Václav Havels Reden - Martin Bermeiser - E-Book

Václav Havels Reden E-Book

Martin Bermeiser

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  • Herausgeber: ibidem
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Václav Havel (1936–2011) vollzog einen spektakulären Rollentausch vom Staatsfeind zum Staatsoberhaupt. Während seiner über zwölfjährigen Amtszeit als zunächst tschechoslowakischer, ab dem Jahr 1993 tschechischer Staatspräsident hielt er in seinem Land und aller Welt rund 300 zumeist programmatische Reden, allesamt Glanzstücke zeitgenössischer politischer Rhetorik. Anhand einer repräsentativen Auswahl dieser Reden untersucht der Autor Havels präsidiale Rhetorik mit einem innovativen Blick und gelangt zu dem Ergebnis, dass Havel eine neuartige, da ganzheitliche Rhetorik anwendet. Die ihr gebührende »sinnthetisierende« Methodik veranschaulicht Havels Visionen einer besseren Welt und inspiriert zur Herleitung (r)evolutionärer Dimensionen der politischen Äußerung: einer ganzheitlichen sowie einer holistischen Rhetorik. Allein schon die Betrachtung der ethisch-rhetorischen Wesensart des Phänomens Václav Havel verspricht neue, aufschlussreiche Erkenntnisse: Havels präsidiale Reden bieten eine ethisch basierte politische Rhetorik, die alles andere als gewöhnlich ist. In einem hierauf vom Autor hergeleiteten holistischen Modus kann sie in Havels als auch im Sinne der tschechischen humanistischen Denktradition eine weitere Profilierung erfahren. Der Autor legt ein faszinierendes, in Zeiten vielfach fragwürdiger Politiker-Rhetorik besonders bedeutsames Buch vor, in welchem er aufzeigt, was hohe ethische Standards in der politischen Rhetorik sind, und entwickelt daraus den wohl allerersten philologischen Entwurf einer ganzheitlich-holistischen Rhetorik.

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Seitenzahl: 651

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ibidem-Verlag, Stuttgart

 

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung

Einleitung

I. Im Licht der Traditionen

1 Havels philosophischer Hintergrund

2 Zu Havels Ethik

3 Havels rhetorische Basis

4 Masaryks kosmo ̴politischer Einfluss

5 Mesotes-Prinzip

II. Havel – ein (Ehren)Mann des Wortes

1 Havels rhetorische Grundtendenz

2 Repräsentative Reden

2.1 Neujahrsansprache, Prag 01.01.1990

2.2 US-Kongress, Washington 21.02.1990

2.3 Besuch des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, Prag 15.03.1990

2.4 Weltwirtschaftsforum, Davos 04.02.1992

2.5 Konferenz „Das Vermächtnis des Jan Amos Komenský und die Ausbildung des Menschen für das 21. Jahrhundert“, Prag 23.03.1992

2.6 Asahi Hall, Tokio 23.04.1992

2.7 Enthüllung des T. G. Masaryk-Denkmals, Olmütz 07.03.1993

2.8 George Washington University, Washington 22.04.1993

2.9 Entgegennahme des Indira Gandhi-Preises, Neu-Delhi 08.02.1994

2.10 Entgegennahme der Ehrendoktorwürde der จุฬาลงกรณ์มหาวิทยาลัย (Chulalongkorn Universität), Bangkok 12.02.1994

2.11 Victoria University of Wellington: »Möglichkeiten der offenen Gesellschaft am Ende des 20. Jahrhunderts«, Wellington 31.03.1995

2.12 Entgegennahme der Ehrendoktorwürde des Київський національний університет імені Тараса Шевченка (Nationale Taras-Schewtschenko-Universität), Kiew 01.07.1997

2.13 Entgegennahme des Prinz-von-Asturien-Preises in der Kategorie Kommunikation und Humanwissenschaften, Oviedo 24.10.1997

2.14 Im französischen Senat, Paris 03.03.1999

2.15 Symposium »Václav Havels Gedanken und das Konzept der Bürgergesellschaft«, St. Paul 26.04.1999

2.16 Gemeinsame Sitzung beider Kammern des kanadischen Parlaments, Ottawa 29.04.1999

2.17 Internationales Jan-Hus-Symposium, Vatikan 17.12.1999

2.18 Jahrestagung des Gouverneursrates des Internationalen Wäh­rungsfonds und der Weltbankgruppe, Prag 26.09.2000

2.19 Abendessen mit dem türkischen Präsidenten Ahmet Necdet Sezer, Ankara 10.10.2000

2.20 Entgegennahme der Ehrendoktorwürde der Janáčkova akademie múzických umění v Brně (Janáček-Akademie für Musik und Darstellende Kunst), Brünn 20.03.2001

2.21 Konferenz „Europe’s New Democracies: Leadership and Responsibility”, Pressburg 11.05.2001

2.22 Zum Staatsfeiertag, Prag 28.10.2001

2.23 Öffentliche Anhörung zur Außenpolitik der Tschechischen Republik im Senat des Parlaments der Tschechischen Republik, Prag 27.11.2001

2.24 »Europa und die Welt«, Rom 04.04.2002

3 Aspekte einer »sinnkritischen« Betrachtungsweise

3.1 Weitblick

3.2 Multipolarität

3.3 Einheit in Vielfalt

3.4 »Schmetterlingseffekt«

3.5 Komenskýs Vermächtnis

3.6 Vergeistigung

3.7 Kollektives Gedächtnis

3.8 Ausgleichende Gesprächigkeit

3.9 Ethos der Verbundenheit

3.10 Metakultur

3.11 Holistische Weltsicht

3.12 Globale Verantwortung

3.13 Globale Verständigung

3.14 Europäische Seele

3.15 Weltweite Zivilgesellschaft

3.16 Planetarische Selbstorganisation

3.17 Beitrag für die Welt

3.18 Solidargemeinschaft

3.19 Interkulturelle Brücken

3.20 Metareflexion

3.21 Neue Weltordnung

3.22 Zusammengehörigkeitsgefühl

3.23 Interkontinentale Kooperation

3.24 Zivilisation als Ganzes

III. Unwägbarkeiten holistischer Rhetorik

1 Ganzheitliche Rhetorik

2 Holistische Rhetorik

2.1 Holistisches Prinzip

2.2 Holismus in Sprache und Text

2.3 Rhetorik der offenen Perspektive

2.4 Sinn des Ganzen

2.5 »Weltschätzung«

2.6 Praesidens bonus

3 Quintessenz

IV. »Sinnthese« Havels präsidialer Rhetorik

1 Havels ganzheitliche Eloquenz

2 Havels holistische Rhetorizität

V. Havels rhetorisches Vermächtnis

Literaturverzeichnis

Printmedienquellen

Impressum

Vorbemerkung

Mit der Abhandlung wird eine repräsentative Auswahl der Reden, die Václav Havel während seiner mehr als zwölfjährigen Präsidentschaft hielt, auf einige rhetorische Merkmale untersucht. In Anbetracht Havels bemerkenswerter Persönlichkeits- und Lebenswegstruktur, seines weltweiten Bekanntheits­grades sowie seiner für einen hochrangigen Politiker außergewöhnlichen »Botschaft« erscheint es geboten, möglichst nah an die konkrete Diktion der Reden heranzuführen. Allerdings wäre es mit den Anforderungen an eine wissenschaftliche Arbeit nebst ihrem Umfang unvereinbar, die jeweiligen Reden wörtlich (und) in voller Länge wiederzugeben. Somit kann nur eine hinlänglich wortgetreue Paraphrase des thematisch Wesentlichen dieser Texte der relevanten Adäquanz gerecht werden. Methodisch empfiehlt sich eine spezifische Trennung von Textwiedergabe und Textanalyse.

Um zu einem hinreichend signifikanten Ergebnis zu gelangen, wurden interessegeleitet knapp 10 % von Havels präsidialen Reden ausgewählt. Dies ergab, synergetisch zusammenfallend, 26 bedeutsame programmatische Reden. Davon wurden 24 Reden einzeln wiedergegeben und analysiert, doch letztlich synthetisiert. Üblicherweise erfolgen solche Projekte in Form der Textanalyse, der systematischen Untersuchung von Einzelkomponenten, die mit dem Blick en détail, durch ein Mikroskop, verbildlicht werden kann. Ihr Komplement wäre die Textsynthese, die Zusammenfügung, Verknüpfung und Vereinigung verschiedener Elemente zu einem (höheren) Ganzen, gleichsam der multiperspektivische Blick mit dem Kaleidoskop. Aufgrund der im vorliegenden Fall zu erfassenden »größeren Zusammenhänge« soll hier die analytisch-synthetische Textinterpretation zur Anwendung kommen: die systematische Untersuchung der Faktoren, die ganzheitliche Strukturen bestimmen – der tiefe Weitblick mit dem Zoom. Bekanntlich wird analytische Forschung nicht unmaßgeblich von Intuition geleitet.1 Dies gilt umso mehr für die analytisch-synthetische Methodik.

In Abschnitt 2 des zweiten Kapitels sind diese vierundzwanzig Reden auf der Grundlage einer thematisch, quantitativ, textumfangmäßig, zeitlich, räum­lich und intuitiv repräsentativen Stichprobe in chronologischer Reihen­fol­ge dargestellt. Daraufhin werden sie in Abschnitt 3 in derselben Reihen­fol­ge ausgewertet. Gegen eine sich an jede Rede unmittelbar an­schließende (syn­the­ti­sierende) Analyse sprechen mehrere Faktoren. Die viel­fache Text­wieder­gabe mit je einer direkt nachfolgenden ausführlichen Text­interpreta­tion setzt die Wahrnehmbarkeit der Verbindungslinie zwi­schen den Reden herab. Gerade weil jede der Reden wohl eine Meister­leistung der zeitgenös­sischen politischen Rhetorik darstellt und trotz eines gemeinsamen Nenners einen individuellen Schwerpunkt aufweist, wäre eine sich schematisch wie­der­ho­lende Alternanz von Text und eingehender Interpretation sowohl dem Überblick und der Kohärenz, als auch dem zu vermittelnden Gesamtbild ab­träglich. Zudem erlaubt eine zusammenhängende Textreproduktion, sich zu­nächst einen eigenen Eindruck von Havels politischer Rhetorik zu verschaffen, bevor Letztere im motivischen Kontext der Studie aufbereitet und qualifiziert wird. Damit der Leser gleichwohl den thematischen Leitfaden nicht aus den Augen verliert, schließt sich an jede Rede deren Kurzanalyse an. Zur Optimie­rung der Anschaulichkeit und Nachvollziehbarkeit wird jeder Redetext mit ei­nem von seinem paraphrasierten und auf das Wesentliche komprimierten In­halt abgesetzten wörtlichen Zitat des jeweiligen Redeanfangs (exordium) ein­geleitet und des jeweiligen Redeschlusses (peroratio) beendet. Die Reden in Kapitel II. Abschnitt 2 geben Havels Redeinhalte verdichtet wieder, jedoch korrekterweise in Form der konjunktivischen, anfangs zur Eingewöhnung in einer auch Nichtphilologen vertrauten2 indirekten Rede. Deren Wortlaute – sämtlich in tschechischer Sprache – wurden mehrheitlich der Edition Spisy entnommen. Einige Informationen basieren auf einer Kooperationsvereinba­rung mit der Prager Knihovna Václava Havla o.p.s. (Václav-Havel-Bibliothek gGmbH).

Daneben sollte sich der Rezipient darauf einstellen, dass Havel ungeachtet einer klaren Sprache zu langen Sätzen mit vielen zusammenhängenden, nicht selten etwas verschachtelten Aufzählungen neigt. Sie in der paraphrasierten Wiedergabe formgerecht zu kürzen, würde in vielen Fällen den inhaltlichen und stilistischen Charakter seiner Rhetorik verfälschen. Häufig wäre es auch gar nicht möglich, ohne den Sinn der Aussagen zu verändern oder deren Hin­tersinn zu verdecken. Von dieser komplexen Syntax bleibt dann auch der ana­lytisch-synthetische Teil jedenfalls dort nicht verschont, wo solche Satzgefüge behandelt werden. Doch Havel ist auf Ganzheitlichkeit ausgerichtet und so schreibt er auch. Somit stellen sich seine langen Sätze als das heraus, als was er sie wahrzunehmen wünscht – kleine wohlformulierte Ganzheiten, die sich zu einem kompakten Redeganzen verbinden.

Wie der Titel der Arbeit erkennen lässt, widmet sie sich der analytischen Synthese und Beschreibung dieser ganzheitlichen Strukturen. Um ganzheitli­che Kategorien angemessen erfassen und vermitteln zu können, bedarf es aufseiten des Interpreten sowohl eines für vielschichtige Beziehungsgefüge sensibilisierten Blickes als auch einer zulänglichen multiperspektivischen Dar­stellungsweise. Dadurch erhalten die Leser Gelegenheit, sich auf eine viel­leicht ungewohnte Art der Rezeption einzulassen. So hat es sich beispiels­weise trotz unserer in hohem Maße digitalisierten Welt ausgerechnet inner­halb der Wissenschaft noch nicht etabliert, bei gleichwertiger Informations­güte wahlweise aus gedruckten oder elektronisch hinterlegten Quellen zu zi­tieren. Mithin erscheint es bis heute problematisch, was demnächst zum Standard zählen dürfte: in einer wissenschaftlichen Arbeit ausschließlich di­gitalisierte Texte zurate zu ziehen. Doch in dieser Studie erweist es sich als unumgänglich, bereits häufiger auf internetbasierte Quellen zu rekurrieren. Dies hat drei Gründe: a) einige Quellen sind nur (noch) auf elektronischem Weg zugänglich b) auf manche der hier zitierten tschechischen Quellen lässt sich nur über Webserver zugreifen c) die Erörterung politischer Themen ist auch auf nicht in Printform erhältliche Online-Informationen angewiesen. Eine ganzheitliche Forschung muss sich, um ganzheitlich zu sein, an zukunfts­weisende Trends heranwagen (dürfen). Dies geschieht hier ganz im Sinne Ha­vels, der in seiner Rede unter 2.3 namentlich den Deutschen ein hohes schöp­ferisches Potenzial bescheinigt, das sie zur Erneuerung der globalen mensch­lichen Verantwortung, seines Erachtens dem alleinigen Rettungsanker der zeitgenössischen Welt, beizutragen befähigt.

Somit stellt der formale und inhaltliche Aufbau der Abhandlung dem Leser ein ganzheitliches Rezeptionsspektrum bereit. Er hat die Wahl zwischen dem üblichen sukzessiven, dem ungewohnten parallelen und dem innovativen »kreuz und quer«-Lesen oder deren Kombination. Die Studie ist so konzipiert, die optimale Rezeptionswirkung im Rahmen der kombinatorischen Lesevari­ante zu entfalten. Kapitel II. Abschnitt 2 enthält in chronologischer Reihen­folge (2.1 – 2.24) Havels Reden und Abschnitt 3 in der gleichen numerischen Abfolge (3.1 – 3.24) deren analytische Erörterungen. Daher empfiehlt es sich, Kapitel I. bis Kapitel II. Abschnitt 2 sukzessiv, Abschnitt 3 mit Abschnitt 2 (2.1 vor 3.1, 2.2 vor 3.2 etc.) parallel und Kapitel III. und IV. bei Bedarf rekursiv zu lesen.

Was die Markierungen anbelangt, erscheinen tschechische sowie sonstige fremdsprachliche Elemente in Kursivschrift, Zitate in „Anführungszeichen“, Zitate in Zitaten in einfachen ‚Anführungszeichen‘, Paraphrasen (außer der indirekten Rede), Buchtitel und analoge Textelemente in »Chevrons«. Von mir übersetzte Textstellen, die im Ursprungstext in Anführungszeichen ge­setzt sind, erhalten einfache ›Chevrons‹. Einige kennzeichnungsbedürftige Textstellen, die nicht unter die vorgenannten Fälle einzuordnen sind, werden mit spezifischen ˵Markierungsstrichen˶ versehen. Neologische Worttren­nungen und Komposita verbindet ein gewellter ̴ Bindestrich. Ein in den Fuß­noten in Klammern gesetztes (Vgl.) weist auf einen Passus hin, der eine Mit­telstellung zwischen Zitat und Paraphrase einnimmt. Als Zitat ausgewiesene Textstellen ohne Quellenangabe stammen aus derselben Quelle, die unmit­telbar nachfolgt.

Aus Gründen der Übersichtlichkeit sind die Literaturtitel in den Fußnoten in verkürzter Form angegeben und die Titel tschechischer Quellen, außer von Texten in älteren tschechischen Sprachstufen, nur im Literaturverzeichnis übersetzt.

1 „Kepler war, wie jeder Wissenschaftler, von Intuition geleitet; von Versuch (Hypothese) und Irrtum (empirische Widerlegung). Und er war, wie jeder Wissenschaftler, der etwas Neues sucht und findet, ein Metaphysiker […]. Ohne Intuition geht es nicht […]. Wir brauchen Intuitionen, Ideen und womöglich konkurrierende Ideen […]. Und bis sie widerlegt sind (und wohl auch länger), müssen wir auch fragwürdige Ideen tolerieren. Denn auch die besten Ideen sind fragwürdig.“ Popper, Karl: Alles Leben ist Problemlösen, S. 151 f.

2 Wenn zum Indikativ Präsens der direkten Rede zwischen Konjunktiv II und Präteritum kein kontextuell erkennbarer Unterschied besteht oder der Indikativ im Konjunktiv II eine besonders ungewohnte Form annimmt (kennen – kennten), wird bei solchen Verben die Indikativ-Form beibehalten oder der »würde«-Konjunktiv verwendet. Die Verfahrensweise wird an je einer relevanten Textstelle beispielhaft erläutert. Danach fallen diese Hilfs­kon­struk­­tionen sukzessive weg.

 

„Der Anfang ist die Hälfte des Ganzen.“

Aristoteles

Einleitung

Was unterscheidet einen Staatspräsidenten von anderen Politikern? Pointiert ausgedrückt: Die anderen ergreifen das Wort, er hält Reden. Und was unter­scheidet Václav Havel von anderen Staatspräsidenten? Er hielt Reden und Wort. Darüber hinaus vollzog er in seinem Leben einen spektakulären Rollen­tausch vom Dissidenten zum Präsidenten. Da es in dieser Arbeit um sprachli­che Kom­muni­kation und ihre Wirkungen geht, sei die Wortstammidentität der beiden Begriffe apostrophiert. Die Präfixe prae (vor) und dis (auseinan­der) verbinden sich mit sedere (sitzen) zu praesidere (vorsitzen) und dissidere (aus­einander sitzen). Vorsitzender und abseits Sitzender sitzen dennoch gleichsam im selben Boot. Wer Zufälle als das versteht, was einem zufällt, das heißt zuteil­wird, und nicht als Launen der Natur, den werden solche identifi­zierenden Kom­ple­men­taritäten wie Dis˞sident/Prä˞sident bzw. Diss˞ident/Präs˞ident nicht ver­blüffen, sondern anregen. Sie regen an, auf­schlussreiche (ganzheitliche) Wort­be­deutungen und mithin die »größeren Zusammenhänge« (širší souvislosti), auf die Havel so gern verwies, aufzuspü­ren.

Als Dissident gebrandmarkt saß Havel, von seinem Amtsvorgänger Gustav Husák mitunter nicht so weit entfernt1, in Haft. Jene fünf Jahre verbrachte er unter anderem damit, seine Weltsicht zu reflektieren, fortzuentwickeln und in Form von Briefen an seine damalige Frau Olga der Außenwelt zu offenba­ren. Ob Wille oder Schicksal, ohne seine Dissidentenerfahrung hätte Havel das höchste Staatsamt kaum erklommen. Denn sie verhalf ihm einerseits zur maßgeblichen politischen Identität2, andererseits zur notwendigen Populari­tät. Wenn man so will, reifte er dank seines Gefängnisaufenthaltes zum Staatsoberhaupt heran. Der befähigte Dramatiker inszenierte sein Leben also teils gewollt, teils ungewollt als absurd-sinnvolles, ganzheitliches Drama.

Von klein auf fand er das gebildete gesprochene und geschriebene Wort anziehend. Einer einflussreichen Prager Großbürgerfamilie entstammend las er schon sehr früh philosophische Werke aus der häuslichen Bibliothek und tauschte sich mit dem Philosophen Josef Šafařík (*1907 †1992), einem Freund der Familie, aus. Kaum des Schreibens kundig, versuchte er sich an kleinen Gedichten und Fortsetzungsgeschichten und verfasste bereits im Al­ter von 13 Jahren ein philosophisches Buch.3 Als Siebzehnjähriger erhielt er von dem Philosophen Josef Ludvík Fischer (*1894 †1973) Privatunterricht und begann unter dessen Einfluss philosophische Fragen literarisch zu erör­tern.4 Von ihm dürfte Havel zu seiner ganzheitlich-holistisch orientierten Weltanschauung inspiriert worden sein, von der noch die Rede sein wird. Fi­scher soll die Auffassung vertreten haben, dass jedwede Philosophie von Me­taphysik durchwoben sei. Dem Pragmatismus nahestehend, habe er an die Formbarkeit der Realität sowie die »Ungeschlossenheit« der menschlichen Wahrheiten, wie auch an die Identität von Subjekt und Objekt geglaubt. Letzt­lich habe Fischer angenommen, dass sich alles mit allem verbinde, alles mit­einander korreliere und alles eine miteinander verwobene Einheit bilde. Des­halb sei es angebracht, von einer Ganzheit der Wirklichkeit zu sprechen. Sein Hauptinteresse soll der Formulierung einer eigenen strukturalen Philosophie gegolten haben, die an diejenigen strukturalistischen Theorien anknüpfe, die dem Ganzen vor den einzelnen Teilen den Vorrang einräumten.5

Mithin überließ sich Havel bereits in früher Kindheit der Welt der Sprache und machte sie zeitlebens zu seinem Anliegen. Ob nun am Anfang das Wort oder der Klang6 war, an Havels Anfang war jedenfalls das Wort – und blieb bis zu seinem »Abgang«7. Havel favorisierte das Wort der Wortkunst und das der Redekunst und um Sprachstile einzuschließen, namentlich den wissenschaft­lichen Funktionalstil, die eine spezifische Kunstfertigkeit erfordern, ohne den Künsten zugeordnet zu werden8, das der sprachlichen Darstellungs- oder Performanzkunst. Er entwickelte jedoch nicht nur eine Vorliebe für den äs­thetischen Ausdruck. Gleichzeitig fühlte er sich in hohem Maß ethischen Grundsätzen, der Tugendhaftigkeit, verpflichtet. Sein Anspruch an sich selbst schien der zu sein, als zeitgenössischer vir bonus zu wirken und dank seines Bekanntheitsgrades eine weitreichende Vorbildfunktion auszuüben. Das vor allem in der römischen Antike hoch geachtete Idealbild des vir bonus kenn­zeichnete eine gebildete, integre, moralpolitisch9 über jeden Zweifel erha­bene, wahrhaftige Person, die sich gewandt auszudrücken versteht. Dies sind Attribute, die Havel, wie aus seinem Lebenswerk, aber auch seinen Auszeich­nungen und Ehrungen hervorgeht, schätzte und zweifellos besaß. Havels sprachlicher Impetus, seine Rhetorik, lässt sich demnach nicht von seiner prägnanten ethischen Gesinnung trennen. Ethik und Rhetorik sind bei ihm eins. Auf der Suche nach Merkmalen seiner präsidialen Reden legt also die Ethik eine wichtige Spur. Die Ethik scheint sich bei ihm zum Modus Operandi ausgebildet zu haben. Seine verbal formulierte ethische Gesinnung war be­tont pragmatisch, wenn auch nicht frei von philosophischen und metaphysi­schen Erwägungen. Mit der Philosophie setzte er sich in ständiger Reflexion ihrer praktischen Anwendung auseinander. Tugend erachtete er für lehrbar und lernbar, seine Explikationen trugen häufig didaktische Züge. Havel ver­stand Tugend im Sinne der aretḗ, der Vortrefflichkeit. Ihm lag sehr daran, eine verantwortungsvolle und gerechte Verhaltensweise mit hohen geistigen und charakterlichen Qualitäten zu verbinden. Hierbei griff er das Gedankengut namhafter hellenischer Denker auf, die das höchste menschliche Gut, den wahren Sinn des Lebens, in der Glückseligkeit (eudaimonia) sahen und die von manchen von ihnen mit der Arete gleichgesetzt wurde. Zwischen der A­rete, ihrem Leitbegriff der Ethik und den Grundtugenden wie Besonnenheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Weisheit, stellten sie einen unmittelbaren Zu­sammenhang her.10 Weil Arete, Eudämonie und vir bonus letztlich konzent­risch-zirkulär und damit ganzheitlich auf das Gute, ja Beste in und für Men­schen abstellen, machte es sich Havel zur Lebensaufgabe, sein Wirken an die­sen ethischen Idealen auszurichten.

Somit erschloss sich Havel vorrangig die tugendhaften Facetten einer indi­viduellen Ganzheit. Befähigte ihn dies gegenüber anderen zu einer ganzheit­licheren Sicht der Dinge? Allein die ethisch-rhetorische Seite des Phänomens Václav Havel wurde bislang, soweit bekannt, nicht erforscht und versprach daher neue aufschlussreiche Erkenntnisse. Letztlich richtete sich das Augen­merk jedoch auf die Frage, ob die Havelsche Rhetorik holistische Züge trägt. Auf vorhandene Forschungsliteratur konnte dazu nicht zurückgegriffen wer­den. Die Herausforderung dieser Abhandlung bestand demnach in dem Vor­haben, anhand Havels präsidialer Reden Merkmale einer holistischen (politi­schen) Rhetorik herzuleiten. Dadurch bleiben aber auch die Rezipienten die­ses Unterfangens von Herausforderungen nicht verschont.

Was holistische Strukturen kennzeichnet, fällt schwer zu definieren, da der menschliche Intellekt Ganzheitlichkeit nur vage zu erfassen vermag. Ho­lismus, so der Duden, ist die „Lehre, die alle Erscheinungen des Lebens aus einem ganzheitlichen Prinzip ableitet.“ Somit übersetzt er holistisch mit »ganzheitlich«. Die Begriffe sind jedoch inhaltlich nicht deckungsgleich, eine holistische Struktur unterscheidet sich von einer ganzheitlichen durch höhere Komplexität. Demzufolge darf hier »ganzheitlich« und »holistisch« vorerst sy­nonym verstanden werden, wobei bis zum dritten Kapitel »ganzheitlich« pri­orisierte Verwendung findet. In Kapitel III. wird der Unterschied zwischen ei­ner ganzheitlichen und einer holistischen Funktionalität dargelegt, sodann in Beziehung zu einer holistischen Rhetorik gesetzt und in Kapitel IV. mit Havels Beredsamkeit abgeglichen. Ein Ganzes, das zugleich ein Teil eines anderen Ganzen ist, wird als »Holon« bezeichnet. Der Leser wird um Verständnis ge­beten, dass sich ein noch weithin unerschlossenes Forschungsgebiet stellen­weise einer Terminologie bedienen muss, die lexikalisch noch nicht etabliert sein mag. Neue Erkenntnisse bedürfen, um sprachlich integriert werden zu können, mitunter neuer Begriffe. Insbesondere auf technologischem Gebiet vollzieht sich dieser Prozess kontinuierlich. Doch ob »Auflaufkind«, »default­mäßig«, »euroskeptisch«, »googeln«, »Ich-AG«, »Luftgitarre«, »Smart­phone«, »voipen« oder »Zeitfensterticket«, des Menschen Neologismen-Be­darf wird in der Regel zeitnah gedeckt.

Das Prinzip des Ganzheitlichen bestimmt nicht nur notwendigerweise den Inhalt der Studie, sondern beeinflusst ferner unweigerlich ihren Aufbau. Da­hin gehend verfolgt sie das Ziel, am Ende die Grundstruktur ihrer ganzheitlich-holistischen Verbundenheit aufgezeigt zu haben. Mithin tritt die Wechselbe­züglichkeit der einzelnen Abschnitte erst nach und nach zutage. Daher sei an dieser Stelle mit Aristoteles vorausgeschickt: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.

1 In Prag-Ruzyně und Prag-Pankrác.

2 Sozusagen »Präsidentität«. Was wie ein bloßes Wortspiel anmuten mag, besitzt einen prag­ma­tischen Hintergrund: 1. Identität war einer von Havels Leitbegriffen 2. Zu seiner wahren Identität fand er als Präsident.

3 Vgl. Václav Havel – Rozhovory s Karlem Hvížďalou, S. 28

4 Vgl. Keane, John: Václav Havel, S. 111

5 Vgl. http://www.phil.muni.cz/fil/scf/komplet/fisjl.html Stand: 01/2016

6 Vgl. Berendt, Joachim-Ernst: Nada Brahma – Die Welt ist Klang, S. 68

7 Havel benannte sein letztes Drama von 2007 Odcházení (Der Abgang), das am 22.05.2008, fünf Jahre nach seiner im Februar 2003 beendeten Präsidentschaft, in Prags Archatheater urauf­geführt wurde.

8 Wer würde – um ein markantes Beispiel herauszugreifen – Aristoteles‘ zeitloser Hinter­las­sen­schaft den Kunst-Status absprechen wollen, zumal gerade jener darauf abstellt, dass im Gegensatz zur Natur alles, was von menschlicher Hand entsteht, Kunst sei.

9 Zu berücksichtigen wäre, dass Moral ein relatives Verhaltensmuster darstellt, das auf gesellschaftlich zugrunde gelegten Normen eines bestimmten Kulturkreises und Zeitraums basiert und zeitgleich von Gesellschaft zu Gesellschaft durchaus unterschiedlich sein kann.

10 Vgl. Höffe, Otfried/Rapp, Christof: Tugend, Sp. 1538 in: Historisches Wörterbuch der Philoso­phie, Band 10

„In den meisten Din­gen ist der Mittelweg am besten.“

Cicero

I. Im Licht der Traditionen

In Kenntnis seines von Kindesbeinen an erwachten und geförderten philoso­phischen Interesses erscheint es geboten, zunächst den Wurzeln nachzuspü­ren, die Havels Weltsicht fundierten. Angesichts Havels vielschichtiger Intel­lektualität nehmen sich diese Wurzeln geradezu plexiform (geflechtartig) aus. Wessen Werke die familiäre Bibliothek im Einzelnen enthielt, bleibt unge­klärt. Dennoch erinnert sich Havel, schon als Zehnjähriger Bücher von Masa­ryk, Čapek sowie das Wochenblatt Dnešek (Das Heute/Die Gegenwart) des Publizisten Peroutka gelesen zu haben.1 In frühem Jugendalter habe ihn am tiefsten Josef Šafařík2 beeindruckt, dessen Erstlingswerk Sedm listů Melinovi (Sieben Briefe an Melin) er zu seiner persönlichen Bibel erkor. In dem Buch, einer Essay-Sammlung, gehe es um die »Machtübernahme« des Positivismus über die Religion3, wobei keines der beiden die Ganzheit der Welt zu erfas­sen vermag.4 Šafařík bevorzugt in seinen Arbeiten den Essay, inhaltlich und diskursiv eine Mischung aus Philosophie und Literatur. Thematisch verfolgt er stets die Beziehung des Menschen zur entpersönlichenden und entmenschli­chenden Macht, wodurch seine Nähe zum europäischen Existenzialismus so­wie zum tschechischen Dissidententum spürbar wird. Havel bleibt er bis an sein Lebensende freundschaftlich verbunden.

»Allerdings kann es der Wissenschaft und der Theologie gelingen, miteinander friedlich auszukommen, wenn sie – jede für sich – ihrer Gedankenwelt nachgehen. Aber wie soll es Frieden zwischen dem der modernen Naturwissenschaft verhaf­teten Verstand und dem sich zum Himmel emporstreckenden Herzen geben, wenn sich beide – der Verstand und das Herz – vorgenommen haben, sich in ei­nem Körper, in einem Geschöpf niederzulassen und um die Herrschaft darüber zu ringen?«5

Zu den Literaten Eduard Bass, Václav Černý, Paul Eisner, Olga Scheinpflug und Edvard Valenta pflegt Havel schon in jungen Jahren KontakteaHhahHh.6 Sie alle sind damals bereits namhafte Persönlichkeiten fortgeschrittenen Alters, er ein in­tellektuell agiler Jugendlicher. Die Ansichten dieser Erwachsenen, die damals noch gesellschaftlich-kulturell, aber auch politisch Ansehen genießen, nimmt er wissbegierig auf. Ihn interessieren jene, die substanziell etwas zu sagen haben, auf die man hört, denen respektvoll begegnet wird. Derart verläuft in jenem Land zu jener Zeit eine tschechische Kindheit nur selten und der reife Havel weiß7, wie massiv sich der Einfluss der Umgebung in jungem Alter auf die individuelle Entwicklung8 und Weltanschauung auswirkt. Er bekennt, dass sein Lebensweg, einschließlich seiner Art zu schreiben, von seiner »groß­bourgeoisen« Herkunft beeinflusst worden sei. Seiner privilegierten Lebens­verhältnisse – seine Eltern beschäftigten Dienstpersonal, für ihre Söhne eine Gouvernante – habe er sich geschämt und deren egalisierende Beseitigung herbeigesehnt. Denn seinerzeit komme es ihm vor, als sei er von seinem so­zial schwächeren Umfeld wie durch eine unsichtbare Wand getrennt und hierdurch paradoxerweise einsam, minderwertig, verloren, ja verspottet.9 Durch die Kombination von einstiger Bevorrechtigung und nachfolgender Dis­kriminierung seitens des kommunistischen Systems habe er sich unweigerlich dem absurden Theater zugewandt.

Nichtsdestoweniger hängt für ihn die Geisteshaltung des Einzelnen von den gesellschaftlich-kulturellen Ideologien, Normen, Überzeugungen und Traditionen ab. Gerade dieser Aspekt scheint in Havels Äußerungen deutlich hindurch. Makrosystemische Meme (Bewusstseinsinhalte) beeinflussen zu­meist indirekt, dafür umso nachhaltiger. So überdauern Traditionen einen langen Zeitraum und bestimmen das Denken, Handeln und Verhalten gene­rationsübergreifend andHmit. Als besonders beständig und modifikationsresistent erweisen sich die religiösen Feier- und Gedenktage und die damit verbunde­nen Riten.

Nachfolgend seien jedoch Traditionen skizziert, die auf subtilere Weise das Gedankengebäude zu formen vermögen. Deren Überlieferung erfolgt nicht auf dem »volkstümlichen« Weg. Diese Traditionen sind vielmehr Grund­lage des kulturellen Gedächtnisses. Auf die »intellektuellen« Traditionen tschechischer Provenienz übertragen gilt es herauszufinden, durch wen sie in Havels Welt- und Selbstverständnis gelangten.

1 Havels philosophischer Hintergrund

Natürlich kann sich hier nicht die Frage nach einer rein tschechischen Philo­sophie stellen. Schließlich wurzelt alle europäische »Weisheitsliebe« zu­nächst in der antiken philosophia. Um die tieferen geistigen Schichten in Ha­vels Aussagen zu ergründen, sollen hier vielmehr namhafte tschechische Phi­losophen, die Havels Denken Impulse verliehen haben dürften, mit ihren ein­schlägigen grundlegenden Ansichten skizziert werden. Denn in dieser Studie geht es vornehmlich darum, größere Zusammenhänge aufzuspüren und of­fenzulegen.

Welche Schriften tschechischer Denker Havel als Heranwachsender gele­sen hat, lässt sich nur soweit ermitteln, wie er sich selbst dazu äußerte bzw. wie es aus Texten zu rekonstruieren gelingt. In seinen eigenen Aussagen fin­den sich dazu nur spärliche Angaben. Dagegen besteht kein Zweifel, dass ihm schon früh viele Hauptwerke tschechischen Denkens ebenso vertraut sind wie die Biografien, Überzeugungen und Wertvorstellungen der Protagonisten dieser Denkart. Jene, die mit den Ideen eines der berühmtesten Söhne des tschechischen Volkes, Jan Hus, in Verbindung gebracht werden, sind, wie auch Hus, weniger Philosophen denn reformatorische Theologen: Jan Milíč z Kroměříže (Johannes Milicius *1320–25 †1374), Matěj z Janova (Matthias von Janov *1350–55 †1393), Jan Hus (Johannes Huss *um 1370 †1415) und Petr Chelčický (Peter von Cheltschitz *1380–90 †1452–60) verkörpern für die Tschechen herausragende Symbolfiguren des nationalen Reformgeistes. Sie alle sind mutige Kirchenmänner, die sich im Geist der Zeit berufen fühlen, vor allem die herrschenden geistlichen und gesellschaftlichen Missstände (Ab­lasshandel, Korruption, Machtmissbrauch, Simonie, Sittenverfall) öffentlich anzuprangern und einschneidende Reformen einzufordern. Ihr kritisches Denken zielt von Beginn an auf die defizienten gesellschaftlichen und religiö­sen Praktiken ab. Hus und Chelčický lassen sich bei ihren kritischen Mahnru­fen maßgeblich von dem britischen Theologen und Philosophen John Wyclif(f[e]) (*1330 †1384) inspirieren, der den politischen Machthunger des Klerus verurteilt und dessen Streitschriften tschechische Studierende um die Jahrhundertwende aus Oxford nach Prag mitbringen.10 Insbesondere „[…] weckt Wycliffe in Hus die Begeisterung für ein Anliegen, eine ‚Wahrheit‘, für die er bereit ist, in Konstanz sein Leben zu geben.“11 Hus‘ vielleicht wichtigs­tes Werk, die Postila aneb vyloženie svatých čtení nedělních (Postille oder die Auslegung der heiligen Sonntagspredigten), eine tschechischsprachige Sammlung seiner Predigten, die er während seiner von Papst Johannes XXIII. angeordneten Verbannung zusammentrug, enthält unter anderem eine Pre­digt über Das Unkraut auf dem Acker. Allein in dieser knappen Exegese des Matthäus-Gleichnisses 13, 24–3012 führt er das Wort »Wahrheit« wiederholt an. Es wird zu seinem Wahlspruch. Die seit 30.03.1920 die Flagge des tsche­choslowakischen und nunmehr tschechischen Präsidenten zierende Devise »Die Wahrheit siegt« (Pravda vítězí) wird deshalb auf Hus zurückgeführt. Doch die Phrase geht ursprünglich aus dem dritten Kapitel13, Satz 12, des apokryphen 3. Buches Esra14 aus der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr. hervor. Hus‘ im Juni 1413 an Jan Kardinál z Rejnštejna (Johannes Cardi­nalis von Bergreichenstein) gerichtetes Schreiben enthält den Satz Nade vším vítězí pravda (Die Wahrheit siegt über alles). Mit den Worten »Bleibt stand­haft in der erkannten Wahrheit, die alles besiegt und auf ewig Kraft besitzt« (Stůjte v poznané pravdě, která vítězí nade vším a sílu má až na věky)15 wen­det er sich aus seinem Konstanzer Kerker am 27.06.1415, zehn Tage vor sei­nem gewaltsamen Tod, mit einem ähnlichen Appell an Angehörige der Karlsuniversität.

Während Jan Milíč z Kroměříže vom »Vater der Nation« (otec národa) František Palacký zum »Vater der tschechischen Reformation« (otec české reformace) erklärt wird und Matěj z Janova als Wegbereiter der hussitischen Bewegung sowie des europäischen Glaubensstreits gilt16, erhält Jan Hus post­hum die Märtyrer-Weihe. Die Transformation vom Ketzer zum »Nationalhei­ligen« ähnelt fast sechs Jahrhunderte später der des Dissidenten zum Präsi­denten. Die Tschechen verbinden seinen Namen mit dem doppeldeutigen Ti­tel mistr (Meister), der einerseits seiner universitären Lehrberechtigung als Magister Artium (mistr svobodných umění) Rechnung trägt und andererseits eine latente Assoziation mit den sogenannten »Aufgestiegenen Meistern« (vzestoupení/nanebevzatí mistři)17 durchklingen lässt. Petr Chelčický schließ­lich, der „heilige Narr“18 unter den vier Altvorderen, verficht „gleichermaßen radikal wie naiv“19 eine anarchische, gewaltfreie und damit pazifistische Welt.20 Auch er ist ganz und gar vom „Licht [der] Weisheit“21 und von Wahr­heit erfüllt. Der Topos der Wahrheit steht also von Beginn an im Mittelpunkt tschechischen Denkens.

Einen breiteren Raum als die Postulate der zuvor Genannten verlangt das Reformprogramm des Jan Ámos Komenský (Johann Amos Comenius *1592 †1670). Ihm, der zu den herausragenden Persönlichkeiten seiner Zeit zählt, ist bedenkenlos die Rolle eines Philosophen zuzuerkennen, obwohl er sich selbst lediglich als Theologe bekennt.22 Komenskýs beachtenswertes Wir­kungsfeld umfasst jedoch mehr als die beiden Gebiete. Den Nimbus eines Universalgelehrten verdankt er dem Umstand, sich darüber hinaus sprach­lich, pädagogisch, politisch, linguistisch, naturwissenschaftlich und epistemo­logisch eingebracht zu haben. Allerdings begegnet er der Bezeichnung Po­lyhistor mit Vorbehalt.23 Wissen um des Wissens willen sei der menschlichen Willkür ausgesetzt. Auch er positioniert sich betont praxisbezogen. Das Ver­ständnis der Sinnzusammenhänge habe Vorrang vor Alleswisserei. Wahres Wissen stehe im Dienst des Wohles von Mensch, Tier und Natur, mithin in dem der Besserung der Lebensverhältnisse und Mehrung der Humanität.24 Unermüdlich im Einsatz, verfasst Komenský insgesamt etwa 250 Bücher, Ab­handlungen, Polemiken, theologische Werke, Traktate, Trostschriften u. a. Unterdessen reist er durch Europa, verehelicht sich dreimal, zeugt sechs Kin­der, erlebt Verfolgung, Flucht, Auswanderung und das Elend des 30jährigen Krieges, steht als letzter Bischof der »Brüderunion« (Jednota bratrská) vor, predigt, leitet eine Schule, lehrt, gibt Privatunterricht, führt eine rege Korres­pondenz mit Kollegen, Gleichgesinnten, Bewunderern und Kritikern, erleidet schwere Schicksalsschläge, schreibt Tagebücher, kümmert sich um die Mit­glieder der Unität und berät Regierungen. Zeitlebens hegt er eine unerschüt­terliche Hoffnung auf allumfassende Verbesserung (Panorthosia) zum Wohl aller. Sie dient ihm als Durchhalteparole, Lebensprinzip und Motivator. Sein häufiger Gebrauch der Vorsilbe »Pan-« weist auf ein ganzheitliches Denken hin.

Komenský lebt und wirkt während der Umbruchphase der frühen Neuzeit, in der Gegensätze aneinanderprallen, sich Überkommenes verabschiedet und Neues entsteht. Diese Wende gestaltet er aktiv mit. Obgleich er durch seine systematisierenden pädagogischen und didaktischen Beiträge zum »Lehrer der Nationen« (učitel národů) arriviert, eine an Aristoteles erin­nernde Bezeichnung, die auf eine nationale Grenzen transzendierende Auto­rität ver­weist, will er seine pädagogische Tätigkeit als die eines Theologen verstanden wissen. Komenský identifiziert sich mit dem »Pansophen«, einem Menschen, der nach den Maßgaben seiner Philosophie, der Pansophia (All­weisheit), denkt und handelt. Seine Pädagogik entspricht pansophischer Weis­heitslehre. Die Pansophie basiert auf einer triadischen Struktur allen Seins: Gott (Religion) – Mensch (Politik/Kunst) – Natur (Wissenschaft).25 Be­findet sich die Welt in irdischer Normalität, so herrschen paradiesische Zu­stände und Allharmonie (Panharmonia). Da der Mensch seinen Lebensraum in Disharmonie versetzt, lebt er in Chaos, Gewalt, Not, Unglück, Unmoral und Zerstörung. Um die von ihm depravierte Welt in den gottgefälligen Zustand paradiesischer Verfasstheit zu(rückzu)führen26, bedarf es der pansophischen Unterrichtung, einer ganzheitlichen Erziehung zur Ganzheit. Zwar sei jeder Mensch von Natur aus zur Bildung und Moralität veranlagt.27 Diese Veranla­gung liegt jedoch aufgrund des Sittenverfalls brach und muss durch erziehe­rische Maßnahmen reaktiviert und entwickelt werden. Komenský konsta­tiert, dass Mensch, Kirche und Politik verbesserungsbedürftig seien und glaubt, die politische Erneuerungsfähigkeit sei maßgeblich durch (schulische) Edukation zu erreichen. In seiner »Großen Didaktik« (Didactica magna), einer an die Lehrenden gerichteten Unterweisung in der vollständigen Kunst, allen Menschen alles beizubringen,28 bezieht Komenský »alles« Wissen, sprich das »Wissen des Ganzen«, pansophisch auf jenes, das der Verbesserung (emen­datio), das heißt Harmonisierung und Befriedung der Welt dient.29 Getreu seinem triadischen Weltverständnis führt der Weg zur Allweisheit über das – in graphischer Darstellung innerhalb eines Kreises befindliche – »Dreieck der Weisheit« aus der harmonischen Verbindung von Realien, Sprache und rech­tem Tun (ratio-oratio-operatio) bzw. Geist, Zunge, Hand (mens-lingua-manus). Diese universale Weisheit (universalis sapientia) entfaltet sich dem­nach in der Erziehung im Denken, Reden und ‚gebührlichen Gebrauch‘ (theo­ria, praxis, chresis) ‚im Umkreis von allem und in steter Rücksicht auf das Ganze‘30. Komenský entwirft wohl erstmals eine angewandte Ganzheitsphi­losophie. Comenius-Forscher Schaller kleidet sie in folgende Worte:

„Das Ganze liegt dem Menschen offen vor Augen. Das real, mental und verbal Seiende ist vor ihm ausgebreitet auf den drei Schaubühnen Welt, Geist und Hlg. Schrift; wie in drei Büchern kann er in ihnen lesen […]. In diesen drei Büchern ist alles enthalten. […] Der Mensch ist ein Mikrokosmos, in dem eingefaltet alles zu finden ist, was ausgebreitet die Welt im Ganzen (Makrokosmos) erfüllt. Was in dem ersten Buch noch dunkel ist, kann beim Lesen des zweiten aufgehellt wer­den; das dritte, die Hlg. Schrift bietet vollkommene Klarheit. Zum Lesen in den drei Büchern sind dem Menschen drei ›Augen‹ gegeben: die Sinne, Verstand oder Vernunft, der Glaube. So ist um Gottes, der Welt und des Menschen willen Panso­phia nötig, möglich und für den, der sich auf das Ganze einlässt, auch leicht zu erlangen.“31

Die Welt ist folglich ein Ganzes und auch der Mensch. Die Welt verkörpert es im Großen, der Mensch im Kleinen. Die All˞Weisheit gleiche einem Licht, das dem Pansophen in Vergegenwärtigung des Einsseins von Subjekt und Objekt aufgeht. Die Lichtmetapher erscheint Komenský als ein probater Behelf zur Veranschaulichung seiner pansophischen Vorstellungen. Im Jahr 1640 bitten ihn seine englischen Freunde nach London zu kommen, um dem dortigen Par­lament erzieherische und philosophische Impulse zur Konstituierung einer höheren Bildung zu geben. Sein Besuch soll mit der Gründung der Gelehrten­vereinigung Collegium lucis einhergehen, die anhand einer Schulreform das pansophische Gedankengut zu vermitteln und hierdurch die »allgemeine Er­leuchtung« herbeizuführen gedenkt. Eigens für seinen Auftritt vor dem Par­lament verfasst er die Schrift Via lucis (Der Weg des Lichtes).32 Den Repräsen­tanten dieses »Kollegium des Lichtes« obliegt es ‚das Licht der Weisheit über sämtlichen Völkern und Geisteshaltungen (per universas gentes et mentes) auszubreiten, es stets zu vergrößern und zu verbessern‘ […]. ‚Ihr besonderes Augenmerk gilt den Werkstätten des Lichtes, den Schulen, damit diese bei allen Völkern […] eröffnet, als eröffnete behütet und als behütete vom im­merwährenden Lichte erleuchtet werden‘33. Komenský setzt sich insistent für eine ganzheitliche Bildung ein.

Was will er erreichen, was sind die zentralen Intentionen seiner visionären Sehnsucht? Zeit seines Lebens beflügelt ihn die hehre Idee des wissenschaft­lichen, politischen und theologischen Zusammenspiels zur Förderung eines allumfassenden Menschenwohls. Weltumspannende Harmonie, Weltfrie­den, „freie Bürger eines freien Weltstaates“34, „unbegrenztes Ineinander von schöpferischer Macht, lenkender Weisheit und sinnerfüllender Güte“35, wechselseitige Verflochtenheit des Empfindens, Sprechens und Handelns im Wissen der Ganzheitlichkeit36, das sind die Grundpfeiler seiner kosmopoliti­schen Vision. Diese Ziele gleichen jenen Václav Havels. Vergleicht man Havels Schriften und sein präsidiales Äußern mit den grundlegenden Anliegen tsche­chischer Denker nach Komenský, so teilt er seine durchaus humanistische Einstellung auch weitgehend mit Bernard Bolzano, Jan Evangelista Purkyně, Augustin Smetana und Karel Havlíček. Und natürlich fühlt er sich besonders T. G. Masaryk, der populärsten tschechischen Persönlichkeit nach Kaiser Karl IV.37, verbunden.

Bolzano (*1781 †1848), ein Prager Philosoph und Religionswissenschaft­ler, tritt leidenschaftlich für die »bohemistische« Lösung des Zusammen­wachsens der tschechischen und deutschen Bevölkerung zur böhmischen Na­tion ein, was ihm angesichts der damaligen nationaltschechischen Aufbruch­stimmung zum Verhängnis wird. Bereits vom Elternhaus auf freiheitliches, egalitäres und brüderliches Miteinander eingestimmt, fordert er „eine radi­kale Reform der Gesellschaft in Richtung auf Gleichheit und soziale Gerech­tigkeit.“38 Dem „Gemeingeist, Einigkeit und Liebe“39 zugetan, ruft er die Wis­senschaft auf, „zum geistig-moralischen Fortschritt der Menschheit beizutra­gen“.40 Das menschliche Glück offenbart sich ihm in der Integration der Ge­gensätze.

„Wer weiß, was aus uns werden könnte, wenn wir statt Haß und Zwietracht unter uns zu nähren, freundschaftlich uns die Hände böten? wenn wir das Gute, das jedem Theil eigentümlich ist, allgemein machten? […] wenn wir soviel als möglich suchten, die beiden Volksstämme so mit einander zu verschmelzen, daß endlich nur ein einziger aus ihnen würde? […] Gerade der Umstand, daß wir ein aus so ungleichartigen Bestandtheilen zusammengesetztes Volk sind, gerade dieser Um­stand würde […] uns zu einem der glücklichsten Völker von Europa erheben.“41

Bolzano bekennt sich zum Universalismus, den er als Gemeinwohl und mora­lische Kategorie bezeichnet. In seinen posthum herausgegebenen Paradoxien des Unendlichen vertritt er unter anderem die Meinung, dass „jede Substanz in der Welt mit jeder anderen im steten Wechselverkehr stehe.“42 Er hat ›das mögliche Wohl des Ganzen‹43 durch Tugendhaftigkeit vom Bedeutungsgehalt der Arete im Sinn.

„Aber ganz anders findet man die Sache, wenn man dem letzten Zwecke nach­frägt, auf dessen Erreichung am Ende alles, was Tugend heißt, abzielen muß. Dann leuchtet nämlich ein und läßt sich streng erweisen, dies sei und könne kein ande­rer sein als die Glückseligkeit des Ganzen. […] Kann es etwas Größeres, etwas Wichtigeres, etwas des Strebens Werteres geben als Glückseligkeit, und zwar die Glückseligkeit nicht eines einzelnen Wesens, sondern des Ganzen?“44

In einer Zeit, in der sich entzweien will, was Bolzano und seinen Gesinnungs­genossen zufolge zusammengehört, wird er von seiner Professur suspendiert und mit Berufsverbot belegt. Einer, der sich aufmacht, die „universellen Spra­chen der Moral“45 zu lehren, wird mundtot gemacht. Bolzano ist ein tschechi­scher Denker, der sowohl das konkrete politische und gesellschaftliche Ganze im Sinn hat, als auch den Mikrokosmos des ganzheitlichen Menschen, der nur im »holistischen« Bewusstseinszustand glücklich zu sein vermag.

Nahezu fünfzig Jahre später stellt erneut ein tschechischer Hochschulleh­rer, diesmal ein philosophisch bewanderter Physiologe, die Frage der Moral auf ähnliche Weise zur Diskussion. Auch Purkyně (*1787 †1869), ein unge­wöhnliches Multitalent, dessen vielseitiges kultur-, wissenschafts- und bil­dungspolitisches Engagement ihm zu internationalem Ansehen verhilft, sucht nach humanistischen Lösungen für die fortgeschrittene nationale Wiederge­burt. Für seinen anno 1867 kurz vor seinem achtzigsten Lebensjahr verfassten Aufsatz Austria polyglotta wählt er den Leitspruch „Nur der Geist ist es, der alle Gegensätze versöhnt“. Damit knüpft er nahtlos an Bolzanos seinerzeit utopisch anmutende integrale Sozialvision an und erntet, wie jener, von bei­den Seiten, der deutschen und der tschechischen, harsche Kritik. Als Befür­worter der emanzipatorischen Bewegung, aber zugleich loyaler Monarchist, wagt er aufgrund seines hohen Renommees und Alters allerdings einen grö­ßeren Schritt. Während sich Bolzano auf Gesellschafts- und Verfassungskritik beschränkt, bezieht Purkyně darüber hinaus die politische Exekutive ein. Seine an ein Vermächtnis erinnernde Abhandlung lässt er in Märchenform gattungsuntypisch pessimistisch ausklingen. Allerdings nicht ohne sich zuvor entschieden für die „Politik der Liebe“ verwendet zu haben. Purkyně meint, dass den nationalen Zerwürfnissen, die in der „Vernachlässigung des reinen Gefühls der Humanität“46 gründen, durch eine vernunft- und weisheitsgelei­tete Liebe zu begegnen sei. Diese Liebe bedürfe einer einfühlsamen morali­schen Bildung, sie müsse von den herrschenden Ständen ausgehen, um der „Sittlichkeit des ganzen Volkes“ als Vorbild zu dienen; denn der Mensch sei „ein im hohen Grade nachahmendes Geschöpf.“47 Idealerweise sollte das „Motiv der Liebe“ des Volkes zu seinem Vaterland, zur Menschheit und Ge­rechtigkeit auf dem „unbedingten Vertrauen in den guten Willen und den ho­hen Verstand der Anführer“ beruhen. Dies sei bislang in keinem Reich der Erde gelungen. Käme es jedoch dazu, gliche es einem „Erfolg der höchsten moralischen und intelligenten Kultur.“48 Die Idee der Liebe oder Humanität sieht er in den sich über Europa ausbreitenden Freimaurerbünden aufkei­men.

„Aber auch ohne solche Hilfe bahnt sich die Humanität den Weg in das öffentliche Leben, in alle Institute der Regierung, bis in die Köpfe der Herrscher und erringt sich einen Einfluss auf alle Staatsverhältnisse, auf die Gerichte, auf das Kriegsheer und auf die internationale Politik. Das lieblichste Bild, die Aussicht auf den ewigen Frieden und auf die Versöhnung der Nationen, gewährt uns die allmähliche Nähe­rung der Nationalkulturen.“49

Erneut artikuliert sich hier das Ethos der Ganzheit, nähern sich doch die nati­onalen Teile zusehends einem Ganzen an. Ganzheit und Humanität bilden auch hier eine Einheit.

Obwohl er weder in den »TOP 142« der bedeutendsten Tschechen auf­taucht, noch anderweitig von tschechischer Seite größere Beachtung findet50, scheint auch sein Zukunftsszenario Havels gesellschaftliches und politisches Konzept vorwegzunehmen. Die Rede ist von Augustin Smetana (*1814 †1851), abermals einem theologisch ausgebildeten, philosophisch weiterge­bildeten und an der Karlsuniversität lehrenden Humanisten, der von Insidern als einer der größten tschechischen Philosophen51 gehandelt wird. Auch er steht mit seiner Vision einer universell verbrüderten Welt, die sich durch das „Licht des Geistes“52 aus der Finsternis der unheilvollen Zwietracht befreit, damit „die Freiheit, die Bildung, die Humanität und die Liebe“ in der neuen „Welt des Lichtes“53 aufgehen, Bolzanos Erwartungen sehr nah. Auf François Fénelons »Ich liebe meine Familie mehr als mich selbst, mein Vaterland mehr als meine Familie und das Universum mehr als mein Vaterland«54 rekurrie­rend, hält Smetana Böhmen für einen „Vorgriff oder Muster für die Ordnung der ganzen Welt“ und betrachtet den Universalismus als ‚Freiheit‘ und „Gang der Weltgeschichte“.55 Im Ganzen Europas erblickt er einen Katalysator zwi­schen der finsteren alten und der lichten neuen Weltordnung „zum Wohle des ganzen Geschlechtes“56. Die Slawen sind ihm Träger der „Idee der Liebe“57 und die Tschechen Mittler zwischen den deutschen und slawischen Völkern. Wollte man Smetanas oberste Maxime in drei Worte kleiden, so hieße sie »Freiheit in Liebe«. Die Bedeutung seiner Zeit sah er in dem sich in der Schlussphase befindlichen Prozess des Übergangs der Religion zur schöp­ferisch-künstlerischen Tätigkeit sowie des Rechts zur Regelung der gesell­schaftlichen Beziehungen auf der Grundlage einer allgemeinen Liebe.58

„Der Inhalt des Rechtes und der Liebe ist derselbe: das Verhältnis des Menschen zum Menschen. Im Rechte stehen die Menschen einander entgegen; die Liebe vereinigt sie. […] Der Mensch der Vergangenheit war fremd seinem Mitmenschen, sein Recht war ihm näher; in der Zukunft wird dem Menschen auch der Fremdling wie der liebe traute Angehörige sein. Der Uebergang nun aus jener Vergangenheit in diese Zukunft, aus dem Rechte in die Liebe geschieht durch die Erkenntnis, die das Recht als Unrecht nachweist und die Liebe zur Macht erhebt; durch die Er­kenntnis, daß die Menschen alle dem göttlichen Sein nach Ein und dasselbe We­sen sind, welches nur für dieses Leben durch das Irdische für viele gesondert er­scheint; […].“59

Mitte des 19. Jahrhunderts müssen Gymnasiasten abschließend ein zweijäh­riges Philosophikum belegen.60 Im Rahmen dieser Pflichtausbildung begegnet Karel Havlíček (*1821 †1856) Bolzano und Smetana und macht sich deren An­sichten weithin zu eigen. Im Revolutionsjahr 1848 schlägt Havlíček, seit 1846 Redakteur der Pražské noviny (Prager Zeitung), als Gemäßigter eine politische Laufbahn ein und gründet die Národní noviny (Nationalzeitung). Als sie zwei Jahre später eingestellt werden muss, zieht er sich aus der Öffentlichkeit zu­rück, wird aber Ende 1851 dennoch wegen ‚politischer Schädlichkeit‘61 für drei Jahre nach Brixen verbannt. Seinem Geburtsort Borová verdankt er die häufige Benennung Karel Havlíček Borovský, er selbst verwendet oft das Pseudonym Havel Borovský. Havlíček ist nicht nur das Diminutiv von Havel, die beiden weisen auch handfestere Parallelen auf. Ähnlich wie Havlíček, der den Wiener Zensurbehörden ‚als einer der gefährlichsten Köpfe in der Mo­narchie‘62 gilt, ergeht es Václav Havel in den 1970er und 1980er Jahren von­seiten der Repräsentanten der »Normalisierung«. Die Beschreibung Havlíčeks als „ein gemäßigter Liberaler, der sich ebenso gegen einen reaktionären Ab­solutismus und gegen die kirchliche Dogmatik wandte, wie er sich anderer­seits von Radikalismus und politischem Utopismus distanzierte“63, könnte auf Havel übertragen werden. Man brauchte nur Absolutismus durch Sozialismusund kirchliche durch staatliche substituieren. Auch in der „sprachlichen For­mulierungskunst“64, die Havlíček nachgesagt wird, erweist sich Havel überaus begabt. Wie Havel pragmatisch eingestellt, distanziert sich Havlíček von den romantischen Fantasien der panslawistischen Uniformität einer gemeinsa­men Nation und Sprache. Ihm schwebt vielmehr ein multinationales Bündnis, also ein vielfältiges Ganzes vor, das sich unter Wahrung der jeweiligen Iden­tität gegenseitig fördert und unterstützt.65 Ungeachtet der Repressalien der Wiener Regierung setzt er sich für rechtsstaatliche Grundsätze ein, denn er „habe gelernt, den Willen eines jeden und die Freiheit über alles andere zu schätzen.“66 T. G. Masaryk, der im Dreigestirn Hus – Komenský – Havlíček seine einflussreichsten Geistesverwandten erkennt und Letzteren für seinen bedeutsamsten Vorläufer hält, schreibt im Jahr 1896:

»Können Sie sich vorstellen, dass Havlíček, wie manche seiner Zeitgenossen, noch heute lebte? Kam Ihnen noch nie in den Sinn, dass Menschen sterben, wenn sie gesagt haben, was sie zu sagen hatten? Gerade in der Literaturgeschichte spricht man von Männern, die sozusagen verfrüht gestorben seien – Lermontov, Pusch­kin, Mácha und demnach auch Havlíček … Ich weiß nicht, zu diesen Dingen habe ich eine andere Meinung. Vielleicht sterben starke Menschen, wenn sie ihr Werk vollbracht haben …«67.

Masaryk (*1850 †1937) ist nach Janov, Hus, Bolzano, Purkyně und Smetana der sechste Professor im Kreis der nationalen Denker, die bei ihren Landsleu­ten herausragende Anerkennung finden und/oder der tschechischen Denk­tradition ihre spezifische Note verleihen. Mit ihm gelingt es den Tschechen am 28.10.1918 zusammen mit den Slowaken einen eigenen Staat zu gründen und die Basis für eine humanistisch-demokratische Grundordnung zu schaf­fen. Als erster Präsident seines Landes bringt er die Ideale der Humanität68 in seinem politischen Wirken zur Geltung, die er zuvor als Philosophieprofessor vertrat.

„Unter den slawischen Völkern besitzen […] wir Tschechen ein kulturell-bildendes Humanitätsideal. Bei uns waren Kollár und ebenso Šafařík, auch Palacký69, Havlíček und endlich Augustin Smetana die Verkünder reiner Menschlichkeit. Kollár, der von der älteren deutschen Philosophie, namentlich von Herder aus­geht, faßt das Humanitätsideal im Geiste der Aufklärung, aber schon Smetana gibt ihm ein soziales Gepräge und begeistert sich für die Religion der Humanität. Unser tschechischer Humanismus ist die natürliche Fortsetzung unseres böhmischen Brüdertums.“70

Die tschechische philosophische Tradition ist demzufolge von einer tiefemp­fundenen Freiheitsliebe71 auf universalistisch-humanistischem Fundament gekennzeichnet. Die ganzheitliche tschechische Humanität begreift schon Masaryk vor allem als soziale, auch im Unterschied zu jener Herders. Ganz­heitliches Denken und dessen Anwendung bilden bei ihm eine Einheit.

Obzwar er als „Humanist der Gegenwart“72 im Grunde bereits den Grenz­bereich der Tradition zur Modernität überschritten hat, sei wegen der ideo­logischen Geistesverwandtschaft zwischen ihm und Havel ein weiterer Pro­fessor in den Kreis der philosophischen Havel-Inspiratoren aufgenommen. Jan Patočka (*1907 †1977) muss nach dem Prager Frühling die Karlsuniversität verlassen und wird wie Havel ein Sprecher der Charta 7773. Die beiden verbindet insbesondere die Affinität zur Kulturwelt der ersten Republik Masaryks. Das gemeinsame Interesse besteht an jener großen Linie der europäischen Philosophie, die von Husserls Phänomenologie zu Heideggers Existenzialismus führt. Sie teilen den Respekt gegenüber der Religion und den christlichen Denkerpersönlichkeiten, sowie eine gewisse Scheu, die eigene Einstellung zu religiösen Angelegenheiten eindeutig zu formulieren, geschweige denn sich kirchlich zu engagieren. Zudem sind beide dem tschechischen Nationalismus abhold. Havels Bezugnahme auf Patočka ist somit eher intuitiv.74

2 Zu Havels Ethik

Wenn den Kern der tschechischen philosophischen Traditionen der ange­wandte Humanismus bildet, fällt es leicht, die ethischen zu erfassen. Beide Traditionen ergänzen sich. Dies wird an einigen Begriffsdefinitionen deutlich. Der Humanismus gilt als eine Geisteshaltung der Renaissance.In Anlehnung an die Antike strebte sie ein Idealbild des Menschen an, der sich umfassend gebildet und moralisch gefestigt frei entfalten kann.Ethik (von ethos) ist die Lehre vom redlichen und verantwortungsbewussten Wollen und Handeln. Mit der Ethik und Moral sind die Begriffe Sittlichkeit und Tugend eng ver­knüpft. Im Rahmen einer humanistischen Gesellschaft und Werteordnung entsteht eine humanistische Ethik.

Die humanistischen Ambitionen der genannten tschechischen Denker ba­sieren auf den begriffsbildenden Vorstellungen der Renaissance bzw. der vo­rausgehenden »tschechischen« Reformation75. Mit der philosophisch-huma­nistischen Tradition seiner Nation befasste sich eingehend Masaryk.76. Seine Einblicke vermitteln einen informativen Eindruck von deren Beschaffenheit. In seinem im Jahr 1895 herausgegebenen Werk Česká otázka (Die tschechi­sche Frage) verknüpft er die tschechische Philosophiegeschichte mit der Tra­dition des reformatorischen Humanismus. Für Masaryk wurzelt die tschechi­sche Frage in der humanistisch-demokratischen Grundhaltung seiner Lands­leute.77 Um diese Gesinnung in ein moralisches, soziales, werteorientiertes Verhalten der Nächstenliebe78 umzusetzen sowie demokratische Reife zu er­langen, bedürfe es jedoch der entsprechenden Bildung, der allgemeinen Kenntnis der gesellschaftlichen und politischen Spielregeln im Licht der ge­schichtlichen Zusammenhänge.79 Masaryk geht es um umfassende Kennt­nisse, um ein inneres geistiges Ganzes der Nation. Zur Förderung dieses Ziels hält er neben einer regen Aufklärungsaktivität in Buchform öffentliche Vor­träge und Informationsveranstaltungen.

Er vertritt die Ansicht, dass der spektakuläre Erfolg der hussitischen Bewe­gung auf dem geistigen und moralischen Potenzial von Hus‘ Gefolgschaft ba­siert, das mit dessen erhabenen ethischen Werten, Idealen und Zielen korre­liert. Hus‘ sittlich und sozial ausgerichtetes Denken habe sich innerhalb des tschechischen Volkes über Jahrhunderte unbewusst übertragen. Diesem un­terschwelligen Wertetransfer verdanke es seine nachhaltige moralisch-ethi­sche Einstellung.80 Um dieses Wesensmerkmal, das unter der rigorosen Ver­folgung der humanistisch-reformatorischen Bewegung durch den Klerus im Lauf der Jahrhunderte an Lebendigkeit einbüßte, zu revitalisieren, beginnt Masaryk ab dem Jahr 1895 den moralischen und intellektuellen Wert des Ver­mächtnisses von Jan Hus aufzuzeigen81. Zugleich weist er im Zusammenhang mit der »tschechischen Frage« auf dessen Aktualität hin. Das religiöse refor­matorische Ideal sowie die humanistische Idee der Wiedergeburt hätten auf die Vorherrschaft der Ethik nicht nur innerhalb des gesellschaftlichen Lebens, sondern auch in der Politik gezielt. Wenn Masaryk vom religiösen Inhalt der Reformation spricht, denkt er hauptsächlich an deren moralisch-ethische Substanz.82 Indem Hus das auf grundlegenden christlichen Werten ruhende Gewissen allem anderen übergeordnet habe, habe er sich für mehr gesell­schaftliche, kirchliche sowie politische Freiheit ausgesprochen. An Augustin Smetana schätzt Masaryk in erster Linie dessen soziale religiös-philosophi­sche Ausrichtung. In diesem Sinne erklärt er die tschechische zu einer – geis­tig und ethisch determinierten – quasireligiösen Frage.83 Mit Hus und Masa­ryk rücken Ethos sowie eine auf praktischem Handeln beruhende Ganzheit­lichkeit in den Mittelpunkt der nationalen Ideale.

3 Havels rhetorische Basis

Rhetorik ist ein Begriff mit einem breiten Bedeutungsspektrum. In seiner ur­sprünglichen, griechisch-antiken Bedeutung bezeichnet er die Kunst der öf­fentlichen Rede. Wer seinen politischen Standpunkt oder seinen Rechtsan­spruch erfolgversprechend geltend zu machen gedachte, kam nicht umhin, seine Anliegen in der Agora oder vor Gericht persönlich vorzutragen. Das Richtergremium, zu dem man sprach, umfasste zwischen 201 und 1.501 Per­sonen und war weder juristisch bewandert noch über den zu richtenden Fall zuvor informiert.84 Somit kam es ausschließlich darauf an, wie redegewandt (und stimmgewaltig) der Bürger, der seine Rechte zu wahren suchte, zu argu­mentieren verstand, um das Gericht von der Begründetheit seiner Forderung zu überzeugen. Zur Urteilsfindung zog sich das Gericht nicht beratend zurück, sondern votierte unmittelbar im Anschluss an die Plädoyers der Kläger und der Beklagten. Vonnöten war das Geschick, „so zu formulieren, daß […] die Sache der eigenen Partei im besten Licht“85 erscheine. In der Antike, vor al­lem in der römischen, wird der Rhetor aufs engste mit der ethischen Dimen­sion verknüpft. Mit Begründung der Stoa um 300 v. Chr. rückt die Ethik in den Mittelpunkt dieser ganzheitlich orientierten Philosophie. Der Stoiker versteht sich als Mensch, der innerhalb der „Ordnung des ethisch Guten“86 gelassen, sprich emotional selbstbeherrscht, zur Weisheit strebt. Zu ihr, dem Inbegriff der eingangs erwähnten eudaimonia (Glückseligkeit), kann der vernunftgelei­tete Stoiker mithilfe der Logik gelangen. In der Logik verbindet sich für ihn schlüssiges Denken mit adäquatem sprachlichem Ausdruck, also mit Dialektik und Rhetorik.

Daran anknüpfend entwirft Cicero (*106 †43 v. Chr.) den vollkommenen Redner (perfectus orator), der anhand eines mit Rhetorik gepaarten umfang­reichen Wissens tugendhaft zu handeln vermag.87 Den Schwerpunkt dieses Wissens hat die ‚Lehre von dem Leben und den Sitten‘88, mithin die Ethik zu bilden. Quintilian (*≈30 †≈100), der berühmte Rhetoriker des kaiserlichen Roms und der stoischen Ethik zugetan, greift diese Gedanken auf und verfasst ein zwölfbändiges Werk zur Ausbildung des Redners (Institutio oratoria), in dem die Erziehung zu Ciceros »idealem Redner«, einem »Ehrenmann, der re­den kann«89 breiten Raum einnimmt. Die dem hervorragenden Redner im­manente Tugend könne pädagogisch motiviert werden. Auch Komenský, Havlíček und Masaryk sind von diesen antiken Idealen beseelt. Im Humanis­mus, dem sie sich verpflichtet fühlen, wird der Redner „als moralisch han­delnder Mensch schlechthin definiert.“90

Hinter »Rhetorik« verbirgt sich jedoch mehr als „eine Befähigung und ein Aufruf zum moralisch integren Reden“91 und auch mehr als eine auf über­zeugende Argumentation gerichtete Kommunikationspraxis. Sie ist ferner die sich mit dem kommunikativen Verhalten befassende technisch-methodische sowie wissenschaftliche Lehre. In Form von Anleitungen, Lehrbüchern, Leit­fäden und Ratgebern zur wirkungsvollen Gestaltung der Rede findet ein Über­gang vom theoretischen zum Anwendungsbereich statt. Dies gilt verstärkt für Rhetorik-Seminare und Rhetorik–Workshops. Der Terminus Rhetorik oszil­liert demnach zwischen allgemeiner Wortgewandtheit, sprachästhetisch ge­fälligem Rede- und Schreibstil, ethisch inspirierter Eloquenz, persuasiver Sprechweise, manipulativer Redetechnik, Textkritik, wissenschaftlicher The­orie, instruktiver Literatur und Schulung sowie einer Wissenschaftsdisziplin. In der hier betrachteten Überlieferung geht es ausschließlich um die rhetori­sche Tradition im Sinne ihres sittlich-humanistischen Bedeutungsaspekts.

Die einschlägige Literatur enthält keine Hinweise auf eine die Tradition der europäischen Rhetorik mitprägende tschechische Rhetorik. Zwar gab es Ge­lehrte tschechischer Nationalität, die mit rhetorischen Werken zum Diskurs­komplex beizutragen wussten. So verfassen Komenský im Jahr 1651 Zpráva o naučení a kazatelství (Kunde vom Lehren und Kanzelton) sowie Ars oratoria, sive grammatica elegans (Redekunst oder die gewandte Sprachlehre) und Bo­huslav Balbín anno 1677 Quaesita oratoria (Qualifizierte Redekunst) sowie im Jahr 1688 Brevis tractatio de oratione rhetorica (Kleine Abhandlung über die rhetorische Rede). Keiner dieser Beiträge enthält jedoch Ideen oder Gedan­ken, welche die rednerische Kunstfertigkeit um ein unverkennbar tschechi­sches Charakteristikum bereichern würden.92 Die ältesten rhetorischen Schriften tschechischer Herkunft seien Jan Blahoslavs (*1523 †1571) zweitei­lige Abhandlung Ctnosti93 kazatelů (Virtutes concionatorum – Die Tugenden der Prediger) und Vady kazatelů (Vitia concionatorum – Die Laster der Predi­ger)94 aus dem Jahr 1571 sowie ein handgeschriebenes Lehrbuch des Šimon Jelen Sušický, das gegen Ende des 16. Jahrhunderts entsteht.95 Sie alle leh­nen sich formal-normativ mehr oder minder an die ciceronianischen und quintilianischen Ansätze an. In der Anwendungspraxis setzt der tschechische Beitrag zur europäischen Rhetoriktradition dagegen durchaus eigenwertige Akzente. Insgesamt verkörpert Rhetorik die für Havel so wichtige Verbindung von Theorie und Anwendung. Gerade darin liegt ihre Spezifik.

4 Masaryks kosmo ̴politischer Einfluss

Über Havels Redenprofil zu befinden, ohne es auf potenzielle Einflüsse aus Masaryks weltanschaulicher und politischer Grundhaltung zu durchforschen, gliche einem Versäumnis, da Havel nicht nur generationsmäßig, sondern auch als Staatsmann zu Masaryks geistesverwandtem Enkel nachrückte.

»Der Lebensweg Thomas Garrigue Masaryks, des seit dem Jahr 1918 ersten Prä­sidenten der Tschechoslowakischen Republik, wird als Modell für Václav Havels Lebensweg wahrgenommen: ein Intellektueller, der Politiker und zuletzt Präsi­dent des tschechischen demokratischen Staates geworden ist und der diesen Staat ideell auf einer Sammlung ethischer Ideen aufzubauen versuchte.«96

Mit Masaryk verbinden ihn spannungsvoll teils kontrastive Entsprechungen, teils kongruente Gegensätze. Masaryk (Geburtsname Massařik) ist Mitbe­gründer der ersten demokratischen tschechoslowakischen Republik, Havel der dritten. Masaryk wird als ältester Sohn in ein ärmliches elterliches Umfeld hineingeboren, Havel als ältester Sohn in ein großbürgerliches. Bevor Masa­ryk das Gymnasium besucht, lernt er das Schmiedehandwerk. Während sich Havel zum Laboranten ausbilden lässt, holt er in Abendkursen das Abitur nach. Beide lesen bereits im Kindesalter für ihr Leben gern97. Allerdings ist Masaryk auf Leihgaben eines Paters und auf Schulbücher98 angewiesen, wo­gegen sich Havel einer reichhaltigen Hausbibliothek erfreut. Beide üben sich, Havel sehr früh, Masaryk etwas später, im Schreiben. Nach unbeholfenen ly­rischen Ansätzen in der Realschulzeit verfasst Masaryk mit etwa 15 Jahren seine erste Schrift, einen Roman. Havel ist in dem Alter bereits ein halbwegs routinierter Jungautor. Auch er beginnt mit Lyrik. Anfang zwanzig wagt sich Masaryk zunächst an einen Zeitungsartikel sowie einen Essay für einen Alma­nach, doch bis zu seiner ersten monografischen Publikation, seiner Habilita­tionsschrift, verstreichen dreißig Lebensjahre. Havel genießt dagegen schon im Alter von 27 Jahren anlässlich der Aufführung seines bereits zweiten Schauspiels (Zahradní slavnost – Das Gartenfest) die Gunst des Theaterpubli­kums und blickt auf zahlreiche eigene Essays zurück. Masaryk überkommt die Leidenschaft zu schreiben somit erst in einem reiferen Alter als Havel, aber ebenso intensiv und anhaltend. Sowohl Masaryk als auch Havel sind ausge­sprochen rebellisch veranlagt99 und zugleich außergewöhnlich couragiert100. Eine der bemerkenswertesten Parallelen stellt ihr auffallend paradoxes We­sen101 dar. Allein dieser eher äußerliche Vergleich weist auf eine gewisse Ver­bundenheit Havels mit seinem berühmten Vorgänger »Präsident-Befreier« hin. Ein etwas kontrastreicheres Bild der Havelschen Masaryk-Analogie ergibt ein Querschnitt von Masaryks gesellschaftspolitischen Idealen und Aktivitä­ten.

Mit der Berufung zum außerordentlichen Professor an die Prager Karlsuni­versität im Jahr 1882, die sein Interesse am Slawentum intensiviert, beginnt sich Masaryk eingehend mit der tschechischen Geschichte vertraut zu ma­chen. In diesem Kontext findet er fast zwangsläufig zur aktiven Politik. Im März 1891 lässt er sich gar zum Abgeordneten des Wiener Reichsrates und ein Jahr später darüber hinaus des böhmischen Landtags wählen.102 Auf Havlíčeks analogen Aufruf verweisend103 fordert er beharrlich die allgemeine und politische Bildung der gesamten tschechischen Bevölkerung, also ein­schließlich ihrer Politiker. Die Grundlage allen Fortschritts sieht er in der kon­tinuierlichen Kleinarbeit (drobná práce), vielleicht dem nachhaltigsten seiner »Glaubenssätze«.

»Der modern gebildete Mensch erkennt, dass sich die Gesellschaft schrittweise, nicht sprunghaft entwickelt und bekennt sich deshalb auf allen Gebieten, also auch in der Politik, zur steten reformierenden Arbeit. […] Die Welt gründete und gründet sich auf der Arbeit und nicht auf einer Laune, die Welt erhält sich nur durch Arbeit und zwar durch dauerhafte Kleinarbeit. […] So sind auch innerhalb der Gesellschaft und der Geschichte große, ahnungslosen Menschen ins Auge fal­lende, Umschwünge lediglich Summen und Ergebnisse beständiger kleiner Ein­flüsse und Ursachen. […] und deshalb rufen wir nach Arbeit, rufen wiederholt nach systematischer, durchdachter, anhaltender, ausdauernder Arbeit. Eine Poli­tik für das Volk ist eine dauerhafte und ununterbrochene Reformation – eine Po­litik für das Volk entspricht der Begeisterung für Arbeit durch Arbeit.«104

Getreu seiner Forderung nach sozialpolitischer Bildung macht er sich sogleich an die (Klein)Arbeit und verfasst ab den 1890er Jahren eine Reihe kritisch-aufklärerischer Schriften zur »Tschechischen Frage«. Ein unwiderstehlicher Hang zur Kritik105 scheint sein psychologisches und methodisches Persönlich­keitsmerkmal zu sein. Daher hat seine (be)lehrende Kleinarbeit einen über­wiegend kritischen Grundton, allerdings keinen durchweg konstruktiven. Masaryk geht es im Grunde um ein nationales »War-Ist-Soll«-Projekt: aus dem Vergleich der Ideale vergangener Blütezeit mit den aktuellen Gegeben­heiten ein Zukunftsprogramm zu entwickeln und sukzessive umzusetzen. In diesem Kontext datiert er die nationale Glanzzeit auf die Epoche der tsche­chischen Reformation ab Jan Hus bis zur schicksalhaften Schlacht am Weißen Berg am 08.11.1620. Die Ist-Phase, die Masaryk zugrunde legt, beginnt folg­lich mit der nationalen Wiedergeburt im Nachhall der Französischen Revolu­tion. Denn die Leitgedanken der tschechischen Wiedererwecker von Dobrovský106 über Kollár und andere bis Havlíček erachtet Masaryk zusam­men mit dem reformatorischen Ideengut als den einzig fruchtbaren Nährbo­den seiner ambitionierten Zukunftsvision. Diese Protagonisten einer neuen Bewegung im Geiste der tschechischen Traditionen hätten sich im Wesentli­chen auf die geistesgeschichtlichen Aspekte konzentriert. Nur Havlíček habe sich besonnen, dass der bloße Historismus, da rückwärtsgerichtet, eine ge­deihliche Fortentwicklung hemmt. Aus der Geschichte für das Leben zu ler­nen hält Masaryk für wichtig, aber die Oberlehrerin (hlavní učitelkou) des Le­bens sei die Gegenwart, sei das Leben selbst, das der Zukunft entgegensieht.

»Wir müssen den geheimen Schleier der Gegenwart durchdringen, wir müssen das gegenwärtige Leben und seine wahren Bedingungen erkennen und aus dieser Erkenntnis, die naturgemäß durch die Erkenntnis der Geschichte zu ergänzen ist, müssen wir kühnen Mutes in die Zukunft blicken.«107

Dieser temporale Dreischritt strukturiere die große Aufgabe. Masaryk sieht sie in einem realitätsbezogenen Kontext: »erkenne immer und überall die Dinge und deren Kern!«108 Dergestalt hinsichtlich seiner Landsleute intrin­sisch motiviert, inspiziert Masaryk deren nationale Vergangenheit, stellt sie kritisch-analytisch den aktuellen monarchischen Verhältnissen gegenüber und konzipiert hieraus sein werteorientiertes politisches Zukunftsprogramm. Grundlegend ist hierbei die wertebasierte Richtschnur seines politischen Handelns. So entstehen seine Schriften, deren zentralen Werke dem jeweili­gen Titel nach die Tschechische Frage (1895), Unsere gegenwärtige Krise (1895), Jan Hus (1896), Karel Havlíček (1896), die Soziale Frage (1898), die Ideale der Humanität (1901), Russland und Europa (1913), das neue Europa (1917), die Weltrevolution (1925) und den Weg der Demokratie (1934) be­handeln. Seine aktuellen Beiträge veröffentlicht er in verschiedenen, teils von ihm gegründeten journalistischen Blättern. Im Jahr 1883 mit dem Athenaeum, einem Monatsmagazin für Literatur und wissenschaftliche Kritik, beginnend, gründet, initiiert oder mitfinanziert er nahezu obsessiv109 viele weitere. Masaryks Leitbegriff jener Schaffensperiode lautet Humanität. Un­ter ihn subsumiert er jedwede individuelle, gesellschaftliche und politische Arbeit. Das Fundament des tschechischen humanistischen Ideals bilde die ei­gene Reformationsbewegung. So wie Hus für die Erneuerung der Moral ein­getreten sei und die tschechische Reformation ethische Ziele verfolgt habe, seien das Endziel des Menschen und der Sinn des Lebens ethischer Natur. Wie tief Hus‘ ethisch definierte Wahrheitsliebe Masaryk prägt, offenbart sich in folgender Reminiszenz:

»Unsere Wiedergeburt muss die Wiedergeburt der Seele, die Wiedergeburt eines neuen Lebens des ganzen Menschen sein – wir müssen erneut und ganzheitlich die Wahrheiten suchen, die Wahrheit hören, die Wahrheit lernen, die Wahrheit lieben, die Wahrheit sprechen, die Wahrheit halten, die Wahrheit bis in den Tod verteidigen.«110

Wer die Wahrheit, die hier als Klimax formuliert erscheint, so hoch achtet, kann nicht anders, als umgekehrt festzustellen: »Lügen macht sich nicht be­zahlt, sei es in der Politik oder im Alltag.«111 – »Die Lüge ist eine Art von Ge­walt.«112 Mit dieser Haltung das »Leben in Lüge« zu assoziieren, das Havel im Jahr 1978 in seinem vielleicht populärsten Essay Moc bezmocných (Die Macht der Machtlosen) anprangert, liegt auf der Hand. Die sprachliche Grundlage der assoziativen Beziehung zwischen Politik und Gewalt (Machtmissbrauch) bilden Begriffe wie Herrschaftsgewalt, Staatsmacht, Staatsgewalt oder gar Cäsarismus. Masaryk erblickt die Hauptaufgabe demokratischer Staaten im Verwalten, nicht im Herrschen.113 Sobald er aber, vom Ideal der reinen Menschlichkeit beseelt, die reformatorische Thematik aufgreift, verweist er neben Hus nicht minder hochachtungsvoll auf dessen »Glaubensbrüder« Chelčický, Komenský, Bolzano und Smetana. In der »Tschechischen Frage« tauchen diese Namen wiederholt auf und auch Purkyně bleibt nicht uner­wähnt. Daneben hält es Masaryk für angebracht anzumerken, dass auch Havlíček Bolzano und Smetana wertgeschätzt habe.114

Die bisherige Darlegung vermag den Einfluss der tschechischen humanis­tischen Traditionen auf Havels politische Rhetorik und sein Handeln zu ver­deutlichen. Umso mehr, als Masaryk den tschechischen Politikern seiner Zeit vorhält, unerfahren und ohne Tradition weder ein noch aus zu wissen.115 Sein Politikverständnis formuliert Masaryk so, dass der Wortlaut auch von Havel stammen könnte: „Heute brauchen wir auch eine geschichtliche, politische Bildung. Sittlichkeit bedeutet heute in hohem Maße politische Sittlichkeit. Man darf keinen Unterschied zwischen Politik und Sittlichkeit machen.“116 Damit wird vielleicht zum ersten Mal im 20. Jahrhundert dezidiert das Kon­zept einer ethisch fundierten Politik entworfen. Unverkennbar an Komenský anknüpfend fährt er fort: „Weise zu sein, darum handelt es sich. Vielwisserei bringt keine Rettung.“117 Als in Österreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts im­mer lauter das allgemeine Wahlrecht eingefordert wird, beginnt Masaryk sein volkliches Humanitätsprogramm der 1890er Jahre in ein demokratisches umzuwandeln.118 Hierbei tritt wieder einmal sein paradoxes Gemüt zutage. Während er einst beteuert, ‚[u]nser Programm ist volklich[lidový], nicht de­mokratisch‘119 und das Parteiattribut »fortschrittlich« ablehnt, versichert er fortan: ‚Das Programm des böhmischen Volkes war und ist immer wesentlich fortschrittlich und demokratisch.‘120 Kurz darauf heißt es ergänzend „die ‚de­mokratischen und fortschrittlichen Tschechen […] werden endlich eine posi­tive tschechische Politik machen, ohne Rücksicht nach rechts, nach links‘“121, wodurch er sich zur Mitte (vgl. nächster Abschnitt) bekennt. Im März 1907 nennt er in einem Vortrag die Demokratie eine Weltanschauung und unter­stellt, wer ein wahrer Demokrat sein wolle, müsse ein neuer Mensch wer­den.122 Die wahre Demokratie sei nichts anderes als das politische Bündnis der sittlichen Gesellschaft.123 Die Ethik des Einzelnen ist ihm primäre Grund­lage der Demokratie, auch des politischen Handelns als solchen. Masaryk ist jedoch nicht nur ein praxisbezogener Philosoph, ein philosophischer und po­litischer Idealist, ein praktischer Reformator124, er ist obendrein Patriot125, Eu­ropäer126 und Weltbürger127 in einem128. Als Masaryk mit Anbruch des ersten Weltkrieges der Monarchie nicht mehr loyal gegenübersteht und auf die Fahndungsliste der Geheimpolizei gerät, erklimmt auch er, wie Havel, das Amt des Präsidenten im Grunde aus einer »dissidenten«129 Lebenslage. Masaryk konzipiert eine »nichtpolitische Politik«130. Mithin verdichten sich die Parallelen zwischen ihm und Havel im Hinblick auf eine primär ethische Fundierung von Politik immer deutlicher.