Uriel - Monika Schünemann - E-Book

Uriel E-Book

Monika Schünemann

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Beschreibung

Eine Mordserie erschüttert die Stadt. Obdachlose sterben gewaltsam. Eine schwangere Frau wird angegriffen. Det. Amber Garrett steht vor einem Rätsel. Es gibt kein Motiv. Eine erste Spur zeigt sich, als der stumme Obdachlose Uriel den Täter beschreiben kann. Doch ist Uriel der, der er zu sein vorgibt? Seine Identität ist nicht bekannt, und Amber Garretts Beruf ist sein Feindbild. Nur langsam entwickeln die beiden Vertrauen zueinander und überwinden ihre Vorurteile.

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Seitenzahl: 735

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und -auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2011 novum publishing gmbh

ISBN Printausgabe: 978-3-99003-859-8

ISBN e-book: 978-3-99003-861-1

Lektorat: Mag. Iris Mayr

Umschlagfotos: Fabien Rigollier | Dreamstime.com, Markus Gann | Dreamstime.com

Gedruckt in der Europäischen Union auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem -Papier.

www.novumpro.com

AUSTRIA · GERMANY · HUNGARY · SPAIN · SWITZERLAND

1

Der große Mann scheute überrascht zurück und blieb zögernd abwartend stehen.

Die junge Frau, die gerade ihren Müll in der Tonne entsorgen wollte, verharrte ebenso abrupt in der Bewegung. Einen Augenblick stockte ihr der Atem, als sie diesen Riesenkerl vor sich sah. Er maß bestimmt gut zwei Meter, so, wie er vor ihr aufragte. Er war langhaarig, bärtig, die Kleidung ungepflegt, schmutzig und zerrissen. Ein Penner, der in ihrem Müll nach etwas Brauchbarem gesucht hatte.

Penner in dieser Gegend? Peggy Bradley war ein wenig schockiert. Unentschlossen schwankte sie zwischen Angst, denn der Kerl sah Furcht einflößend aus, Ekel und einem gewissen Mitgefühl, das wohl daher rührte, dass sie in dieser hübschen Vorstadtsiedlung lebte und es diesem Mann nicht sehr gut ging.

Der Penner war noch nicht alt, vielleicht um die vierzig Jahre, hager, bleich und mit unzweifelhaften Spuren eines anstrengenden Lebens im Gesicht. Er verhielt sich jedoch passiv, sodass Peggy es wagte, ihn eingehender zu mustern. Da senkte er schnell den Blick. Er schien verlegen zu sein und unsicher und einen möglichen Fluchtweg zu suchen, denn sie versperrte den Weg hinaus.

Es war ihm nicht wohl bei dieser Konstellation und er wirkte eher beunruhigt als bedrohlich. Er würde ihr nichts tun, da war sich Peggy plötzlich völlig sicher, denn zu ihrer Überraschung deutete er eine überaus knappe und etwas unbeholfen wirkende Verbeugung an, die sie sofort dahin gehend verstand, dass er ein Friedensangebot machte. Seine so unvermittelte Respektsbezeugung ihr gegenüber erstaunte Peggy sehr, zumal sie ein solches Verhalten nie von einem Penner erwartet hätte. Und schlagartig verlor sie die Angst vor ihm, begriff dann nicht, wie dies so schnell geschehen konnte, denn er sah wild und gefährlich aus. Doch dann sah sie, was er aus der Mülltonne geholt hatte, und ein Kloß setzte sich in ihren Hals.

„Sie haben ein Kind?“, fragte sie betroffen, als sie das zerschlissene Stofftier ihrer Tochter Kim in seiner Hand sah. Er legte das Plüschtier sofort zurück.

„Nein, nein, so war das nicht gemeint“, versuchte es Peggy begütigend. „Nehmen Sie es nur. Wenn noch jemand eine Freude daran hat …“

Aber er blieb stocksteif. Seine Anspannung war überdeutlich, denn er fühlte sich bedrängt.

Peggy spürte es und trat einen Schritt zur Seite. Eine kaum wahrnehmbare Bewegung an ihm zeigte Erleichterung, denn obwohl er sie nicht ansah, verfolgte er jede ihrer Bewegungen aus den Augenwinkeln.

„Wenn Sie einen Moment warten … Ich könnte Ihnen etwas zu essen …“ Was redete sie da, rief sich Peggy zur Ordnung! Wenn sie erst einmal anfing einem Penner etwas zu geben, hatte sie doch gleich alle anderen seines Schlages mit auf dem Hals!

Aber er war so anders. Er sprach kein Wort, sah sie nicht an und sein erkennbares Unbehagen vor ihr schien weitaus größer zu sein als die Aussicht auf Essen.

Peggy trat noch einen Schritt zurück und er erkannte sofort, dass sie ihm die Chance zur Flucht gab. Mit einem anerkennenden Neigen seines Kopfes dankte er ihr für ihr Verständnis. Dann war er für seine Größe wieselflink an ihr vorbei und floh die Straße hinunter.

Peggy wollte sich gerade Schulter zuckend abwenden, als sie den Streifenwagen des Sicherheitsdienstes heranrasen sah. Er schnitt dem Flüchtenden den Weg ab, brachte ihn zu Fall, sodass er über die Motorhaube geschleudert wurde und auf der anderen Seite hart aufschlug.

Peggy ließ erschrocken den Müll fallen und eilte ebenfalls die Straße hinunter.

„Aufhören“, schrie sie, „aufhören!“, als sie um das Auto he-rumkam und die beiden Wachschutzangestellten sah, die auf den am Boden liegenden Mann einschlugen. Er wehrte sich nicht, hatte sich nur zusammengerollt und die Arme schützend um den Kopf gelegt.

„Aufhören!“ Peggy griff nach dem Arm eines der uniformierten Männer. Sie wusste seinen Namen nicht, kannte ihn nur vom Sehen, wenn er in ihrer Gegend Streife fuhr. „Aufhören! Er hat nichts getan! Lassen Sie ihn in Ruhe!“, rief sie entrüstet.

Der Wachschutzmann fuhr ärgerlich herum und starrte sie wütend an. Nett und adrett, dachte er abfällig, hübsche Vorstadtsiedlungshausfrau hatte anscheinend die Wohltätigkeit als neues Betätigungsfeld entdeckt und störte seine Arbeit.

„Er hat nichts getan“, bestätigte Peggy noch einmal, nun aber etwas eingeschüchtert, vom Auftreten der beiden Uniformierten in die Defensive gedrängt.

„Er ist weggelaufen! Was mischen Sie sich da ein!“, verteidigte sich der Mann vom Wachschutz. „Das ist ein verdammter Penner! Der hat hier nichts zu suchen! Und wir sind dazu da, diese Gegend sauber zu halten! Dafür bezahlen Sie uns schließlich!“, fuhr er Peggy an. „Wenn der hier nicht geklaut hat, fresse ich einen Besen!“, wies er sie zurecht.

„Er hat nicht gestohlen!“, widersprach Peggy, obwohl ihr Mut langsam schwand. Was mischte sie sich hier überhaupt ein? Doch dann regte sich wieder die Empörung in ihr. „Sie können hier nicht einfach so Leute zusammenschlagen!“, rief sie aufgebracht.

„Er ist ein Penner, verdammt!“, schnauzte der jüngere Wachmann verächtlich, als wenn diese Begründung ausreichend wäre, um Brutalität zu rechtfertigen. Dann winkte er genervt ab und maß diese gefühlsduselige Frau bedauernd für ihre Realitätsferne.

„Verschwinde hier“, herrschte er den Mann am Boden grob an, wagte aber nicht mehr, ihn anzugreifen. Dann stieg er zu seinem Kollegen in ihren Wagen. Sie ließen den Verletzten liegen, als sie abfuhren.

Peggy war entsetzt und sprachlos über so viel Rohheit. Sie hätte sich die Namen der beiden Wachmänner geben lassen sollen, dachte sie ärgerlich über sich selbst, als sie dem davonfahrenden Streifenwagen nachsah. Nicht einmal gekümmert hatten sie sich um den angefahrenen und verprügelten Mann, geschweige denn, einen Arzt verständigt.

Peggy wandte sich dem am Boden liegenden Penner zu. Er hatte sich nicht gerührt. Erst jetzt, als der Wagen fort war, regte sich wieder Leben in ihm. Er rollte sich schwerfällig und aufstöhnend herum, kam auf die Knie und hielt sich den Bauch mit blutig aufgeplatzten Händen, die die Stockschläge auf seinen Kopf abgefangen hatten. Zittern und Beben durchliefen seinen Körper. Er rang mit dem Schmerz. Blut lief aus seinem langen Haar. Peggy beugte sich zu ihm hinunter. In seinem Blick stand Schmerz, doch kein Laut kam aus seinem Mund. Er schloss die Augen und mit verzerrtem Gesicht bemühte er sich, den Schmerz niederzuringen.

„Oh, mein Gott!“, entfuhr es Peggy entsetzt.

Doch als sie ihre Hand ausstreckte und versuchte, ihn zu berühren, sein Haar zur Seite zu streichen, um die blutende Kopfverletzung ansehen zu können, fuhr er mit einer sehr eindeutigen Warnung in seinen Augen vor ihr zurück.

„Fass mich nicht an!“, befahl sein feindseliger Blick. „Wage es nicht!“ Doch zitterte er vor Schmerz und keuchte unter dem anstrengenden Kampf, ihn zu beherrschen.

Erschüttert und unsicher, von der Situation sich eigentlich überfordert fühlend, traute sich Peggy nicht näher heran. Als sie Abstand hielt, beruhigte er sich. Er wischte sich mit dem Ärmel das Blut ab, doch seine Kleidung war schmutzig. Peggy fielen sofort sämtliche Maßnahmen ein, mit denen sie im selben Fall ihre Kinder behandeln würde; Desinfektionsmittel, Pflaster oder ein sauberer Verband. Als sie, wie im Reflex, ihr unbenutztes Taschentuch aus der Hose zog, hatte sie endlich etwas zu tun und musste nicht hilflos herumstehen.

Sie warf es dem Penner zu, weil er ja nicht gewollt hatte, dass sie näher kam. Es landete auf seinem Oberschenkel. Er stutzte, nahm es und sah erst ziemlich fassungslos aus, dann lag, anscheinend gegen seinen Willen, etwas verblüfft amüsiert Ungläubiges in seinem Blick, als er zu ihr aufsah. Etwas mehr Anspannung fiel von ihm ab, als er merkte, dass die fremde Frau es mit ihrer Hilfe ernst und ehrlich meinte. Doch mit einem Kopfschütteln reichte er ihr das Taschentuch ungebraucht zurück. Peggy war nicht ganz klar, ob er es nicht hatte beschmutzen wollen oder ob er seine Verwunderung über ihr Verhalten mit dieser Geste zum Ausdruck brachte. Er schien nun etwas Vertrauen gefasst zu haben und vielleicht hätte er sich nun auch helfen lassen, aber seine Aufmerksamkeit wandte sich plötzlich etwas zu, das sich hinter Peggy befinden musste.

„Lady! Entschuldigung, Madam“, sprach sie plötzlich eine kratzige Stimme von hinten an. Peggy fuhr herum. Ein zweiter Penner stand vor ihr, kleiner als der Mann hinter ihr auf den Knien, älter, gebückter, gebrechlich, zahnlos, doch unverkennbar mit Güte im Blick, als er zu ihr aufsah. „Danke, dass Sie geholfen haben, Madam. Danke, auch von ihm …“, begann der Alte stammelnd. „Er würde es Ihnen sagen, ganz bestimmt, aber er kann’s nicht. Verstehen Sie? Er kann nicht sprechen. Er tut auch keinem was“, beteuerte er. „Sieht nur so bedrohlich aus, ja. Er macht nichts, wirklich. Er macht nichts. Der Junge ist in Ordnung. Nett, dass Sie geholfen haben. Wir gehen jetzt. Machen keinen Ärger“, versprach er bittend.

„Schon okay, aber … Er braucht einen Arzt“, fand Peggy mit Blick auf den Verletzten.

„Nein, nein, geht schon so, wirklich, kein Arzt, ist besser“, wehrte der Alte ab.

„Aber Sie können ihn doch nicht einfach …! Er blutet!“, wandte Peggy besorgt ein.

„Das schafft er schon, Madam, hat schon ganz anderes geschafft. Komm, Junge!“ Der Alte zerrte am Arm des Verletzten und schmerzhaft verzog sich dessen Gesicht, aber er folgte der Aufforderung, langsam und vorsichtig, jede Bewegung gegen den Schmerz ausbalancierend.

„Wer sind Sie?“, fragte Peggy.

Der Alte lächelte verlegen aus zahnlosem Mund.

„Petie sagen alle zu mir“, erwiderte er dankbar ihrer Nachfrage.

„Und er?“ Peggy wies auf den Riesenkerl, der mühsam schwankend auf die Beine kam.

„Keine Ahnung, habe ihn so gefunden“, sagte Petie.

„Gefunden?!“, war Peggy fassungslos und betrachtete den langhaarigen Riesen verwundert. Dieser senkte erschrocken den Blick.

„Nun ja, wie man’s nimmt, gefunden eben“, stellte Petie klar.

„Sachen, Dinge findet man, aber doch keine Menschen!“, war Peggy entrüstet. Der Langhaarige stand inzwischen fast aufrecht. Doch seine Haltung verriet Schmerz. Wer konnte schon wissen, ob er sich beim Sturz über das Auto vielleicht noch weitere Verletzungen zugezogen hatte?

„Doch, manchmal schon!“, widersprach Petie energisch. „Manchmal findet man auch Menschen!“ Schließlich war es nichts als die Wahrheit!

„Hören Sie, Petie, Sie müssen zur Polizei und das anzeigen“, forderte Peggy.

„Was?“, fragte Petie irritiert.

Peggy musterte ihn perplex. „Alles, was eben passiert ist!“, erwiderte sie. „Der Sicherheitsdienst darf niemanden einfach zusammenschlagen!“

Petie winkte resigniert ab und schüttelte bedauernd den Kopf.

„Keine Chance“, sagte er resigniert. „Sind nur Penner.“

„Und was ist mit ihm?“, wies Peggy auf den Langhaarigen. „Wenn Sie ihn so fanden, ohne dass er spricht, und so misstrauisch, wie er sich verhält, ist ihm möglicherweise etwas zugestoßen …, ein Unfall, ein Verbrechen … Seine Angehörigen suchen ihn vielleicht schon lange – oder die Polizei. Sie können ihn nicht einfach mitnehmen, wenn er … vielleicht gar nicht mehr weiß, wer er ist, oder so …“, stammelte Peggy hilflos. Ihr Blick glitt zu dem Langhaarigen, der sie nicht ansah. Er zitterte vor Anstrengung, sich aufrecht zu halten.

„Keine Polizei!“, keifte Petie alarmiert. „Er kommt mit mir!“, beharrte er eigensinnig. „Er gehört zu mir! Wenn er gehen will, kann er das jederzeit tun!“

„Wie sollte er, wenn er nicht weiß, wohin und zu wem!“, warf Peggy ein.

„Komm, Junge!“, wollte Petie nicht mehr diskutieren.

„Was soll jetzt geschehen?“, fragte Peggy ratlos.

„Nichts! Vergessen Sie einfach alles“, wurde Petie abweisender. Er wandte sich um und humpelte zu dem Langhaarigen, der zuließ, dass der Alte ihm stützend unter einen Arm griff. Er bewegte sich langsam und schleppend, zog ein Bein nach. Seine Verletzungen waren also nicht mit einem Schulterzucken abgetan. Petie war verantwortungslos, fand Peggy, aber sie wusste auch keinen Weg, die beiden aufzuhalten. Wenig später waren beide Penner um die nächste Ecke gebogen.

Mit einem bekümmerten Kopfschütteln wandte sich Peggy ab und stieg den Hügel wieder hinauf. Auf der anderen Seite stand ihr Haus. Jason junior würde in zwei Stunden von der Schule nach Hause kommen und die fünfjährige Kim erwartete Peggy etwas später zurück, weil sie mit der Nachbarsfamilie und deren Kindern in den Freizeitpark gefahren war.

Peggy sah auf dem Weg zum Haus das zerschlissene Stofftier auf der Mülltonne liegen. Sie schüttelte wieder den Kopf und fühlte Bedauern und Mitleid, als sie an das gerade Erlebte dachte. Das Stofftier unentschlossen in den Händen, sah sie die Straße hinunter, dann auf ihr Haus, sauber, ordentlich, wie es sich für diese Siedlung gehörte. Jason senior verdiente gut bei der Versicherung. Haus und Grundstück, die gute Wohnlage waren kein Problem. Sie betrachtete ihren gepflegten Vorgarten mit den Blumenrabatten und dem weißen Holzzaun und die gerafften Gardinen an blitzenden Fenstern. Und doch gab es plötzlich für sie diese ganz andere Welt, wo Menschen nichts galten, rechtlos waren, in der jeder sie wegjagen und verprügeln konnte, ohne dass es rechtliche Konsequenzen hatte. Nachdenklich sah sie auf das alte Stofftier nieder. Vielleicht hatte dieser Langhaarige ein Kind und das Stofftier hätte diesem Kind sicher viel bedeutet.

Peggy legte es neben die Mülltonne auf die Umfassungsmauer. Vielleicht kam er es ja später holen.

Zu Hause kochte sie für ihren Nachwuchs und portionierte Nachtisch. Sie nahm die Wäsche ihrer Kinder aus dem Trockner und legte sie zusammen. Doch das Erlebte ließ sie nicht los. Was war passiert, dass Petie diesen Langhaarigen und dieses vermutete Kind irgendwo hatte finden können? Peggy betrachtete die Kinderkleidung. Einiges davon war schon nicht mehr ganz neu. Sie sortierte es aus, bündelte es zusammen und trug es um die Hausecke zur Straße, wo die Mülltonnen standen, um alles zu dem Stofftier zu legen.

Sie war verrückt, schalt sie sich dann, sie lockte hier die Penner an! Was würde ihr Mann dazu sagen? Und doch ließ sie das Bündel und das Stofftier einfach da liegen und ging.

Jason junior und Kim kamen gleichzeitig nach Hause, berichteten aufgeregt von ihrem spannenden Tag und Peggy vergaß den Vorfall mit den Pennern.

Haushalt und Familie hatten sie bald wieder ganz und gar im Griff. Sie ärgerte sich über Kim, die in ihrer Neugier nur Chaos verbreitete, und war ungehalten, weil Jason junior schon wieder sein ganzes Taschengeld ausgegeben hatte, und dabei war der Monat noch nicht einmal zur Hälfte um. Er gab es immer für irgendeinen Kram aus oder verlor es.

Wenn Jason senior das erfahren würde, war die Strafpredigt wieder vorprogrammiert. Als Versicherungsmakler konnte Jason exzellent mit Zahlen umgehen und hatte wenig Verständnis für Unkorrektheiten.

Also gab sie ihrem Sohn wieder einmal zusätzlich Geld und wieder versprach er, sorgsam damit umzugehen, was Peggy bezweifelte.

Der Vorfall mit den beiden Pennern rückte wieder in ihr Gedächtnis, als irgendwann das Kleiderbündel und das Plüschtier fort waren und sie am nächsten Tag an derselben Stelle ein Pappschild fand, abgerissen von einem Karton, auf dem mit ungelenker Kinderschrift „Vielen Dank, liebe Madam“ stand. Peggy fand das rührend. Von diesem Zeitpunkt an legte sie das, was ihre Kinder nicht mehr wollten und brauchten, am Mäuerchen ab, Kleidung, Malbücher, Stifte, alte Schulbücher von Jason junior, Spielzeuge, die ihre Kinder nicht mehr anrührten, manchmal etwas Süßes und auch Milchpulver, Dauerbackwaren, Konserven.

Es verschwand in unregelmäßigen Abständen und sie erhielt ihr Dankesschreiben. Zu Gesicht bekam sie die beiden Penner nicht. Sie wurden weder lästig noch bedrängten sie sie, was Peggy sehr gut passte. So blieb ihr Tun unentdeckt und ein Geheimnis. Peggy geriet nicht in Erklärungsnot und die Tür, die sie zu der anderen Welt aufgestoßen hatte, musste nicht verschlossen werden.

Und noch etwas änderte sich in den folgenden Wochen dramatisch. Jason junior hatte auf einen Schlag Verantwortung gelernt und verprasste sein Taschengeld nicht mehr. Es reichte bis zum nächsten Termin und er sparte sogar noch. Peggy war stolz.

Dann holte sie ein merkwürdiger Fund auf den Boden der Tatsachen zurück. Beim Aufräumen in Jasons Kinderzimmer fand sie eine von ihm selbst gemalte Zeichnung, die ihr sehr zu denken gab. Sie stellte einen Riesenkerl da, langhaarig, bärtig, in einem langen schwarzen Mantel. Das konnte nur einer sein! Woher kannte ihr Sohn diesen Penner? Jason war bis nachmittags in der Schule, dann zu Hause oder mit Freunden unterwegs!

Woher kannte er den Langhaarigen? War das alles doch nicht so harmlos, wie sie in ihrer Unbedarftheit gedacht hatte?

Wieso hatte der Penner Kontakt zu Jason aufgenommen? Wollte er dessen Vertrauen erschleichen, um dann … was zu tun?, ängstigte sich Peggy.

Sie stellte Jason zur Rede. Dieser druckste anfangs herum, wollte keine Auskunft geben, wurde sogar zornig und berichtete dann stockend, dass dieser Mann ihm geholfen habe.

„Wobei, Jason?“, fragte Peggy erstaunt und konnte sich nichts vorstellen, bei dem dieser Penner hätte hilfreich sein können.

Doch Jason berichtete ihr nun, dass es ein paar Jungen aus den höheren Klassen gab, die den kleineren Kindern das Taschengeld abnahmen, und dass es schon ausreichte, wenn sich der Fremde ab und zu zeigte. Die großen Jungen hatten Angst vor ihm und liefen weg.

„Aber er tut niemandem etwas. Er ist nur plötzlich da. Ich wollte mich bedanken, doch ist er einfach gegangen und ich habe auch keine Ahnung, weshalb er gerade mich ausgesucht hat. Weißt du denn, wer er ist?“,fragte Jason, da er dies aus der Reaktion seiner Mutter schloss.

„Nein, weiß ich nicht. Ich bin ihm vor einigen Wochen an unserer Mülltonne begegnet. Ich habe manchmal für ihn etwas Brauchbares dort hingelegt, damit er es mitnehmen kann. Er ist ab und zu gekommen und hat es abgeholt. Und so revanchiert er sich anscheinend. Er kann mir nichts anderes geben, als auf dich aufzupassen“, Peggy strich ihrem Sohn übers Haar. Sie verschwieg den Rest der Geschichte von der Willkür der Sicherheitskräfte.

„Jason, aber das nächste Mal musst du uns doch sagen, dass dich ältere Schüler bestehlen und bedrohen“, sie meinte es begütigend, doch Jason fuhr wieder auf.

„Aber ihr hättet doch nichts tun können!“, rief er zornig.

„Vielleicht doch – und auf alle Fälle hätte ich dich nicht für leichtfertig und unachtsam gehalten, weil du immer dein Geld verloren hast“, belehrte Peggy.

„Ja, Mom“, sah es Jason ein. „Mom, soll ich ihm etwas von dir ausrichten, das nächste Mal?“

„Kommst du denn nahe genug an ihn heran? Vor mir weicht er zurück.“

„Auf zwei, drei Meter bestimmt“, beteuerte Jason.

„Sag ihm ‚Danke‘ von mir und dass er sich nicht fürchten soll und öfter kommen kann. Wir haben genug übrig. Ich gebe dir mehr Lunchpakete mit zur Schule. Du gibst ihm davon, hörst du. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm“, rätselte Peggy. „Aber vielleicht ist er auch nur nicht ganz richtig im Kopf. Ach, ich weiß es nicht. Er bemüht sich, das ist anzuerkennen, ob richtig im Kopf oder nicht. Und vielleicht sagen wir Dad erst einmal nichts davon, okay, Jason?“ Obwohl sie ihrem Sohn gerade Ehrlichkeit ans Herz gelegt hatte, entschied sich Peggy, die Erwähnung der ganzen Sache ihrem Mann und der Schule gegenüber etwas aufzuschieben, bis sie selbst klarer sah.

„Okay“, sagte Jason erleichtert, dass er die Mutter auf seiner Seite hatte, und Peggy war froh, dass ihr Sohn ihr vertraute.

Die Bekanntschaft mit dem Langhaarigen schien nun keine Bedrohung zu sein, sondern eher etwas Gutes zu haben. Er hatte die Verletzung anscheinend besser verkraftet, als sie gedacht hatte, und seine Bereitschaft zur Gegenleistung beeindruckte sie.

„Es ist, als würde man mit Futter versuchen, ein wildes Tier zu zähmen“, sagte Peggy traurig und ein wenig entsetzt, nachdem Jason ihr betroffen schilderte, dass der Langhaarige anfangs mit Vorsicht und Mißtrauen reagiert hatte, dann das Essen aber doch angenommen hatte. „Aber wenn es nicht anders geht, wenn er menschlichen Werten nicht mehr trauen kann … Er tut mir leid.“ Peggy machte Jason wieder zwei Lunchpakete.

Die Sache blieb nicht im kleinen Kreis und die Eltern der Kinder, die mit diesem Penner gesehen worden waren, wurden zur Schulleitung zitiert.

Peggy war so unglaublich wütend, als sie das erfuhr. Sie dachte an den Langhaarigen. Dieser arme, verwahrloste Mensch! Sie wusste, dass er harmlos war. Für einige Zeit war er satt geworden und hatte den Rest Sandwiches immer mitgenommen, für Petie und das Kind.

Ihr Zorn ließ Peggy über sich selbst hinauswachsen und ihr war noch ganz übel davon, als sie mit Jason nach Hause fuhr.

„Mom! Du warst Spitzenklasse!“, lobte der Junge den Mut der Mutter, die vor dem Direktor dafür gekämpft hatte, dass ihrem Sohn wie auch dem Langhaarigen Gerechtigkeit widerfuhr. Doch dann wurde er wieder ernst. „Wir haben doch nichts falsch gemacht, oder?“, wollte sich Jason vergewissern.

„Warum denkst du das?“, fragte Peggy erschüttert zurück.

„Wir haben ihm wehgetan, nicht wahr?“, sagte Jason bekümmert.

„Was meinst du damit?“, war Peggy irritiert.

„Nun, wie du gesagt hast vor einer Weile, erst füttern wir ihn an, machen ihm vor, dass er nur zuzufassen braucht, um satt zu sein, und wenn er es dann tut, nachdem er solange vorsichtig war, schlagen wir ihn“, erklärte Jason traurig.

„Wir haben ihn nicht geschlagen!“, stellte Peggy klar. „Keine Vorwürfe, Schatz, bitte, keine Vorwürfe. Wir haben das Beste gewollt und versucht. Sicher, es wird ihm wehgetan haben, wenn er überhaupt derart empfinden kann, aber ich glaube nicht, dass er dir etwas übel nimmt. Ganz bestimmt nicht“, tröstete Peggy.

„Es war nicht falsch?“, fragte Jason noch einmal. Der Vorfall beschäftigte ihn sehr.

„Wie hat es sich denn angefühlt, mit ihm zusammen zu sein?“, forschte Peggy nach.

„Gut“, erwiderte Jason, ohne überlegen zu müssen.

„Was, glaubst du, hat er gefühlt?“, wollte Peggy wissen. Sie sprach sich auch nicht ganz frei von Vorurteilen. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass jemand, der über eine normale Empfindungsfähigkeit verfügte, es ertrug, auf der Straße zu leben. Meistens waren Penner verrückt oder Säufer oder Schwachsinnige.

„Er gab mir das, heute“, Jason holte einen Gegenstand aus seiner Schultasche. Eine Holzschnitzerei, die Peggys Vorurteile mit einem Schlag über den Haufen warf. Ihr erstaunter Blick fiel auf die Figur eines Orang-Utans, exzellent ausgeführt in Proportion und Bewegung.

„Er ist ein Künstler, ein richtiger Künstler!“, rief sie begeistert. „Das Tier ist mit sehr viel Liebe und Behutsamkeit gearbeitet worden, Jason. Und es sagt wohl eindeutig, wie gut er sich bei dir gefühlt hat. Und es zeigt, dass sein Geist freier ist, als ich annahm. Vielleicht wurde er freier durch die Bekanntschaft mit dir.“

„Ob er wiederkommt?“, zweifelte Jason.

„Zur Schule kommt er sicher nicht mehr. Ob er zu unseren Mülltonnen kommt … Vielleicht, ich weiß es nicht. Manchmal streift uns nur ein anderes Leben, Jason, aber es verändert dennoch unser eigenes für immer, ohne eine Ahnung zu haben, was es für uns getan hat.“

„Was hat er für mein Leben getan, Mom?“, fragte Jason ernsthaft.

„Schatz, siehst du es denn nicht? Der Kontakt zu ihm brachte bei dir Mitgefühl hervor und Güte und Gedanken und Sorgen um andere, denen es schlechter geht. Du hast jetzt ein Unrechtsbewusstsein. Nun weißt du, was richtig und was falsch ist“, erklärte Peggy.

„Weiß ich das wirklich?“, zweifelte Jason noch.

„Ja, das weißt du jetzt. Ab heute kannst du fühlen, was zu tun ist, wie du dich zu entscheiden hast, vor dir selbst, egal, was alle anderen sagen oder denken mögen. Du entscheidest. Du allein. Das ist nicht leicht, aber es ist eine ganz große Macht, die du jetzt besitzt“, richtete sie ihren Sohn wieder auf.

„Ich würde ihn gern wiedersehen, Mom.“

„Er weiß, wo wir wohnen, Jason. Und wenn er es für richtig hält, wird er kommen.“

„Ich habe nichts falsch gemacht“, sagte Jason mit fester Stimme.

Peggy sah stolz zu ihm herüber.

Zeit verging.

Der Langhaarige ließ sich nicht sehen und auch Petie nicht. Die Bündel an der Mülltonne blieben unberührt. Nun waren sie wohl endgültig vertrieben.

Peggy bedauerte das. Es war ihr zur lieben Gewohnheit geworden, die Bündel zu packen, und Zufriedenheit hatte sie erfüllt, wenn die beiden sie mitgenommen hatten.

Von ihrer Nachbarschaft hatte Peggy nie etwas über die Streifzüge des Langhaarigen gehört. Wahrscheinlich hatten diese noch gar nichts davon bemerkt, sonst würde hier wohl ständig der Streifenwagen des Sicherheitsdienstes umherfahren, um die Penner zu verjagen. Aber sie waren wohl so heimlich, so leise und hinterließen nicht die geringste Spur.

Nur sie hatte stets gewusst, wann sie da gewesen waren, weil dann das Bündel verschwunden war und für sie ein gemalter Gruß an derselben Stelle lag. Jason hatte dem Langhaarigen geschrieben, aber er kam nicht mehr.

Sie fragte sich, wo der Langhaarige lebte, er und dieser Petie und das Kind. Stumm und dankbar über ihr Glück beobachtete sie Kim, die im Vorgarten Dreirad fuhr. Wie lebte dieses andere Kind? Es konnte schreiben. Brachte der Langhaarige es ihm bei? Aber er war stumm, oder? Vielleicht ging es trotzdem irgendwie. Das Kind malte gern, farbenfrohe, schöne Bilder, gar nicht düster oder bedrückend, wie Peggy es sich, den Lebensumständen des Kindes entsprechend, vorstellte.

Dann war Kim verschwunden und das Gartentor stand offen!

Peggy stürmte aus dem Haus. Ihre Tochter rufend, erreichte sie den Zaun und das Tor, blickte gehetzt nach links und rechts und sah im letzten Moment Kims Blondschopf über die Hügelkuppe abtauchen. Peggy rannte hinterher. Kims Dreirad nahm an Fahrt zu, den Bürgersteig hinunter. Sie juchzte und rief fröhlich nach ihrer Mutter. Peggy erreichte keuchend die Hügelkuppe. Unten endete der Bürgersteig an der Straße.

„Kim!“, schrie Peggy. Die Kleine, die gerade noch gelacht hatte, rief nun plötzlich ängstlich nach Peggy. Die Fahrt war zu schnell geworden und Kim konnte nicht bremsen.

Dann war plötzlich alles still.

Peggy hörte im Geiste lautes Hupen, quietschende Bremsen, Autos zusammenkrachen, Bersten von Metall, Splittern von Glas und den dumpfen Aufschlag von Kims Körper.

Entsetzen ergriff sie und sie rannte dem so Unvermeidlichen entgegen. Doch als sie die Straße unter sich sehen konnte, traute sie ihren Augen nicht. Sie schüttelte sich, als müsse sie Spinnweben abstreifen, und sah noch einmal hin.

Unten an der Straße stand ein Riesenkerl mit langem Haar und Dreitagebart im Gesicht. In der einen Hand hielt er das Dreirad und Kim saß sicher auf seiner Hüfte, fest umschlossen von seinem anderen Arm.

Er war wieder da! Und er hatte Kim gerettet.

Kim hatte gar nicht erfasst, in welcher Gefahr sie gewesen war, sondern redete aufgeregt auf den Langhaarigen ein. Und da er nicht antwortete, schwadronierte sie vertrauensvoll drauflos, fühlte sich anscheinend bei ihm sehr gut aufgehoben.

Der Langhaarige bemerkte, dass Peggy kam, und wandte sich zu ihr um. Sein Blick blieb gesenkt. Trotzdem spürte Peggy, dass er ihre Bewegungen genau verfolgte.

„Mommie!“, rief Kim begeistert. „Hast du gesehen, wie schnell ich gefahren bin?“, war sie ganz stolz. – „Fängst du mich wieder auf?“, wandte sie sich aufgeregt an den Langhaarigen.

Er antwortete nicht, reagierte auch nicht weiter, sondern setzte Kim behutsam ab, als Peggy herangekommen war. Kim stürmte in die Arme ihrer Mutter, die sie glückselig darin einschloss. Als sich Peggy schließlich gefasst hatte und bedanken wollte, war der Langhaarige fort.

Nur das Dreirad stand noch dort, wo er eben noch gewesen war.

Peggy sah sich dennoch suchend um. Aber es gab keinen Anhaltspunkt mehr. Doch anscheinend war ihr dieser Mann näher, als sie ahnte. Ihre Leben hatten sich berührt.

„Hast du Namen und Adresse dieses Mannes, Peggy?“, fragte Jason senior, nachdem Kim ihm ihr Abenteuer ausführlichst geschildert hatte und Peggy ein paar erklärende Worte notgedrungen hinzufügen musste. Doch hielt sie sich nur an Informationen, die den heutigen Tag betrafen.

„Wir müssen uns doch bei ihm bedanken“, fand Jason.

Peggy schüttelte den Kopf. „Er war fort, ehe ich ihn fragen konnte.“

„Und niemand aus der Nachbarschaft kannte ihn?“, fragte Jason senior verwundert.

„Nein, er ist wohl nicht von hier. Leider hat auch niemand sonst etwas gesehen“, wich sie aus. Jason junior schloss sich ihrer Konspiration schweigend an. Für ihn zählte nur, dass der Langhaarige wieder aufgetaucht war.

Die Sache war damit erst einmal aus der Welt. Peggy wurde deswegen zwar noch von den Nachbarn angesprochen, doch blieb sie bei ihrer Version und das Gartentor erhielt einen sicheren Riegel.

Peggy allerdings hatte dem Retter einen langen Brief geschrieben und ihn in das nächste Bündel gesteckt. Es wurde abgeholt, aber ihre Zeilen blieben unbeantwortet.

Der Langhaarige ließ sich nicht mehr sehen, bis zu jenem bitterkalten Winterabend.

Peggy hatte es sich gerade gemütlich gemacht. Die Kinder waren im Bett und sie wollte sich ein Buch nehmen, da klopfte es. Sie erwartete keinen Besuch und ausgerechnet jetzt, wo Jason zu einer Managerschulung das Wochenende auswärts war und ein Schneesturm um ihr Haus fegte, war ihr ein Fremder vor der Tür gar nicht recht.

Peggy öffnete mit unbehaglichem Gefühl und fuhr auch sofort erschrocken zurück, als sie den großen dunklen Kerl vor sich sah. Doch der Langhaarige trat ebenfalls einen Schritt zurück. Er sah sie nicht an, hatte den Blick zu Boden gerichtet. Mit einer beschwichtigenden Geste ging er noch einen Schritt rückwärts. Sie sollte sich nicht vor ihm fürchten.

Peggy erholte sich von dem ersten Schock und fasste sich. Bis hierher war der Langhaarige noch nie gekommen. Dass er es überhaupt mit Absicht und Ziel getan hatte, weckte nicht Ärger, sondern Sorge in ihr. Ein schwerwiegendes Ereignis musste ihn zu diesem Schritt veranlasst haben, da er sonst mit aller Macht jeglichen Kontakt vermieden hatte.

Er wirkte beunruhigt. Die Situation war ihm deutlich unbehaglich, aber etwas hatte ihm keine andere Wahl gelassen, als sie in seiner großen Bedrängnis aufzusuchen. Erbärmlich sah er aus. Das lange Haar voll Schnee, scharfe Böen ließen es vor seinem Gesicht flattern. Die Kälte hatte alles an ihm zusammengezogen, sodass er gebeugt wirkte. Er fror jämmerlich. Doch anstatt die Hände in die Taschen zu stecken, hielt er sie auf seiner Brust übereinander, als müsse er dort unter seinem Mantel etwas festhalten.

„Wollen Sie hereinkommen?“, fragte Peggy.

Er schüttelte knapp den Kopf.

„Sie könnten sich aufwärmen, etwas essen …“, schlug sie unsicher vor.

Es dauerte einen Moment, ehe er mit einem weiteren Kopfschütteln antwortete.

„Ist etwas mit Petie?“, forschte Peggy, weil er so hilflos dastand.

Mit Verzögerung verneinte er wieder. Er fühlte sich immer unwohler, wich weiter zurück, sich anscheinend nun doch nicht mehr sicher, ob er das Richtige tat. Sein Zögern, seine Unentschlossenheit, ehe er antwortete, das so aussah, als brauche sein Verstand diese Zeit, um zu verarbeiten und zu reagieren, schien ihre Befürchtung zu bestätigen, dass er, wenn nicht ganz und gar schwachsinnig, doch zumindest geistig weit zurückgeblieben war. Ihr Mitleid wuchs. Vielleicht hatte er noch nicht einmal eine Ahnung davon, dass es Stellen für Resozialisierung gab, die Menschen wie ihm halfen. Er hatte einen guten Kern, hatte Kim gerettet und Jason beigestanden. Sie fand, dass das verdiente, gefördert zu werden. Doch so, wie er in der Kälte vor ihr stand, benötigte er etwas anderes und es fiel ihm schwer, sich verständlich zu machen.

„Sie wollten etwas von mir?“, erinnerte Peggy vorsichtig.

Er fuhr zusammen, schien sich dann auf den Grund seines Auftauchens zu besinnen.

„Kommen Sie ins Haus, bitte! Ich kann Sie nicht so in der Kälte stehen sehen“, forderte Peggy ihn sanft auf. Aber er schüttelte den Kopf.

„Hören Sie, ich habe keine Angst vor Ihnen, wenn es das ist, was Sie mein Angebot ablehnen lässt. Sie halfen meinen Kindern. Sie …“

Doch wieder kam seine Verneinung mit Verzögerung.

„Ich verstehe, dass nur die allergrößte Not Sie hierher gezwungen hat. Ich möchte Ihnen ja helfen, wenn Sie mir nur irgendwie erklären könnten, in welcher Weise Sie meine Hilfe benötigen“, bot Peggy ehrlich und eindringlich an.

Da trat er zögernd einen Schritt vor, dann noch einen. Seine Geste bat um Entschuldigung. Dann holte er etwas, das an seiner Brust gelegen hatte, aus dem Mantel. Ein Bündel, ein Bündel, in dem sich etwas bewegte. Es bereitete ihm Mühe, es in seinen klammen, vor Kälte starren Händen zu halten, und Peggy griff instinktiv zu. Sie nahm das strampelnde Bündel in die Arme und drückte es an sich.

Der Langhaarige hatte ihr ein Kind gebracht, ein Baby, ein Neugeborenes! Peggy sah entsetzt darauf, dann auf ihn, doch wich er vor ihr zurück.

„Woher ist dieses Kind?“, fragte sie streng.

Er trat weiter zurück.

„Wer ist das Kind? Sagen Sie es mir, irgendwie!“, verlangte sie energisch und sah ihn nur ratlos die Schultern heben. Der Wind fegte Schnee über ihn, als er sich mehr und mehr vom Eingang entfernte.

„Bleiben Sie! Warten Sie! Sie können doch nicht einfach so Ihr Kind hier …! Sie sollen warten!“, schrie sie durch den Sturm hinter ihm her, aber er war fort.

Peggy kehrte ins Haus zurück. Frierend schloss sie die Tür hinter sich. Schauer von Kälte und des Schocks liefen ihr über den Rücken. Was erwartete er von ihr? Ein fremdes Kind großziehen?

Natürlich, er konnte es nicht, obwohl es bei ihm schon ein Kind gab, aber dies war älter. Einen Säugling konnten weder er noch Petie versorgen. Worauf hatte sie sich da eingelassen?

Im warmen Zimmer packte sie das Bündel aus. Das kleine Mädchen war winzig. Weißliche Käseschmiere überall an ihrem Körper verriet, dass es zu früh geboren worden war. Doch da-runter war es rosig und es strampelte lebhaft. Das Bündel bestand aus einem löchrigen Pullover, der sicher dem Langhaarigen gehörte. Er roch intensiv nach Blut und Fruchtwasser. Die Geburt musste gerade erst erfolgt sein. Wer und wo war die Mutter?

Mit zu einer Schnur gedrehten Wollfäden des Pullovers war die Nabelschnur abgebunden worden. Trotz der Primitivität, in der diese Geburt stattgefunden haben musste, war das Baby so professionell wie möglich versorgt worden. Jemand bei den Obdachlosen hatte Erfahrung mit Geburtshilfe.

Peggy badete das kleine Mädchen, streifte ihm Windeln und Strampler über, die sie noch von Kim aufgehoben hatte.

Am nächsten Morgen schnappte sie ihre vom Familienzuwachs überraschten Kinder und fuhr zu einem entfernteren Supermarkt, um Babyzubehör zu erstehen. Zu Hause gab sie der Kleinen das Fläschchen. Zufrieden schlief sie dann auf ihrem Arm ein.

Was sollte sie tun? Jugendamt oder Polizei rufen? Oder sollte sie abwarten, ob der Langhaarige sich noch einmal meldete? War es sein Kind? Hatte er es irgendwo gefunden und es zu ihr zu bringen, war seine einzige Alternative? Es war ihm nicht leichtgefallen, es abzugeben, das war zu erkennen gewesen. Er hatte gezögert und gezaudert, sich gewunden, aber wohl keine andere Wahl gehabt. Sie wollte ihm die Chance einräumen, es sich zu überlegen und sich das Kind wiederzuholen, denn vom Jugendamt bekam er es gewiss nicht zurück.

Sie hatte ihren Kindern für das Wochenende eine Schlittenfahrt versprochen. Das konnte sie unmöglich absagen. Also packte sie alles ein, fuhr aber nicht zum Hausberg der Siedlung, sondern hinaus aufs Land, dorthin, wo sie niemand kannte, damit sie nicht auf das Baby angesprochen werden konnte.

Als es dunkel wurde, war sie wieder zu Hause. Nach dem Abendbrot steckte sie die todmüde Kim ins Bett. Jason junior durfte noch seine Serie im Fernsehen anschauen.

Peggy trug das Baby umher, das zu schreien begonnen hatte, bald aber wieder ruhig wurde.

Beim Blick aus dem Fenster sah sie ihn. Der Langhaarige stand am Gartenzaun, etwas verdeckt durch den Stamm eines der Straßenbäume, aber er war da. Er sah zum Haus. Vielleicht konnte er sie mit dem Kind im Licht hinter den Fenstern erkennen? Also schien er wohl noch wegen des Babys mit sich zu ringen. Doch später war er fort.

„Er ist wieder da“, sagte Peggy zu ihrem Sohn, als sie am nächsten Abend wieder zu derselben Stelle sah. Jason trat zu ihr ans Fenster. Der Langhaarige fühlte sich entdeckt und floh.

Peggy legte wieder Lebensmittel an den Mülltonnen ab, dazu eine Nachricht, die danach fragte, was mit dem Kind geschehen sollte. Doch eigentlich war ihr klar, dass sie keine Antwort erhalten würde.

Der Langhaarige war auch am nächsten Abend wieder an Ort und Stelle und sah zum Haus. Als Peggy hinaustrat, verschwand er, als wäre er nur ein Schattenriss gewesen.

Peggy verzweifelte langsam. Heute Abend kam Jason senior nach Hause. Was sollte sie ihm sagen? Spätestens Montag früh mussten sie das Jugendamt einschalten. Der Langhaarige hatte seine Chance gehabt. Mehr konnte sie nicht tun.

Jason senior fiel aus allen Wolken, als er Peggy mit dem fremden Kind sah. Sie erzählte ihm von dem Obdachlosen, der es ihr gebracht hatte, ließ aber die Vorgeschichte aus. Schließlich beruhigte sich Jason und sah ein, dass seine Frau nur im guten Glauben gehandelt hatte und aus Mitleid.

Als er nun gerade im Begriff war, zum Telefon zu greifen, um die Polizei zu rufen, klopfte es erneut. Peggy sah ihren Mann sich vom Telefon abwenden, um die Tür zu öffnen, dann, wie Jason einen erschrockenen Schritt zurücktrat, aber die Tür nicht freigab.

Ein großer Schatten füllte den Türrahmen aus. Kälte drang ein.

„Verschwinde!“, Jason senior klang feindselig und drohend. „Ich hole die Polizei! Hörst du! Hau ab!“

Kim, schon im Schlafanzug, kümmerte die Aufregung des Vaters nicht. Klein und geschwind, wie sie war, schlüpfte sie zwischen seinen Beinen durch und begrüßte den Fremden mit einem vertrauten, fröhlichen „Hallo!“ und streckte ihm die Arme entgegen. Jason senior war fassungslos. Woher kannte Kim diesen …, diesen …! Er zog sie zurück.

„Oh, mein Gott!“, Peggy war zu ihrem Mann getreten und sah den riesenhaften Langhaarigen im Schneegestöber stehen. Doch ihr Ausruf hatte weder entsetzt noch erschrocken, noch angewidert geklungen, nur so besorgt, dass Jason senior sich misstrauisch zu ihr umwandte.

„Du kennst diesen Penner?“, fragte er außer sich. Dann wurde ihm schlagartig klar, wer dieser Mann war, als er in dessen Blick zu dem Kind auf Peggys Arm eine Sanftheit wahrnahm, die er ihm nicht zugetraut hätte.

„Haben Sie es sich überlegt?“, fragte Peggy, ohne auf ihren Mann zu achten. „Wollen Sie es zurück?“, wies sie auf das Kind.

Der Riesenkerl fixierte sie kurz aus magisch blauen Augen, senkte dann den Blick, wie sie es von ihm kannte, und winkte entschieden ab.

„Ist sie nicht Ihr Kind?“, fragte Peggy verwundert.

Er schüttelte den Kopf.

Peggy war irritiert, ihr Mann entsetzt, nur Kim freute sich über den Besuch. Gebannt verfolgten die Bradleys die Gesten des Langhaarigen, mit denen er versuchte, ihnen etwas zu erklären. Aber sie verstanden ihn nicht.

„Was ist passiert? Wo ist die Mutter?“, fragte Peggy und ergriff die Initiative. Wenn er nur antworten musste, funktionierte die Kommunikation sicher besser. Sie empfand es schon als außerordentlich, dass der Langhaarige von allein diesen Verständigungsversuch unternommen hatte. Es war ihm wichtig, was hier geschah.

Er wirkte beunruhigt, fühlte sich unwohl, so nahe bei den Fremden ausharren zu müssen, bis sie verstanden, was er wollte. Er musste die Situation klären, damit sie taten, was er nicht konnte, ohne sich der Gefahr auszusetzen, in Konflikt mit den Behörden zu geraten.Doch hatte er keine Wahl. Abstand haltend hielt er der Befragung stand, ließ aber erkennen, dass er die Flucht ergreifen würde, machten sie eine falsche Bewegung.

„Sagen Sie, was passiert ist?“, drängte Jason ungeduldig.

„Die Mutter!“, unterbrach Peggy ihren Mann und wandte sich wieder dem Langhaarigen zu. „Wo ist sie?“

Er geriet in Erklärungsnot, was ihm sichtlich unangenehm war, und zögerte.

Dann deutete er auf sich.

„Sie haben …“, versuchte Peggy, zu raten.

Doch er schüttelte entschieden den Kopf, wies jetzt auf Jason und wieder auf sich. Vor Peggy vollführte er eine ablehnende Bewegung.

Peggy stutzte hilflos.

Jason sah aufmerksam zwischen seiner Frau und dem Langhaarigen hin und her, dann kam ihm die Erkenntnis.

„Er meint Männer, nicht Frauen.“

Der Langhaarige nickte und hob einen Daumen.

„Einen Mann, okay“, begriff Jason. „Er meint einen Mann.“

Der Penner nickte bestätigend.

„Und dieser Mann …?“, fragte Peggy, beobachtete die antwortenden Gesten des Langhaarigen und versuchte, sie zu lesen. „Er schlug eine Frau …, er schlug die schwangere Frau …, dabei setzten die Wehen ein, als Folge der Schläge, und sie bekam das Baby! Oh Gott! Oh Gott!“, jammerte Peggy schockiert.

„Was passierte weiter? Wie kamen Sie zu dem Kind?“, war auch Jason fassungslos, behielt aber die Nerven.

„Aber wenn die Mutter schwer verletzt war“, unterbrach nun Peggy wieder ihren Mann. „Wie hat sie das Kind geboren?“

Eine unentschlossene, fahrige Bewegung an ihm zeigte Unsicherheit. Wahrscheinlich wog er ab, ob er den Bradleys sagen durfte, was genau geschehen war. Doch dann deutete er zögernd auf sich.

„Sie? Sie haben das Kind geholt?“, rief Peggy erstaunt aus und vergewisserte sich, dass sie seine Beschreibung richtig verstanden hatte.

Er nickte knapp. Doch neben der üblichen Vorsicht las Peggy Bedauern und Schmerz in seinem Blick, als er kurz aufsah. Dieser Langhaarige war keinesfalls so abgestumpft, wie er sich gab. Seine Antworten kamen diesmal schnell und präzise, was ihr sagte, dass er wohl unter Schock gestanden haben musste, als er ihr vor Tagen das Baby gebracht hatte, und deshalb nicht vernünftig hatte Rede und Antwort stehen können. Er war keinesfalls dumm.

„Sind Sie Arzt?“, fragte Peggy ungläubig.

Darauf schüttelte er kurz den Kopf, sah sie, wie die meiste Zeit über, nicht an. Er hob nur in einer ratlosen Geste die Schultern. Was hätte er tun sollen?

Er hatte keine Wahl gehabt, konnte nur alles riskieren und hatte das Leben des Babys gewonnen.

Wie hatte er das durchgestanden? Peggy wurde ganz übel. Doch riss sie sich zusammen. Er schaffte es ja auch, irgendwie.

„Die Frau …, die Mutter …“, stammelte sie. „Gehörte sie zu Ihnen?“

Das wäre ja noch schrecklicher, aber er schüttelte den Kopf.

„Zu Ihren Leuten? Wo auch immer die sich aufhalten mögen?“, forschte sie weiter.

Doch verneinte er wieder.

„Sie kannten die Frau also gar nicht?“, war Peggy perplex.

Er bestätigte dies.

„Und Sie kamen dazu, als sie zusammengeschlagen wurde?“

Er nickte.

„Zufällig?“

Wieder nickte er.

„Haben Sie dann auch eventuell den Schläger gesehen?“, ließ sich Peggy nicht beirren.

Er nickte zögernd, schien unangenehm berührt.

„Sie müssen zur Polizei!“, war Peggy klar.

Doch er schüttelte heftig den Kopf.

Ja, natürlich, wie hätte sie es vergessen können? Die Narben auf seinen Handrücken waren noch deutlich sichtbar, das Geräusch der Schläge Peggy noch im Ohr.

„Es war gerade erst passiert, nicht wahr …, als Sie die Kleine brachten“, fügte sie hinzu und bemühte sich trotz ihrer Erschütterung um einen klaren Kopf.

Er nickte, holte dann eine schmale Halskette mit einem Kreuzanhänger aus der Manteltasche und ließ ihn in Peggys Hand fallen.

„Von der Mutter?“, fragte sie und er bestätigte.

„Wie ist es mit Ausweisen, Fahrerlaubnis, Adresse?“, fragte Jason, dem deutlich war, dass er hier helfen musste.

Die eindeutige Geste des Langhaarigen sagte: „Gestohlen.“

„Es ist gut, dass Sie das Kind hergebracht haben. Wirklich. Es ist gut“, sagte Peggy ein wenig hilflos, aber fest entschlossen, für das Nächstliegende zu sorgen. Der Langhaarige hatte getan, was ihm möglich gewesen war. Mehr konnte von ihm nicht erwartet werden.

„Kommen Sie herein. Sie müssen ja völlig fertig sein“, bot sie an, doch er wich erschrocken zurück.

„Fängst du mich noch mal auf?“, rief Kim dazwischen, um sich in Erinnerung zu bringen, weil sie fürchtete, dass ihr neuer Freund einfach gehen würde.

Jason senior begann etwas zu ahnen und maß den Riesenkerl vor sich freundlicher, gab sogar die Tür frei, um ihm Einlass zu gewähren. Doch der Langhaarige trat die Flucht zurück in die Dunkelheit an.

„Warten Sie!“, rief Peggy ihm nach. „Warten Sie! Gehen Sie nicht! Wo ist die Frau? Die Verletzte! Hat sich jemand um sie gekümmert, sind ihre Angehörigen …“

Zur Antwort scharrten seine Stiefel ein Kreuz in den Schnee.

„Tot!“, schrie Peggy beinah hysterisch.

Er schüttelte den Kopf, hob gleichzeitig die Schultern. Genau wusste er es nicht. Vom Kreuz im Schnee wies er auf ein geparktes Auto. Die Drehbewegung seiner Hand ließ Jason verstehen, was der Penner sagte.

„Ein Krankenwagen, ja? Ein Krankenwagen ist gekommen! Kreuz auf einem Auto und die Rundumleuchten?“

Der Langhaarige nickte zustimmend, dann drehte er sich um und tauchte im Schneetreiben unter. Seine Schritte hinterließen kein Geräusch und der Schnee füllte in Windeseile seine Schuhabdrücke auf dem Weg zur Straße, sodass nach wenigen Sekunden nichts mehr darauf hindeutete, dass er je da gewesen war.

Unten an der Straße meinte Peggy, kurz eine gebückte Gestalt wahrgenommen zu haben, Petie. Dann setzte noch stärkerer Schneefall ein und verwischte die letzten Spuren.

Jason schloss die Tür, schob Frau und Tochter zurück in die Wärme ihres Hauses.

„Wir können das nicht behalten?“, fragte Kim mit Blick auf das strampelnde Bündel.

„Nein“, sagte Jason. „Das Kind gehört zu einer anderen Familie.“

„Aber kann es nicht trotzdem bleiben“, quengelte Kim.

„Nein, Schatz, kann es nicht und du verschwindest jetzt in dein Bett!“, sprach der Vater ein Machtwort.

„Aber …“, nörgelte Kim.

„Ab ins Bett!“, blieb Jason konsequent.

Beleidigt zog Kim ab. Sie durfte das Baby nicht behalten und ihr neuer Freund war auch einfach so gegangen. Pleite auf der ganzen Linie.

„Peggy, ich glaube, du solltest mir jetzt doch vielleicht einiges erklären“, bat Jason, nachdem er Kim ins Bett verfrachtet hatte.

„Wer ist dieser Penner? Wieso kam er gerade auf dich? Wieso kennst du ihn so gut? Woher kennt ihn Kim? Ist er der Fremde, der sie gerettet hat?“

Peggy saß zusammengesunken in einem Sessel und hielt das Baby. Tränenspuren zeigten sich auf ihrem Gesicht und stockend berichtete sie Jason, was sich vor der Übergabe des Kindes alles ereignet hatte.

„Was sollen wir jetzt tun?“, fragte sie ratlos.

„Die Polizei rufen, was sonst. Deswegen hat er uns das Baby gebracht, weil er, aus Gründen, die ich nachvollziehe, nicht zur Polizei gehen kann. Oh Mann, Peggy!“, stöhnte Jason und griff zum Telefon, um seine Pflicht zu tun.

Der Langhaarige mochte kein Arzt sein, aber er verstand genug von Geburtshilfe, um dem Baby das Leben gerettet zu haben. Er hatte so etwas sicher nicht zum ersten Mal gemacht. Wer war er? Und dass er gekommen war, bedeutete wohl, dass er von ihrer Familie mehr zu halten schien als vom Rest der Menschheit.

Wenig später fuhren Streifenwagen und ein Zivilfahrzeug der Polizei vor.

Eine Sozialarbeiterin übernahm das Baby und die Polizisten hörten sich die Aussage der Bradleys an, so seltsam sie auch klang.

Den Penner beschrieb Mrs. Bradley als eher durchschnittlich, so wie alle Penner eben, unrasiert, verwahrlost, ungepflegt, schmutzig. Ihr Mann widersprach ihr nicht, aber eine vage Bewegung an ihm verriet, dass da etwas nicht stimmte.

Detective Amber Garrett beließ es erst einmal dabei, würde später, bei Gelegenheit, in dieser Sache nachbohren.

„Ist es möglich, mit diesem Mann direkt zu sprechen?“, fragte sie und erhielt die erwartete Antwort.

„Er kommt nicht zu Ihnen“, war sich Peggy sicher. Und Garrett vermutete, dass Mrs. Bradley den Penner schützte, aus Mitleid wahrscheinlich, denn sie machte nicht den Eindruck, unlautere Absichten zu verfolgen. So gut kannte Garrett die Menschen.

„Aber zu Ihnen kommt er doch“, hakte sie trotzdem nach. „Könnten Sie da nicht ein gutes Wort für mich einlegen?“

„Er kommt in unregelmäßigen Abständen zu meinen Mülltonnen“, erinnerte Peggy. „Und wenn er geglaubt hätte, dass es etwas bringt, hätte er sich sicher bei Ihnen gemeldet. Aber er riskiert nicht weitere Prügel oder dass ihm keiner glaubt, nur, weil er ein Penner ist, und dass er vielleicht noch wegen eines ungerechtfertigten Verdachtes verhaftet wird, obwohl er nichts anderes getan hat, als Mutter und Kind zu retten. Er tat, was in dieser Situation menschenmöglich war. Sogar den Schmuck hat er abgegeben. Welcher Penner tut sonst so etwas Anständiges? Mehr ist nicht zu machen, glauben Sie mir, Detective. Er wird nicht kommen.“

„Versuchen Sie es bitte trotzdem“, gab Garrett nicht auf. „Schließlich handelt es sich Ihrem Bericht nach, beruhend auf der Aussage dieses Penners, um den brutalen Angriff auf eine hochschwangere Frau. Wir brauchen schon seine Mitarbeit dabei. Er ist Tatzeuge, ob er will oder nicht. Legen Sie ihm nahe, dass er sich meldet. Sonst müssten wir nach ihm fahnden und das würde ihm erst richtige Schwierigkeiten bereiten“, gab Garrett leicht drohend zu bedenken.

„Oh, aber er verweigert sich doch nicht böswillig, Detective!“, rief Peggy klarstellend. „Er hat Angst! Er ist scheu und wahrscheinlich auch nicht sehr klug. Sie irren sich, wenn Sie glauben, ich käme an ihn heran! Ich werde mich bemühen, ihn irgendwie zu benachrichtigen, aber er hat bisher nie auf ein Schreiben reagiert. Doch käme ein Treffen zustande, ginge es nur nach seinen Bedingungen, was Ort und Zeit betrifft. Habe ich dazu Ihr Wort?“, bat Peggy inständig, die nicht einsah, weshalb sie den Langhaarigen verraten sollte. Gleichzeitig wollte sie verhindern, dass ihm Unrecht getan wurde.

„Sie legen sich für ihn ganz schön ins Zeug“, fand Garrett überrascht.

„Er hat es verdient, finde ich, und sonst niemanden, der es tut“, erwiderte Peggy so selbstbewusst, dass sogar Jason staunte.

„Okay“, lenkte Garrett ein. „Mein Wort.“

Peggy nickte und Garrett übergab ihr eine Visitenkarte mit Telefonnummer.

„Privat“, fügte die Polizistin etwas unwillig hinzu.

„Können wir erfahren, wer die Frau war, wenn Sie sie in irgendeinem Krankenhaus gefunden haben?“, bat Peggy.

„Ich weiß nicht …“, wich Garrett erst aus.

„Es kann nicht weit sein und so eine Frau fällt doch auf“, vermutete Peggy. „Das Baby war gerade geboren, verstehen Sie. Das Blut war noch feucht, die Nabelschnur ganz frisch. Er trug es unter seiner Kleidung auf der Haut, damit es nicht erfror. Er brachte es zu mir, weil er sonst niemanden wusste, dem er es geben konnte. Die Familie des Babys hat ein Recht, zu erfahren, wie alles geschah“, fühlte sich Peggy verpflichtet.

„Wahrscheinlich würden Sie es eh aus der Presse erfahren oder über Gerüchte, dann schon besser von mir“, entschied Garrett. „Wir suchen bereits nach ihr und werden bald mehr wissen.“

Wenig später verabschiedeten sich die Polizisten und die Bradleys waren wieder allein.

Jason goss sich einen Scotch ein, um sich zu beruhigen. Peggy setzte sich erschöpft zu ihm, nachdem sie noch einmal nach Kim und Jason junior gesehen hatte. Doch beide Kinder schliefen.

„Du hast die Polizei belogen“, sagte Jason nur. „Er ist der auffälligste Penner, den ich je gesehen habe.“

„Ich konnte ihn nicht ausliefern, nicht nach dem, was heute geschah, nicht nach dem, was ich damals von den Sicherheitskräften sah, als sie ihn zu Unrecht angriffen, Jason“, rechtfertigte sich Peggy.

„Schon gut. Ich verstehe schon. Ich verstehe auch, weshalb du so gehandelt hast, selbst, dass du vor mir alles verheimlicht hast. Obwohl das wehtut.“

„Verzeih“, bat Peggy.

„Schon gut, habe ich doch gesagt. Er hat Kim gerettet und Jason beigestanden. Aber dass wir in so etwas geraten! Peggy. Penner zu versorgen ist das eine. Eine solche Geschichte ist entschieden etwas anderes!“, war Jason noch fassungslos.

„Er hat nichts damit zu tun“, verteidigte Peggy den Langhaarigen.

„Er hat sehr wohl damit zu tun, auch wenn er nicht der Täter ist“, widersprach Jason.

„Trotzdem müssen wir ihm doch helfen, so gut wir können.“

„Peggy, er ist ein wildfremder, vielleicht nicht einmal ein ungefährlicher Mann“, warnte Jason.

„Er ist nicht gefährlich, Jason, nicht er“, war sich Peggy sicher. „Er tut mir leid. Er ist in diese Sache genauso unschuldig herein geraten wie wir. Nur hat er überhaupt keine rechtlichen Möglichkeiten, keinen Schutz. Dazu die Sprachbehinderung. Wie sollte er sich je wehren können, wenn er in die Mühlen der Justiz gerät, wenn sie ihn von seinem Kind wegreißen, das Kind ins Heim stecken. Für die ist er doch nur ein Penner. Wertloses Gesindel. Aber das ist er nicht, Jason. Er hat das Baby und Kim gerettet. Diese Schuld wird er nie von uns einfordern. Darum müssen wir doch von uns aus tun, was wir können, um ihn zu schützen. Ich glaube nicht, dass er mehr will, als nur in Ruhe gelassen zu werden. Ist es nicht das Mindeste, dass wir dafür sorgen?“

2

Sada Delaney so reglos im Krankenhausbett zu sehen, war ein Albtraum für Peggy.

Die Verletzte war erst am nächsten Tag im städtischen Krankenhaus von der Polizei gefunden worden. Peggy wollte sich den Schock und das Elend der Angehörigen nicht ausmalen. Sie selbst empfand tiefstes Mitgefühl.

Sada schien eine große Familie zu haben. Ihr Zimmer war gut halb gefüllt. Prächtiger Blumenschmuck zeugte von großer Anteilnahme.

Am Bett saßen der Ehemann, Eltern und Schwiegereltern und ein etwa fünf Jahre alter Junge.

Erschüttert wandte Peggy den Blick ab, als sie das Baby in den Armen einer der älteren Damen sah. Sie wollte sich heimlich davonstehlen, aber sie wurde entdeckt und angehalten.

„Wer sind Sie?“, fragte sie eine der Frauen. „Ich kenne Sie nicht. Sind Sie eine von Sadas Kolleginnen? – Entschuldigen Sie, ich bin Sadas Mutter. Eve Watts“, stellte sie sich vor.

„Ich …“, Peggy war verlegen. „Wahrscheinlich hätte ich nicht herkommen sollen. Aber ich dachte … Ich weiß auch nicht … Ich bin keine Kollegin. Ich kenne Ihre Tochter nicht einmal. Mein Name ist Peggy Bradley. Ich … Ich hatte das Baby“, stammelte Peggy.

„Oh, mein Gott!“, stöhnte Mrs. Watts auf. Die Umstehenden wurden auf die beiden Frauen aufmerksam und auch der Gemeindepfarrer Hochwürden Pierce.

„Oh, mein Gott!“, sagte Mrs. Watts noch einmal ergriffen. Sie musste sich setzen und Peggy half ihr dabei. Empörte Blicke trafen die fremde junge Frau und Peggy wurde es ganz unheimlich.

„Lasst sie!“, meldete sich Mrs. Watts zu Wort, als sie bemerkte, wie Peggy von besorgten Angehörigen abgedrängt wurde. „Um Gottes willen, lasst sie! Bitte sprechen Sie!“, forderte sie dann Peggy auf.

Peggy fühlte sich elend, aber sie raffte sich auf und berichtete, was sie wusste. Die Familie hörte schweigend zu und stellte dann zögerlich Fragen, die Peggy nicht beantworten konnte, weil sie in diesem schrecklichen Moment nicht daran gedacht hatte, sie dem Langhaarigen zu stellen.

„Könnte jemand von uns selbst mit diesem Mann sprechen, Mrs. Bradley?“, wollte Mrs. Watts wissen.

„Ich kann nichts versprechen, Madam“, war Peggy hilflos und rang die Hände. „Schon die Polizei verlangt von mir eine Kontaktaufnahme zu ihm.“

„Er muss uns sagen, was er weiß, wer der Täter ist“, verlangte Mrs. Watts.

Peggy hob ratlos die Hände. „Ich weiß nicht, wo er ist. Seitdem er mir das Kind brachte, mir, seinen Möglichkeiten entsprechend, von der Kleinen und ihrer Mutter berichtete, war er nicht mehr da. Er wird wohl abwarten, bis sich alles etwas beruhigt hat. Konflikte, welcher Art auch immer, sind das Letzte, das sich jemand wie er leisten kann“, versuchte Peggy eine Erklärung. „Und es geht auch nicht nur um ihn allein. Da muss noch ein Kind sein, das er versorgt, und wahrscheinlich auch den Alten, der meistens bei ihm ist. Vielleicht gibt es noch mehr von diesen Leuten, die auf ihn angewiesen sind? Ich habe keine Ahnung. Eigentlich weiß ich nichts von ihm. Er spricht nicht. Er kommt und geht, wie es ihm gefällt. Ich weiß nicht, wo er lebt. Ich weiß nicht einmal, ob er überhaupt noch lebt, bei diesen Temperaturen! Er könnte erfroren sein und niemanden würde das wahrscheinlich groß interessieren, außer mir, aber es gibt auch niemanden, der es mir sagen würde, wenn es so wäre.“

„Ich hatte keine Ahnung, dass es diesen Leuten so schlecht geht“, reagierte Mrs. Watts mit Betroffenheit. „Er soll nicht umsonst so viel gewagt haben, um meine Tochter und Enkelin zu retten. Ich … Wir werden ihm unsere Hilfe anbieten. Doch bitte, Mrs. Bradley, versuchen Sie alles, um ihn zu überreden, mit uns zu sprechen. Das Wo und Wie überlassen wir ihm und versprechen auch, dass wir die Polizei nicht informieren werden.“

Hochwürden Pierce rührte sich. „Sie könnten auch Räume im Gemeindezentrum oder die Kirche benutzen, Mrs. Bradley, wenn Ihr Bekannter darauf vertraut.“

„Das weiß ich nicht. Aber ich werde tun, was ich kann“, versprach Peggy.

Doch vergingen Wochen und der Langhaarige blieb verschwunden.

Peggys Bündel und die Nachricht mit der Bitte der Delaney/ Watts lagen unangetastet auf dem Mäuerchen.

Peggy machte sich berechtigterweise Sorgen. Hatte der Langhaarige am Ende die kalten Wochen tatsächlich nicht überlebt? War er umgekommen und die mit ihm waren, verhungert? Vielleicht hatte er die Gegend auch einfach verlassen? Woher sollte sie das wissen? Doch gab es nichts, was sie hätte tun können.

Dann, kurz vor dem Jahreswechsel, war das Bündel verschwunden. Er lebte noch! Peggy war erleichtert. Doch auf ihr Schreiben erfolgte, wie immer, keine Reaktion. Den enttäuschten Angehörigen von Sada teilte sie das schweren Herzens mit. Aber es gab Hoffnung. Wenn der Langhaarige lebte, würde sie ihn irgendwann treffen. Vielleicht antwortete er dann.

Peggy dachte zunächst daran, Detective Garrett nicht darüber zu informieren, dass der Langhaarige wieder aufgetaucht war. Doch dann entschied sie sich anders.

Sie hielt es für besser, dass die Kontakte, sollten diese jemals zustande kommen, was sie bezweifelte, über sie liefen, weil sie ihn so mehr schützen konnte und er somit nicht Garretts Fahndung ausgesetzt wäre.

Garrett war ungeduldig und murrte. Sie zeichnete sich nicht gerade als eine angenehme Person aus, zeigte sich weder besonders höflich noch sehr zugänglich, aber dennoch willigte sie ein, noch abzuwarten, obwohl ihr ihr Chef langsam auf die Füße trat und das Ende der Ermittlungen forderte.

Peggy wusste nicht, ob Garrett nachgegeben hatte, weil sie als Frau auf eine Frau reagiert hatte, oder sie sich auf eine gute Menschenkenntnis berufen konnte, die sie auf dem viel versprechenden Weg zum Erfolg Geduld üben ließ.

In der Silvesternacht fuhr Jason senior mit seinem Sohn zum Aussichtspunkt, um bei Mitternacht das Feuerwerk besser beobachten zu können. Peggy blieb bei Kim zu Hause. Es knallte und krachte auch so genug um ihr Haus. Sie bedauerte nicht, daheim geblieben zu sein. Vom Wohnzimmer aus hatte sie auch einen guten Blick über die Siedlung und Unmengen von Raketen stiegen auf.

Als sich alles wieder beruhigt hatte, kam auch Jasons Auto wieder in Sicht. Es hielt vor dem Gartentor. Und im selben Moment rutschte eine fehlgeleitete Rakete auf der Straße entlang genau unter das Auto und explodierte dort.

Der Wagen fing sofort Feuer und Flammen schlugen überall heraus. Peggy schrie auf und stürmte aus dem Haus.

Doch ein anderer war schneller. Er riss den Jungen vom Sitz, warf ihn einer gebückten Gestalt zu, die mit der Last zwar zu Boden ging, sich aber hastig wieder aufraffte und mit Jason hinter einem Straßenbaum Deckung suchte.

Der Langhaarige zerrte den benommenen Jason senior aus dem Feuer und schleppte ihn hinter sich her. Dann explodierte das Auto und die Wucht der Detonation schleuderte sie zu Boden.

Doch ehe die aufgelöste Peggy beide erreichte, hatte sich der Langhaarige aufgerichtet, sich die Benommenheit abgeschüttelt, war schwankend auf die Beine gekommen und vor ihr zurückweichend mit dem Rücken gegen einen Baumstamm gestoßen. Dann drehte er sich taumelnd um und ergriff die Flucht. Petie schloss sich ihm hastig an.

Wieso waren diese beiden ihr und ihrer Familie so nahe, fragte sich Peggy ratlos, dann klammerte sich Jason junior an sie. Er stand unter Schock, war aber unverletzt. Jason senior hing die Kleidung in Fetzen. Er war voller Ruß, aber scheinbar auch ohne große Wunden davongekommen.

Von allen Seiten kamen die entsetzten Nachbarn heran, riefen Feuerwehr und Krankenwagen und verfolgten den über seine Tat erschrockenen Jungen von gegenüber, der mit seinem selbst gebauten Feuerwerkskörper beinah die halbe Familie Bradley umgebracht hätte.

Durch die Kirchenfenster leuchtete noch der Feuerschein und Hochwürden Pierce war auf die Straße getreten, um zu erfahren, was explodiert war.

Nachbarn berichteten vom ausgebrannten Auto der Bradleys. Ein weiterer Nachbar wusste, dass die beiden Bradley-Männer nicht ernstlich verletzt waren, weil sie noch zur rechten Zeit aus dem brennenden Auto herausgeholt worden waren. Doch die beiden Retter seien unerkannt verschwunden. Er beschrieb einen riesenhaften Langhaarigen und einen kleinen Buckligen, die gesehen worden waren.

Hochwürden Pierce kam ein Verdacht, doch schwieg er dazu. Die ganze Nachbarschaft war in Aufruhr. Wie da jemand unerkannt abtauchen konnte, war ihm schleierhaft.

Die Bradleys hatten keinen Kontakt zur Kirche. Dennoch war Peggy zu Sada ins Krankenhaus gekommen, wo er sie kennengelernt hatte, und dort hatte sie sich bemüht, die Angehörigen zu trösten. Hochwürden Pierce wollte sich nicht aufdrängen, aber er beschloss, noch eine Zeit lang in Bereitschaft zu bleiben und sich in der Kirche aufzuhalten, falls sein Beistand gewünscht werden sollte.

Fröstelnd trat er in seine Kirche zurück und meinte, etwas gehört zu haben, doch musste er sich wohl geirrt haben. Er schüttelte den Kopf und trat vor zum Altarraum. Kurz davor stutzte er wieder. Da flüsterte doch jemand! Hochwürden Pierce wandte sich zum Seitenschiff. Die Kirche hatte eine exzellente Akustik. Jedes Wort war zu hören, als er näher kam. Die Stimme eines alten Mannes erklärte leise die Heiligengemälde.

Pierce spähte um eine Säule herum und entdeckte einen Buckligen, der vor einem der Seitenaltäre gestenreiche Erklärungen gab.

Ein anderer Mann saß etwas vorgebeugt auf einer der Bänke und hörte zu. Und schon das, was im Dämmerlicht des Seitenschiffes von ihm sichtbar war, zeugte von enormer Körpergröße. Das waren die beiden, dachte sich Pierce. Sie hatten vor der aufgescheuchten Nachbarschaft nur noch in die Kirche entkommen können.