Vampire sind überall - Greta Zicari - E-Book

Vampire sind überall E-Book

Greta Zicari

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Beschreibung

Was erwartet Sie hier in diesem Vampirbuch: Das Leben mehrerer Vampirgruppen untereinander, Machtkämpfe, Vampire als Jäger, aber auch Liebe zwischen den Vampiren. Einige Geschichten spielen in der heutigen Gesellschaft und zeigen das Leben von Vampiren als Integrationsmöglichkeit auf. Natürlich sind Liebe zwischen Mensch und Vampir und auch die Leiden eines Vampirdaseins Mittelpunkte von vielen Geschichten. Etwas ausgefallenere Kurzgeschichten zu Halbvampiren und vampirähnlichen Wesen runden unsere Kurzgeschichtensammlung hervorragend ab. Spannung, Tragik und Begegnungen zwischen Liebe und Hass werden Ihnen die blutigen Lesestunden versüßen ...

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Vampire sind überall

Anthologie

Alle Rechte, insbesondere aufdigitale Vervielfältigung, vorbehalten.Keine Übernahme des Buchblocks in digitaleVerzeichnisse, keine analoge Kopieohne Zustimmung des Verlages.Das Buchcover darf zur Darstellung des Buchesunter Hinweis auf den Verlag jederzeit freiverwendet werden.Eine anderweitige Vervielfältigung desCoverbildes ist nur mit Zustimmungder Coverillustratorin möglich.

Die Illustrationen im Buchblock sind urheberrechtlichgeschützt und dürfen nur mit Zustimmungder Künstler verwendet werden.

Die Personen in den Geschichten sind frei erfunden.Jede Ähnlichkeit mit lebenden, toten oder untoten Personenist rein zufällig und nicht beabsichtigt.

www.net-verlag.deErste E-Book-Auflage 2011© Coverbild: Saza BachehCovergestaltung: Mathias WeiseLayout: Maria WeiseKorrektorat: Heike Titarenko© Illustrationen:Anneke Schipper (S. 141)Maike Vierkant (S. 271)Saza Bacheh (S. 288)© net-Verlag, HennefDruck: SOWA, PLISBN 978-3-942229-41-8

Vampire sind überall

Was erwartet Sie hier in diesem Vampirbuch: Das Leben mehrerer Vampirgruppen untereinander, Machtkämpfe, Vampire als Jäger, aber auch Liebe zwischen den Vampiren. Einige Geschichten spielen in der heutigen Gesellschaft und zeigen das Leben von Vampiren als Integrations-möglichkeit auf. Natürlich sind Liebe zwischen Mensch und Vampir und auch die Leiden eines Vampirdaseins Mittelpunkte von vielen Geschichten. Etwas ausgefallenere Kurzgeschichten zu Halbvampiren und vampirähnlichen Wesen runden unsere Kurzgeschichtensammlung hervorragend ab. Spannung, Tragik und Begegnungen zwischen Liebe und Hass werden Ihnen die blutigen Lesestunden versüßen ...

Ihr net-Verlag-Team

Inhaltsverzeichnis

Greta Zicari

Motto: Tanz der Vampire

BennY Werthe

Der Schutzvampir

Anke Bastelberger-Gustavus

Ein neuer Anfang

Jana Heidler

Blutgeld

Silas Matthes

Virus

Peter Suska-Zerbes

Verliebter Jäger der Nacht

Anke Bastelberger-Gustavus und Gregor Eder

Die Jagd nach dem Schicksal

Anna Becker

Mathilde: Vampirin, N.Y.

Simone Holmer

Leise Geräusche und viel Parfüm

Elke Keller

Reisegesellschaft

Olaf Lahayne

Die Herrin der Spiegel

Valentina Mizera

Jäger der Nacht

Anneke Schipper

Unabwendbar

Anna-Maria Weigelt

WG mit einem Vampir - Nur ein Bisschen gefährlich

Sabine Barnickel

Menschenblut

David Gerhold

Blutfluch(t)

Anette Gräfe

Alte Liebe rostet nicht

Franziska Kamberger

Honig und Lavendel

Carola Kickers

Das Ghetto

Tassilo Leitherer

Fast ein Vampir – Die Hürden des Blutdurstes

Carmen Matthes

Schattenflüchter

Jacqueline Mayerhofer

Wer das Leben nicht ehrt, ist des Todes nicht wert

Diana Scott

Der Fremde

Marie-Luis Rönisch

Blutrausch

Diana Stanislawski

Der Preis der Unsterblichkeit

Vivian Vierkant

Der Köder

Alexander Boehm

Der kriechende Schatten

Swantje Bornheim

Wenn Sonnenlicht dem Mondschein weicht

Gregor Eder

Frauen mit Biss

Nicole Kovanda

In Nachbars Keller

Anja Kubica

Mein Leben lang und länger

Claudia Markwardt

Die letzte Morgendämmerung

Beatrix Mittermann

Das ewige Leben

Silas Matthes

Blutdurst

Autorenbiografien

Illustratorenbiografien

Buchempfehlungen

Greta Zicari

Motto: Tanz der Vampire

Niedergeschlagen schaute ich aus dem Fenster. Wenigstens das Wetter hatte etwas Mitleid mit mir, denn es goss wie aus Strömen. Wassertropfen donnerten auf das Dach, Pfützen bildeten sich, und vorbeifahrende Autos bespritzten mit dem Regen kämpfende Fußgänger, die ihnen daraufhin wild hinterhergestikulierten und vermutlich fluchten. Doch das konnte ich durch das geschlossene Fenster nicht hören. Mein Handy hatte ein paar Mal vibriert, doch ich hatte es ignoriert. Ich wollte mit niemandem reden. Was gab es schon groß zu sagen? Außer dem Regen war nur die Musik in meinem Zimmer zu hören. Deprimierende Musik. An diesem Donnerstagabend brauchte ich nichts als den Regen, die traurige Musik und mein Zimmer. Gerade als ich diesen Gedanken gefasst hatte, klopfte es auch schon wieder an meine Zimmertür.

Das musste meine Mutter sein. Sie kam vorhin schon mal mit einem Tablett Mitleidskeksen und einem Glas Milch vorbei.

»Ja, Mama, mir geht’s gut, ich brauche nichts«, rief ich, den Blick noch immer fest auf das Fenster gerichtet.

Die Tür öffnete sich trotzdem, und ich wollte schon genervt etwas erwidern, als eine laute Stimme dröhnte: »Kathy, du kannst nicht den ganzen Tag hier so rumlungern. Auf, ich habe Neuigkeiten! Warum gehst du auch nicht ans Handy?«

Entsetzt drehte ich mich um. Lizzy. Meine beste Freundin.

»Was ... was tust du denn hier?«, fragte ich verdattert. Ich musste die Klingel wegen der Musik überhört haben, deshalb stellte ich die Stereoanlage auch sofort etwas leiser. Musste ja nicht jeder im Haus mitbekommen, was los ist.

»Ich wusste ja, dass du dich hier vermutlich versteckst und dir die Seele aus dem Leib heulst. Da dachte ich, komme ich mal lieber vorbei und bring dir Taschentücher«, antwortete Lizzy und warf mir eine rosa Taschentuchpackung zu. Rosa? Ich sah zu ihr auf. »Bahar«, erklärte sie sofort. Trotz der Situation zuckten meine Mundwinkel ein bisschen, wie um ein Lächeln anzudeuten. Typisch Bahar. Die Dritte bei uns im Bunde war diejenige, der alles, was glitzert, plüschig und rosa ist, total gefällt. Must have.

»Du siehst ja scheußlich aus«, sagte Lizzy. So ist sie eben, immer ehrlich.

»Na danke«, antwortete ich bloß und blickte zu Boden. Sie ließ sich neben mir fallen.

»Du kannst Nico nicht ewig nachtrauern«, setzte Lizzy an, und beim Klang seines Namens muss ich hart schlucken. Natürlich habe ich pausenlos an nichts anderes gedacht, aber die Menschen im Haus, meine Eltern und mein jüngerer Bruder, haben vermieden, seinen Namen zu erwähnen, seit es passiert ist. Seit er mich betrogen hat. Es ist wirklich schwer, das vor sich selbst zuzugeben, und dann auch noch vor anderen ...

»Lizzy, wir waren fast vier Jahre zusammen«, schluchzte ich.

»Ja, schön«, erwiderte sie. »Aber das letzte Jahr hat er ja Melanie verführt, das Jahr solltest du also schon mal streichen.«

Ich weiß, dass sie nur das Beste für mich will, und zwar, dass ich ihn vergesse, aber ihre Worte verletzten mich. Als ob ich nicht selbst schon wüsste, dass Nicos Liebe zu mir verblasst wäre, reibt sie es mir noch mal unter die Nase.

»Und dann auch noch mit Melanie«, murmelte ich schwach.

»Melanie ist der hässlichste Mensch der Welt«, verkündete Lizzy, doch ich weiß, dass sie das nur sagt, um mich aufzuheitern.

Melanie hat eine sportliche Figur und eine wirklich ansehnliche Oberweite – wie kann Nico so einem Mädchen schon widerstehen?

»Ich habe etwas dabei, um dich aufzuheitern«, fuhr Lizzy fort. Für einen Moment überkam mich die Angst und gleichzeitig eine stille Hoffnung, dass sie einen bösen Racheplan vorbereitet hätte, dass wir losziehen würden und ihr Zahnpasta in den Briefkasten schmieren oder die Reifen von ihrem Fahrrad zerstechen würden. Doch es war nichts dergleichen. Geheimnisvoll griff sie in ihre giftgrüne Handtasche und zwinkerte mir zu: »Du wirst begeistert sein.«

Dann hielt sie mir die Karte entgegen.

»W... Was ist das?«, wollte ich wissen, denn sie hielt mir das Stück Pappe so nah ans Gesicht, dass ich bloß Farben erkennen konnte.

»DAS ist eine Eintrittskarte zu der angesagtesten Faschingsparty des Jahres!«, rief sie begeistert und erwartete eine Reaktion. Doch ich stand anscheinend auf dem Schlauch, denn sie fuhr leicht genervt fort: »Mensch Kathy, hast du noch nie von Quartier Latin gehört? Der Faschingsparty der Uni Frankfurt?«

Irgendwo im Hinterkopf klingelte es. »Ich bin sicherlich schon einmal an den Werbeplakaten vorbeigefahren.«

Doch Lizzy hatte sich bereits wieder den Karten zugewandt: »Ich habe uns Karten für diesen Samstag besorgt: Bahar, Jenny du und ich. Na, was sagst du?«

Was ich sage? Dass ich ganz und gar nicht in Partystimmung bin, doch so kann ich das Lizzy natürlich nicht sagen. Also versuchte ich es auf die sanfte Tour: »Lizzy, das ist echt nett von dir, aber ich glaube, ich brauche erst mal ein bisschen Ruhe ...«

»Nein, das ist die falsche Einstellung! Du musst dich ablenken – Party machen!« Lizzy sprang auf und fing an, in meinem Zimmer auf- und abzutanzen, wobei sie lauthals ein Lied sang, das ihr durch den Kopf ging, was eindeutig besser zu ihrem Tanz passte, als meine Deprimusik.

»Und ... müssen wir verkleidet gehen?«, schrie ich zu ihr hinauf, damit sie mich durch ihren Gesang und das Getrampel hörte.

»Es gibt ein Motto: Tanz der Vampire!«

Sie hielt inne und sah mich erwartungsvoll an. Schon wieder.

»Meine armen Nachbarn«, sage ich stattdessen, »du hast sie bestimmt zu Tode getanzt.«

Lizzy grinste. Sie wusste, wie ich das meinte.

Na ja, wenigstens hatte das Motto »Tanz der Vampire« ja etwas Positives.

Ich konnte schön finster auftreten. So finster, wie ich mich fühlte.

»Und was ziehst du an?«, fragte ich, während ich die Eintrittskarte in meinen Fingern drehte.

»HA! Ich wusste, ich könnte dich überzeugen!«, rief Lizzy, als wäre diese einfache Kostümfrage ein Ja gewesen. Sie fiel mir in den Arm, und in dem Moment wusste ich, dass ich meiner besten Freundin so etwas nicht abschlagen konnte. Ich seufzte. Für Lizzy würde ich also trotz Liebeskummer auf eine Party gehen und mich trotz einer großen Abneigung für Fasching verkleiden.

Am Freitag ging ich nicht zur Schule. Ich wollte keine Fragen beantworten oder dumm angemacht werden wegen dem, was passiert war. Außerdem wollte ich weder Melanie noch Nico sehen. Früher hatte ich immer die Vorteile daran geschätzt, dass Nico und ich auf dieselbe Schule gingen. Man sah sich öfters, auch in den Pausen. Jetzt sollte ich also die Schattenseiten eben dieses Phänomens kennenlernen. Stattdessen verbrachte ich den Nachmittag mit meinen drei Freundinnen in verschiedenen Geschäften auf der Suche nach Kostümen.

»Das Motto dient ja nur zur Orientierung«, hörte ich Bahar sagen. »Das heißt, man kann sich ja auch als was anderes verkleiden. Wie wäre es mit diesem süßen Erdbeerkostüm?«

»Vergiss es, Bahar«, antworteten Lizzy und ich ihr fast gleichzeitig.

»Ich fasse es immer noch nicht, dass Mel dir so was angetan hat«, sagte Jenny, während sie zwei sehr knappe Röcke in der Hand hielt und beide abwägend musterte. »Rot oder schwarz?«

»Rot ist mehr Hexenrot. Nimm schwarz«, bestimmte ich.

Sie musterte den ausgefransten roten Rock noch ein letztes Mal und hing ihn dann an eine Stange mit Polizeikostümen.

»Der gehört doch da gar nicht hin«, platzte Bahar heraus.

»Jemand wird’s schon wegräumen«, erwiderte Jenny ruhig. Typisch Bahar und Jenny. Ich musste schmunzeln.

»Ist der Rock nicht ein bisschen kurz?«, fragte Bahar schließlich, als sie den verbliebenen Rock in Jennys Hand musterte.

»Ich will ja auch kein gruseliger Vampir sein«, erklärte diese. »Ich will ein sexy Vampir sein. Sonst guckt mich doch dort keiner mit dem Arsch an, wenn ich mich vollkommen in einen dunklen Umhang verhülle.« Dann wandte sie sich an mich: »Süße, das ist deine Gelegenheit, da werden unzählige heiße Studenten auftauchen, du musst dir einen krallen.«

»Aber Nico und ich, wir ... es ist doch erst ...«, platzte es aus mir heraus.

Doch Jenny unterbrach mich: »Du hast immer noch Hoffnung, dass er zurückkommt? Vergiss es! Der Typ ist für uns gestorben und Melanie auch, klar?«

Ich nickte.

»Jenny hat auf jeden Fall recht«, sagte auch Lizzy. »Du musst Nico vergessen und weitermachen«

»Aber auf einer Party mit einem fremden Jungen?«, kreischte Bahar fast. »Nein, nein, nein Kathy, das kann ich nicht tolerieren! Er könnte Herpes haben ...«

»Oder Warzen ...« Lizzy schauderte. »Sind die nicht auch übertragbar?«

»Bevor wir jetzt die imaginären Krankheiten meines nicht existierenden imaginären Flirts besprechen, könnten wir vielleicht weiter nach Kostümen suchen?«, mischte ich mich schließlich ein.

Die anderen verstummten, und wir suchten weiter nach Kostümen. Es dauerte Stunden, bis jede von uns zufrieden mit ihrem Outfit war.

Samstag haben wir uns dann schließlich alle bei Jenny zum Fertigmachen verabredet. Ihre Eltern waren nicht da, und selbst wenn, wären sie wohl die Einzigen, die unsere Outfits, egal wie lang oder kurz, kommentarlos hinnehmen würden. Während Bahars Eltern oder mein Vater uns zu kurze Röcke sofort verbieten würden. Es ist ein bisschen seltsam, dass wir nur noch zu viert sind. Früher war Mel immer dabei. Obwohl sie sich in der letzten Zeit sehr von uns distanziert hatte, hätte ich niemals gedacht, dass sie mir so etwas antun würde. Ich, eine ihrer besten Freundinnen. Wir waren sogar noch letzten Sommer zusammen im Urlaub. Marco und Melanie, Nico und ich. Ich war für sie da, als Marco sie verließ, und wie dankte sie mir das? Indem sie mich zum Single machte. Manchmal fragte ich mich, ob sie vielleicht schon im Urlaub etwas miteinander hatten, hinter meinem Rücken. Ob Marco deshalb Schluss gemacht hatte? Nein, niemals. Er hätte es mir gesagt. Oder? Wenigstens hielten die Mädels zu mir. Bei Lizzy hatte ich nie Zweifel – doch bei Bahar und Jenny wusste ich nicht genau, was geschehen würde, da sie sowohl meine, als auch Melanies Freundinnen waren. Doch sie standen zu mir. Ob es daran lag, dass ich das Opfer der Geschichte war, oder ob es daran lag, dass Melanie sich zuvor zu sehr von uns distanziert hatte, das weiß ich nicht genau. Bahar und Lizzy zumindest würdigen sie keines Blickes mehr. Jenny redete manchmal noch mit ihr, aber nur oberflächlichen Kram.

Hatte ich mich eigentlich jemals bei ihnen für ihre Unterstützung bedankt, fragte ich mich, während ich mir weißes Make-up aufs Gesicht schmierte. Vampire sind blass. Während wir uns so fertigmachten, spürte ich, wie ich schließlich doch von der Motivation der anderen angesteckt wurde.

Jenny hatte vor, die Sau rauszulassen und sich einen netten Studenten zu angeln, und so sah auch ihr Outfit aus. Von ihrer Cousine, die einen schrägen Stil hat, hatte sie sich eine schwarze Schnürkorsage ausgeliehen. Sie war eng geschnitten und betonte ihren Oberkörper perfekt. Dazu trug sie den kurzen schwarzen Rock, den wir zusammen gekauft hatten und rote Stiefel, die perfekt zu dem Lippenstift passten, den Bahar ihr geborgt hatte.

»Wo ist denn jetzt das Kunstblut?«, fragte sie, als sie gerade mit den Händen wedelte, damit die roten Nägel schneller trockneten. Lizzy, die gerade mit einem Gebiss kämpfte, antwortete zwar, doch wir konnten sie nicht verstehen.

»Bist du sicher, dass du die Vampirzähne tragen willst?«, fragte ich sie. »Das ist doch auf Dauer total ungemütlich.«

Sie spuckte sich das Gebiss auf die Hand, und Jenny würgte, als sie die Spuckefäden daran sah: »So kriegst du nie einen ab.«

Lizzy verdrehte die Augen. Sie machte keinen Hehl daraus, dass sie Jennys Absichten blöd fand und nicht im geringsten daran interessiert war, einen Studenten aufzureißen. Lizzy war eben einfach ein Verkleidungsmensch. »Ich mag so Gebisse, da kann man so schön drauf rumbeißen«, erwiderte sie und wischte sich über den Mund.

»Na, wenn du meinst«, meinte Jenny und sah zu Bahar rüber, die als Einzige von uns nicht als Vampir gehen würde.

An ihrem Rücken hatten wir zwei schwarze Plastikfledermausflügel befestigt, und auf ihrem Kopf ragte ein schwarzer Haarreif mit zwei kleinen Fledermausöhrchen hervor. Gerade malte sie sich einen schwarzen Tupfen auf die Nase.

»Diese Flügel werden dich in deiner Bewegung einschränken und denk dran, dass es da total voll sein wird«, hatte Lizzy sie gewarnt. Aber es hatte nichts genützt, und ich musste zugeben, dass sie so ganz süß aussah. Ich dagegen wirkte eher schlicht in einem normalen schwarzen Kleid. Das Make-up würde meine langweiligen Klamotten wettmachen müssen.

»Glaubt ihr ...«, setzte ich schließlich an, denn ich musste die eine Frage loswerden, die ich mir schon seit dem Morgen stellte. Doch ich brach ab. Ich hatte nicht die Kraft dazu. Noch nicht.

Lizzy erriet meine Gedanken: »Ob wir glauben, dass Mel oder Nico da sein werden oder beide?«

Ich nickte.

»Vielleicht«, murmelte Lizzy. »Aber es ist so groß, dass wir sie nicht sehen werden ... vielleicht waren sie ja auch gestern. Ich meine, die Party ist Samstag und Freitag. Kann doch sein, dass sie nicht an unserem Tag gehen ...«

Ich lächelte schwach und fuhr fort, schwarze Striche über meine Augenlider zu ziehen. Ich hoffte einfach nur, dass wir ihnen nicht begegneten.

Diese Party glich mehr einer Halloweenparty, als einer Faschingsparty. Normalerweise war Fasching eher eine bunte Angelegenheit mit ganz viel Konfetti und bunten Kostümen: Clowns, Prinzessinnen, Piraten und Cowboys, es war immer alles vertreten. Diesmal war der Großteil der Gäste wirklich mottogetreu erschienen: Hier und da sah man ein Bunny, einen M&M oder Gefängnisstreifen, aber die große Masse war doch recht düster.

Obwohl wir uns relativ früh auf den Weg machten, standen wir doch noch etwas mehr als eine halbe Stunde in der Schlange und noch ungefähr zwanzig Minuten an der Garderobe. Bahars Laune senkte sich. Jenny hatte uns vorher eine Flasche Sekt besorgt, die wir getrunken hatten, und mir schwirrte noch immer der Kopf davon.

Im Inneren war ich überwältigt von den vielen Eindrücken. In jedem Hörsaal spielte ein anderer DJ eine andere Musikrichtung. Während wir in einem Raum zu deutschen Schlagern und alten Faschingsliedern grölten, tanzten wir im nächsten zu unseren Lieblingscharthits, nur um im nächsten Raum auf House umzusteigen. Zwischendurch eilten Kamerateams und Fotografen umher, die versuchten, die ausgefallensten Kostüme festzuhalten.

Es war in dem Raum, in dem wir zu House tanzten, als ich ihn sah. Jenny tanzte gerade mit einem fremden Graf Dracula, auf dessen Flirtversuche sie eifrig einging. Bahar tanzte so vor sich hin und wirkte schon fast ein wenig müde, und Lizzy versuchte, einen aufdringlichen Piraten loszuwerden.

Ich weiß gar nicht genau, wieso er mir auffiel, aber als ich den Kopf beim Tanzen hob, um mir die Haare aus dem Gesicht zu wedeln, da entdeckte ich ihn. Er betrat gerade den Raum, und wie vom Schicksal gewollt, sah er im selben Moment zu mir herüber. Für einen Moment schien die Zeit langsamer zu vergehen. Unsere Blicke hielten einander gefangen. Seine intensiven Augen nagelten sich an meinen fest. Auch das in Weiß geschminkte Gesicht konnte seine Schönheit nicht mindern. Ich hätte ihn ewig anschauen können, als er den Blick abwandte. Peinlich berührt wandte auch ich den Blick ab. Sicherlich musste er bemerkt haben, dass ich ihn angestarrt hatte. In dem Moment spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. Als ich mich umwandte, stand da ein merkwürdiger Typ, der aus dem Mund stark nach Bier stank, und grölte mich an: »Hey, Kleine, Lust auf ’nen Tanz?«

Während er das sagte, schwankte er ein wenig. »Nein, danke«, erwiderte ich leicht angewidert und wollte mich schon wieder umdrehen, als er mich plötzlich an sich zog.

»Komm schon, wir können auch aufs Klo verschwinden, wenn du magst ...«

Von seinem Atem wurde mir übel, und wieder wollte ich mich losreißen, doch trotz seiner Fahne war er erstaunlich stark. Eine seiner Hände landete auf meinem Hintern. Ich sah mich nach meinen Freundinnen um. Jenny knutschte mittlerweile mit dem Typen herum, und Bahar und Lizzy bestellten sich gerade an der Theke etwas zu trinken, sahen aber besorgt zu mir herüber.

Gerade als ich ihnen ein Zeichen geben wollte, zog jemand den betrunkenen Kerl von mir weg. Als ich aufblickte, sah ich den schönen Vampir von vorhin. »He, was soll das?!«, rief der Betrunkene und schaute den Fremden verstört an.

»Finger weg von meiner Freundin, sonst kriegst du es mit mir zu tun«, dröhnte der Hübsche. Obwohl ich wusste, dass er es nur sagte, um mich zu schützen, freute ich mich trotzdem insgeheim darüber, dass er mich als seine Freundin ausgab. Da der Vampir ihn um etwa zwei Köpfe überragte, gab der Kerl schließlich auf und verzog sich. Er entschuldigte sich sogar noch bei ihm.

»Hey, danke«, rief ich über die Musik hinweg zu dem Fremden.

»Gern geschehen«, erwiderte dieser ruhig. »Es sah aus, als würde er dich belästigen.«

»Mein Name ist übrigens Kathy«, sagte ich rasch und reichte ihm die Hand. Er ergriff sie, und ich war überrascht, wie kühl seine Hände trotz der unerträglichen Hitze waren.

»Damiano«, erwiderte er. Über die Musik hinweg fiel es mir schwer, ihn richtig zu verstehen.

Als er mich nun anlächelte, nahm ich all meinen Mut zusammen und fragte ihn: »Und, darf ich meinen Retter um einen Tanz bitten?«

Für einen Moment sah er wirklich überrascht aus, doch dann riss er sich zusammen und nickte freundlich. Ich ergriff die Hand, die er mir hinhielt. Automatisch legte er eine Hand auf meine Hüfte, und mit der anderen hielt er die meine. Ich war etwas verwirrt. Er setzte zu einer traditionellen Tanzhaltung an, doch ich fragte mich, wie er so zu House und Electro Beats tanzen wollte. Doch ich schwieg.

Schon nach wenigen Schritten stellten wir fest, dass unsere Tanzstile gar nicht miteinander kompatibel waren. Ich trug es mit Fassung, lachte, aber er sah gequält aus. »Lass uns etwas zu trinken bestellen«, versuchte ich, die Atmosphäre aufzulockern.

Ich bestellte eine Cola und er nichts. Er betrachtete mich nur ruhig, wie ich an meiner Cola nippte. Die Stimmung war deutlich besser, wir quatschten munter drauf los. Ich erfuhr, dass seine Familie schon seit Jahren in Frankfurt lebte, aber dass sie ursprünglich italienische Wurzeln hatten. Ihm gefielen meine Augen.

»Hey, wie machst du das, dass dein Make-up gar nicht verwischt. Ich bin mittlerweile bestimmt wieder total Rosa vom ganzen Schwitzen, und du bist weiß, wie eh und je ...« Er lachte.

»Man muss nur wissen, wie.« Da fielen mir seine spitzen Zähne auf.

»Wow, wie hältst du es nur die ganze Zeit mit den falschen Zähnen aus? Meine Freundin Lizzy«, ich drehte mich um und deutete auf Lizzy, die mit Bahar in einer Ecke stand und uns beobachtete, »die hatte am Anfang auch ein Gebiss drin, aber es war viel zu ungemütlich auf die Dauer ...«

»Wow«, er blickte auf seine Uhr, »da hat sie aber schnell aufgegeben, es ist gerade mal halb eins.«

Ich erstarrte. Halb eins. Die letzte Bahn! Wenn wir nicht bis 5 Uhr morgens warten wollten, sollten wir schleunigst zur Garderobe eilen und versuchen, unsere Jacken noch vor eins zu erwischen, um noch rechtzeitig zur Bahn zu kommen. Um 1.18 Uhr fuhr unsere letzte Bahn. Doch dann schaute ich auf und sah in die wunderschönen dunklen Augen meines Gegenübers und wusste, dass ich nicht gehen wollte.

Noch nicht.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte er.

»Na ja, also unsere letzte Bahn fährt bald«, sagte ich schließlich, da ich wusste, dass Bahar die Uhr im Auge behalten würde.

»Oh, okay«, erwiderte er. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Lizzy auf Jenny zusteuerte und Bahar auf mich. Sie würde mir jeden Augenblick Bescheid sagen, wann wir gehen würden.

»Sehen wir uns wieder?«, platzte es aus mir heraus, ehe ich darüber nachdenken konnte. Der Zeitdruck machte mich wahnsinnig.

Wieso sagte er nichts? Da beugte er sich vor, wie um mir etwas zuzuflüstern. Und – auf einmal küsste er mich. Seine Lippen berührten meine, und ein seltsames Kribbeln durchfuhr meinen Bauch. Dank meiner hohen Schuhe musste ich mich nicht auf Zehenspitzen stellen, trotzdem reckte ich den Kopf ein wenig.

In dem Moment tauchte eine Fotografin auf: »Hey, ihr zwei Süßen, ein Foto?« Und bevor wir so recht wussten, was geschah, hatte die Fotografin auch schon ein Foto von uns beiden geknipst.

Dann sah er mich an: »Ich glaube, es ist keine gute Idee, dass wir uns wiedersehen.«

Ich starrte ihn an. Das verstand ich nicht. Erst küsste er mich, und jetzt das?

»Kathy, wir müssen langsam ...«, hörte ich Bahars Stimme plötzlich neben mir.

»Ja, einen Moment«, erwiderte ich rasch und dann an Damiano gewandt: »Wieso?«

Er schluckte, dann beugte er sich wieder vor, aber diesmal flüsterte er mir etwas ins Ohr: »Die Antworten liegen im Bus Nr. 36, Richtung Hainer Weg, eine der letzten Stationen.« Dann gab er mir einen sanften Kuss auf die Wange, nickte Bahar zu und verschwand in der Menge. Ich starrte ihm fassungslos nach, während ich versuchte, seine Worte zu verarbeiten.

Wir erwischten gerade noch so die Bahn nach Hause, und Jenny erzählte uns auf der Heimfahrt alles von Ian, einem Engländer, der in Deutschland studiert. Stolz zeigte sie uns seine Telefonnummer, die er ihr in den Ausschnitt geschrieben hatte. Sie kicherte. »Wir werden uns wiedersehen.«

»Hey, aber jetzt zu dir«, unterbrach sie Lizzy und sah mich an. »Wer war dieser Typ?«

Für einen Moment stellte ich mich dumm: »Wer?«

»Na, der große, dunkelhaarige ... Bahar meinte, ihr hättet euch geküsst«, fuhr Lizzy fort.

Ich errötete: »Na ja, er hat mich geküsst ...«

»Das stimmt«, bestätigte Bahar. »Aber du sahst so aus, als hätte es dir gefallen.« Sie wirkte ein wenig vorwurfsvoll, und ich blickte auf meine Knie.

»Weißt du, wie er heißt?«, fragte Jenny. »Hast du seine Nummer? Seht ihr euch wieder?«

»Er heißt Damiano, das ist alles, was ich weiß«, erwiderte ich frustriert. »Und er hat etwas von einem 36er Bus geredet, keine Ahnung. Vielleicht wohnt er in die Richtung.«

Sie merkten, dass ich nicht darüber reden wollte, aber Jenny fuhr fort: »Na gut, ich schaue mir einfach auf der Webseite der Fotografen mal sein Foto an. Bahar meinte, jemand hat ein Foto von euch beiden geschossen. Ich hab den ja gar nicht gesehen, ich war ja so beschäftigt mit Ian ...« So waren wir wieder bei Jenny. Ich war dankbar für die Ablenkung, und mein Blick verlor sich aus dem Fenster.

Zwei Tage später schickte Jenny mir einen Link zu den Fotos in einer Email.

»Hey Sweety,

hier ist der Link zu den Fotos! Es sind über achthundert!! Wir müssen uns unbedingt suchen. Halte Ausschau nach Ian und mir. Bussi, Jenny.«

Damiano ... ich hatte weder etwas von ihm gehört, noch hatte ich ihn gesehen seit Quartier Latin, und ich fragte mich, ob ich wirklich die Fotos anschauen sollte. Es hatte doch eh keinen Sinn, ich hatte ja nicht mal seine Nummer. Den rätselhaften Hinweis hatte ich auch nicht befolgt. Wieso auch? Am Hainer Weg wohnten sicher viele Menschen. Da konnte ich ja ewig suchen.

Bahar kam wenig später zum Englisch lernen vorbei, und nach einer halben Stunde Vokabeln wandten wir uns doch wieder Jennys E-Mail zu und stöberten durch die Fotos. Jenny und Ian waren schnell gefunden, doch als wir das Foto erreichten, auf dem Damiano und ich zu sehen sein sollten, standen wir beide vor einem Rätsel. Auf dem Foto war nur ich zu sehen. Keine Spur von Damiano. Verdutzt starrten wir auf das Foto. Es war klar, dass es das Foto mit Damiano sein musste, da mein Arm so komisch in der Luft hing, als wolle ich jemanden umarmen. »Das verstehe ich nicht ...«, sagte ich. »Wieso haben sie ihn rausgeschnitten?«

Wir rätselten noch eine Weile weiter, und Bahar durchsuchte zur Sicherheit noch mal alle Fotos, bis sie schließlich aufschrie: »Oh je, oh je, Kathy. Vampire haben kein Spiegelbild!«

»Was meinst du?«, fragte ich verwirrt.

»Na ja, wenn sie kein Spiegelbild haben, dann gibt es sie bestimmt auch nicht auf Fotos!« Bahar kreischte mittlerweile. »Hat er sich irgendwie eigenartig benommen?« Ich wusste ja, dass sie abergläubisch ist, aber plötzlich machte sie mir fast ein wenig Angst.

Ich versuchte, mich daran zu erinnern. Mir fallen nur einige Details an. Seine Geduld mit den Zähnen. Dass seine Familie schon seit Jahren in Frankfurt lebt. Seine altertümliche Art zu tanzen ... Ich schluckte. Bahar sah mich erwartungsvoll an, doch ich sagte nichts.

»Wohin, hast du noch mal gesagt, fährt dieser Bus?«, fragte sie schließlich.

»Richtung Hainer Weg, das ist alles, was ich weiß«, erwiderte ich ruhig.

Bahar öffnete mit wenigen Klicks eine Suchmaschine auf meinem Computer und tippte geduldig etwas ein. Wenig später erschien der Busplan der Linie 36 auf meinem Bildschirm. Wir hielten die Luft an, als Bahar auf die drittletzte Station deutete: Südfriedhof.

BennY Werthe

Der Schutzvampir

Schweißgebadet schreckte ich hoch, wieder so eine Nacht, wieder dieser Traum. Suchend tastete ich zum Einschaltknopf meiner Nachttischlampe und drücke ihn. Warmes Licht flutete den Raum, langsam setzte ich mich auf und griff zu der Wasserflasche, die ich mir abends bereitgestellt hatte. In kleinen Schlucken trank ich und versuchte, Schluck für Schluck den Albtraum fortzuspülen.

Kopfschüttelnd fragte ich mich, woher diese Träume – insbesondere dieser – kamen.

Ich mochte keine Horrorfilme und sah mir auch selten einen an. Manchmal sah ich mir einen solchen Film mit Mike an, doch von ihm war ich bereits ein halbes Jahr getrennt.

Träge schweiften meine Gedanken zurück zu der Zeit, in der Mike und ich noch als Traumpaar gegolten hatten.

Kurz vor unserem Schulabschluss kamen wir zusammen, über Jahre hinweg lief es harmonisch, und wir liebten uns wie am ersten Tag. Doch kaum hatten wir unsere erste gemeinsame Wohnung bezogen, änderte Mike sich schlagartig. Er wurde launisch, aufbrausend, und letztendlich hatte er sich komplett entfremdet.

Ich hatte gekämpft, hatte gehofft, es wäre nur eine Phase, doch irgendwann war auch meine Kraft zu Ende, und wir beendeten es. Mikes kühle Reaktion werde ich nie vergessen. Er zuckte nur mit den Schultern, packte seinen Koffer und verschwand noch in der gleichen Stunde, ohne sich auch nur zu verabschieden.

Geschockt über diese Reaktion und zutiefst traurig, meine große Liebe auf diesem Weg verloren zu haben, fuhr ich eine Woche zu meiner Mutter, die ein paar Hundert Kilometer entfernt auf einem kleinen Bauernhof wohnte.

Als ich so in Gedanken versunken dasaß, immer noch zittrig und mit der Wasserflasche in der Hand, hörte ich plötzlich, wie ein kräftiger Wind in die Blätter der großen Eiche vor meinem Schlafzimmer fuhr. Kurz darauf folgte ein dumpfer Knall.

Schreckensbleich schlich ich ans Fenster, schob den Vorhang ein Stück zur Seite und konnte meinen Augen nicht glauben.

Zwischen den Blättern sah ich, durch den Vollmond hell erleuchtet, Mikes Gesicht unnatürlich blass hervorblitzen. Er trug einen schwarzen Anzug, darunter, wie es schien, ein schwarzes Shirt und das Einzige, was sich in der Farbe unterschied, war seine schneeweiße Krawatte. Ein Blick zu Boden beschleunigte meinen Puls noch mehr. Scheinbar war nicht nur Mike gekommen, um mich auszuspionieren, sondern noch jemand. Dieser trug ebenfalls einen Anzug, jedoch in sattem Rot mit schwarzer Krawatte, und bei genauerem Hinsehen konnte ich ihn als Tyler erkennen. Früher konnte Mike Tyler auf den Tod nicht ausstehen, doch scheinbar hatte sich mit seinem Wandel auch das verändert.

Ein geräuschvolles Kratzen an der Schlafzimmertüre verriet mir, dass Mephisto, mein Kater, zu mir wollte. Ich öffnete ihm die Tür und wendete meine Blicke wieder dem Geschehen vor dem Fenster zu.

Verwirrt sah ich noch einmal genauer hin, aber da war nichts. Keine Spur von Tyler, Mike, oder davon, dass jemand gerade noch im Baum gesessen hatte.

Ich blickte zum Wecker und beschloss, noch ein paar Runden zu schlafen. Vielleicht hatte ich mir das alles in meiner Panik auch nur eingebildet.

Als der Wecker klingelte, erschien es mir, als hätte ich nur wenige Minuten geschlafen, obwohl ich wusste, dass es mindestens drei Stunden gewesen sein mussten. Träge erhob ich mich, streichelte Mephisto über sein rot-getigertes Fell und schlenderte, mit meinen Klamotten über dem Arm, ins Bad. Fröhlich singend stieg ich schließlich wieder aus der Dusche, umwickelte mich mit einem flauschigen Badetuch und stellte mich mit dem Föhn in der Hand vor den vom Dampf angelaufenen Spiegel. Ich steckte den Stecker des Föhns in die Steckdose, begann zu föhnen und warf einen Blick in den Spiegel. Ein lauter Schrei entfloh mir, und mein Herz schlug mir bis zum Hals. Im Spiegel sah ich Mike, der mir gerade über die Schulter schaute, und ein eisiger Windhauch zog an meinem Rücken vorbei. Langsam drehte ich mich um – doch da war niemand.

Verstört verließ ich schließlich die Wohnung und machte mich auf den Weg zur Arbeit.

»Guten Morgen, Tina«, rief Clark, mein Chef, mir entgegen.

»Morgen, Clark«, grüßte ich zurück.

»Tina, es gibt ein Problem. Bitte komm doch kurz her!«, zitierte er mich in sein Büro. Entschlossen ging ich hinein und setzte mich auf den Besuchersessel, den Clark mir zugewiesen hatte.

»Was gibt es denn, Chef?«, erkundigte ich mich.

»Tina, wir haben einen größeren Auftrag hereinbekommen, das Problem ist, er müsste heute Abend noch fertig werden. Wärst du so lieb und würdest heute länger bleiben? Du kannst dir dafür morgen freinehmen, dann hast du ein langes Wochenende!«, verkündete Clark.

Ich überlegte kurz. »Ja Clark, ein langes Wochenende kommt mir gerade recht, ich mach den Auftrag heute noch fertig«, teilte ich ihm mit.

Mit einer Tasse Kaffee aus dem Pausenraum eilte ich schließlich zu meinem Platz, den ich bis spät abends nur kurzzeitig verließ.

Es war bereits dunkel, als ich die Bürotür hinter mir schloss und mich über den großen Parkplatz auf den Weg zu meinem Audi machte. Obwohl die Blätter bereits begannen, bunte Farben anzunehmen, und ich schon seit einiger Zeit das Haus nicht mehr ohne Jacke verließ, wunderte ich mich über den an diesem Abend meiner Meinung nach besonders eisigen Wind.

Vor Kälte zitternd steckte ich den Autoschlüssel ins Schloss. Der Wind begann, heulend durch die Bäume zu streichen, und ich war froh, als ich schließlich im Auto saß. Von meinem Arbeitsplatz bis nach Hause war es nur gut eine Viertelstunde. Ich drehte die Musik auf und sang lauthals mit, als plötzlich mitten auf einer Freilandstraße eine dunkle Gestalt hinter einem Baum hervorsprang.

Ich bremste heftig, und mit laut quietschenden Reifen kam der Wagen zum Stehen.

Fassungslos starrte ich durch die Windschutzscheibe. Da stand Mike, auf einer verlassenen Landstraße, spätabends, mitten im Herbst. Meine Gedanken wanderten automatisch zur vergangenen Nacht, und mein Puls begann zu rasen.

Mit starrem, eisigem Blick bedeutete Mike mir auszusteigen und zu ihm zu kommen. Meine Angst jedoch hielt mich davon ab. Wieder bedeutete er mir auszusteigen, wieder verneinte ich. Als er – wie ich annahm – mich so wütend anfunkelte, dass ich befürchtete, er würde mir bei einer weiteren Weigerung etwas antun, stieg ich schließlich mit weichen Knien aus dem Wagen. Mein Magen verkrampfte sich, und Schritt für Schritt ging ich auf Mike zu.

Mit jedem Stück, das ich ihm näherkam, bettelte ich darum, er möge mir nichts tun.

Ich befand mich nur noch eine Armlänge entfernt von ihm, als er nach mir griff und mich an sich zog. Ich spürte seinen kalten Atem an meinem Ohr und hörte, wie er mir leise zuflüsterte, ich solle einen Blick zu meinem Auto werfen.

Als ich tat, was Mike mir befohlen hatte, gaben meine Knie nach, doch Mike hielt mich auf den Beinen.

In meinem Auto saß Tyler, seine Augen leuchteten gelb, und sein Gesicht wies die gleiche Blässe auf wie bei Mike.

»Was ist hier los«, fragte ich mit weinerlicher Stimme. Mike nahm mich in den Arm, warf einen eisigen Blick Richtung Auto und lief mit mir hinter den Baum. Dort hielt er mich weiter so fest, dass ich befürchtete, meine Rippen würden gleich nachgeben. Plötzlich wurde es dunkel um mich, ich verlor mein Zeitgefühl und war vollkommen verwirrt.

Das Nächste, woran ich mich erinnern konnte, war, dass wir in einem Saal standen. Es schien ein Rittersaal zu sein, klobige aber edle Möbel, ein steinerner Boden und Wände, die aus großen Steinquadern erbaut zu sein schienen. An den Wänden entlang standen alte Holztruhen mit verschiedenen Wappen, und in der Mitte des Raumes befand sich ein großer Tisch, an dem ein paar Leute versammelt waren. Das fahle Mondlicht, das durch das Fenster fiel, und das Flackern der Kerzen ließen die ganze Situation sehr skurril anmuten.

»Du hast sie also unversehrt hierher gebracht, Bruder?«, fragte eine glockenhelle Stimme und meinte damit scheinbar Mike.

»Ja, das habe ich, aber es war sehr knapp«, antwortete dieser.

Verwirrt sah ich von einem zum anderen. Meine Stimme stockte immer wieder, und ich brauchte einige Minuten, um zu fragen, was hier los sei.

Mike nahm mich an die Hand, führte mich zu einem der Stühle, und vollkommen erschöpft von der Aufregung ließ ich mich darauf sinken.

»Was wird hier gespielt? Wo zum Teufel bin ich hier, und wie komme ich wieder nach Hause«, stotterte ich unsicher.

Mike sah mir tief in die Augen, setzte sich auf einen Stuhl nah neben mich und hielt mit seinen kalten Händen, die sich anfühlten wie kalter Marmor, meine zitternde Hand fest.

»Lass mich es ihr erklären.« Bei diesen Worten erhob sich ein Mann ungefähr Mitte vierzig, der mich die ganze Zeit aus seinen dunklen Augen angesehen hatte und mich mit seiner Stimme immens beruhigte.

»Du bist hier auf Schloss Eichenhain. Wir wissen, dass du Mikes Freundin warst. Vielleicht hilft dir der heutige Tag dabei zu verstehen, was damals passierte. Vor vielen Monaten, ich bin mir nicht sicher, ob du dich daran noch erinnern kannst, hast du Tyler, einen Arbeitskollegen von Mike, vor seinen gesamten Freunden bloßgestellt.

Das Problem: Tyler ist ein Vampir. Vampire, insbesondere die Schlechtgesinnten, sind sehr stolze Wesen. Sie lassen sich nicht blamieren und wenn, so streben sie nach Vergeltung.

Du hast dich sicher schon darüber gewundert, dass Mike so kalte Hände hat und so ungewöhnlich blass ist. Wir alle hier – außer dir – gehören den Vampiren an. Der Unterschied ist, dass wir gut sind. Wir wollen den Menschen nichts Negatives. Wir ernähren uns zwar so wie unsere Gleichgesinnten auf der dunklen Seite von Blut, jedoch haben wir jemanden in jedem Krankenhaus, der immer wieder etwas davon abzweigt und uns somit hilft.

Damals, als du Tyler bloßgestellt hast, sann er auf Rache.

Nur durch einen Zufall konnte Mike verhindern, dass Tyler dir etwas antut. Mike selbst wurde dabei aber verletzt, und ich war derjenige, der ihn in diesem verlassenen Hinterhof, auf dem sie die Auseinandersetzung hatten, fand. Die einzige Rettung für Mike bestand darin, ihn in den Kreis der Vampire aufzunehmen.

So nahm das Unglück seinen Lauf. Uns Vampiren ist die Liebe zu Menschen strengstens untersagt. Deswegen musste Mike sich so sehr ändern, dass du die Beziehung freiwillig beendet hast.

Dir jedoch hat Mike damit das Leben gerettet. Tyler verschwand für einige Zeit, und wir dachten, du hättest nun deine Ruhe vor ihm. Mike hat durch seine Liebe zu dir so eine innige Verbindung, dass er instinktiv spürte, als du in Gefahr warst. Obwohl er sich geschworen hatte, dir in Zukunft fernzubleiben, konnte er nicht anders, als in dem Baum vor deinem Fenster über dich zu wachen.

Eines Tages tauchte Tyler schließlich wieder auf, er hatte jedoch nicht mit Widerstand gerechnet, und als er einen unfreiwilligen Zusammenstoß mit Mike hatte, bei welchem dieser ihn vom Baum stieß, zog er unverrichteter Dinge wieder ab.

Mike jedoch war überzeugt, dass es nicht Tylers letzter Versuch war und blieb von diesem Zeitpunkt an immer in deiner Nähe.

Was heute Abend passiert ist, weißt du ja sicher besser als jeder andere, das brauche ich dir nicht mehr zu erklären!«, beendete der Vampir seinen Vortrag.

Mit trockenem Mund starrte ich ihn an und blickte dann ängstlich zu Mike. »Was heißt das für mich? Werde ich in Zukunft nie wieder ungestört leben können?« Kaum hatte ich fertiggesprochen, liefen mir schon die Tränen über die Wangen.

»Das heißt«, sprach Mike, »dass du wohl niemals deine Ruhe vor Tyler haben wirst, ehe du tot bist – oder wie wir, ein Vampir.«

Lautes Schluchzen verriet den anderen, was wohl in mir vorging.

»Was bedeutet ein Leben als Vampir«, fragte ich schließlich, als ich mich wieder etwas gefangen hatte.

Der ältere Vampir übernahm das Ruder wieder und erklärte: »Als Vampir hast du heutzutage beinahe keine Einschränkungen mehr. Die Sonne brauchst du nicht meiden, dafür haben wir ein Mittel entdeckt. Deine Nahrung wird nicht mehr die eines Menschen sein, du wirst dich ebenfalls von Blut ernähren müssen. Was die blasse Hautfarbe betrifft – du kannst sie überschminken, sodass du auch den Alltag ganz normal weiterleben kannst. Das tun wir alle, außer wir kommen wie heute in einer Runde zusammen, in der sich nur Vampire befinden! Die Verwandlung in einen Vampir funktionierte früher nur dadurch, von einem anderen Vampir gebissen zu werden – auch das hat sich geändert. Mittlerweile gibt es dafür ein Serum, das dir ins Blut gespritzt wird. Du wirst zwölf Stunden im Tiefschlaf verbringen und als Vampir wieder erwachen.«

Ich hörte zu, unwillkürlich begann ich zu nicken. Ich war zu jung zum Sterben, und wenn das meine einzige Möglichkeit war, dann musste ich sie wahrnehmen. Mein Nicken nahm der Vampir als Zustimmung wahr und holte aus einer der Truhen eine Spritze mit besagtem Serum.

Mit den Worten, dass ich mehr Vertrauen zu ihm hätte, drückte er Mike die Spritze in die Hand.

Dieser half mir auf, schlang seinen Arm um mich und brachte mich in einen Nebenraum, in dem sich ein großes, mit rotem Samt behangenes Himmelbett befand. Auf dieses bettete Mike mich, küsste meine Stirn, setzte die Nadel an und wartete auf mein Okay.

Zögernd nickte ich. Ich dachte noch daran, dass ich nun endlich wieder mit Mike zusammen sein könnte, schloss meine Augen, und mit einem friedlichen Lächeln im Gesicht fiel ich in einen tiefen Schlaf.

Anke Bastelberger-Gustavus

Ein neuer Anfang

Laute Discomusik dröhnte auf die Straße hinaus. Wieder ging irgendwo eine Tür, und die Musik wurde noch lauter. Ja, die Nachbarn beschwerten sich jede Nacht und schrieben Protestbriefe an die Stadt, aber es half nichts. Die Disco blieb genau da, wo sie war.

In der kleinen Gasse hinter der Diskothek vergnügte sich gerade ein Paar an der Hauswand. Sie hatten den Weg bis in die nahe Wohnung einfach nicht mehr geschafft und waren übereinander hergefallen, während ein Stück weiter ein Dealer unbeeindruckt von dem Gestöhne gerade eine Tüte Stoff an einen Kunden verkaufte.

Ja, dies hier war der perfekte Ort, um zu jagen. Pierre stand im Schatten der großen Mülltonnen und beobachtete die Szenen um sich herum. Er lachte, und dabei blitzten seine langen weißen Fänge auf und reflektierten für einen kurzen Moment das Mondlicht.

»Na, schon wieder auf Beute aus?«, fragte eine weibliche Stimme hinter ihm. Auch wenn er sie lange nicht mehr gehört hatte, erkannte er sie sofort, und sein Lachen verschwand. Er drehte sich betont langsam um und winkte ihr zu.

»Dein letzter Beutezug scheint auch nicht gerade ergiebig gewesen zu sein, Dana, also immer locker bleiben. Willst du einem Profi bei der Jagd zusehen?«, erwiderte er der Frau betont lässig.

»Wenn du wüsstest«, bekam er lachend zur Antwort.

»Was verschafft mir dann die Ehre? Wie viele Jahre haben wir uns nicht mehr gesehen, hundert?« Pierres Stimme klang sehr von sich eingenommen und überheblich, als er sie von oben bis unten musterte.

»Verdammt, Pierre, ich habe gar keine andere Wahl. Wir sind nur noch wenige. Wenn wir nicht bald einen neuen Weg finden, sind wir als Volk verloren«, sagte Dana und tauchte nun endgültig neben ihm auf. Die junge Vampirin war noch immer schön wie die Nacht, aber auch so gefährlich. Ihre blasse Haut und die schwarzen Wimpern betonten ihr perfektes Gesicht, eingerahmt von langen, schwarzen und welligen Haaren. Sie war der Inbegriff für das, wofür viele dieser Idioten in der Disco sterben würden.

»Ich habe schon gehört, dass du wieder in der Stadt bist. Komm, zieh Leine, Frau. Such dir einen anderen für dein seltsames Gequatsche. Du ruinierst mir hier noch die perfekte Möglichkeit«, erwiderte Pierre deutlich genervt, als er bemerkte, wie gut sie aussah.

»Perfekte Möglichkeit?« Dana lachte kalt. »Wer von denen da ist bitte perfekt? Schau sie dir doch mal an. Der Typ mit der Tüte in der Hand ist vollgedröhnt mit den unterschiedlichsten Drogen. Willst du die ganze Nacht kotzen? Dafür wäre er perfekt. Oder der Dealer, hast du seine Arme gesehen? Er ist ein Fixer, und du weißt, dass auch ein Vampir empfänglich für harte Drogen ist. Willst du morgen auch so armselig sein wie das Würstchen dort? Willst du wirklich das gleiche Schicksal erleiden wie einige deiner alten Kameraden?« Die Vampirin lachte leise und ließ ihre Hand auf seine Schulter sinken.

»Wer redet denn von den beiden. Ich weiß, was das Zeug mit uns anstellt. Ich habe mehr als genug Freunde daran sterben sehen. Danke, ich brauche deine Belehrung nicht«, erwiderte Pierre und schüttelte unwillig die Hand Danas ab. Konnte die junge Vampirin nicht einfach abhauen und ihn alleine lassen? Wie kam es nur, dass sie noch immer so schön war wie damals und er nur noch ein Schatten seiner selbst?

»Das Pärchen? Du willst wirklich das Pärchen? Sie ist so betrunken, dass sie morgen nicht einmal mehr weiß, wer sie da geschwängert hat. Außerdem hat er HIV, also lass es. Die beiden haben auch ohne uns eine miserable Zukunft vor sich.« Dana schüttelte nur unwillig den Kopf und packte sein Gesicht, sodass er ihr direkt in die Augen sehen musste. »Sieh es endlich ein, die Welt hat sich verändert. Die Gefahren, die hier auf uns warten, sind unendlich groß geworden. Unser Blut ist einfach nicht mehr stark genug, um sich gegen Krankheiten, Medikamente und Drogen zu wehren. Das Menschenblut dieser Loser ist inzwischen unser Untergang!« Danas Worte wurden immer eindringlicher.

Pierre fluchte, als er sah, wie das Pärchen abzog, als ein Streifenwagen um die Ecke bog. »Verdammt, Dana, für einen kurzen Imbiss wäre es genug gewesen«, sagte er wütend und packte sie bei den Schultern. »Wovon sollen wir bitte überleben, wenn wir nicht von diesen Menschen trinken?«, fragte er noch immer wütend.

»Pierre, bitte, gib mir die Chance, es dir zu zeigen. Menschen und Vampire können sich gegenseitig helfen«, sagte sie sanft und hielt sich an ihm fest. Der Vampir konnte nicht einmal mehr reagieren, als er sich zusammen mit Dana in der Gasse auflöste.

---Kleine Farm außerhalb der Stadt---

Als er sich rematerialisierte, war er richtig sauer. Was fiel ihr ein, ihn ohne Zustimmung irgendwohin zu bringen. Wütend begann er zu knurren und wäre ihr am liebsten direkt an den Hals gesprungen.

»Hör auf zu fauchen wie ein wütender Eber! Freiwillig wärst du nie mitgekommen. Ich muss es dir aber zeigen, sonst glaubst du mir kein Wort. Hier lebe ich zusammen mit einigen anderen. Komm herein, und du wirst sehen, dass auch du willkommen bist«, sagte Dana und ging vor. Pierre war viel zu überrumpelt von dieser Ansage, um ihr nicht zu folgen.

Quietschend öffnete sich zunächst das Gartentor. Dana blieb an einem Busch stehen und griff hinein, was Pierre die Stirn runzeln ließ. »Entschuldige, aber wir haben einige Fallen eingebaut, um Fremde und uns feindlich gesonnene Wesen fernzuhalten«, sagte Dana, und eine Art Scanner schien ihr Profil abzufahren.

»Meine Güte, was für ein Aufwand«, sagte Pierre, und sein Magen knurrte verdächtig.

»Warst du nicht erst letzte Nacht auf Jagd?«, fragte Dana, die das Knurren gehört hatte. »Und du willst mir im Ernst erzählen, es wäre noch alles so wie früher? Komm, hör auf, dich selbst zu belügen. Als ich dich vor zweihundert Jahren kennengelernt habe, warst du stark wie ein Bär und konntest mit einer Mahlzeit zwei Wochen auskommen. Wenn ich dich jetzt so sehe, habe ich das Gefühl, ich könnte dich in der Mitte durchbrechen, so gebrechlich bist du geworden.« Dana ging nach einem bestätigenden Piepsen weiter.

In dieser Beziehung musste Pierre ihr recht geben. Ja, vor zweihundert Jahren war alles noch anders gewesen. Sie hatten in großen Familien in Saus und Braus gelebt. Es gab keinen einzigen Tag, an dem sie nicht gefeiert hätten. Damals war er noch ein Jungvampir, der gerade erst seine Pubertät hinter sich gebracht hatte. Jetzt, in der Blüte seiner Manneskraft, war er nur noch ein Schatten seiner selbst. Seine Muskeln konnten gerade noch dafür sorgen, dass er aufrecht gehen konnte, und gegen einen gut gebauten Menschen hatte er keine Chance mehr. Auch fühlte er sich entsetzlich kraftlos, und er wusste, dass in seinem Körper Dinge zirkulierten, die er lieber nicht bestimmen ließ.

Pierre hatte Dana damals auf einer Party kennengelernt, wo sie vergeblich versucht hatte, zwei junge Menschenmädchen davor zu bewahren, von den Partygästen geschändet und dann ausgesaugt zu werden. Es war schon immer eines der Hauptvergnügen der Gesellschaft gewesen, Jungfrauen zu präsentieren und den jungen männlichen Vampiren die Gelegenheit zu geben, ihre Männlichkeit in aller Öffentlichkeit zu zeigen. Ja, ihre Gesellschaft war dekadent und überheblich gewesen, was auch ihren Untergang eingeläutet hatte. Dana hingegen war schon immer anders gewesen. Sie wollte mit den Menschen zusammenleben und eine Zweckgemeinschaft bilden. Jedoch blieben ihre Ideen und Ermahnungen ungehört, und auch Pierre hatte über die düstere Zukunft, von der sie gesprochen hatte, gelacht.

Heute waren Vampire nur noch Einzelkämpfer, die sich ab und zu mal im kleinen und verborgenen Kreis trafen. Nur nicht auffallen, nur nicht in den Blickpunkt der Öffentlichkeit geraten, war die Hauptdevise. Mit Vampiren machten die Menschen noch heute kurzen Prozess. Wenn er bedachte, dass sie auch Jahrhunderte unter ihnen gelitten hatten, konnte er es ihnen nicht einmal verdenken. Früher, als die menschlichen Gegner noch mit Pfählen und Heugabeln hinter ihnen her gewesen waren, hatten sie ja noch eine Chance gehabt. Auch wenn das mit dem Weihwasser, Knoblauch oder auch dem christlichen Kreuz reiner Aberglaube gewesen war. Der Untergang der Vampire wurde durch ganz andere Dinge eingeleitet, die inzwischen sehr weit verbreitet waren. Eine Kugel in das Herz eines Vampirs, und er war Geschichte. Auch Verletzungen, die einen großen Blutverlust bedeuteten, verliefen meist tödlich. Wenn man es so wollte, unterschieden sich Menschen und Vampire nicht sonderlich voneinander.

Die Fliegentür der Terrasse schwang auf, und ein junger Mann mit geladener Waffe trat heraus. »Dana, wen zum Teufel bringst du da mit? Du bringst uns alle in Gefahr«, waren die warnenden Worte des Mannes.

»Ganz ruhig, Phil, das ist ein alter Freund von mir«, erwiderte Dana ruhig und schob sich vor Pierre, der darüber sehr erstaunt war. »Ich habe ihn die ganze Zeit gesucht, und wenn mein Volk eine Chance haben will, dann durch ihn«, fügte sie selbstbewusst hinzu.

Dana ging unbeeindruckt auf den Mann mit dem Gewehr zu und schob dann den geladenen Lauf weg. »Verdammt, Phil, ich weiß, was ich hier tue. Du musst mich nicht beschützen, ich bin alt genug, um es selbst zu tun.« Phil warf Pierre einen wütenden Blick zu und trollte sich dann.

»Was war das denn für ein Vogel?«, fragte Pierre ungläubig, als sich Dana auf die alte Schiffsschaukel auf der Terrasse setzte und er sich neben sie.

Die junge Vampirin stieß sich ein wenig ab, und so schaukelten sie eine kurze Weile, bevor Dana weitersprach. »Das, mein Lieber, war Phil. Er ist der Sohn von Mark und Antonia Torrel, den Menschen, bei denen ich seit fast 100 Jahren lebe«, erwiderte Dana ruhig und grinste.

»Wie bitte? Du lebst bei Menschen?«, erwiderte Pierre, und seine Zähne verlängerten sich augenblicklich.

»Vergiss es. Wenn du ihn oder sonst jemanden in diesem Haushalt auch nur anrührst, ohne von mir und demjenigen die Erlaubnis dazu zu haben, dann bringe ich dich eigenhändig um«, knurrte Dana ihn von der Seite an. Dies waren keine leeren Worte, und das wusste er. Vampirinnen waren zwar deutlich zierlicher und zerbrechlicher gebaut als männliche Blutsauger, aber sie hatten eine unbändige Kraft, wenn sie wütend wurden. Auch heute konnte er sich noch an eine Situation erinnern, wo sie ihn so richtig auseinandergenommen hatte.

Einzig sein purer Überlebenswille und die Gelegenheit zur Flucht hatten ihn davor bewahrt, vor etwa fünfundsiebzig Jahren zu sterben. Damals hatte er sich an einer jungen Frau genährt, die sich unter ihrem Schutz befunden hatte, was sich allerdings erst herausgestellt hatte, als es zu spät war. »Übrigens ist Phil inzwischen fünfundachtzig Jahre alt«, sagte sie, nachdem sie sich wieder beruhigt hatte.

»Wie bitte? Nie im Leben, der ist doch höchstens vierzig, dieses Muskelpaket. So habe ich auch mal ausgesehen«, erwiderte Pierre und sah nachdenklich aus.

Dana lächelte sanft, etwas, das er schon so lange nicht mehr bei ihr gesehen hatte. Dieses Lächeln hatte ihn schon vor zweihundert Jahren verzaubert, und er hatte immer gehofft, dass sie eines Tages zusammenkommen würden. Aber der Zerfall der Gesellschaft und die Verfolgung durch die Menschen hatten den Kontakt abreißen lassen, und die wenigen Gelegenheiten, bei denen sie sich getroffen hatten, waren nicht gerade positiv verlaufen.

Die Terrassentür öffnete sich erneut, und zwei junge Vampirinnen traten mit einem ähnlichen Lächeln heraus. »Vergib uns, Dana, aber wir waren so neugierig auf unseren Gast«, sagte die jüngere von beiden und wurde rot, als Pierre sie musterte.

»Darf ich dir Christine und Marie vorstellen? Ich habe sie gefunden, als sie kurz vor dem Verhungern waren«, sagte Dana und winkte die beiden zu sich.

»Wir leben hier zusammen«, fügte sie hinzu.

Pierre musterte die beiden jungen Frauen, die ähnlich zauberhaft aussahen wie Dana. Ein sehr altes Verlangen stieg in ihm auf, ein Verlangen, das er schon so viele Jahre nicht mehr gespürt hatte. Dana, die ihn beobachtete, lächelte wissend, und die beiden jungen Frauen kicherten. Erst jetzt merkte Pierre, dass sich dieses Verlangen auch körperlich äußerte, und verlegen versuchte er, seine Männlichkeit zu verbergen.

»Nein, bitte nicht, versuche nicht gegen diesen uralten Drang anzukämpfen«, sagte Dana und griff nach seinem Arm. »Ich möchte gerne einen Handel mit dir abschließen, Pierre. Ich möchte, dass du hier lebst und mit uns zusammen eine neue Dynastie von starken Vampiren gründest.«

Pierre traute seinen Ohren kaum, das konnte sie doch jetzt nicht ernst meinen. Er selbst war nur noch der klapprige Überrest seiner selbst, und wie sollte er da noch der Vater von starken Vampiren werden? »Dana, ich danke dir sehr für dieses verführerische Angebot. Aber schau mich doch an. Mein Blut ist schwach geworden. Ich bin nicht mehr der Mann, der ich einmal gewesen bin«, antwortete er müde und fühlte sich plötzlich uralt.

»Glaubst du ernsthaft, das würde ich nicht sehen? Ich bin nicht blind, Pierre! Allerdings kommst du aus einer starken Vampirfamilie und hast kraftvolle Gene. Genauso jemanden haben wir gesucht. Dich wieder zu dem zu machen, der du warst, wird unsere Aufgabe sein«, sagte Dana. Christine und Marie nickten dabei und kicherten.

»Wir werden dich nähren, bis du stark genug bist, wieder mit reinem Menschenblut auszukommen«, erklärte Christine und wackelte kokett mit den Hüften.

»Du musst wissen, wir töten die Menschen nicht, von denen wir uns nähren. Ihr Körper ist viel stärker, als du glaubst. Er produziert unendlich viele Blutzellen und regeneriert sich sehr schnell«, begann Dana zu erklären.

Es war nicht so, dass Pierre alles auf einmal verstand, was er in dieser Nacht so hörte, aber mit der Zeit sickerten die wichtigsten Aussagen in sein Großhirn und wurden dort abgespeichert. Dana erzählte ihm, dass sie einmal einem Menschen Blut von sich gegeben hatte, der im Sterben lag. Er hatte eine seltsame Blutkrankheit gehabt und wurde durch ihr Blut fast vollständig geheilt. Später hatten sie gemeinsam herausgefunden, woran das lag. In dem Blut der Vampirin waren Stoffe enthalten, die das Immunsystem des Menschen völlig auf den Kopf gestellt hatten. Natürliche Antikörper waren entstanden, die den Mann auch immun gegen die meisten Bakterien und Viren machten. Selbst Krebszellen wurden abgefangen und vom Körper restlos vernichtet. Sobald sich Dana von diesem Mann nährte, nahm auch sie diese Antikörper auf und stärkte damit ihren eigenen Körper. Warum ein Vampir diese Antikörper nicht selbst herstellte, entzog sich ihrer Kenntnis. Allerdings vermutete sie, dass es daran lag, dass ihre eigene Blutbildung nur rudimentär vorhanden war. Dies stellte auch den Grund des ständig notwendigen Nährens dar. Ohne Blut von außen starb ein Vampir, ein Gesetz, das schon die Kleinen lernten. Die Aussicht, wieder zu dem zu werden, der er war, und zudem mit diesen drei Schönheiten zusammen zu sein, ließ Pierre wanken und schließlich zusagen. Jubelnd hingen ihm daraufhin drei Vampirinnen am Hals, wovon eine schöner war als die andere.