohnzimmertüre zu.

Claudia zuckt vor Schreck zusammen.

»Ihr habt ja überhaupt keine Ahnung!«, ruft Oliver noch lautstark aus dem Flur heraus. Er fühlt sich mal wieder total missverstanden.

Peter erhebt sich nun auch aus seinem Sessel. Er legt die Tageszeitung beiseite. Gelesen hat er ohnehin schon lange nicht mehr, sondern sich die Diskussion zwischen seinem Sohn und Claudia anhören müssen. Er geht zur Wohnzimmertüre, öffnet diese und ruft Oliver hinterher:

»Glaub nur nicht, dass du damit durchkommst, mein Junge!«

»BÄM!« Da fällt auch die schwere Eichenhaustüre mit Wucht ins zitternde Schloss. Oliver hat das Haus seiner verständnislosen Eltern verlassen und sich damit jeder weiteren Diskussion entzogen.

Stille!

Claudia und Peter schauen sich ratlos an.

»Was erlaubt der Lümmel sich eigentlich?«, fragt Peter nach einer Weile.

»Dem gehört ganz gewaltig einmal der Hosenboden versohlt. Wir hätten uns das früher nicht erlauben dürfen. Da hätte es aber ein großes Donnerwetter zu Hause gegeben. Den jungen Leuten geht es heute einfach viel zu gut.«

Peter ist sichtlich empört.

Claudia hingegen ist den Tränen nah. Sie teilt Peters Meinung nicht.

Die Diskussion möchte sie mit ihm alleine aber auch nicht fortführen und geht wortlos in die Küche um sich mit anderen Tätigkeiten wieder auf schönere Gedanken zu bringen.

Der Streit mit Oliver geht ihr sehr nahe. Der Junge ist mitten in der Pubertät und rebelliert zurzeit sehr häufig. Ein wenig zu häufig für ihren Geschmack.

Peter beruhigt sich wieder, setzt sich in seinen gemütlichen Sessel und widmet sich erneut seiner Tageszeitung. Schnell ist jegliche Aufregung verflogen und das beschauliche Leben im Hause Hansen geht seinen gewohnten Gang.

Stille kehrt wieder ein. Man hört ab und zu nur das Geräusch der knisternden Zeitung, wenn Peter umblättert. Aus der Küche ist hin und wieder das Klappern von Geschirr zu vernehmen.

Es ist einer dieser heißen Sommertage, an denen man keinen Hund auf die Straße schicken mag. Die schwüle Luft über dem kleinen Ort in der Lüneburger Heide ist so erdrückend, dass man am liebsten seine Wohnung verdunkeln und sich nicht mehr bewegen möchte.

Nur vom nahegelegenen Freibad hört man Stimmen. Kinder toben und planschen im Wasser. Das Nass verspricht noch etwas Abkühlung.

Ansonsten sind die staubtrockenen Straßen nahezu menschenleer. Um diese Zeit sieht man an normalen Tagen viele fleißige Einwohner in ihren hübsch gestalteten Gärten arbeiten; Rasen mähen, Unkraut jäten oder die Einfahrt fegen. In dieser brütenden Hitze fällt dies jedoch meistens schwer und alle halten sich lieber an kühlen Orten auf.

Hier in diesem kleinen und beschaulichen Heidedorf macht sich Oliver Hansen nach dem Streit mit seinen Eltern auf den Weg.

Der hochgewachsene schlanke junge Mann mit auffallend blondem Haarschopf und einer modernen mittellangen Frisur schlendert die staubige Heidestraße dorfauswärts entlang hinauf zum kleinen Wäldchen. Nur wenige Hektar groß ist dieses Waldstück, welches früher für viele Jugendliche ein beliebter Treffpunkt war. Hier konnte man sich zurückziehen und auch mal unter sich sein. Einige von ihnen haben an diesem Ort zum ersten Mal Alkohol getrunken oder heimlich auch die erste Zigarette geraucht, die meistens nicht einmal schmeckte und nur heftige Hustenattacken verursachte.

Unbeobachtet von den Erwachsenen konnte man als Jugendlicher hier einfach so sein wie man wollte. Zudem gibt es hier verschiedene prähistorische Hügelgräber aus der Bronzezeit. Vielleicht ist dies auch der Grund, weshalb dem Ort etwas Mystisches zugeschrieben wird. In den 1970er und 1980er Jahren war dieser beliebt bei Anhängern der Gothik-Szene. Zeitweise tummelten sich einige hundert zumeist schwarz gekleidete Jugendliche dort. Manche einfach nur um Spaß zu haben, andere wiederum um schwarze Messen abzuhalten. Als eine Art Mutprobe haben damals viele junge Menschen sogar die Nacht alleine in diesem sagenumwobenen Wald verbracht.

Aufgehört hat alles, als vor acht Jahren ein Junge aus dem Ort verschwand. Seine letzten Spuren verloren sich in diesem kleinen Wäldchen in der Nähe eines Hügelgrabes.

Heute ist es hier deutlich ruhiger. Nur wenige Menschen suchen diesen Ort noch auf. In diesem Moment möchte Oliver einfach nur seine Ruhe haben. Der Ärger mit seinen Eltern beschäftigt ihn sehr. Für viele Mütter und Väter ist das wohl mit den pubertierenden Jungs im Alter von 15 Jahren nicht einfach, auch wenn sie selbst in ihrer Jugend rebellisch waren sowie nicht immer die Meinung ihrer zumeist viel strengeren Eltern vertreten haben. Irgendwie sehen sie dies bei den eigenen Kindern heute mit ganz anderen Augen.

Oliver sucht nun gerade diese Ruhe, die das kleine Wäldchen verspricht, um mit seinen Gedanken ins Reine zu kommen.

Doch was er später noch finden wird ist Stille. Eine derart erdrückende Stille, die sogar schmerzen wird.

Die Sonne brennt unerbittlich vom tiefblauen Himmel herab als der schüchterne Junge in seinen Turnschuhen und nur mit Jeans und einem T-Shirt bekleidet den schmalen Feldweg hinauf geht. Ihm rinnt der Schweiß die Stirn hinab.

»Hätte ich doch heute nur die kurze Hose angezogen«, denkt Oliver und greift nach einem Taschentuch in seiner Hosentasche. Es ist eines dieser alten Stofftücher, die heute kaum noch jemand benutzt. Oliver hat diese von seiner Oma geschenkt bekommen. Der Junge mag die Taschentücher sehr. Die Initialen seiner Oma sind sogar eingestickt. 'U. H.' Ursula Hansen. Beim Lesen dieser Initialen wird er immer etwas wehmütig. Oliver nutzt die Tücher nie zum Naseputzen, sondern lediglich um mal etwas aufzuwischen oder die Hände zu trocknen, wenn mal wieder kein Handtuchpapier auf der Toilette in der Schule zu finden ist - und das ist an seiner Schule leider keine Seltenheit.

Oliver ist heilfroh, als er die ersten schattenspendenden Bäume am Waldesrand erreicht. Zu dieser Jahreszeit ist das Laub der Bäume so dicht, dass kaum ein Sonnenstrahl auf den weichen Waldboden trifft. Das Taschentuch braucht er nun nicht mehr, hält es locker zwischen den schlanken, knochigen Fingern und spielt damit. Erst faltet er daraus kleine Figuren, im nächsten Moment streicht er das Tuch dann auch schon wieder glatt.

Oliver geht jetzt langsamer und verliert sich mit der Zeit immer mehr in Gedanken. Gedanken an den Streit mit den Eltern, Gedanken an den Vormittag in der Schule, die Sonne und vieles mehr. Dann lauscht er den Vögeln des Waldes bei ihrem fröhlichen Zwitschern und Pfeifen. Das Tuch lässt er irgendwann, ohne dass er es merkt, aus seinen Händen gleiten.

Völlig geschafft von der Hitze und der Sonne, nutzt er den Schatten der Bäume für eine kurze Rast, ein Stück weiter des Weges. Oliver lehnt sich an eine dicke Eiche, die etwas tiefer im Wald und abseits des Weges nahe eines der alten Hügelgräber steht. Er schaut noch eine Weile umher und beobachtet eine Gruppe Ameisen im Kampf mit einem Käfer - dann verlieren sich seine Gedanken erneut. Der Streit mit seinen Eltern scheint wie vergessen und er träumt sich in eine andere Welt, in eine Welt wo er verstanden wird.

Zeitgleich sind seine besorgten Eltern zu Hause. Sie machen sich nun langsam Gedanken um ihren Jungen, der seit Stunden nichts mehr von sich hören ließ. Claudia Hansen ist Olivers Mutter und macht sich sichtlich mehr Sorgen um ihn als Peter, ihr Mann. Nachdenklich sitzt sie auf der schweren Ledercouch und fährt sich immer wieder mit den Fingern durch ihr langes blondes Haar, dass bis über ihre Schultern reicht. Sie trägt es meistens offen. Dabei starrt sie regungslos ins Leere, während ihr Mann immer noch die Tageszeitung liest.

»Vielleicht waren wir doch etwas zu hart zu ihm«, sagt Claudia mit spürbarer Nervosität in ihrer Stimme und wendet sich dabei ihrem Mann zu, der sich nach wie vor mit seinen Zeitschriften beschäftigt.

»Ach was«, entgegnet Peter barsch.

»Der Junge muss auch irgendwie zur Vernunft gebracht werden. Wenn wir uns das damals alles erlaubt hätten was Oliver heute so tut, dann hätte mein Vater mir aber ganz gehörig die Leviten gelesen. Das ist noch nicht ausdiskutiert und der Junge darf sich noch etwas anhören, wenn er nach Hause kommt.«

Peter Hansen ist ein sehr bodenständiger und hilfsbereiter Mann, Mitte Vierzig, leichter Bauchansatz. Das kurze dunkle Haar wird langsam lichter und grau. Nahezu in jedem Verein des Ortes ist Peter Mitglied. Aber nicht nur das. Er macht sich auch in jedem einzelnen Verein nützlich und ist dort zumeist sogar im Vorstand aktiv.

Peter trainiert eine Jugendmannschaft im Fußballverein und ist stolz, sie zum Aufstieg in die Kreisliga gebracht zu haben. Im Kleingartenverein ist er Kassenwart und bei der freiwilligen Feuerwehr kürzlich zum Oberbrandmeister ernannt worden. Im Tennisverein, sowie bei der altehrwürdigen Schützenbruderschaft ist er im Vorstand tätig. Für das kommende Jahr hat er sich sogar fest vorgenommen, am Königsschießen teilzunehmen. Sein Vater war in den 1970er Jahren schon Schützenkönig und irgendwie gehört dies zur Tradition seiner Familie dazu.

In diesem Jahr möchte Peter Hansen Schützenkönig werden! All sein Bestreben ist darauf ausgerichtet.

Kurz und knapp: er wird überall gerne gesehen. Peter ist bekannt wie ein bunter Hund und auch immer bereit, sich für sein Dorf einzusetzen. In heiklen Situationen bewahrt er die nötige Ruhe sowie einen kühlen Kopf. So auch jetzt bei der Auseinandersetzung mit seinem Sohn Oliver und den folgenden Diskussionen mit seiner Frau.

»Wie alle in diesem Alter wird er sich nun irgendwo abreagieren und ist zum Abendessen wieder hier«, sagt er noch und legt seine Zeitung dann endgültig beiseite.

Im Anschluss verabschiedet er sich von seiner Frau. Der Kleingartenverein ruft mal wieder. Claudia bleibt mit ihren Sorgen alleine.

»Typisch Mann«, flucht sie noch und versucht sich sodann mit Hausarbeit selbst etwas Ablenkung zu verschaffen.

Die Wäsche muss ja noch gemacht werden. Im Keller ist es auch recht kühl und angenehm. Da fällt das Bügeln leicht. Den Gedanken noch nicht ganz zu Ende gedacht macht sich Claudia auch schon auf den Weg die schmale Kellertreppe hinunter in ihr Bügelzimmer.

So vergehen dann die Stunden. Doch niemand sieht mehr etwas von Oliver im beschaulichen Heidedorf.

Die rauschenden Blätter und das Summen der emsigen Bienen in den bunten Blüten ringsum - sowie das fröhliche Gezwitscher der Vögel - lassen Oliver nach wie vor träumen, bis er plötzlich vom Geräusch knackender Äste aufgeschreckt wird.

»Da ist doch jemand«, denkt er noch bei sich und steht auf, um nachzusehen, was gerade um ihn herum geschieht.

Noch etwas schlaftrunken erhebt er sich von seinem gemütlichen Platz an der Eiche und prallt im gleichen Augenblick auch schon mit einem ihm unbekannten jungen Mann zusammen. Beide stürzen daraufhin eine kleine Böschung hinab. Sie fallen in Richtung des Hügelgrabes. Oliver verliert dabei seinen linken Schuh und gerade möchte er noch etwas sagen, was denn das soll und wer er ist, warum er nicht aufpasst und was ihm gerade in diesem Moment alles so durch den Kopf schießt…,

…dann fallen beide noch ein gutes Stück tiefer hinunter, obwohl es dort eigentlich nicht mehr weiter gehen dürfte.

An dieser mit Farnen und Moos bedeckten Stelle öffnet sich plötzlich der Boden - wie von Zauberhand. Die Pflanzen weichen wie einer Choreographie folgend zur Seite und geben auf spektakuläre Weise den Eingang zu einer fremden, verborgenen Welt frei. Durch die sich nun bietende Öffnung stürzen die jungen Männer noch ein paar weitere Meter hinunter und Oliver registriert erst bei der unerwartet sanften Landung, dass er nicht mehr in seinem Wald ist.

Die Öffnung verschließt sich sofort wieder und im Nu ist nicht mehr erkennbar, woher sie in diese verwunschene Welt hineingestürzt sind.

»Was war das denn für ein krasser Scheiß? Hey! Herrgott noch mal! Wo sind wir und wer bist du?«, fragt Oliver sichtlich verunsichert und geschockt den noch unbekannten jungen Mann, der ihm überdies für diese Jahreszeit etwas sehr blass erscheint.

»Seit Tagen scheint die Sonne unerbittlich vom Himmel und ein bisschen Farbe bekommt doch jeder«, denkt Oliver und wundert sich im gleichen Moment über seine sanfte Landung in einem Geflecht aus farnähnlichen Pflanzen und wilden Blumen die er zuvor jedoch in dieser Form und mit diesen Farben noch nie gesehen hat.

»Was machst du denn auch da, du Trottel! Du darfst gar nicht hier sein! Verdammt noch mal - so ein Mist«, entgegnet im Flüsterton ein schlanker junger Mann mit ungewöhnlich lichtem Haar.

Oliver schätzt ihn auf Anfang zwanzig. Sofort hält der Junge ihm den Mund zu. Im gleichen Augenblick macht er mit der anderen Hand eine Handbewegung und führt seinen Zeigefinger an seine schmalen Lippen.

»Sei um Himmels Willen ruhig!«, flüstert er Oliver zu und schaut sich verängstigt um.

Erst als er keine drohende Gefahr erkennt spricht er im Flüsterton weiter.

»Wo zum Teufel kommst du denn her? Und sei bloß leise! Hier darf uns niemand hören!«

Oliver schaut verständnislos in entsetzte Augen eines jungen Mannes, der etwas seltsam gekleidet und wild gestikulierend vor ihm sitzt.

»Die Kleidung hat ein bisschen was von Raumschiff Enterprise«, denkt er und schaut sich den jungen Mann etwas genauer an. Seine Augen leuchten in einem kräftigen Grünton. Ungewöhnlich schmale Lippen lassen die kräftige Nase noch ein wenig größer erscheinen als sie eigentlich ist.

»Zum Glück sind die Flaschen noch heil«, flüstert der nun sichtlich erleichterte junge Mann weiter und tastet dabei über seinen dunklen Mantel unter dem er wohl drei Flaschen Wodka versteckt hat.

»Sei bloß leise!«, befiehlt er noch einmal mit Nachdruck.

Oliver ist immer noch völlig baff, schaut mit großen Augen um sich und realisiert erst nach und nach, dass er nicht mehr in seinem kleinen Wäldchen ist. Um ihn herum sieht es aus wie in einem Urwald. Alles ist dicht mit Bäumen und Sträuchern besetzt. Deutlich dichter, als er dies aus heimischen Wäldern kennt. Diese Pflanzen sind ihm jedoch völlig unbekannt. Alles hier scheint fremd zu sein und hat völlig andere Farben und Formen als die, die er kennt. Farben, die er kaum zu beschreiben vermag, weil er sie so noch nie in seinem Leben gesehen hat.

Farben mit einer Leuchtkraft, die er bisher noch nicht einmal in seinen kühnsten Träumen für möglich gehalten hätte.

Der junge Mann lässt ihn in Ruhe die neue Umgebung erkunden und erste Eindrücke sammeln. Aus eigener Erfahrung weiß er, wie schwer dies für Oliver gerade zu begreifen ist. Er selbst ist vor Jahren ebenso zufällig in diese andere Welt hineingestolpert. Ein Zurück ist in diesem Moment auch nicht mehr möglich, daher muss er Oliver unweigerlich in diese leuchtende Fabelwelt mitnehmen. Nach und nach versucht er ihn mit der ungewöhnlichen Umgebung vertraut zu machen.

»Schau dir nur alles in Ruhe an. Ich kann dir gleich alles genau erklären, aber sei um Himmels Willen unbedingt leise. Wir sollten uns so wenig wie möglich unterhalten«, macht er Oliver noch einmal deutlich.

Noch während er das flüstert geht er zu einem nahegelegenen Strauch und reißt ein Blatt ab. Für Oliver sieht es aus wie ein herkömmliches Blatt Papier. Dann holt der junge Mann einen ungewöhnlich grellbunten Stift aus seiner Jackentasche und schreibt ein paar Zeilen, die er Oliver dann zum Lesen vorhält.

Oliver ist völlig sprachlos. Was ist denn das Kurioses? Wo kommt denn nur das Blatt Papier her?

Das kann doch unmöglich an einem Baum wachsen? Oliver braucht noch etwas Zeit um all das zu realisieren. Er lässt seinen Blick erneut durch die farbenprächtige Welt schweifen. Gerade schaut er in einen gau-grünlich schimmernden Himmel und erblickt im gleichen Moment Blüten, die in einer Art schwarz-violetten Farbe regelrecht zu leuchten scheinen. Dann realisiert er auch, dass er außer dem Flüstern des jungen Mannes bisher noch kein einziges Geräusch wahrgenommen hat.

Es herrscht eine erdrückende Stille.

Oliver nimmt den ihm gereichten Zettel und liest die magentafarbenen Worte:

»Ich bin Alexander. Wir sind hier nicht alleine. Leise, ja fast lautlos zu sein, kann dir hier dein Leben retten. Zeige mir mit Gesten, was du willst, aber gib möglichst niemals einen Laut von dir.«

Er ist geschockt. Wie soll ein 15-jähriger Junge auch mit so etwas umgehen können? Das er leise sein soll, dies hat er schon begriffen und traut sich auch vor lauter Angst nicht mehr auch nur einen Ton von sich zu geben. Immer noch schockiert versucht Oliver langsam zu begreifen was geschehen ist und wo er jetzt bloß sein könnte.

Zumindest fühlt es sich so an als ob er noch am Leben sei. Er kneift sich kurz.

»Ich lebe!«, flüstert Oliver erleichtert.

Er greift nach dem Stift, der sich optimal an seine Hand schmiegt und schreibt nun ebenfalls etwas für Alexander auf den Zettel.

»Wo zum Teufel sind wir hier? Was ist das alles?«

Alexander schreibt zurück:

»Das wirst du nach und nach begreifen. Es ist eine andere Welt, verborgen vor dem was du bisher kennst. Du wirst es besser verstehen, wenn ich dir gleich noch ein paar Freunde vorstelle.«

Er macht eine Handbewegung und signalisiert Oliver, dass er mit ihm mitgehen soll. Sie machen sich auf den Weg. Oliver folgt Alexander wortlos. Das Gehen fühlt sich seltsam an. Der Boden ist sehr weich. Fast schon federnd. Da ihm sein linker Schuh fehlt, wirkt es zudem sehr ungewöhnlich.

Oliver nimmt die neuen Eindrücke auf und wundert sich schon nach jeweils nur wenigen Schritten immer wieder über neue Farben und Formen der Pflanzen in dieser Welt. Hier gibt es Bäume - zumindest Gewächse die ihm bekannten Bäumen ähneln - die jedoch keine Blätterkrone besitzen wie er sie kennt. Hier wachsen bei einigen entlang eines gelblichen Stammes dicke, blattähnliche Gebilde, teils rund und Handteller groß, an denen lange Fäden in allen Regenbogenfarben schier endlos weit herunterhängen. Andere sind wesentlich dicker. Zartrosa bis lila in den Farben. Deren Verzweigungen reichen ebenso weit nach links und rechts, wie der gesamte Stamm hoch ist. An den Enden befinden sich viele kleine bunte - in allen Farben schimmernde - Blätter, die kaum größer als ein Fingernagel sind. Der ganze Wald ist ein einziges Paradies voller ungewöhnlich strahlender Farben. Soweit er blicken kann wirkt der gesamte Boden wie ein Geflecht aus Farnen und Moos. Farblich sind sie mit Nichts zu vergleichen. Die bei uns bekannten Farben wie grün oder braun sucht man hier jedenfalls vergeblich.

Nach einer Weile erreichen sie eine kleine Hütte. Scheinbar ist sie von den Pflanzen zugewuchert. Alexander geht zielstrebig auf den Eingang zu. Die Tür öffnet sich von selbst und völlig lautlos. Dann macht er wieder eine Handbewegung, damit Oliver ihm in die Hütte folgt. Im Haus gibt es nur einen einzigen Raum. Der Boden gleicht dem weichen Waldboden auf dem sie bis hierhin gelaufen sind. Es gibt keine Möbel. Fenster sind für Oliver ebenfalls keine ersichtlich. Die Wände sind auch innen größtenteils durch Pflanzen bewachsen. An den Decken sind keine Lampen zu erkennen, dennoch ist im Innenraum die gleiche diffuse Helligkeit wie außen wahrnehmbar. Erst jetzt realisiert er, dass die Hütte wohl nicht zugewuchert ist, vielmehr bilden die farbenfrohen Pflanzen selbst diese Hütte. Die Tür schließt sich hinter ihnen und Alexander setzt sich in eine Ecke auf den weichen Boden.

»Komm, setzt dich zu mir!«, flüstert er sehr leise.

»Hier sind wir einigermaßen sicher und Geräusche dringen kaum nach außen. Trotzdem müssen wir vorsichtig bleiben und uns nicht zu laut unterhalten. Lass uns erst einmal einen Schluck trinken.«

Er holt eine Wodkaflasche hervor, öffnet sie und nimmt einen kräftigen Schluck - bevor er sie an Oliver weiterreicht.

»Hallo? Ich bin erst fünfzehn. Ich trinke keinen Alkohol und schon gar nichts Hochprozentiges«, flüstert Oliver.

»Gibt es denn hier keine Coke oder so etwas? Durst hätte ich ja schon«, spricht er leise weiter und man sieht ihm an, dass er einen Schluck Wasser durchaus vertragen könnte.

»Alles was wir brauchen findest du hier«, flüstert Alexander und macht dabei eine große einladende Geste mit seinem rechten Arm.

»Ich sehe, dass du dir gerade nicht vorstellen kannst, wo hier etwas zu essen oder zu trinken sein soll. Genau so habe ich auch geschaut, als ich dies hier vor langer Zeit erstmals kennengelernt habe. Nur war das für mich um einiges schwieriger, denn hier spricht weder jemand unsere Sprache, noch konnte sich mir damals irgendeine Person in irgendeiner Weise mitteilen. Schreiben ist hier irgendwie auch nicht so angesagt.«

Alexander geht ein paar Schritte auf eine Wand zu. Sie besteht aus unzähligen verschiedenfarbigen Pflanzen. Einige sind mit Blättern versehen, andere mit Blüten, Knospen oder auch kakteenähnlichen Fortsätzen. Es scheint, als gäbe es jede nur erdenkliche Farbe des Universums an dieser Wand. Alles leuchtet und bei genauerem Betrachten ist an verschiedenen Stellen auch ein leichtes Pulsieren und ein Pochen für Oliver erkennbar.

»Pass auf!«, sagt Alexander immer noch flüsternd und hält die Hände unter einer grellblauen Ausformung zu einem Gefäß geformt zusammen.

Für eine Blüte ist es zu fleischig, für ein Blatt irgendwie auch zu dick. Oliver kann sich nicht erklären, welcher Teil einer Pflanze das sein könnte und staunt noch über diese ihm völlig unbekannten Formen und Farben, da fließt plötzlich klares Wasser aus dem Gebilde heraus. Alexanders Hände füllen sich zügig bis zum Rand.

Olivers Augen werden vor lauter Staunen zunehmend größer. So etwas hat er noch nie gesehen. Zauberei? Magie? Er kann es nicht glauben, steht auf und geht zur Wand um es sogleich auch selbst einmal zu versuchen. Zuerst will es ihm nicht so recht gelingen. Vereinzelt tropft es, aber kein Strahl füllt wirklich seine Hände.

»Was mache ich denn nur falsch?«, fragt er Alexander irritiert.

»Du musst verstärkt denken«, befiehlt er Oliver und gibt ihm auch gleich eine Erklärung dafür.

»Alles hier reagiert auf deine Gedanken. Du musst sie nur richtig einsetzen. Egal was du auch brauchst, es ist alles im Überfluss vorhanden. Du bekommst es aber nur, wenn deine Gedanken dies auch überzeugend darstellen. Versuche es doch einfach noch einmal!«

Mit dieser Information strengt sich Oliver nun wirklich mächtig an, denkt an klares sauberes Wasser und wie es aus dieser Öffnung strömen wird. Schon bald ergießt es sich wohltemperiert in seine Hände und wie schon Alexander zuvor, so erhält auch Oliver jetzt ausreichend Flüssigkeit. Es schmeckt überaus erfrischend, jedoch nicht einfach nach Wasser. Es hat eine leicht fruchtige Note, die er jedoch nicht zuordnen kann.

»Und das soll gesund sein?« fragt Oliver nach.

»Sehe ich etwa krank aus?«, entgegnet Alexander.

»Und so geht das hier mit allem was du brauchst. Essen darfst du hier beinahe alles. Wenn man sich erst einmal an den ungewohnt neutralen Geschmack gewöhnt hat, dann ist es auch wirklich nicht so schlecht. Hier zum Beispiel diese Knospen, so würde ich sie einmal nennen, probiere mal!«

Er greift zum Boden und reicht ihm einen Teil aus einer leuchtend gelben Blüte, nur etwas größer als eine Walnuss.

»Das sollte für diesen Tag reichen, du wirst sehen!«, meint Alexander nur und reicht Oliver das soeben Gepflückte.

Etwas ungläubig traut sich Oliver an die leuchtende Blüte. Für ihn undefinierbar. Sein Magen knurrt. Er isst es mit leichter Abscheu, denn süß ist ganz bestimmt anders, aber auch sauer oder salzig kann er hier nicht herausschmecken. Ein wirklich eigenartiger Geschmack den sein Gaumen in diesem Moment erstmals verspürt. Viel unangenehmer empfindet Oliver jedoch die eigenartige Konsistenz der Blüte. Sehr gewöhnungsbedürftig für seinen durch Süßigkeiten verdorbenen Gaumen. Er spült mit der Flüssigkeit nach, die er sich nun schon wie selbstverständlich von der Pflanze an der Wand in seine Hände geben lässt.

»Du meine Güte, was ist das?«, fragt er Alexander leise nach.

»Frag nicht, ich kann es dir nicht sagen. Es lässt dich überleben, also ist doch alles gut. Gewöhne dich an den Geschmack, denn viel Auswahl hast du hier nicht. Die Dinge sehen zwar oft sehr unterschiedlich aus, aber geschmacklich gibt es keine Besonderheiten. Sterneköche, die dir daraus etwas Schmackhaftes zubereiten könnten, die suchst du hier ohnehin vergebens.«

Alexander nimmt lieber noch einem Schluck Wodka und weist Oliver an, sich wieder zu ihm zu setzen. Flüsternd erklärt er ihm nun einiges über die Welt, in die sie beide gerade hineingestolpert sind.

»Ich kann dir sicher nicht alles erklären, dafür sind die Dinge hier einfach zu komplex. Was ich in den letzten Jahren erfahren habe, ist, dass hier alles im Überfluss existiert und es allen Lebewesen mehr als nur gut geht. Zudem gibt es nur zwei Dinge die man fürchten muss. Es gibt nur eine einzige Gefahr, die wirklich böse enden kann: Feleos. Das sind Tiere, die auf Geräusche fixiert sind. Dabei gilt: je lauter du bist, umso eher ist die Gefahr gegeben, dass sie sich zeigen und du es nicht überleben wirst. Darum in Gottes Namen, sprich nie, wirklich niemals in der Öffentlichkeit. Lautes Rufen oder Schreien bedeutet hier so gut wie den sicheren Tod. Hier kommunizieren aus diesem Grunde alle telepathisch miteinander und es ist echt schwer für uns Menschen dies zu erlernen. Du musst dich einfach darauf ein und deinen Gedanken freien Lauf lassen. Beachte unbedingt niemals an dein früheres Leben in der anderen Welt zu denken. Das ist zwar nicht gefährlich, dennoch sollte nicht jeder gleich erfahren, dass du hier nicht hingehörst. Obwohl, merken wird man das ohnehin recht schnell, denn du hast ja noch Haare. Einige Wenige sind mir auch noch geblieben, aber so langsam verliere ich sie. Das wird dir hier mit der Zeit auch so ergehen. Ich weiß es nicht genau, aber ich vermute, das liegt hier irgendwie an der Ernährung.«

Oliver unterbricht ihn.

»Aber wie soll ich das mit der Telepathie denn lernen und kann ich das überhaupt? Und, wie bitte? Meine Haare werden ausfallen? Das möchte ich nun aber ganz bestimmt nicht. Ich möchte umgehend wieder fort von hier.«

»So einfach geht das nicht. Hier raus kann man nur in ganz bestimmten Momenten. Wie das genau zusammenhängt, wissen auch nur wenige. Ich selbst gehe, wenn die Jungs mir sagen, dass es funktioniert. An einen kahlen Kopf wirst du dich schnell gewöhnen, ich glaube sogar, dass du damit ganz gut aussehen wirst. Telepathie kann jeder. Lass dich nur ganz einfach darauf ein. Ich wäre nicht schon so lange hier, wenn das so schwierig wäre. Ich hatte damals niemanden, der es mir zeigen konnte oder der mich gewarnt hat und ich war erst vierzehn Jahre alt - also noch ein Jahr jünger als du.«

Oliver wird nachdenklich.

»Und wann kann ich wieder nach Hause?«, fragt er noch einmal nach.

»Wer weiß, ob du das überhaupt möchtest, wenn du erst gesehen hast, was hier alles möglich ist«, sagt Alexander mit einem gewinnenden Lächeln auf seinen schmalen Lippen.

Er weiß, dass niemand diesen magischen Ort freiwillig wieder verlassen würde.

»Aber du sagtest, dass es da etwas gibt was einem gefährlich werden und uns sogar töten könnte?«, fragt Oliver ängstlich.

»Was ist das genau?«

»Das sind die von allen hier gefürchteten Feleos, die ich vorhin schon einmal erwähnt habe. Eine Tierart ähnlich unserer Katzen. Etwas kleiner als ein Löwe. Die sind aber auch nur im Rudel wirklich stark und gefährlich. Sie greifen nur an, wenn sie ein einzelnes Wesen vor sich sehen«, versucht Alexander aufzuklären.

»Sobald man zu zweit oder zu mehreren Personen unterwegs ist, wird man sie ganz sicher nicht einmal zu Gesicht bekommen. Alleine wirst du hier wohl eher selten sein, es sei denn, du bist auf dem Weg in die alte Welt um zum Beispiel etwas zu besorgen, so wie ich heute Früh«, vervollständigt Alexander seine Aufklärung.

Oliver wird ein wenig mulmig zumute und hofft insgeheim diesen Kreaturen nie gegenüber stehen zu müssen. Bei dem Gedanken fällt ihm gerade auf, dass er hier noch kein einziges Tier gesehen hat. Auch Stimmen von Vögeln oder anderen Tieren sind bisher für ihn nicht zu hören.

»Die Tiere siehst du auch erst dann, wenn du laut sein solltest. Dann allerdings wird es wirklich gefährlich«, sagt Alexander wie selbstverständlich.

Dabei hat Oliver den Gedanken noch gar nicht ausgesprochen.

»Siehst du, du musst nur intensiv genug über etwas nachdenken und schon kann ich dich verstehen. Die anderen machen das hier genauso«, erklärt Alexander weiter und freut sich über die kleinen Fortschritte von Oliver.

Oliver lernt wirklich schnell und lässt sich auf die neue Situation intuitiv ein. Nur eine Sache macht ihm jetzt noch Sorgen: sein fehlender Schuh.

»Meinen verloren gegangenen Schuh kann mir deine Wunderwelt hier sicher nicht so einfach neu besorgen, oder?«, fragt er Alexander.

Dabei zeigt er auf seinen linken Fuß, der nur mit einem mittlerweile ziemlich schmutzigen Socken überzogen ist.

»Keine Sorge! Das Problem lösen wir ganz sicher später in der Stadt. Dort gibt es nicht nur alles was wir brauchen, uns wird auch vieles zum Vergnügen geboten. Es ist ein langer Weg bis dorthin. Den beschreiten wir, wenn wir ausgeschlafen sind. Darum schlage ich vor, wir legen uns nun erst einmal hin und schlafen eine Runde. Hier schläft es sich übrigens sehr bequem«, und deutet dabei auf den Fußboden.

Oliver schaut Alexander ungläubig an.

»Bevor wir in die Stadt gehen, solltest du dir auch noch im Klaren darüber sein, was dich dort erwartet«, erklärt Alexander weiter.

»Bitte sprich niemals auch nur ein einziges Wort. Außer meinen fünf wirklich besonders guten Freunden gibt es niemanden, dem du trauen kannst«, mahnt Alexander.

»Die Jungs freuen sich schon auf den Wodka und ich stelle sie dir später noch vor. Aber versuche ab sofort nur noch zu denken, anstatt zu sprechen. Wir müssen das ganz intensiv üben, damit du hier zurechtkommen wirst.«

Oliver gibt ein Zeichen, dass er klarkommen wird und dann legen sie sich zum Schlafen auf den Boden. Als würde dieser merken, dass die Körper der Jungen Ruhe brauchen und sie schlafen möchten, gibt er etwas nach und stützt ihre Körper wie eine lebendige Matratze ab.

Ein paar Blätter fügen sich hinzu und fungieren als Decke, die sie nun umschmeichelt und sanft bis zum Hals bedeckt.

So gut hat Oliver noch nie gelegen, geschweige denn geschlafen. Diese Nachtruhe ist wohl die Beste, die er jemals erleben wird, auch wenn es die Nacht wie wir sie kennen in dieser Welt gar nicht gibt.

Kapitel 2

Die Suche nach Oliver beginnt

Zwischenzeitlich ist es schon sehr spät geworden im beschaulichen Heidedorf. Claudia Hansen wird langsam wieder unruhig, weil sie den ganzen Tag nichts mehr von ihrem Sohn gehört hat. Es ist nicht seine Art über einen längeren Zeitraum ohne ein Lebenszeichen fort zu bleiben. Auch wenn mal 'dicke Luft' herrscht; er war stets zuverlässig, hat sich von irgendwo gemeldet und gesagt wo er gerade steckt.

Nicht so jedoch am heutigen Tag. Die Temperaturen machen das Leben ohnehin schon schwer und es kühlt auch jetzt zum Abend kaum ab. Claudia ist wirklich in Sorge um Oliver. Peter Hansen kommt zurück vom Kleingartenverein. Er ist ein wenig genervt von dem, was er heute dort erlebt hat und sein erster Gedanke gilt nun dem Abendessen. An Oliver hat er seit längerem keinen Gedanken mehr verschwendet.

»Was gibt es denn zu essen?«, fragt er beinahe schon teilnahmslos als er zur Tür hereinkommt.

»Deine Sorgen möchte ich haben. Weißt du eigentlich, dass Oliver immer noch nicht zu Hause ist? Er hat sich auch noch nicht bei mir gemeldet. Peter, ich mache mir ernsthafte Sorgen um ihn. Es ist ganz sicher etwas passiert. Ich spüre das.«

Claudia ist den Tränen nahe.

»Ach was, der Junge kommt schon wieder. Oliver ist jetzt in einem Alter, da rebelliert man eben. Er testet seine Grenzen aus. Zum späten Abend hin ist er sicher wieder zu Hause. Du wirst sehen«, versucht Peter zu beruhigen.

Er nimmt Claudia dabei in den Arm und streicht ihr sanft übers Haar.

»Ich weiß nicht«, antwortet Claudia.

»Mir ist wirklich nicht wohl dabei und es beschert mir ein ungutes Gefühl.«

»Wenn es dich beruhigt, dann telefonieren wir nach dem Essen mit seinen Freunden und fragen nach, ob er vielleicht bei ihnen ist oder sogar dort über Nacht bleiben wird. Das lässt sich sicher schnell klären. Was gibt es denn nun?«

Peter wartet weiterhin ungeduldig auf sein Abendessen.

»Ach du, ich habe nur einen einfachen Nudelsalat angerichtet und dazu ein paar Würstchen heiß gemacht. Mir war nicht nach mehr an diesem Tag. Die Hitze macht mir auch zu schaffen.«

Claudia gibt eine Portion des selbstgemachten Salats mit einem großen Löffel auf einen Teller und setzt ihn ihrem Mann vor. Die Würstchen bringt sie im Topf mit dampfend heißem Wasser an den gedeckten Tisch und nimmt sich selbst sogleich auch einen Teller mit köstlichem Nudelsalat. Sie essen ohne ein weiteres Wort zu wechseln.

Peter ist mit seinen Gedanken schnell wieder beim Kleingartenverein und grübelt über die letzten Gespräche mit den anderen Mitgliedern.

Claudia ist immer noch in Sorge um ihren Jungen und bekommt nur wenige Bisse hinunter. Ständig schaut sie zu ihrem Mann und erwartet irgendeine Reaktion, die ihr Sicherheit gibt. Ihre Blicke treffen sich nicht. Erst als sie mit dem Essen fertig sind, steht Peter wortlos auf und greift zum Telefon um die von Claudia so sehr ersehnten Anrufe zu tätigen.

»Ich rufe jetzt einmal bei Olivers Freunden an und dann werden wir ja sehen«, sagt Peter und gibt Claudia damit ein wenig Sicherheit, die ihr in diesem Moment so wichtig ist.

Er wählt dutzendfach und spricht mit vielen Eltern. Überall erhält er allerdings die gleiche ernüchternde Antwort.

»Unser Junge ist hier, aber Oliver haben wir heute noch nicht gesehen.«

Das geht so weiter und weiter, bis auch der letzte Freund und Klassenkamerad angerufen wurde. Niemand hat Oliver heute gesehen, geschweige denn etwas gemeinsam mit ihn unternommen. Langsam wird ihm selbst nun auch etwas mulmig zumute. Seine schöne Theorie verpufft mit der Zeit. Er wird unruhig und beginnt sich um seinen Sohn zu sorgen. Um seine Frau nicht zu verängstigen zeigt er dies jedoch nicht. Claudia ist ebenfalls mit jedem Telefonat unruhiger geworden.

»Du musst irgendetwas tun, Peter«, fleht sie ihren Mann verzweifelt an.

»Ich fahre mal in den Ort. Vielleicht ist er noch im Freibad«, meint Peter und macht sich auf den Weg, seinen Sohn zu suchen.

Er holt seinen Mercedes erneut aus der Garage und fährt im Schritttempo zuerst die Hauptstraße des Ortes entlang. Viele Menschen sind zu sehen die spät noch unterwegs sind. Keine Spur von Oliver. An jedem Betrieb bleibt er kurz stehen und fragt nach seinem Jungen.

»Dort! Die Tankstelle«, denkt er so bei sich.

»In der Tankstelle holt Oliver doch oft mal ein Eis.«

Er hält an und steigt aus.

»Moin, Herr Simon. Sagen Sie, haben Sie heute irgendwann mal meinen Sohn gesehen? Wir vermissen ihn seit dem Mittag. Er hat sich nicht mehr bei uns gemeldet. War er vielleicht hier und hat sich ein Erfrischungsgetränk oder ein Eis gekauft? Das macht er doch sonst öfters?«, möchte Peter vom Pächter der Tankstelle wissen.

»Moin moin, Herr Hansen. Nein, Ihr Junge ist heute den ganzen Tag noch nicht bei mir gewesen und ich kann das mit Sicherheit sagen, denn ich war den ganzen Tag hier. Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«, fragt Herr Simon freundlich.

»Danke, das ist lieb, aber ich kann mir dafür momentan keine Zeit nehmen. Ich muss den Jungen erst finden«, antwortet Peter Hansen und winkt ab.

»Na denn viel Glück! Vielleicht fahren Sie mal zum Vereinsheim. Die Jugend hält sich doch gerne dort auf. Sollte er sich hier noch sehen lassen, gebe ich gerne Bescheid«, versichert Hauke Simon und wendet sich wieder seiner Kundschaft zu.

Peter verabschiedet sich vom Pächter der Tankstelle und setzt seine Suche fort. Er wirft seinen Mercedes wieder an fährt langsam weiter die Straße hinauf und fragt in jedem Laden. Weder der Friseur, noch der Bäcker oder die Bedienung im Blumenladen - niemand hat Oliver an diesem Tag gesehen. Dann erreicht er das Freibad, parkt sein Auto direkt vor dem Eingang und geht am Kassenhäuschen vorbei. Die resolute Dame an der Kasse will ihn noch zur Rede stellen, weil er ohne Eintritt einfach so ins Bad läuft, da erklärt Peter kurz sein Handeln.

»Ich muss nur kurz zum Chef. Ludger ist ein guter Freund von mir und ich bin gleich wieder fort, junge Frau. Es dauert nur einen kleinen Moment.«

Den Betreiber des Schwimmbades kennt Peter ganz gut und er fragt auch ihn nach seinem Sohn. Es dauert eine Weile bis er Ludger auf dem weitläufigen Gelände antrifft.

»Moin Ludger«, begrüßt er seinen Freund.

»Ich bin auf der Suche nach Oliver. War er heute bei dir oder ist er womöglich sogar noch hier?«

»Nein, heute war zwar echt viel Betrieb, aber deinen Sohn habe ich nicht gesehen«, sagt Ludger Schneider, der Inhaber des Freibades.

Herr Schneider ist ein dunkelhäutiger, hochgewachsener und athletischer Mann. Sehr sportlich und noch mit vollem, dunklem Haar gesegnet. In seiner Jugend hat er als Leistungssportler viele Preise als Schwimmer errungen. Auch jetzt im hohen Alter trainiert er noch täglich um seine gute Figur beizubehalten.

»Versuche es doch einmal im Vereinsheim«, gibt er Peter einen gut gemeinten Rat.

»Dort ist es kühl und die Jugend hält sich dort ja auch gerne beim Billard oder Dart auf.«

»Danke Ludger. Das ist ein guter Rat«, sagt Peter und macht sich im selben Augenblick auch schon wieder auf den Weg.

Diesen Hinweis hat er ja nun schon mehrfach gehört und so ist es nur zu verständlich, dass dies sein nächstes Ziel ist. Er geht wieder zurück zu seinem Auto und verabschiedet sich beim Hinausgehen noch freundlich von der Dame an der Eingangskasse.

Peter wirft seinen Wagen wieder an und macht sich hoffnungsvoll auf den Weg zum Jugendheim. Tatsächlich ist dort noch reger Betrieb, obwohl so ganz langsam die Sonne hinter den hochgewachsenen Wachholdern der Heidelandschaft am Ortsrand versinkt. Es wird langsam dunkel. Von Oliver gibt es immer noch keine Spur.

»Habt ihr hier meinen Jungen gesehen?«, fragt er gleich die erste Gruppe Jugendlicher, die er auf der schmalen Eingangstreppe vor dem Vereinsheim sitzen sieht.

»Nein, Oliver war heute überhaupt nicht hier, Herr Hansen. Ich habe ihn aber gesehen, wie er etwa gegen Mittag in Richtung Wald ging. Er wollte wohl mal wieder für sich alleine sein. Das macht er schon mal.«

»Es gab wohl wieder Streit bei Ihnen zu Hause, oder?«, sagte Ulf, ein Schulkamerad von Oliver. Er grinst Peter dabei schelmisch an.

»Das sollte deine Sorge nicht sein, mein Junge«, erwidert Peter energisch und leicht gereizt.