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Die grimmige Pirscherin X sitzt am liebsten allein hinter dem Steuer ihres Wagens, dem alten Biest. Zwischen einer Geisterjagd und der nächsten vertreibt sie sich die Zeit mit hübschen Dingern in schäbigen Saloons. Das ändert sich, als eines Nachts ein Junge in den Kegeln ihrer Scheinwerfer steht. Er hat sein Gedächtnis verloren und eine Narbe auf der Stirn, die ihrem Namen gleicht. Es beginnt eine Reise quer über die staubige Insel Blightilse, welche die beiden widerwillig zusammenschweißt und bei der X lernen muss, dass sie vielleicht doch ein Herz hat. Brachiale Kämpfe gegen Alpträume in einer Welt aus Schatten, ausgefochten mit Klingen aus Licht. Wilde Frauen, schnelle Autos und die Frage, welchen Preis kompromisslose Unabhängigkeit hat. Ist sie es wert, eine neu gefundene Familie und das Leben eines unschuldigen Jungen aufs Spiel zu setzen?
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Sie umfasste das Heft ihres Schwertes fester und schloss die Augen. Dann stürzte sie sich mit einem tiefen Seufzer in ihre eigene Klinge. Sterben war niemals einfach.
X schlug die Augen auf.
Über die groben Brocken ihres Erbrochenen hinweg blickte sie sich entgegen. Sie spiegelte sich in der fettig glänzenden Murmel, die augapfelgroß und schwarz neben ihr am Boden lag. Ihr Spiegelbild sah beschissen aus, die Augen gerötet. Lagen tief in den Höhlen. Starrten leer. Ein Schauer fuhr durch ihren Körper. Sie rollte sich zur Seite und stemmte sich mit einem Keuchen hoch, bevor ihr Mageninhalt erneut nach oben drängte. Sie übergab sich, auf Händen und Knien, direkt neben dem Fleck aus Erbrochenen, den sie offenbar bereits im Schlaf zutage gefördert hatte. Als ihr Magen endlich aufgehört hatte, gewaltsam und schmerzhaft zu krampfen, wischte sie sich mit dem Handrücken über den Mund.
»Pisse.« Sie spuckte aus und erhob sich vom Boden.
Das verlassene, ausgehöhlte Haus um sie herum war leer. Es stand wie ein Skelett in der Prärie und erinnerte nur noch vage an das tröstliche, warme Zuhause, das es wohl einmal gewesen sein musste. Der Farmer, der ihr diesen Auftrag gegeben hatte, würde wohl kaum wieder hier einziehen. Niederreißen, vielleicht. Aber niemand würde in dieser sturmgepeitschten Ruine leben wollen.
Niemand, außer einem Omen.
X klopfte ihren Staubmantel ab und rückte die leere Schwertscheide an ihrem Gürtel zurecht. Dann bückte sie sich, hob die glänzende Murmel auf und steckte sie ein. Die würde sie brauchen, um ihre Belohnung einzustreichen. Die wenigsten ihrer Auftraggeber wussten wirklich, worum es sich bei den augapfelgroßen Perlen handelte, doch mit ihrem öligen Glanz und ihrer unangenehm weichen Beschaffenheit waren sie genug, um einen Laien davon zu überzeugen, dass der Job erledigt war. Das Omen getilgt. Schlaf wieder sicher. Die Pirscherin schnaubte.
Die Abendsonne fiel durch jeden Riss und jedes Loch der baufälligen Behausung und machte all die kleinen Partikel sichtbar, die anmutig durch die Luft schwebten. Es war still.
Sie setzte sich in Bewegung. Ihre Schritte waren von der Jagd noch unsicher, wankend, und sie musste sich an Wänden und Gebälk festhalten, um nicht umzufallen. Die Überreste längst zerschellter Fensterscheiben knirschten unter ihren Stiefelsohlen. Es war das einzige Geräusch in dieser Ruine, neben ihrem flachen Atem und der Schwertscheide, die beim Gehen dumpf gegen ihr Bein schlug. Sie erreichte den Türrahmen des ehemaligen Eingangs und stützte sich daran ab. Duftende, mit der ersten Vorahnung der nahenden Nacht geschwängerte Wärme schlug ihr entgegen, die letzten Sonnenstrahlen des Tages beleuchteten ihre Umrisse. Es waren die Umrisse einer hochgewachsenen Frau in ihren späten Dreißigern.
Einer Frau wie einer Waffe.
Mit scharfen Kanten und hohlen Augen.
Während sie einen Punkt am Horizont fixierte, an dem die heiße Abendluft flimmerte, schob sie eine Hand in ihre Manteltasche. Sie förderte eine etwas zerknitterte Zigarette hervor und steckte sie zwischen ihre Lippen. Nachdem sie sie mit einem Zündholz aus einer kleinen Schachtel mit der Aufschrift Blightisle’s Finest und der Abbildung einer zweiköpfigen Libelle angezündet hatte, nahm sie einen tiefen Zug. Sie behielt den Qualm in den Lungen, bevor sie ihn mit einem tiefen Seufzer wieder ausstieß. Mit der Zigarette zwischen den Lippen löste sie sich vom Türrahmen. Nur wenige Schritte vor dem Gebäude hatte sie ihren Wagen geparkt. Mehr rohe Maschine als Automobil, mit Stollenreifen und braunrostigem Lack. Sie kletterte hinter das Steuer und startete den Motor. Mit einem Dröhnen erwachte das alte Biest zum Leben und sie lenkte es weg vom Haus auf die Straße.
Der Himmel explodierte in den Farben eines halb verheilten Blutergusses, während der Wagen darunter dröhnend durch die Landschaft schoss. Hinter dem Steuer starrte X, die eben noch träumend und sabbernd und kotzend auf dem Boden eines leerstehenden Hauses in der Prärie gelegen hatte, mit schweren Lidern auf die Straße. Die Fenster waren heruntergekurbelt und der warme, staubige Wind fuhr ihr durchs Haar. Nackenlang und blond umrahmte es ihr schmales Gesicht mit den harten Kanten. Ein Arm lag im Fensterrahmen und sie spielte mit den Ringen an ihrer freien Hand, während die andere entspannt auf dem Lenkrad ruhte. Die Haut über den Knöcheln war aufgeplatzt. Spannte. Langsam trocknete der Schweiß auf ihrer Haut und die Kälte der Jagd stahl sich aus ihren Knochen. Diese Kälte machte Platz für das Brennen, das sie noch immer in der Schulter und den Händen verspürte, von der Prügelei einige Tage zuvor.
Ein Drink würde es richten.
Viele Drinks würden sie vergessen lassen.
Die Straße, der sie folgte, brachte sie zurück nach Forsaken. Ein vergessenes, reizloses Kaff am Rande der Hohlen Bucht. Dort war sie auf den Auftrag für das Omen in der alten Bruchbude gestoßen, den irgendein Farmer an das einzige Anschlagbrett des Ortes gehängt hatte. Die Bezahlung würde sie morgen einstreichen. Sie würde sich ein hübsches Bündel Plumes einstecken und diesen traurigen Ort hinter sich lassen, auf dem Weg in die nächstgrößere Stadt, Forlorn. An einer Tankstelle auf dem Weg hierher hatte sie aufgeschnappt, dass das Sheriffs Office dort jemanden für ein Omen suchte. Das kam ihr wie gerufen. Ihre Kasse war immer knapp und die Jobs der wenigen Gesetzeshüter von Blightisle zahlten immer gut. Und sie plante, sich diesen Abend im Saloon nicht nur einen Drink in den Kopf zu stellen.
X gähnte herzhaft. Scheiße, war sie müde. Schlief mehrere Stunden auf den Dielen einer alten Hütte in der Prärie und war danach ausgezehrter als zuvor. Der Weg des Pirschers. Am Arsch. Ihre Knochen ächzten und sie sehnte sich nach einem weichen Bett und im besten Fall einem weichen Körper. Immerhin das Bett würde sie sicherlich bekommen. Es wurde Zeit, dass sie mal wieder auf einer richtigen Matratze schlief. Vor diesem Auftrag waren ihre Finanzen nicht viel mehr, als der Haufen schwarzer Murmeln im Fußraum ihrer Rückbank. Das bedeutete kurze Nächte auf eben dieser. Nicht, dass sie das sonderlich störte. Doch auch ein Pirscher sollte sich von dann und wann etwas Luxus gönnen. Luxus.Oder das einfache Gefühl, ein Mensch zu sein.Während sie ihre Chancen abwog, ob auch ein weicher Körper im Saloon in Forsaken auf sie warten würde, passierte sie ein Schild, das am Straßenrand aufgestellt worden war. Aufgestellt war jedoch nicht mehr der richtige Ausdruck, denn jemand hatte ihm offenbar eines seiner zwei kleinen Holzbeine weggetreten und nun steckte es mit einer Ecke schräg im Dreck und verkündete FORSAKEN und in kleineren Buchstaben, darunter: Schönstes Fleckchen an der Hohlen Bucht!
Die Pirscherin warf einen kurzen Blick darauf, bevor sie in ihrem dröhnenden Biest daran vorbeischoss. Einerlei, ob es das schönste Fleckchen auf ganz Blightisle war. Forsaken hatte einen Saloon.
Sie wusste, sie hatte die kleine Stadt erreicht, als die Luft, die durch ihre heruntergekurbelten Fenster in das Innere ihres Wagens drang, nach Meersalz roch. Die Hohle Bucht war nicht weit und mit ihr das dunkle, ewig stürmische Meer rund um Blightisle.
Die ersten Gebäude tauchten am Straßenrand auf und zeichneten das pittoreske Bild einer ehemals hübschen, aber vergessenen Stadt in der Prärie. Die gleichen zwei- und dreistöckigen Gebäude, die sie schon bei ihrem ersten Besuch hier gesehen hatte, begrüßten sie nun im vergehenden Licht der Abendsonne. Es verlieh den weißgetrichenen Fassaden, an denen die Farbe abblätterte, ein unwirkliches Aussehen. Zu bunt und zu scharf gestochen, fast wie in einem Traum. Gefärbt in tausend Nuancen zwischen Gelb und Orange rollte X durch die Stadt. Sie fuhr an der Anschlagtafel vorbei, an der sie vor ein paar Tagen den Aushang über das Omen gesehen hatte, als sie zum ersten Mal durch den Ort gekommen war. Sie passierte einen Krämerladen, der für den Tag bereits geschlossen hatte. Daneben war ein leeres Schaufenster, vor dem eine alte Frau stand, dünn wie ein Zweig und mit dem Rücken zur Straße. Sie schien die fehlende Auslage zu bewundern und reagierte nicht, als X in ihrem lauten Wagen vorbeifuhr. Bevor sie die Alte eingehender beobachten konnte, tauchte rechter Hand bereits der Ort auf, nach dem sie gesucht hatte: Der zweistöckige, ansehnliche Saloon sprang zwischen den angrenzenden Gebäuden hervor, wie der letzte gesunde Zahn in einem Mund voller Fäulnis. Hohe, hell erleuchtete Fenster waren von innen beschlagen und dahinter bewegten sich die Schemen der Gäste, deren Gespräche und Gelächter hinaus auf die Straße drangen. Unbeschwerte, ausgelassene Musik legte sich darunter wie ein Teppich.
Vor dem Gebäude standen ein paar Fahrzeuge, sowie eine Handvoll Pferde, die an einem Pfosten angebunden waren und mäßig interessiert die Köpfe hoben, als das schwere Fahrzeug der Pirscherin sich näherte. X lenkte ihren Wagen hinter eines der anderen Automobile und stellte mit einer Drehung des Schlüssels den Motor ab. Der Anhänger daran - ein einzelnes Fingerknöchelchen - lag vertraut in ihrer Handfläche. Dann schwang sie sich aus dem Fahrersitz und ging ohne Umschweife zu der kleinen Treppe, die hinauf zu der doppelten Schwingtür des Saloons führte. Hinter ihr näherte sich die Sonne endgültig dem Horizont.
Sie stieß die Schwingtüren mit beiden Händen auf. Die schwere, aufgeheizte Luft und der Geruch von Zigarettenrauch, Alkohol und Schweiß empfing sie wie eine Umarmung. Sie sog ihn durch die Nase ein und bahnte sich dann ihren Weg durch den Schankraum. Die schrägen Absätze ihrer Kurzstiefel klickten auf den Dielen.
Der Saloon war nicht übermäßig voll, aber gut besucht. Zwischen den offensichtlichen Einheimischen, die mit gelassenen Gesichtern allein oder in kleinen Gruppen an den Tischen saßen, befanden sich auch ein paar Reisende in der hübschen Zuflucht am Rande der Hohlen Bucht. An einigen Hüften blitzten Revolver, doch niemand trug eine leere Schwertscheide, so wie die breitschultrige Frau, die sich soeben an einer Traube Menschen vorbeidrückte, die sich um das Mädchen am Piano versammelt hatte. Das hagere kleine Ding mit rötlichem Haar spielte die Musik, die X bereits von draußen gehört hatte, und die so gar nicht zu ihren traurigen, wässrigen Augen passen wollte.
Die Pirscherin steuerte auf die Bar zu, neben der eine Holztreppe mit gedrechseltem Geländer in das obere Stockwerk führte. Und hinter der Bar - Schwester hab Erbarmen - stand das Gegenstück zur Pianistin. Die beiden waren offensichtlich verwandt, der Schwung ihrer Augenbrauen, die Krümmung ihrer Nase, alles war ähnlich. Und doch so herrlich anders. X beobachtete aus durstigen Augen, wie die Frau hinter der Bar sich von der Theke abstieß und dabei ihren dunklen Pferdeschwanz zurückwarf. Sie rückte mit einer Hand die schwarze Feder darin zurecht. Sie war von den Fingern bis zur Schulter tätowiert und trug eine knappe Weste mit hohem Stehkragen und Stickereien um die Ärmel. Unter dem Blick der Pirscherin griff sie unter die Theke und förderte zwei Flaschen Bier zutage. Sie hielt sie an den Hälsen über Kreuz hinter sich und öffnete eine davon mit einem gezielten Tritt.
Beeindruckend, dachte X, während sie sich auf einem der freien Barhocker niederließ. Sie beobachtete, wie die Kleine die zweite Flasche mit einem Handkantenschlag an der Theke öffnete und anschließend beide vor zwei begeisterte Gäste stellte. Schaum trat über die Flaschenhälse und färbte das Holz der Theke dunkel. Dann endlich wandte diese Erscheinung einer Bardame sich zu ihrem neuen Gast. Die Pirscherin erwartete sie mit einem kleinen, aber süffisanten Lächeln.
»Was trinkst du, Fremde?«, fragte die Bardame routiniert, aber nicht unfreundlich.
X knurrte, ohne ihr Lächeln zu verlieren. Sie legte beide Hände flach auf die Theke, bis die vielen Ringe klangvoll auf dem Holz zum Liegen kamen. Dann tippte sie mit Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand zweimal darauf. »Herrengedeck«, antwortete sie schließlich und der Klang ihrer Stimme war so rau wie die Dielen, auf denen sie heute stundenlang gelegen hatte.
Die Bardame zuckte nicht mit der Wimper. Stattdessen schnellte eine ihrer Augenbrauen herausfordernd nach oben. Dann drehte sie sich herum und griff geschickt nach einer Flasche Schnaps vom Sims über ihr und gleichzeitig nach einem Glas aus dem Regal. Während sie mit Augenmaß einschenkte, holte sie bereits eine weitere Flasche Bier unter der Theke hervor. Schnaps lief über das kleine Glas und benetzte die Theke. Nicht lange, und sie schob die Getränke über die Theke hinüber zur Pirscherin.
»Das macht drei P’s, Honey.«
X antwortete nicht sofort. Stattdessen griff sie nach dem Schnaps und setzte ihn an die Lippen, ohne den Blick von der Bardame zu nehmen. Honey, hm? Sie studierte den kleinen, kurvigen Körper der Frau vor ihr, während sie den Kopf nach hinten warf und den Schnaps hinab schüttete. Dabei entging ihr nicht, wie der rehäugige Blick der Kleinen an ihrer Kehle hängen blieb. Sie würde sicher beobachten, wie der dunkle Schnaps hinter der durchsichtigen, beinahe gläsern anmutenden Haut ihres Halses hinab lief. Wie die bleichen Umrisse ihres hervortretenden Kehlkopfs sich an der Stelle abzeichneten, an der alle Farbe an ihrer Kehle fehlte, als hätte jemand einen Fetzen herausgerissen.
Traumnarben. Immer einen Blick wert.
X stellte das leere Glas zurück auf die Theke, bevor sie den Kopf schräg legte. Der einzelne silberne Ohrring an ihrem Ohrläppchen blitzte. »Du siehst händelbar aus«, sagte sie, ohne eine Miene zu verziehen.
Hinter ihr stimmte das Mädchen am Klavier ein anderes Lied an. Schneller. Heftiger. Ihre Schwester beachtete sie nicht. Ihre Augen hafteten auf den dunklen, tiefliegenden Schatten im Gesicht der Pirscherin, die sie so hungrig ansah, wie eine Löwin ein Lamm.
Zu X’ Überraschung trat sie vor und legte die Unterarme auf die Theke, bevor sie sich nahe zu ihr hinüberbeugte. Ihr Gesicht war weich und ihre Augen blitzten. »Du bist eine ganz Taffe, ha?«, begann sie und ihre süße Stimme war nicht mehr als ein Hauchen unter dem treibenden Klang des Klaviers. »Ich sage dir, wie du aussiehst, Pirscherin. Du siehst einsam aus. So einsam, dass es dich von innen auffrisst.«
X kontrollierte ihr Gesicht, bevor es entgleisen konnte. Doch etwas musste zu sehen gewesen sein, denn die Kleine von der Bar schmunzelte zufrieden. Dann streckte sie die Hand aus und wischte mit dem Daumen über den Tropfen Schnaps, die sie zuvor verschüttet hatte. Unter den Augen der Pirscherin steckte sie sich den Daumen in den Mund und saugte daran. Dann lachte sie leise.
»Aber keine Angst. Ich hab eine Schwäche für solche wie dich.«
»Solche wie mich?«, erwiderte X heiser, die endlich ihre Stimme wiedergefunden hatte.
Die Kleine nickte. Grinste.
»Frauen mit harten Händen. Und traurigen Herzen.«
Damit griff sie lachend nach dem Bier, das noch immer unangetastet vor der Pirscherin stand und setzte es an die Lippen. Nach einigen kräftigen Schlucken knallte sie es zurück auf ihre eigene Theke. »Der Schnaps geht auf mich. Und jetzt komm mit nach oben.«Das lief anders als erwartet, dachte X, während sie mit dem Rücken gegen die Wand im oberen Flur des Saloons gepresst wurde. Die Lippen des Barmdächens waren an ihrem Hals, wo sie offenbar versuchten, einen besonders hässlichen Bluterguss zu hinterlassen. X packte die Kleine kurzerhand bei den Haaren und riss ihren Kopf zurück. Dabei musste sie nichts sagen. Sie zischte nur und bleckte die Zähne. Die Kleine hielt inne, grinste, und leckte ihr dann über die geschlossenen Zahnreihen. X konnte nicht anders, sie lachte in den Kuss hinein.
»Du bist wahnsinnig«, sagte sie und verstärkte den Griff im Haar des Mädchens. Der seidige Zopf fühlte sich irrsinnig gut in ihren Fingern an.
»Wahnsinnig ist nur, dass wir nicht einmal den Namen der anderen kennen«, erwiderte ihre jüngste Eroberung. Sie versuchte, wieder an den Hals der Pirscherin heranzukommen und verzog das Gesicht zu einer reizenden Grimasse, als sie dabei auf den Widerstand der Hand in ihrem Haar stieß.
X lachte erneut, tief und ein bisschen zu schmutzig. »Oh, meiner ist ganz einfach. Man könnte ihn mit der Zunge buchstabieren.«
»Ich bin vielleicht wahnsinnig«, sagte das Mädchen. »Aber du bist verdorben.«
Die Pirscherin zuckte mit den Achseln, bevor sie noch einmal fest am Zopf des Barmädchens zog. Dann ließ sie los und griff anstandslos unter den Hintern der Kleinen, um sie mühelos hochzuheben. Das noch immer namenlose Mädchen so an sich gedrückt, wankte sie den Flur entlang in das Zimmer, dessen Lage ihr zwischen Küssen und Bissen ins Ohr geflüstert wurde.Sie küsste die Innenseite der zierlichen Wade, die sie in einer Hand hielt, während sie die andere auf den Bauch des Barmädchens presste, um sie auf der Matratze zu halten. Die Kleine zog scharf die Luft ein, als die kalten Finger der Pirscherin sich in ihre warme Haut gruben. X glitt mit geöffnetem Mund ihr Bein hinab, kostete jeden Zentimeter ihrer blassen Haut, bis sie an der Beuge ihrer Hüften ankam. Das gerötete Gesicht der Kleinen blickte ihr entgegen, mit wund geküssten Lippen und großen Augen. Schweiß stand auf ihrer Stirn, beleuchtet von der Gaslampe auf dem Nachttisch. X sah ihr in die Augen. Studierte die kleine Falte, die sich zwischen ihren hübsch geschwungenen Brauen gebildet hatte. Beinahe geplagt. Hervorragend. Mit einem miesen Lächeln schob X sich das Bein der Bardame über die Schulter und beugte sich dann herab, um an die Arbeit zu gehen.
Als endlich ein Winseln an ihre Ohren drang, war der verwegene Ausdruck wieder auf X‘ Gesicht zurückgekehrt. Es war nur schade, dass er bereits verschwunden war, als sie einige Zeit später wieder mit nassen Lippen auftauchte, außer Atem und äußerst zufrieden mit sich selbst.
Die Zeit verschwamm. Die beiden Frauen verloren sich ineinander, während von unten die ausgelassenen Klänge des Klaviers und eines sich zusehends leerenden Schankraum zu ihnen hinauf drangen.
Alles war Haut. Und Zähne. Und Spucke.
Als X wieder zur Besinnung kam, lag sie mit dem Kopf zwischen den Brüsten des Barmädchens. Sie spürte das hämmernde Schlagen dieses anderen Herzens, dort durch das Brustbein. Die Kleine hatte die Arme schwer um sie gelegt. Das Gas in der Lampe auf dem Nachttisch war schon fast aufgebraucht und beleuchtete achtlos abgeworfene Kleidung, die überall verteilt war.
Der Raum roch nach warmen Körpern und Sex.
Während X das Gesicht in den weichen Brüsten der jungen Frau unter sich vergrub und wohlig die Augen schloss, drang plötzlich deren Stimme an ihr Ohr:
»Val«, hauchte sie ziemlich atemlos in die Stille zwischen ihnen.
X öffnete den Mund, doch nicht um zu antworten, sondern biss sanft in die Brust, die sich ihr so herrlich ins Gesicht presste. Die Haut schmeckte salzig vom Schweiß.
Val japste und legte beide Hände auf den Kopf der Pirscherin, um ihren zerzausten blonden Schädel von sich zu schieben. X grollte.
»Du Miststück!«, sagte Val, kicherte jedoch.
»Führ mich ab, Kleines«, antwortete X und hatte sich selten mehr wie eine der Revolverheldinnen aus den alten Geschichten gefühlt. Dann platzierte sie die Hände links und rechts von den schmalen Rippen ihres neuen Spielzeuges und drückte sich von der Kleinen hoch. »Nein. Es freut mich, deine Bekanntschaft zu machen, Val.«
X ließ sich seufzend neben dem Mädchen auf die Matratze fallen. Sie streckte einen langen Arm nach hinten, zum Bettpfosten, über dem ihr Staubmantel hing und zog ihren Tabak und ein paar Papierchen hervor. Während sie begann, sich eine Zigarette zu drehen, nackt und verschwitzt, nur beleuchtet vom sterbenden Glühen der Gaslampe, schmiegte Val sich an sie. Mit federleichten Fingern strich sie über den Körper der Pirscherin, über jeden flachen Muskel, der sich unter gebräunter Haut bewegte. X erinnerte an eine gespannte Sehne. Ihre Brust war athletisch und beinahe nicht existent. Und da waren Narben. Und Blutergüsse. Val erkundete sie alle, frisch und verblichen, und folgte ihren Fingern mit dem Blick unter dichten, dunklen Wimpern. Ihr Gesicht sah hübsch aus, so rot und umrahmt von dem wilden Haar, das im Gefecht aus seinem Zopf gefallen war.
X zündete ihre fertige Zigarette an und nahm den ersten Zug. Sie hob das Kinn und blies den Rauch über ihre Köpfe in die stickige Luft. »Ich schulde dir noch drei P’s«, stellte sie fest.
Val lachte. »Bezahl sie mir, wenn wir uns wiedersehen.«
X schwieg. Statt einer Antwort nahm sie einen weiteren Zug von ihrer Zigarette und sah zu, wie ein großes Stück davon zu Asche verglomm. Dann raunte sie zustimmend, wusste dabei jedoch genau, dass es kein nächstes Mal geben würde.
Val schien das ebenfalls zu wissen. Sie seufzte und griff nach oben, um X die Zigarette aus den Fingern zu nehmen. Sie führte sie an ihre eigenen Lippen und inhalierte tief. Als sie ausatmete, musste sie husten.
So lagen sie eine Weile, X rauchend und Val schweigend, und starrten in das immer schwächer werdende Licht an der Decke des Zimmers. Aus dem Schankraum unter ihnen waren bald keine Geräusche mehr zu hören. Das Bettzeug raschelte, als Val sich neben ihr bequemer hinlegte und sich an ihren Körper schmiegte. Die Kleine strich sich das verschwitzte Haar aus dem Gesicht und legte dann eine Hand auf den flachen Bauch der Pirscherin.
»Ihr seid eigenartig«, stellte sie nach einer Weile fest.
Die Pirscherin schwieg. Nahm noch einen Zug von ihrer Zigarette. Sie legte ihre freie Hand auf Vals offenes Haar und begann, mit ihren langen Fingern kleine Kreise auf ihre Stirn zu zeichnen. »Wir?«, fragte sie dann und kannte die Antwort schon.
»Ihr Pirscher«, antwortete Val. »Mit euren kalten Händen.« Sie griff nach X’ Hand, die noch immer auf ihrem Haar lag und verschränkte ihre Finger damit. »Und diesen Narben.«
Als es still blieb, zog Val ihre Hand zurück, rollte sich auf den Bauch und verschränkte ihre Arme auf X’ Brust. Sie sah sie über ihr deutlich hervortretendes Schlüsselbein hinweg an.
»Ich verstehe nicht viel von euch. Aber das …«, und sie legte die Finger zögerlich auf die farblose Stelle an der Kehle der Pirscherin, »… Das sieht aus, als hätte es dich umbringen sollen.«
X sah sie lange an. Erlaubte sich für einen Moment, in den braunen Augen der schönen jungen Frau zu versinken. Sie waren heller als ihre eigenen. Voll mit Leben. Dann ließ sie den Kopf in den Nacken fallen und schloss die Augen, während sie den Zigarettenrauch durch die Nasenlöcher ausstieß. »Berufsgeheimnis«, sagte sie schlicht und ignorierte die Stille, die sich daraufhin über Val legte. Damit hatte sie das Mädchen verletzt.
Ohne ein weiteres Wort, rutschte Val etwas höher auf der Matratze, bis sie den Kopf bequem in die Armbeuge der Pirscherin legen konnte. Einige Momente der Stille verstrichen, bevor das Barmädchen wieder das Wort ergriff. »Gute Nacht, X«, sagte sie.
Die Pirscherin lachte leise. Val sah zu ihr auf. Das letzte Licht der Gaslampe spiegelte sich in ihren Augen.
»Was? Du hast gesagt, man kann deinen Namen mit der Zunge buchstabieren. Ich habe aufmerksam zugehört.« Damit schmunzelte sie und schmiegte sich vollends an die Pirscherin.
Diese sah durch den Qualm ihrer Zigarette auf sie hinab. »Gute Nacht, Val. Träum was Nettes«, sagte X, bevor sie ihr einen Kuss auf das duftende Haar gab. Es roch nach Val. Und nach ihr selbst.
Die Zeit verging, X rauchte, und irgendwann veränderte sich die Atmung des Barmädchens, wurde leiser und regelmäßiger. Dann begann sie zu murmeln und X konnte spüren, wie Vals Glieder schwerer wurden. Es fühlte sich … eigenartig schön an. Während sie dort so im Dunkeln lag, völlig verschlungen mit diesem anderen, fremden Körper, der so warm war, so verdammt nah, wurde ihr eigenes Herz unvermittelt schwer. Das passierte dann und wann und fühlte sich jedes Mal an, als würde jemand ihr Innerstes mit einem Löffel aushöhlen. Stück für Stück. Und zurück blieb nur Kälte.
X drückte ihre Zigarette auf dem Nachttisch aus und versuchte dabei, sich so wenig wie möglich zu bewegen, um Val nicht zu wecken. Anschließend legte sie die Arme um das Mädchen, das sie doch erst seit einigen Stunden kannte. Die meisten davon nackt. Das nagende Gefühl in ihr wurde stärker, also zog sie ihren weichen Körper enger an sich und vergrub das Gesicht in ihrem Haar. Vals Geruch umgab sie wie eine dichte, süße Decke. Nach einer Zeit, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, schlief sie ein.Schlaf war keine Erholung.
Und er fand sie nie länger als ein paar wenige, unruhige Stunden. So hatte die Nacht das kleine Örtchen noch fest im Griff, als X erwachte.
Sie schlug die Augen auf und starrte in Schwärze. Die quälende Müdigkeit, die ihr ein steter Begleiter war, nistete in jedem ihrer Glieder. Neben ihr war das regelmäßige Atmen von Val zu hören, die tief und fest schlief. Gut so.
X löste sich vorsichtig von der Kleinen und begann langsam aus dem Bett zu steigen. Ihre Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit und sie sammelte ihre verstreute Kleidung auf und zog sich an, ohne ein Geräusch zu machen. Zuletzt griff sie nach der Schwertscheide, die sie zu Beginn des Abends sorgfältig an den Nachttisch gelehnt hatte, und schnallte sie sich zurück um die Hüften. Da wo sie hingehörte. Dann stand sie wieder in Staubmantel, Männerhosen und ihrem roten Hemd vor dem Bett, in dem noch immer das Mädchen schlief, mit dem sie die Nacht geteilt hatte. Val schien zu träumen und mit jedem Atemzug säuselte sie leise. Ihr Gesicht war völlig entspannt, die kleine Falte zwischen ihren Brauen verschwunden.
X sah auf sie herab.
Die Zeit schien sich zu dehnen, in dem Moment, als ihre Augen auf den schlafenden Zügen dieser anderen Frau lagen. Sie wollte verharren. Doch sie erlaubte es sich nicht. So wandte sie sich ab und verließ den Raum. Schließlich wandte sie sich um und verließ den Raum. Ihre Schritte waren schnell, als sie die Treppe hinab zum Schankraum nahm. Sie erwartete nicht, jemanden zu dieser Stunde anzutreffen, doch sie wurde eines Besseren belehrt. Zwischen den Tischen und Stühlen stand die Pianistin, die Schwester des Barmädchens, und stützte sich mit zusammengekniffenen Augen auf den Besenstiel, mit dem sie bis eben noch den Boden gekehrt hatte. Sie musste nichts sagen, um X zu verstehen zu geben, was sie von ihr hielt.
Die Pirscherin zuckte nur halbherzig mit den Schultern, bevor sie an dem Mädchen vorbeirauschte und den Saloon verließ. Hinter sich hörte sie ein resigniertes Schnaufen.
Draußen war die Nacht kühl und unheimlich still. Hier in der Prärie war das Zirpen der Grillen so laut, dass man es für Musik halten konnte. In der Ferne heulten Schakale. X nahm einen tiefen Atemzug von der herrlichen Luft und hielt dann direkt auf ihren Wagen zu, der nun einsam an der Straße vor dem Saloon stand, wo sie ihn zurückgelassen hatte. Alle waren fort, sogar die Pferde, die zuvor am Pfosten gestanden hatten. Forsaken lag in tiefem Schlaf. Und zum Glück der Bewohner gab es hier kein einziges Omen.
X erreichte ihr altes Biest und strich beiläufig, aber liebevoll mit der Hand über den rostigen Lack des gedrungenen Daches, bevor sie die Tür zur Fahrerseite öffnete. Mit dem Duft der letzten Stunden im Haar, setzte sie sich hinters Steuer. Das Leder des Fahrersitzes knarzte vertraut, als sie sich hineingleiten ließ, um sie herum nichts als sternenlose Nacht.
Im Innenraum roch es nach einer Mischung aus Waffenöl und dem Geruch, den nur alte Automobile entwickeln. Muffig, aber irgendwie tröstlich. X steckte den Schlüssel mit dem klappernden Anhänger ins Schloss und wollte den Motor anschalten. Doch dann hielt sie inne. Sie ließ den Kopf sinken, bis sie ihre Stirn auf das kühle Leder ihres Lenkrads traf. So zusammengesunken, saß sie da, in der Stille ihres Wagens.
Was tue ich hier eigentlich, fragte sie sich, während sie die Augen fest geschlossen hatte. Wem hätte es geschadet, wenn sie einfach bis zum Morgen geblieben wäre? Wenn sie sich die Zeit genommen hätte, das Mädchen von der Bar wirklich kennenzulernen, anstatt nur über ihren Körper herzufallen wie ein hungriges Tier? Da war eine Sehnsucht in ihr, der sie keinen Namen geben konnte.
X stieß hörbar die Luft aus.
Wem hätte es geschadet, zu bleiben?
Sie drehte den Schlüssel im Schloss und warf den Motor ihres Wagens an. Ohne aufzusehen, betätigte sie den Schalter für die Scheinwerfer. Ihr Biest erwachte zum Leben. Sie richtete sich auf und sah über ihre breite Motorhaube hinweg in die Nacht: In den grellen Kegeln ihrer Scheinwerfer stand etwas. Stand jemand. Dort, den Arm schützend über die Augen gelegt, stand ein Junge. Und er sah sie so durchdringend an, dass sie erschauderte.
Der Geschmack von Staub auf der Zunge ließ ihn würgen.
Er versuchte, das Zeug herunterzuschlucken, etwas Spucke zu sammeln, doch vergeblich. Es endete in einem trockenen Hustenanfall. Mit blassen Händen stützte er sich auf die Knie und rang nach Luft. Am Boden war Staub, in der Luft um ihn herum war Staub. Er kniff die Augen zusammen und wurde sich des leeren, pochenden Gefühls in seinem Schädel bewusst. Des Nichts, das dort herrschte. Dort sollte etwas sein. Erinnerungen an vorhin, an gestern, an etwas. Doch es fühlte sich an, als wäre sein Hirn windelweich geprügelt worden und läge nun bewusstlos am Straßenrand. Eines war da, im dunklen Vakuum seiner Erinnerungen: Das intuitive, schonungslose Gefühl, dass er verfolgt wurde. Dass er hier nicht sicher war. Etwas war hinter ihm her und er spürte es. Er fuhr sich mit den Händen übers Gesicht, tastete unter dem widerspenstigen schwarzen Haar über die X-förmige Vernarbung auf seiner Stirn, die er zuvor dort entdeckt hatte. Der Junge von dreizehn oder vierzehn Jahren richtete sich in der dunklen Gasse auf, in der er stand. Vor ein paar Minuten hatte er nicht weit von hier, in einer ähnlichen Gasse, die Augen aufgeschlagen. So hatte es sich zumindest angefühlt. Als wäre er aus einem langen, langen Schlaf erwacht. Seine Glieder hatten geschmerzt, Rippen, Knie, Hände. Überall hatte er Schürfwunden, als hätte er sich mit Gewalt im Kies gewälzt.
Was nun?
Links und rechts von ihm ragten die Fassaden dunkler Gebäude in die Höhe, deren Fenster unbeleuchtet waren. Kein Wunder, es war so spät in der Nacht, dass der Morgen schon gierig am Horizont leckte, eifrig darauf seinen Kopf endlich darüber hinauszustrecken. Es waren keine Geräusche zu hören, außer dem schweren Zirpen der Grillen, das durch die warme Luft um ihn herum getragen wurde wie eine Decke. Ab und zu bellte ein Hund merkwürdig schrill. Hinter seinen Augen wurde es heiß.
Er wollte weinen.
Er war noch ein Kind, verwirrt, allein und so schrecklich einsam, in dieser lauen Nacht. Umringt von Menschen, die friedlich in ihren Betten schliefen, unwissend ob des Schicksals des Jungen dort in der Gasse, mit dem eingeritzten X auf der Stirn. Er fühlte sich, wie etwas, das nicht sein durfte. Eine Anomalie, ein surrealer Fleck auf der Linse der Realität. Und er hatte Angst. Angst vor dem, was ihn holen würde.
Ein Geräusch stahl sich durch die Stille der Nacht und riss ihn für einen Moment aus seiner Verzweiflung. Das dumpfe Geräusch von zwei schweren Stiefeln auf Holz, Stufen womöglich. Sofort setzte er sich in Bewegung, schleppte hastig seinen schmalen, schlaksigen Körper ans Ende der Gasse. Alles tat ihm weh, doch dies war nicht der Moment für Gejammer. Eine weitere Seele war unterwegs in dieser Nacht, und er war entschlossen, sie zu finden. In ihm wand sich das instinktive Bedürfnis nach menschlichem Kontakt, einer anderen Person, möglicher Rettung. Er klammerte sich an die nächste Hausecke und trat auf die angrenzende Straße. In einiger Entfernung drang Licht aus den Fenstern eines großen, weißen Gebäudes. Es besaß eine ausladende Veranda, deren Stufen gerade eine Gestalt im Staubmantel hinabkam. Sie trat auf die Straße und ging hinüber zu einem Wagen, der vor dem Gebäude geparkt war.
Er begann zu rennen.
Sein Herz pochte augenblicklich wild in seiner Brust und er sog in schnellen Atemzügen die Luft ein, während er verzweifelt versuchte, die Entfernung zwischen sich und dem Wagen zu schließen. Dieser war noch ein ganzes Stück entfernt, und mit ihm die Person, die er um alles in der Welt erreichen musste. Einfach musste.
Vor ihm sprang der Motor des Wagens mit einem mächtigen Grollen an. Er kam zum Stehen. Würde sich dem Fahrzeug in den Weg stellen, würde die Person hinter dem Steuer auf sich aufmerksam machen. Mit Augen, in denen sich nun doch heiße Tränen sammelten, starrte er dem Fahrzeug entgegen und ballte die Hände zu Fäusten. Plötzlich wurden die Scheinwerfer des Wagens eingeschaltet und durchschnitten die Nacht. Er hob den Arm, um sich vor dem gleißenden Licht zu schützen, wandte den Blick jedoch nicht ab. Zwischen halb zusammengekniffenen Augen blinzelte er zum Wagen und ging langsam auf ihn zu.X war für einen Moment zu perplex, um sich zu bewegen.
Diese kleine Gestalt, dort im Kegel ihrer Scheinwerfer, hatte sie erschreckt. Hatte etwas in ihr angestoßen. Sie starrte durch ihre Frontscheibe zu ihm zurück, die Finger noch immer fest um ihr Lenkrad geschlossen. Sein kleines Gesicht war milchweiß, im scharfen Kontrast zur Nacht. Dann hob sie die Oberlippe zu einem Knurren. Nicht ihre Sache. Sie legte einen Gang ein und trat aufs Gas. Ihr Wagen setzte sich mit einem Aufheulen des Motors in Bewegung und sie machte Anstalten, ihn einfach um den Jungen herum zu lenken. Was auch immer dieser Knirps um diese Stunde auf der Straße verloren hatte, es ging sie nichts an. In den Städten und Dörfern von Blightisle gab es jede Menge streunende Kinder. Halbwüchsige Ausreißer, die sich zu Banden zusammenschlossen und sich einredeten, sie könnten bei den Geschäften der Großen mitmischen.
Doch eine Maus war keine Hyäne.
X wollte gerade das Lenkrad einschlagen, um diese spezielle Maus vor sich auf der Straße nicht umzufahren, als er anfing auf sie zuzugehen. Er hielt schnurgerade auf ihren Wagen zu und machte dabei keinerlei Anstalten, aus dem Weg zu gehen.
»Du willst es wirklich wissen, du kleine Ratte?«, murmelte sie mit einiger Ungläubigkeit über die Dreistigkeit des Jungen. Sie verengte die Augen, konnte sich ein halb anerkennendes Schmunzeln jedoch nicht verkneifen. Mut hatte er. Sie trat etwas stärker aufs Gas und beschleunigte. Der Motor ihres Wagens röhrte warnend auf, der Abstand zwischen ihrem Kühlergrill und dem Jungen wurde zusehends kleiner, doch er machte keine Anstalten auszuweichen. Die kleinen Hände dicht am Körper zu Fäusten geballt, marschierte er weiter auf sie zu, das Gesicht verbissen, den Kiefer angespannt. Sie glaubte sich einzubilden, Tränen auf seinen schmutzigen Wangen zu sehen. Das beunruhigte sie.
»Komm schon, Kleiner. Mach keine Dummheiten.«
Ihr Fuß stand weiter auf dem Gas, ihre Motivation hinsichtlich dieses aberwitzigen Kräftemessens bröckelte jedoch mit jedem Meter. Ihr Blick traf den des Jungen, der sie in wilder Entschlossenheit anstarrte, und sie glaubte, eine Verzweiflung darin zu erkennen, die sie erschreckte. Im letzten Moment trat sie das Bremspedal bis zum Boden durch. Ihr Heck brach aus, der Wagen drehte sich und kam schließlich mit schlitternden Reifen zum Stehen, nur eine Armlänge von dem Jungen entfernt. Würde er die Hand ausstrecken, könnte er die staubige Flanke des Wagens berühren. Weg waren alle Gedanken an Val, ihren verstohlenen Abgang aus dem Saloon, die Belohnung für ihre letzte Jagd. Jetzt war da nur noch dieser Junge. Dieses dürre Kind in den abgerissenen Kleidern, das die Unverfrorenheit besaß, ihr die Stirn zu bieten. Geistesabwesend stellte sie den Motor ab, öffnete die Fahrertür und stieg aus, ohne den Blick von ihm zu nehmen. Mit einer Hand am Fahrzeug ging sie ihm entgegen, die Finger stetig am kühlen Metall. Ihre Fingerspitzen hinterließen Spuren im Staub, während sie vor dem Kind stehen blieb. Hochgewachsen ragte sie über ihm auf. Der Wind kam auf und erfasste sie beide, rauschte an dem Jungen vorbei und strich über den Saum ihres Mantels. Sein Flattern war das einzige Geräusch in dieser Nacht, die langsam zum Tag wurde. Selbst Lied der Grillen schien verstummt.Es war eine Frau. Die Person, der er so verzweifelt durch die Dunkelheit entgegengelaufen war, war eine Frau. Eine breitschultrige, düstere Frau mit wildem, blondem Haar. Sie stand dort neben diesem Biest von einem Fahrzeug und blickte aus dunklen Augen auf ihn herab. Erst jetzt bemerkte er, dass ihm Tränen das Kinn hinab tropften. Ich weine. Er schniefte hörbar und wischte sich mit dem Ärmel das nasse Gesicht ab.
»Ich ...«, setzte er an und erschrak sich für einen Moment über den Klang seiner eigenen Stimme. Sie war schwach und zitterte. Er hörte sich an wie ein verlorenes Kind. Nun, das war er schließlich auch.
»Ich glaube, ich brauche Hilfe.«
Er schluckte und drehte sich um, suchte hinter sich unruhig die nächtliche Straße ab. Es war niemand zu sehen.
»Und ich glaube, ich muss hier fort.«
Sie hatte ihn auf den Beifahrersitz verfrachtet. Während er dabei zusah, wie sie um den Wagen herumging und sich schließlich wieder neben ihm hinter das Steuer fallen ließ, spürte er, wie seine Glieder unvermittelt schwer wurden. Als dann der Motor ansprang und dessen tiefes Grollen ihn umfing, schien sein Körper bereitwillig mit dem abgesessenen Polster des Sitzes zu verschmelzen. Seine Augen schlossen sich und er sog den Geruch um sich herum mit einem tiefen Atemzug ein. Staub, wie überall. Aber er roch auch den eindringlichen Geruch von Benzin und dahinter weißen Honig. Mild und süß und sanft. Eine kleine Stimme flüsterte ihm zu, dass er sich nicht entspannen sollte, dass er dieser Fremden nicht einfach so vertrauen sollte. Er wäre hilflos, hier in ihrem Wagen. Was, wenn sie diejenige war, vor der er floh? Er versuchte, dieser Stimme zuzuhören, sich von ihrer besorgten Rationalität überzeugen zu lassen, doch vergebens. So sehr er auch versuchte, Angst zu haben, es wollte nicht klappen. Vor allem keine Angst vor der Fahrerin des groben Fahrzeugs in dem er saß. Es war warm und stickig, jedoch auf die gute Art. Er konnte hören, wie die schweren Stollenreifen unter ihm über die Straße rollten, wie der Motor gleichmäßig und kraftvoll arbeitete. Und er fühlte sich … sicher. Er wunderte sich über diese Erkenntnis.
Sie beschleunigten und passierten ein schiefes Schild, auf dem im Scheinwerferlicht für einen Moment “Forsaken” aufblitzte. Wenn das ein Ort sein sollte, hatte er noch nie davon gehört. Aber wovon hatte er überhaupt jemals gehört? Die Welt um ihn herum war ihm nicht fremd, er kannte Häuser, Straßen, Licht und Fahrzeuge. Doch es fühlte sich nicht an wie Erinnerungen, die er gesammelt hatte, sondern vielmehr wie eine Art Muskelgedächtnis.
»Hast du einen Namen?«, durchschnitt die dunkle Stimme der Frau die Stille zwischen ihnen. Müde drehte er den Kopf zu ihr herüber und blinzelte sie aus halb geschlossenen Augen an.
Hatte er einen Namen? Er suchte eine Weile in seinem Kopf nach der Antwort, nach seinem Namen, wurde jedoch enttäuscht. Besaß er einen, so fand er ihn nicht.
»Ich kann mich nicht erinnern«, flüsterte er also und starrte sie an, während ihn zum dritten Mal an diesem Tag das Bedürfnis überkam, loszuheulen.
»Deine letzte Erinnerung. Gibt es eine?«, fragte die Frau, offenbar unbeeindruckt von seiner Verzweiflung. Wenn sie Mitgefühl für das Häufchen Elend in ihrem Beifahrersitz empfand, ließ sie es sich nicht anmerken.
Auch über diese neue Frage dachte er nach.
»Da ist Dunkelheit und Kälte. Wasser zwischen meinen Zehen«, setzte er nach einiger Zeit an. »Nein. Kein Wasser … Blut. Klebriges Blut.«
Schweigen. Als er in ihrem Gesicht nach einer Reaktion suchte, konnte er sehen, wie sie nachdenklich die Augenbrauen zusammenzog. Nur halb beleuchtet von der schwachen Instrumentenbeleuchtung des Fahrzeugs, verlieh es ihr einen grimmigen Ausdruck.
»Wohin fahren wir?«, fragte er, als sie nach einigen Minuten noch immer nichts gesagt hatte.
Sie stieß als Antwort zunächst nur ein wenig aussagekräftiges Brummen hervor, bevor sie einen Moment später hinzufügte: »Ich muss etwas abholen. Danach fahren wir nach Forlorn. Dort gibt es ein Sheriffs Office.«
»Was ist ein Sheriffs Office?«, fragte der Junge, der seinen Namen nicht kannte.
Die Frau warf ihm einen kurzen Seitenblick zu, wobei sie für einen Moment bei der Narbe auf seiner Stirn verharrte, bevor sie die Augen wieder auf die Straße richtete. »Möchte mal wissen, wer dich so vermöbelt hat. Pass auf, Stift. In der nächsten Stadt bringen wir dich ins Office. Die Kerle dort wissen sicher, wem du fortgelaufen bist oder wer dich vermisst.« Es klang, als wäre sie davon selbst nicht sonderlich überzeugt. »Wir fahren noch ein Stück. Hau dich aufs Ohr. Du siehst aus, als hättest du es nötig.«
Damit verstummte sie und machte den Eindruck, als wäre das Gespräch für sie beendet. Eine Frage konnte er sich dennoch nicht verkneifen, bevor ihn der Schlaf endgültig in seine schweren Arme schloss:
»Wie heißt du?«, fragte er mit schlaftrunkener Stimme.
»X«, antwortete sie diesmal gleich und eigentümlich sanft. »Einfach nur X.«
Etwa zur gleichen Zeit trat eine Frau auf die Hauptstraße der Küstenstadt. Sie lief gebeugt und schleppte sich Schritt für Schritt voran, ein Arm hing merkwürdig schlaff an ihrer Seite. Ihre Füße steckten in staubigen Motorradstiefeln, ihre Kleidung hing in Fetzen. Unter einem Vorhang aus dickem schwarzem Haar war ihr Kopf gesenkt. Sie war wankend in der Mitte der Straße zum Stehen gekommen, genau gegenüber dem ansehnlichen Saloon, in dem nur im Untergeschoss noch ein Licht brannte. Dann erhob sich ein Laut in die Stille der Nacht, der von Schmerz und Leiden sprach. Ein Ächzen, so roh wie nacktes Fleisch. Die Frau, von der es kam, hob den Kopf und konnte gerade noch beobachten, wie die Rücklichter eines Wagens sich im Dunkel der Nacht entfernten.
Wenige Tage zuvor zog X gerade im strömenden Regen die Hände aus einem frischen Grab. Das Wasser formte kleine Rinnsale und lief geradewegs in die tiefe Grube aus lockerer Erde, die die Ruhestätte am Rande des Friedhofes bedeckte. Das Rauschen des Regens formte eine Glocke, die alle Geräusche umher verschluckte. Es gab nur sie und diesen Friedhof in dem leeren Land vor Loom. Sie hockte auf allen Vieren in einem Loch, in dem vor kurzem ein Körper begraben worden war. Ein Körper, der zu schnell und zu heftig aus dem Leben gerissen wurde, um nicht zu einem Omen zu werden. Und sie wurde dafür bezahlt, dies zu verhindern. Eine Schaufel lag neben dem Grab. X hatte sie ungeduldig fortgeworfen, als sie geahnt hatte, dass sie bald auf den Körper stoßen würde und wollte diesen nicht mit der Schaufel beschädigen. Also wühlte sie mit bloßen Händen in der Graberde. Sie war noch locker und der Regen hatte sie so aufgeweicht, dass X ihren Arm nur tief genug in das frische Grab stecken musste, um zu erreichen, was sie suchte: ein Stück des Verstorbenen. Eine Verbindung.
Die Absätze ihrer Stiefel gruben sich in die aufgeweichte Erde, ihr Mantel hing ihr wie eine schwere zweite Haut über den Schultern. Sie hasste diese Art Auftrag. Jagte lieber. Doch das leichte Mädchen in dem schäbigen Bordell am Rande der Straße nach Forlorn war zu schön gewesen und das versprochene Bündel Scheine zu dick, um abzulehnen.
X stützte sich mit einer Hand über das unmarkierte Grab, während sie mit der anderen tief im Erdreich wühlte. Graberde starrte so dunkel unter ihren Fingernägeln, dass sie bereits ahnte, wie lange ihre Hände nach dieser Sache noch nach Verfall riechen würden. Sie schnaubte, hob kurz den Kopf und setzte sich auf die Fersen, um ihrem Nacken vom langen Hinabblicken eine Pause zu gönnen. Regen küsste ihren Haaransatz, ihre Stirn, ihre Augenlieder. Er lief an ihrem Gesicht herab und vermischte sich mit den Pfützen, die sich um sie herum auf der Erde gebildet hatten. Auf dem Grab gebildet hatten, über dem sie hockte. Gerade wollte sie ihre Arbeit wieder aufnehmen, da drang ein Geräusch an ihre Ohren. Ein rhythmisches Malmen. Ein Schnurren.
»Verpiss dich!«, stieß die Pirscherin hervor, während sie sich aufrichtete und über den Rand des Grabes spähte. Ihre Arme waren bis zum Ellenbogen schwarz vor Erde. Da trat es schon in ihr Blickfeld: ein Friedhofskätzchen.
Das kleine, räudig aussehende Tier schlich auf krummen Beinen heran. Seine gedrungene Silhouette war im starken Regen kaum auszumachen. Der Geruch des aufgewühlten Grabes musste es angelockt haben. Der Geruch des halb verwesten Körpers darin. Es war hier, um zu fressen. Zu naschen, wie es landläufig gerne ausgedrückt wurde.
Das Kätzchen, das nicht größer war als ein verhärmter Hase, war bis zum Rand des Grabes herangekommen. Seine milchigen, halb blinden Augen waren auf die Pirscherin gerichtet, die auf seinem Mahl saß.
»Keine Chance«, begann sie. »Du kannst sie haben, wenn ich fertig bin.«
Sie erhielt keine Antwort. Stattdessen schlang das Tier den knochigen Schwanz um den eigenen Körper und ließ sich nieder. Es saß, wie nur Katzen sitzen, und sah die Pirscherin an.
Diese verengte die Augen. Blinzelte langsam und eindringlich. Das Tier erwiderte die Geste. Sie hatten sich geeinigt.
Mit einem letzten Blick auf das Friedhofskätzchen ging sie wieder in die Hocke und stieß die Hand in das lockere Erdreich. Diesmal kraftvoller, gezielt. Und endlich trafen ihre Finger auf Widerstand. Sie war begraben worden, wie ihre Mutter gesagt hatte: ohne Sarg. Damit ein Pirscher sie leichter erreichen konnte. X’ kalte Finger schlossen sich um den dünnen Oberarm des Kindes. Mit weit entferntem Erschaudern bemerkte sie, wie sich das bereits verfaulende Fleisch unter ihrer Berührung vom Knochen löste. Doch dies und der aufsteigende Gestank des Todes, der sie nun immer intensiver umgab, drang kaum noch zu ihr durch. Dieses Kind, dieser Leichnam würde zu einem Omen werden. Denn sie hatte augenblicklich eine Schläfrigkeit ergriffen, die sie nur aus der Nichtwelt kannte.
Unter den unaufhörlich herabfallenden Regentropfen sank die Pirschern über dem Grab in sich zusammen. Ihre Stirn berührte die feuchte Erde, in der sie gewühlt hatte, während das Friedhofskätzchen sie aus milchigen Augen beobachtete.
Fäulnis und Kälte umfingen sie wie eine verhasste Verwandte.
Da waren sie, all die widerlichen Eindrücke der Nichtwelt. Der Welt der Omen. Der Welt, in der sie als Pirscherin bereits mit einem Fuß stand. Es war eine Welt ohne Licht, eine Spiegelung aus Rauchglas, in der nur die Feuer des fernen Lebens in ihrer Peripherie brannten. Immer weit entfernt. Niemals greifbar.
X saß in sich zusammengesunken über den verschwommenen Umrissen eines Grabes. Der Boden, auf dem sie saß, war weich und klebrig. Sie wusste, dass es sich dabei um Öl handelte. Es bedeckte alles in der Nichtwelt. Sein schwerer, beißender Geruch mischte sich in der unwirklichen Luft mit dem Gestank der Verwesung. X bewegte sich, hob eine Hand aus dem zähflüssigen Öl, das um ihre Finger kleine Kristalle gebildet hatte. Fast wie Eisschollen. Es war bitterkalt, hier in dieser Zwischenwelt aus Schatten, die bedauerlicherweise ihr Arbeitsplatz war. Rinnsale der dunklen, viskosen Flüssigkeit rannen an ihrem Arm herab und benetzten ihre Finger. Sie legte sie um den Griff des Schwertes, das in ihrer vormals leeren Schwertscheide erschienen war. Netter Trick. Jedes Mal.
Die Pirscherin wusste, dass sie dort sein würde, ihre Nichtklinge. Das war sie immer, wenn sie im Grauen der Nichtwelt erwachte. Und doch musste sie sich jedes Mal versichern, dass sie tatsächlich bewaffnet war. Dass sie sich in diesem schwärzesten Spiegelbild der wachen Welt nicht völlig hilflos bewegte.
Sie wollte sich gerade aus der kalten Lache erheben, in der sie saß, da durchschnitt ein Lachen hinter ihr die Stille. Es war ein dünner Laut, schrill und freudlos wie der Tod. X schnellte herum und kam sofort auf die Füße. Mit festem Griff um das Heft ihres Schwertes blieb sie in der Hocke. Um kein hohes Ziel abzugeben. Falls … falls es bereits zu spät war.
Dort, zuvor hinter ihr verborgen, stand ein Stuhl in der Dunkelheit. Ein kümmerliches Leuchten ging davon aus, das unregelmäßig pulsierte, wie das letzte Schlagen eines kranken Herzens. Und darauf saß ein Mädchen. Sie wandte der Pirscherin den Rücken zu, lehnte mit eingefallenen Schultern an den leuchtenden Streben der Lehne. Ihr Haar war lang, extrem lang und kräuselte sich in eleganten Spiralen zu ihren Füßen im Öl. Eine Hand hing an der Seite. Und daran, von kleinen Fingern gehalten, baumelte ein Stofftier. Es war schmutzig, Öl verklebte das klumpige Fell der kruden Katze. Ein Knopfauge fehlte. Ein Stechen im Herz der Pirscherin. Sie zermalmte das Gefühl im Geiste unter ihrem Absatz.
»Ich weiß, warum du hier bist«, erklang die glockenhelle Stimme des Mädchens. Eines Mädchens, das nicht älter als sieben sein konnte und zu früh aus dem Leben gerissen wurde. »Momma will nicht, dass ich wiederkomme.«
X schluckte. Es sprach noch, also hatte sie vielleicht noch eine Chance. Langsam, quälend vorsichtig, richtete sie sich auf und stand nun mit etwas Abstand hinter dem Stuhl. Hinter dem Mädchen, das zum Omen werden würde, wenn sie es nicht besänftigen könnte.
»Das ist nicht richtig«, begann sie also und hoffte, ihre Stimme hatte den einfühlsamen, pathetischen Ton, den sie ihr in der Ausbildung für solche Fälle eingebläut hatten. War immer ihre beschissenste Disziplin gewesen. »Deine Momma vermisst dich schrecklich. Sie möchte …«
»Sie will mich also wiedersehen!«, fiel das Mädchen ihr ins Wort, ohne sich umzudrehen, straffte jedoch sichtbar die Schultern. Ihr Haar knisterte, als sie es mit einer ruckartigen Bewegung ihres Nackens aus dem kristallinen Öl zog. Der Stuhl flackerte gefährlich. »Dann besuche ich sie. Komme zu ihr. Es ist ganz leicht.«
X fluchte tonlos und verstärkte den Griff um ihre Nichtklinge. Wenn sie jetzt nicht ganz schnell die Kurve bekam, musste sie sie heute noch benutzen müssen.
»Damit würdest du deine Momma sehr traurig machen. Du solltest jetzt schlafen. Wirklich schlafen. Sieh es als deine letzte Nachtruhe. Schließ die Augen und entspann dich einfach.«
»Das hat der Mann auch gesagt, der bei meiner Momma zu Gast war.«
Mit diesen Worten drehte sie sich endlich um. Das lange Haar, das zuvor aussah, als würde es lediglich über ihre Schultern fallen, war um ihren Hals gewickelt. Es lag in dicken Strängen um den schmalen Kinderhals und war so festgezurrt, dass es die kleinen Wangen hoch presste. In diesem Moment pulsierte das Licht des Stuhls noch einmal, dann erlosch es endgültig.
»Oh, fick mich doch«, knurrte die Pirscherin, bevor Dunkelheit sie einhüllte.
Das Geräusch kleiner nackter Füße im Öl. Platschen. Ein Kichern im Nichts. X versuchte, blind davor zurückzuweichen, ihr Atem war flach. Hoch konzentriert. Sie hatte versagt. Alles, was jetzt noch blieb, war es zu Ende zu bringen und dabei möglichst nicht von der Kleinen berührt zu werden. Eine Berührung von dem Mädchen, das nun ein Omen war, und sie würde eine neue Traumnarbe zur Schau tragen. Ein Kuss und ihr Körper würde in der wachen Welt über diesem Grab liegen bleiben, bis ihn jemand fand. Leer, atmend, doch für immer fort.
Ein Lufthauch zu ihrer Rechten.
Sie zog ihre Waffe.
Licht quoll wie ein lebendiges Ding aus der Schwertscheide. Es nahm die Form einer langen, schlanken Klinge an, die geräuschlos aus ihrer Hülle glitt. Es war, als hätte jemand einen kleinen Stern entfacht.
Ohne auf ein weiteres Zeichen zu warten, zerschnitt X die Luft neben sich, dort, wo sie das Mädchen vermutete. Das Licht berührte einen Umriss, sie spürte Widerstand. Zu leicht, zu weich. Etwas fiel zu Boden. Als der warme Schein der Klinge es berührte, erkannte X, dass es ein Stück der Plüschkatze war. Ihr Kopf lag im Öl, von den schlaffen Ohren bis zum Mundwinkel aus dickem Garn abgetrennt. Das verbliebene Knopfauge starrte die Pirscherin vorwurfsvoll an. Ihr blieb keine Zeit für einen neuerlichen Fluch. Ein Schrei wob sich in die dicke, von Fäulnis zerfressene Luft. Das Geräusch grub sich in ihren Körper, wie ein Eispickel in weiches Hirn. Brachte ihr Inneres zum Vibrieren, ließ weiße Lichter vor ihren Augen explodieren, bis ihr die Luft wegblieb.
Ich muss sie zum Schweigen bringen, dachte X also, während sie vor der Wucht des Geräusches in die Knie ging. Sie starrte an der sich kräuselnden Schneide ihrer Klinge vorbei zu dem Mädchen, das die Überreste ihres Stofftiers an die Brust gedrückt hatte und schrie. Ihr Gesicht war geschwollen, von der Grimasse des Todes entstellt. Des Todes, der sie durch die Hände eines Freiers ihrer Mutter ereilt hatte. Stranguliert mit den eigenen Haaren. Blightisle kann so verkommen sein.
Die Pirscherin verengte die Augen, schob einen Fuß hinter sich und stemmte die Ferse in den glitschigen Boden. Zeit, es zu beenden. Ihre Ohren hatten bereits begonnen zu knacken und sie spürte, wie ihr Puls sich einer gefährlichen Geschwindigkeit näherte.
Das Mädchen schloss den Mund nur für einen Moment, wie um Luft zu holen, obwohl sie doch keine mehr brauchte. X nutzte diese Chance. Sie stieß sich ab und schnellte mit kurzen, präzisen Schritten nach vorn, die Waffe in beiden Händen. Kurz vor der Kleinen hob sie ihr Schwert mit einem Daumengriff über die rechte Schulter und setzte zu einem Stich an. Sie zielte auf ihr Herz. Auf das, was davon noch übrig war. Bevor die Spitze aus Licht jedoch auf die Brust des Kindes traf, versank dieses einfach ruckartig im Boden, als hätte etwas an seinen Haaren gezogen, die auf der Oberfläche des Öls schwammen. X konnte nicht schnell genug stoppen, wusste, sie würde in der schwarzen Lache ausrutschen, wenn sie es versuchte. Sie rettete sich mit einer Drehung, bei der sie geistesgegenwärtig die Klinge mit sich vor dem Körper führte und ihre Linie schloss. Vor ihr schnellte die Hand des Mädchens aus der Dunkelheit und hätte ihr Gesicht getroffen, wäre nicht die strahlende Nichtklinge gewesen. Es zischte, roch nach verbranntem Fleisch, dann fielen mehrere Finger zu Boden. Blut hing einen Moment in der Luft, angezogen vom warmen Licht der Pirscherklinge. Dann stürzte es in die dünne Schicht aus Öl zu ihren Füßen.
Wieder ein Schrei. Diesmal mischten sich fassungslose, gequälte Worte dazu: »Meine Finger!«, schrie das Mädchen und X konnte Tränen in der Stimme hören, die sich ihren Weg aus ihren hervorquellenden Augen bahnten. »Meine Finger! Meine Finger! Meine FINGER!«
Der Schrei ging X bis ins Mark, sie befürchtete, sich jeden Moment übergeben zu müssen. Ihr war, als hätte der Inhalt ihres Magens begonnen, zu kochen. Sie schnappte nach Luft, würgte, machte dann aber einen Ausfallschritt nach rechts und hob erneut ihre Klinge. Während das Mädchen noch immer fassungslos auf ihre verstümmelte Hand blickte - bis auf den Daumen war kein Finger mehr übrig - setzte X unter größter Anstrengung zu einem weiteren Hieb an. Schweiß stand auf ihrer Stirn, trotz der Kälte klebte ihre Kleidung klamm an ihrem Körper. Sie würde dem Mädchen den Kopf von den Schultern fegen und es endlich beenden. Noch ein Schrei würde sie in die Knie zwingen. X blinzelte, versuchte, die explodierenden Lichter vor ihren Augen zu vertreiben, spürte, wie ihre Beine begannen zu zittern. Dann, endlich, schloss das Mädchen, das Kind - das Omen - seinen Mund. X ließ ihre Klinge nach vorne schnappen. Sie hoffte, ein weiteres Verschwindemanöver in den ölgetränkten Boden mit schierer Schnelligkeit abzufangen. Es klappte - beinahe. Statt in den Boden wich das Mädchen zur Seite aus und entkam damit knapp der Klinge der Pirscherin. Sie knurrte, ein Geräusch, das X das Blut in den Adern gefrieren ließ. Doch sie sammelte sich schnell und ließ ihrem ersten Hieb eine Angriffsserie folgen, setzte dem Mädchen im Fechtschritt nach, um ihr kein Fenster zum Angriff zu bieten. Die Kleine warf sich von Seite zu Seite, entkam der Klinge jedes Mal nur um Haaresbreite. Das Licht darum leckte bereits gierig nach dem Omen, welches sich davor wegduckte. Die enthauptete Stoffkatze, die es noch immer mit der intakten Hand umklammerte, wurde hin- und hergeschleudert. X schlug gerade knapp an der Schulter des Mädchens vorbei, da verschwand es erneut im Boden.
»Verdammte Scheiße!«, stieß die Pirscherin hervor und drehte sich sogleich, um einem Angriff von hinten zu entkommen. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie das Öl zu ihren Füßen zu brodeln begann. Sie hatte gerade noch genug Zeit zurückzuspringen, bevor eine kleine, fingerlose Hand aus der dickflüssigen Schwärze des Bodens nach ihr packte. Es hätte sie am Knöchel erwischt, ein Ort, der bisher von Traumnarben noch unversehrt war.
X hob ihre Klinge und richtete sie im spitzen Winkel auf die Stelle, an der der Kopf des Mädchens auftauchen würde. Sie ging etwas in die Knie, atmete vollständig aus.
Die Krone eines Kinderkopfes schob sich aus dem Boden. Öl teilte sich um das Haar, das eng am Gesicht anlag und lief in dicken Rinnsalen daran herab. Als ihre Augen auftauchten, starrte sie geradewegs hinauf zur Pirscherin. Sie erkannte zu spät, was auf sie wartete. Wie zuvor schien sie sich geradewegs aus dem Boden zu schieben, mühelos, kraftvoll. Nur diesmal traf sie dabei auf die Nichtklinge der Pirscherin. Die Spitze setzte auf ihrem Scheitel an. Dann verschwand sie mit einem scharfen Zischen im Kopf des Mädchens. Sie öffnete den Mund zum Schrei, während sie sich stetig weiter an die Oberfläche schob, doch kein Laut drang daraus hervor.
Die Pirscherin beobachtete mit kaltem Kalkül, wie das junge Omen sich selbst auf ihre Klinge spießte. Die Stoffkatze stürzte aus erschlafften Händen und blieb im Öl am Boden liegen. X holte tief Luft und entließ ihren warmen Atem in das Grab, das dieser Ort war. Erst dann zog sie ihre Klinge aus dem Leib des Kindes. Während sein kleiner Körper zur Seite ins Öl fiel, ließ sie endlich ihre Klinge sinken.
Der Regen hatte aufgehört.
Sie erwachte in der völlig durchweichten Erde über dem Kindergrab, das Gesicht halb im Morast versunken, die Hand noch immer um den schrecklich dürren Arm des Körpers unter ihr geschlossen. X würgte, bevor sie die Augen öffnete. Zikaden sangen ihr schauerliches Lied in der vom Regen abgekühlten Nacht, während sie die Hand vorsichtig aus der Erde zog und mit angewidertem Gesicht an ihrer Hose abwischte. Dann klaubte sie die fettig glänzende Murmel vom Boden, die neben dem Grab erschienen war. Kaum stand sie aufrecht, wankend und mit flauem Magen, schlich das Friedhofskätzchen heran, das sie zuvor regungslos von seinem Platz wenige Meter entfernt beobachtet hatte.
X sah auf es hinunter.
»Lass es dir schmecken«, murmelte sie und kletterte aus dem Grab.
Die Tür des schäbigen Bordells schwang hinter ihr zu.
Nachdem sie der Mutter die Murmel gezeigt hatte, hatte diese mit versteinerter Miene die Scheine herüberwachsen lassen. Die Hälfte der versprochenen Summe, doch X war zu müde gewesen, um deshalb zu streiten. Es war nur fair, schließlich war das Mädchen zum Omen geworden. Sie hatte versagt, den Auftrag vergeigt. Als sie sich schon zum Gehen gewandt hatte und mit dem Rücken zu der jungen Prostituierten, zu der Mutter des Mädchens stand, biss sie sich auf die Lippen. Sie wollte ihr einen Vorwurf machen, sie für ihre Nachlässigkeit, ihr Kind mit einem Freier allein zu lassen, anbrüllen. Sie schütteln. Doch sie tat es nicht. Die Schuld der Mutter zu geben, wäre leicht. Leichter als sich das gesichtslose Monster vorzustellen, das nachts zu dem Mädchen gekommen war und es erdrosselt hatte. Also war sie stumm geblieben und hat das schäbige Bordell am Rand der Straße zu Forlorn verlassen.
Nicht weit von hier lag das Roadhouse einer alten Freundin und ihr stand der Sinn nach etwas, das ihr hämmerndes Herz betäuben würde.
Am nächsten Morgen, in einem schmierigen Roadhouse zwischen Loom und Forlorn, störte das Dröhnen eines Motors von draußen die drückende Stille der Mittagshitze.
Die Anwesenden schenkten dem Geräusch keine Beachtung, jeder brütete über seinem Drink oder lauschte den zwei singenden Schwestern, die in einer Ecke des Lokals gerade einen schwermütigen Kanon anstimmten. Ein Deckenventilator wälzte die stickige Luft um, geschwängert von Qualm und Schweiß.
Diese Roadhouses, meist einfache, einstöckige Gebäude an größeren Straßen der Insel, waren inzwischen Anlaufpunkt für jedwede Klientel. Ursprünglich waren sie als sichere Häfen für die Pirscher entstanden. Diese, die es werden mussten und diese, die es bereits geworden waren. Sie besaßen immer eine Bar und eine Möglichkeit zum sicheren Übernachten, manchmal ein Bad, häufig eine Werkstatt und selten saubere Toiletten. Aber immer Schlafmittel.
Dieses Roadhouse duckte sich neben der staubigen Straße, als hätte es etwas zu verbergen. Es war umgeben von Schlafmohnfeldern und die schwarzen Blütenkapseln wiegten sich verträumt im heißen Wind.
Zu dieser Stunde war der Schankraum nur mäßig gefüllt. An den Tischen saßen einige Farmer von den umliegenden Ölfeldern, die mit schwarzen Händen und leeren Blicken in ihre Drinks starrten, eine junge Frau, die zu sauber und zu gut gekleidet aussah, um Farmerin zu sein und einige Einheimische, die in ihren Siedlungen keinen Ort zum Trinken hatten. Ein junger Barmann mit einem zu kleinen Cowboyhut und Sommersprossen wischte gelangweilt die Theke. In einer Ecke saßen zwei Männer und eine Frau, allesamt mit einer leeren Schwertscheide an der Hüfte. Die Männer rauchten Opium in langen, schlanken Pfeifen. Sie unterhielten sich leise und starrten einander aus dunkel umringten Augen an, als die Schwingtür zur Bar von außen aufgestoßen wurde. Grelles Mittagslicht drang herein und ließ den Staub im Raum tanzen. Lange, athletische Beine in engen Männerhosen traten durch die Tür. Sie endeten in Kurzstiefeln mit schrägem Absatz, an denen frische Erde klebte.