Vampyr - Brigitte Melzer - E-Book

Vampyr E-Book

Brigitte Melzer

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Beschreibung

Edinburgh, Schottland, im 18. Jahrhundert: Nach der Vernichtung des Unendlichen ist Lucian der Letzte seiner Art. Vampyr-Jägerin Alexandra ist fest entschlossen, ihm künftig aus dem Weg zu gehen. Dann jedoch erfährt sie, dass der charmante Vampyr in Gefahr schwebt und plötzlich findet sie sich mit ihm auf Seiten der Gejagten wieder. Verfolgt von ihren einstigen Verbündeten und bedroht von einem alten Feind, nimmt Alexandra den Kampf auf. Dabei ahnt sie nicht, dass sie selbst die größte Gefahr für Lucian ist. Eine uralte Prophezeiung nimmt ihren Lauf, die für Lucian den sicheren Tod bedeutet … Liebe, Intrigen und finstere Verführung im Schottland des 18. Jahrhunderts. Die »Vampyr«-Trilogie besteht aus folgenden Bänden: – Vampyr. Der Kuss der Ushana – Vampyr. Die Jägerin – Vampyr. Die Wiedergeburt

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Seitenzahl: 424

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Brigitte Melzer

Vampyr

Die Wiedergeburt

Roman

Edinburgh April 1733

Aus den persönlichen Aufzeichnungen von Gavril Furdui

Der Unendliche ist Vergangenheit.

Ich weiß noch immer nicht mit Sicherheit, wie es Alexandra gelungen ist, die Existenz dieser verderbten Kreatur auszulöschen, ohne selbst dabei zu Schaden zu kommen. Die wenigen Wunden, die sie aus dem Kampf davontrug, waren allesamt oberflächlicher Natur. Als hätte Gott seine schützende Hand über sie gehalten. Manchmal jedoch glaube ich, dass der Allmächtige nur wenig damit zu tun hat und ihr Überleben jemand – etwas – anderem zu verdanken ist. Wann immer mich dieser Gedanke überkommt, lässt mich die bloße Vorstellung schaudern und ich habe Mühe, die eisigen Finger abzustreifen, die sich auf meinen Nacken legen. Seit dem grausamen Tod ihrer Familie hat Alexandra stets alles darangesetzt, diese Monster zu vernichten. Sie würde sich niemals mit den Mächten der Finsternis verbünden!

Aber hatte sie nicht genau das getan? War es nicht ihrem Bündnis mit zwei Vampyren zu verdanken, dass sie überhaupt in den Besitz des Schwarzen Kreuzes – jenes sagenhaften Artefakts, das mächtig genug war, den Unendlichen zu vernichten – gelangen konnte?

Wieder und wieder fragte ich sie, was sich in jener Nacht in der Kapelle von Rosslyn zugetragen habe. Ihre Antwort war stets dieselbe: „Ich habe den Unendlichen vernichtet.“

Während der ersten Tage nach ihrem Kampf mit dem Unendlichen war ich in großer Sorge um ihr Wohlbefinden. Niemals zuvor habe ich sie derart erschöpft gesehen. Sie verließ kaum ihr Zimmer und schlief die meiste Zeit. Zu meiner Erleichterung erholte sie sich rasch – und mit ihrer Erholung hielt auch die Veränderung Einzug in unser aller Leben.

All die Jahre waren Alexandra, Vladimir, Mihail und ich niemals getrennt gewesen, doch bereits vor unserer Ankunft in Edinburgh hatte unser Zusammenhalt erste Risse bekommen. Vladimir zeigte ihr schon damals mit zunehmender Deutlichkeit, wie wenig er von ihr hielt. Mit seinem Verhalten brachte er sie mehr als nur einmal bewusst in Gefahr – auch wenn ich mir sicher bin, dass er nie etwas anderes beabsichtigte, als ihr eine Lektion zu erteilen. Ich weiß, dass er mich nur vor einer Enttäuschung bewahren will, doch ich bin kein kleiner Junge mehr, der auf den Schutz seines großen Bruders angewiesen ist! Meine Gefühle für sie lassen sich nicht einfach auslöschen wie eine Kerzenflamme – ich habe es wahrlich oft genug versucht.

Vielleicht hat Vladimir recht und Alexandra ist kein Mensch, der lieben kann. Doch er könnte sich auch irren. Jetzt, nachdem der Unendliche vernichtet und der Mord an ihrer Familie gesühnt ist, wird sich auch ihr Leben verändern. Der Wunsch nach Rache und der Hass, der sie all die Jahre antrieb, werden vergehen. Lange Zeit habe ich mir gewünscht, dass sie dann bereit wäre, mich endlich mit anderen Augen zu sehen.

Dass mein Hoffen vergebens war, begriff ich wenige Tage später, als sie zu mir kam, um sich zu verabschieden. Ich habe versucht, sie zu halten, doch sie schüttelte nur den Kopf. Vladimir würde sie nicht länger in seiner Nähe akzeptieren, sagte sie. Ebenso wenig wolle sie ihn länger um sich haben.

Vielleicht ist es so am besten. Wenn ich sie nicht mehr Tag für Tag sehe, werde ich sie vergessen und mich nicht länger nach ihr sehnen. In dem festen Bestreben, mich endlich von ihr zu lösen, ließ ich sie gehen. Obwohl ich weiß, dass sie noch immer in der Stadt weilt, und sogar den Namen ihrer Pension kenne, habe ich sie bisher nicht aufgesucht.

Vor einigen Tagen schlug Mihail vor, nach Hause zurückzukehren. Auch wenn mir der Gedanke gefällt, haben wir seitdem nicht mehr darüber gesprochen. Vladimir ist noch nicht bereit, Edinburgh den Rücken zu kehren. Er ist der festen Überzeugung, dass unsere Aufgabe hier noch nicht vollendet ist.

Auch ich habe die Kreatur gesehen. Ein Wesen, das vor dem Licht floh und aus dessen Fleisch weißer Rauch aufstieg. Erst später erfuhren wir, dass der Unendliche zu dieser Zeit bereits vernichtet war. Aber wie soll das möglich sein? Nach dem Ende des Unendlichen – des Ersten Vampyrs – waren all seine Geschöpfe erlöst. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie zwei dieser lichtscheuen Kreaturen wieder zu Menschen wurden!

Es steht außer Frage, dass noch ein weiterer Vampyr existiert – einer, der nicht vom Unendlichen erschaffen wurde. Wir werden ihn jagen und vernichten, so wie wir es immer getan haben. Davor fürchte ich mich nicht, denn darin sind wir geübt. Auch die Vorstellung, dass diese Kreatur – die sichtlich nicht vom Unendlichen zu dem gemacht wurde, was sie ist – vielleicht weitere Menschen in seinesgleichen verwandelt hat, lässt mich eher resignieren denn erzittern. Nach all den Jahren hatte ich mir gewünscht, die ständige Jagd hätte endlich ein Ende. Zu erkennen, dass dem nicht so ist, lässt sich nur schwer ertragen. Was mir jedoch den Angstschweiß auf die Stirn treibt, ist die Erkenntnis, die mit eisigen Fingern nach mir greift. Vladimirs Silberkugeln haben die flüchtende Kreatur getroffen. Sie hätte zu Staub zerfallen müssen! Dafür, dass dies nicht geschah, gibt es nur eine Erklärung: Dieser Vampyr muss über ähnliche Kräfte verfügen wie der Unendliche!

Ich habe die Leichen in der Kapelle gesehen. Allesamt Menschen. Es war schwer genug hinzunehmen, Alexandra sei allein mit dem Unendlichen fertig geworden. Aber zusätzlich noch mit einem Dutzend seiner Handlanger? Unmöglich! Sie muss Hilfe gehabt haben. Ist das der Grund für ihr beharrliches Schweigen? Versucht sie einen Vampyr vor uns zu schützen? Es fällt mir schwer, das zu glauben, denn Alexandra hasst diese Kreaturen am meisten von uns allen.

Vladimir ist fest entschlossen, diesen letzten Vampyr zur Strecke zu bringen, doch dazu müssen wir des Schwarzen Kreuzes habhaft werden, das sich noch immer in Alexandras Besitz befindet. Für sie mag die Jagd vorüber sein – für uns ist sie das noch lange nicht.

1

Dichter Nebel zog durch die engen Gassen Edinburghs und dämpfte jeden Laut. Vereinzelte Laternen sandten ihren spärlichen Schein in die Dunkelheit. Weder die kalte, regnerische Nacht noch der schmale Mary King’s Close waren für einen Spaziergang geeignet. Die hohen Häuserfassaden fingen das dumpfe Echo ihrer Schritte auf und sandten es zurück in den Nebel. Es war noch gar nicht lange her, da hatte Alexandra in diesem Labyrinth aus schmalen Gassen und finsteren Hinterhöfen gejagt. Dass sie heute Nacht mit pochendem Herzen an der Seite eines Mannes ging, dessen Existenz sie vor wenigen Wochen noch ausgelöscht hätte, erschien ihr befremdlich.

Immer wieder wandte sie den Kopf, um Lucian zu betrachten. Obwohl er nach vorn blickte und sein halblanges, schwarzes Haar einen Teil seines Gesichts verbarg, entgingen ihr die verstohlenen Blicke nicht, mit denen er sie von Zeit zu Zeit bedachte. Ein Lächeln nahm seinen Zügen die Schärfe und ließ ihn erschreckend menschlich wirken.

Sie hatte ihm so viel zu verdanken, dass es ihr unmöglich war, ihn zu vernichten – auch wenn sie nur zu gut wusste, dass sie es tun sollte. Sie war eine Jägerin und er ihre Beute! Doch so einfach waren die Dinge nicht mehr, denn mit Lucians Erscheinen hatte sie einsehen müssen, dass es selbst unter Vampyren nicht nur bösartige Wesen gab.

Wenn er nur seinem Bruder nicht so erschreckend ähnlich sehen würde. Anfangs hatte sie ihn tatsächlich für den Unendlichen gehalten. Wie hätte sie auch ahnen sollen, dass der Erste Vampyr einen Zwillingsbruder hatte! Manchmal konnte er sie vergessen machen, wessen Gesicht er trug. Die meiste Zeit jedoch stand die äußerliche Ähnlichkeit mit seinem Bruder wie ein unüberwindlicher Wall zwischen ihnen. Wie konnte sie sich zu jemandem hingezogen fühlen, dessen Antlitz das des Mörders ihrer Eltern war?

Er griff nach ihrer Hand. Seine Finger fühlten sich kühl an, wie die eines Toten, doch sein Blick war voller Wärme. „Glauben Sie noch immer, ich wäre wie er?“, fragte er so leise, dass sie näher heranrücken musste, um ihn zu verstehen. „Mein Bruder existiert nicht mehr. Er kann weder Ihnen noch sonst jemandem mehr etwas anhaben. Der Einzige, den Sie jetzt noch zu fürchten haben, bin ich.“

Zu spät sah sie die eisige Kälte in seinen Augen. Ehe ein Schrei über ihre Lippen kam, schlug er seine Fangzähne in ihren Hals und füllte seinen Mund mit ihrem Blut. Alexandra wollte sich wehren, wollte gegen ihn ankämpfen, doch das Entsetzen darüber, dass sie sich so sehr von ihm hatte täuschen lassen, lähmte sie. Als das Leben aus ihrem Körper entwich, erwachte sie schreiend.

Sie saß kerzengerade in ihrem Bett. Schwer atmend und schweißgebadet grub sie ihre Finger in die Decke. Ihr Blick zuckte durch die nächtliche Dachkammer, suchte nach einem Eindringling oder einer Gefahr. Anfangs fiel es ihr schwer, etwas in der Finsternis auszumachen, doch allmählich gewöhnten sich ihre Augen daran. Die Schwärze wich unterschiedlichen Abstufungen von Grau, in denen sich nichts weiter verbarg als ein paar vertraute Möbelstücke. Der kantige Schatten des klobigen Wandschranks, der sich in den Raum zu neigen schien, die Pfosten ihres Bettes, die wie stumme Wachen aufrecht in der Dunkelheit standen. Alexandras Blick ging zur Tür – unter der vom Gang her der sanfte Schimmer eines Nachtlichts in den Raum kroch –, streifte dann weiter zum erkalteten Kamin, zu einem Waschtisch und einem Stuhl und schließlich hinüber zum Fenster. Ein leiser Luftzug fuhr durch die Ritzen und bauschte die Vorhänge. Sie sahen aus wie Gespenster. Aber es war nicht der geisterhafte Anblick des Stoffes, der Alexandra erstarren ließ, sondern der eines Schattens, den sie dahinter zu erkennen glaubte – groß und von nahezu menschlicher Gestalt. Sie ließ die Decke fallen und griff nach der doppelläufigen Pistole auf ihrem Nachttisch. Mit der Waffe in der Hand stand sie auf und ging langsam zum Fenster. Noch immer glaubte sie, die messerscharfen Zähne zu spüren, die sich in ihren Hals gruben und das Fleisch herausrissen. Doch es waren nicht nur die Nachwirkungen des Albtraums, die sie jetzt nach ihrer Kehle greifen ließen, sondern auch die Erinnerungen an Viktor. Unwillkürlich strich sie über die Narben, die ihr Bruder an ihrem Hals hinterlassen hatte. Dein Blut ist sein Geschenk an mich. Aus Viktors Worten hatte die Grausamkeit des Unendlichen gesprochen. Der Erste Vampyr tötete nicht nur, um sich zu ernähren – er tötete aus purem Vergnügen. Wie sonst ließe sich erklären, dass er sie am Leben gelassen und Viktor zu seinesgleichen gemacht hatte.

Eine Diele knarrte unter ihren Füßen. Sie hob die Pistole und riss den Vorhang mit einem Ruck zurück. Nur das Fenster war zu sehen. Die Nacht drängte gegen die Scheibe, als begehre sie Einlass, doch weder hinter dem Vorhang noch draußen war jemand zu sehen. Alexandra ließ die Waffe sinken und spähte in die Gasse. Nachdem sie auch dort nicht das Geringste entdecken konnte, öffnete sie das Fenster und steckte den Kopf hinaus. Wenn sie schon nichts sah, würde sie vielleicht etwas hören. Doch bis auf das entfernte Rattern einer Droschke und das Gelächter einiger Betrunkener war es still.

Sie war sich nicht mehr sicher, ob sie tatsächlich einen Schatten hinter den Vorhängen gesehen hatte. Womöglich hatte sie sich von den Falten des Stoffes narren lassen. Noch einmal ließ sie ihren Blick durch die dunkle Gasse schweifen, an der gegenüberliegenden Hauswand emporwandern und über die Dächer gleiten. Als sie noch immer nichts Ungewöhnliches entdecken konnte, schloss sie das Fenster und zog die Vorhänge wieder vor.

Diesmal mochte sie sich getäuscht haben, dennoch ließ sich nicht leugnen, dass sie sich seit Tagen beobachtet fühlte. Ein eigenartiges Gefühl, das ihre Haut prickeln ließ, als würde ein fremder Blick sie berühren, und das selbst in ihrer Kammer nicht weichen wollte. Doch ganz gleich wie sehr sie sich auch bemüht hatte, bisher war es ihr nicht gelungen, einen Verfolger auszumachen. Dennoch hatte Alexandra einen Verdacht. Die Jäger hatten gesehen, wie Lucian die Kapelle verließ. Sie hatten sogar auf ihn geschossen! Sie wissen von ihm und sie scheinen zu ahnen, dass ihm nur mit dem Schwarzen Kreuz beizukommen ist! Wie lange würde es dauern, bis Vladimir versuchen würde, das Kreuz an sich zu bringen?

Alexandra kehrte zum Bett zurück, legte die Waffe auf den Nachttisch und kroch unter die Decke. Es dauerte lange, bis der Schlaf wieder zu ihr fand. Unruhig wälzte sie sich von einer Seite zur anderen, als die Nachtmahre an ihr zerrten und sie immer tiefer in ihr finsteres Reich rissen.

Einmal mehr war Lucian an ihrer Seite. Diesmal jedoch waren es Erinnerungen, die sie verfolgten. Lucian, der sie vor den Schergen des Unendlichen bewahrte und sie in einem Keller versteckte. Lucian, der ihr seine tragische Lebensgeschichte offenbarte und ständig in ihrer Nähe zu sein schien. Seine ernste Miene, in der stets mehr Sorge um sie als Angst um seine eigene Existenz zu finden war. Es gibt nichts, wovor er sich fürchten müsste, schrie ihr eine Stimme aus der Dunkelheit entgegen. Der Mann ist ein Monster, dem nichts etwas anhaben kann! Einen Herzschlag später sah sie die Kreatur, die er war: knurrend, mit messerscharfen Reißzähnen und mörderischen Klauen, die sonst blauen Augen farblos, das Gesicht zu einer Fratze verzerrt. Er schlug nach ihr und versuchte sie in Stücke zu reißen, doch obwohl sie ein leichtes Opfer war, bekam er sie nicht zu fassen. Wieder und wieder durchschnitten seine Klauen die Luft. Erst jetzt bemerkte Alexandra, dass jemand sie festhielt. Ihr Blick fiel auf die beiden Männer an ihrer Seite. Schergen des Unendlichen, die versuchten, sie zu ihrem Meister zu zerren. Auf sie hatte Lucian es abgesehen, nicht auf Alexandra! Der Griff der Männer schwand von ihren Armen, ihre Umrisse verblassten. Im nächsten Moment saß sie auf den Steinfliesen, erschöpft und vollkommen außer Atem. Lucian ging vor ihr in die Hocke – der Mann, nicht die Bestie. Als er den Arm nach ihr ausstreckte, war es seine Hand, die nach ihrer griff, keine Klaue. Das Blau war in seine Augen zurückgekehrt und seine Züge glichen nicht länger einer Fratze.

„Sie sind kein Mensch“, flüsterte Alexandra.

Er bedachte sie mit jenem erschreckend einnehmenden Lächeln, das ihr mit jedem Mal mehr den Atem zu nehmen schien. „Nein, das bin ich nicht“, erwiderte er ruhig. „Doch ich bin auch nicht das Monster, das Sie in mir sehen wollen.“

Ich weiß, wollte sie sagen, doch das Eingeständnis kam ihr nicht über die Lippen. Sie rang noch nach Worten, als sich ein Schatten über Lucian legte und ihn verschlang.

Zum zweiten Mal in dieser Nacht schreckte Alexandra aus dem Schlaf. Diesmal hatte sie nicht geschrien, doch ihr Herz hämmerte mit schmerzhaft schnellen Schlägen gegen ihren Brustkorb. Sie zog die Beine an und schlang die Arme darum. Das Kinn auf den Knien ruhend, blickte sie in den Raum und wartete, dass sich ihr Herzschlag endlich wieder beruhigte.

Beinahe drei Wochen waren vergangen, seit der Unendliche vernichtet worden war. Seitdem verfolgten die Bilder sie in ihren Träumen. Doch es war nicht nur die Erinnerung an jene Nacht, die sich nicht abschütteln lassen wollte, sondern auch an die Tage davor. Wann immer sie aus einem weiteren Traum aufschreckte, tröstete sie sich mit dem Gedanken, dass dies ihre Art war, das Geschehene zu verarbeiten. Die meisten Bilder begannen bereits zu verblassen. Heute jedoch war etwas anders gewesen. Diesen Schatten, der Lucian verschlungen hatte, hatte sie noch nie zuvor gesehen.

Er ist in Gefahr!

Obwohl es nichts weiter als ein vager Traum war, spürte sie die Bedrohung mit beinahe schmerzhafter Intensität. Sie musste ihn warnen! Doch wie sollte sie das tun, wenn sie nicht einmal wusste, wo er sich aufhielt? Wovor sollte sie ihn überhaupt warnen? Vor einem Traum? Einem Schatten? Das war lächerlich! Abgesehen davon war er noch immer ein Vampyr. Er verdiente es nicht, zu leben! Immer wieder hatte sie sich das einzureden versucht, doch ein Teil von ihr fühlte sich von ihm angezogen wie eine Motte vom Licht.

Lucian Mondragon war auf mehr als nur eine Art gefährlich. Er war ein Vampyr, doch noch beängstigender fand Alexandra, wie viel Raum er in ihrem Leben eingenommen hatte. Durch seine Hartnäckigkeit und die Weigerung, ihr von der Seite zu weichen, war er ihr in wenigen Tagen näher gekommen als jeder andere während der letzten zehn Jahre. Umso mehr erleichterte es sie, dass er seit dem Tod des Unendlichen nicht noch einmal zu ihr gekommen war. So musste sie zumindest nicht ständig darum kämpfen, sich seinem Charme und der erschreckenden Anziehungskraft, die er auf sie ausübte, zu entziehen. Obwohl er behauptet hatte, ihre Gefühle nicht durch die Macht seines Blickes beeinflusst zu haben, weigerte sich Alexandra, das zu glauben.

Nach jener Nacht in Rosslyn hatte sie von ihm verlangt, sich künftig von ihr fernzuhalten. Sie hatte versucht, ihm das Versprechen abzunehmen, nicht noch einmal in ihre Nähe zu kommen. Ich verspreche nichts, was ich nicht halten kann, hatte er daraufhin erwidert.

Dass er ihr seitdem trotzdem fernblieb, bestätigte sie in ihrer Annahme: Er hatte seine Fähigkeiten eingesetzt, um sie zur Zusammenarbeit zu bewegen. Jetzt, da sein verhasster Bruder vernichtet war, gab es für ihn keinen Grund mehr, länger ihre Nähe zu suchen, oder ihr Menschlichkeit vorzugaukeln, wo keine war.

*

In dieser Nacht fand Alexandra keinen Schlaf mehr.

Als sich draußen der neue Tag ankündigte, tauschte sie ihr Nachtgewand gegen Hemd und Hose und schürte ein Feuer im Kamin, um die klamme Kälte zu vertreiben, die sich in der Kammer ausgebreitet hatte. Sobald die ersten Flammen emporzüngelten, ging sie zum Fenster und beobachtete, wie die Nacht langsam dem Morgen wich. Schwere graue Wolken hingen über den Dächern, als trachteten sie danach, sie unter ihrer Last zu erdrücken. Aus dem anfänglichen Nieselregen war ein Wolkenbruch geworden. Wenn sie den Kopf wandte, konnte sie einen Blick auf die Candlemaker Row erhaschen. Die wenigen Menschen, die dort zu dieser frühen Stunde bereits unterwegs waren, hasteten mit eingezogenen Köpfen und hochgeschlagenen Mantelkrägen durch die Straßen. Von Zeit zu Zeit rumpelte ein Fuhrwerk über das Kopfsteinpflaster. Nicht zum ersten Mal fragte sich Alexandra, warum sie noch hier war. Womöglich war es an der Zeit, dass sie ihre Sachen packte. Doch wohin sollte sie gehen?

Als sich Daeron und Catherine von ihr verabschiedeten, hatten sie Alexandra angeboten, mit nach Gwydeon House, dem Landgut von Daerons Familie, zu kommen. Einen Moment lang war sie versucht gewesen, das Angebot anzunehmen, doch sie wollte die innige Zweisamkeit der beiden nicht stören.

Catherine und Daeron wussten zumindest, was sie mit ihrem wiedergewonnenen Leben anfangen würden. Alexandra hingegen hatte nie darüber nachgedacht, was nach der Zeit kommen sollte, wenn der Unendliche und seine Brut zur Strecke gebracht waren. Seit ihrem dreizehnten Lebensjahr jagte sie Vampyre. Zehn Jahre, in denen sie nie etwas anderes getan hatte, als ihrem Wunsch nach Vergeltung zu folgen. Sie hatte ihre Rache gehabt. Nun konnte sie endlich beginnen, ihr eigenes Leben zu leben. Doch was für ein Leben sollte das sein? Sie hatte keine Familie, keine Freunde und kein Zuhause. Es gab keinen Ort, an den sie gehen konnte und niemanden, der auf sie wartete. Sie hatte nie etwas anderes getan, als Vampyre zu jagen, und nun, da es endlich vorüber war, fühlte sie sich zu ihrem eigenen Erstaunen so leer wie niemals zuvor.

Ein Klopfen an der Tür riss sie aus ihren düsteren Gedanken. „Wer ist da?“

„Ich bin es, Gavril“, drang die vertraute Stimme gedämpft durch das Holz.

„Komm herein.“

Er trat ein und schloss die Tür hinter sich. Das kurze braune Haar stand ihm in feuchten Strähnen vom Kopf ab. Regenwasser lief über seinen Mantel und sammelte sich in einer kleinen Lache auf den Holzdielen, trotzdem machte er keine Anstalten, den Mantel abzulegen. Einen Moment musterte er sie unentschlossen. In seinen Augen lag die Frage nach ihrem Befinden, doch die Worte fanden nicht über seine Lippen.

„Du bist eine Jägerin“, sagte er stattdessen. „Warum hast du ihn entkommen lassen?“

Alexandra brauchte nicht nachzufragen, wen er meinte. Sie wusste es auch so. „Ich war es ihm schuldig“, sagte sie schlicht.

Gavrils Mantel versprühte Wassertropfen, als er näher kam. „Vladimir ist wütend.“

„Es ist vorbei, Gavril. Sag ihm das. Packt eure Sachen und kehrt nach Hause zurück.“

Er schüttelte den Kopf. „Wir werden ihn jagen. Wirst du uns begleiten?“ Das Flehen und die Sehnsucht in Gavrils Augen erstaunten sie. Er wusste, dass sie sich mit Vampyren verbündet und einem von ihnen sogar zur Flucht verholfen hatte, und trotzdem wollte die Zuneigung nicht aus seinem Blick weichen.

„Ich hatte meine Rache“, sagte sie. „Dieses Leben liegt jetzt hinter mir.“

„Aber du gehörst zu uns“, rief er und griff nach ihrer Hand. „Zu mir. Kannst du dir denn nicht vorstellen, dass du und ich –“

Alexandra zog ihre Hand zurück. „Du bist mein Freund, Gavril. Ich mag dich, aber zwischen uns wird nie mehr sein als das.“

Er fuhr zurück, als hätte sie ihn geschlagen. Dann machte er plötzlich kehrt. Anstatt jedoch aus der Kammer zu stürmen, wie sie es erwartet hätte, begann er aufgeregt hin und her zu laufen, ehe er abrupt stehenblieb und sie ansah. „Dieses Kreuz … hast du es noch?“

In gezwungener Ruhe schüttelte sie den Kopf. „Ich habe es zerstört.“

Gavril nickte geistesabwesend. Zugleich schweifte sein Blick durch den Raum, als wolle er sich von der Wahrheit ihrer Worte überzeugen. In diesem Moment wusste Alexandra, dass er nicht aus freien Stücken zu ihr gekommen war. Vladimir hatte ihn geschickt. Er wusste, dass Gavril der Einzige war, dem es womöglich gelang, sie davon zu überzeugen, ihnen das Kreuz zu übergeben. Diese drei Männer, ihre einstigen Gefährten, waren der dunkle Schatten, der Lucian in ihrem Albtraum verschlungen hatte! Vladimir würde alles daransetzen, Lucian zu vernichten.

„Hast du mir sonst noch etwas zu sagen?“

Gavril betrachtete sie, als sähe er sie zum ersten Mal. „Ich hatte gehofft, der Tod des Unendlichen würde dich verändern, doch du bist noch immer so kalt wie zuvor.“ Er verneigte sich knapp und ging.

Alexandra wartete, bis seine Schritte auf der Treppe verklangen, ehe sie sich dem Bett zuwandte. So einfach mache ich es euch nicht! Sie zog ihren Silberdolch aus dem Hosenbund und ließ sich neben dem Bett auf die Knie nieder. Vorsichtig schob sie die Klinge zwischen zwei Bodendielen und hebelte ein loses Brett heraus. Darunter lag das Kästchen mit dem Kreuz. Behutsam nahm sie es heraus und stellte es vor sich ab. Ihr Blick wanderte über die schmucklose Holzoberfläche, ehe sie den Deckel hob.

Das prachtvolle Ebenholzkreuz ruhte auf einem Futteral aus dunklem Samt. Andächtig strich Alexandra über die goldenen Ornamente, folgte mit den Fingerspitzen den verschlungenen Mustern bis zu jener schimmernden Fassung, die einen verwitterten Holzsplitter von der Länge einer Dolchklinge hielt. Der Legende nach war dieser Splitter ein Stück des Wahren Kreuzes, jenes Kreuzes, an dem einst Jesus gestorben war. Ihm wohnte eine Kraft inne, die selbst die mächtigsten aller Vampyre verwundbar werden ließ.

Ihr Blick fiel auf das spitz zulaufende Ende. Lucian hatte es seinem finsteren Zwilling ins Herz gestoßen und ihn damit vernichtet. Selbst jetzt glaubte sie manchmal noch, das zornige Kreischen des Unendlichen zu hören.

Sie dachte daran, das Kreuz zu verstecken, doch sie bezweifelte, dass es einen Ort gab, an dem die Jäger es nicht finden würden. Solange es existierte, würden sie versuchen, seiner habhaft zu werden. Lucian wäre in ständiger Gefahr. Es gab nur eine Möglichkeit, das zu verhindern. Sie nahm das Kreuz aus dem Kästchen und ging damit zum Kamin. Sie musste es zerstören! Aber konnte sie das wirklich riskieren? Was, wenn Lucian eines Tages selbst zur Gefahr wurde? Wenn das Kreuz zerstört war, gab es nichts mehr, was ihm Einhalt gebieten konnte. Warum will ich ihn überhaupt schützen? Hatte er nicht selbst gesagt, sie wäre sein Schicksal? Womöglich war es ihr vorherbestimmt, ihn zu töten.

Nachdenklich drehte sie das Kreuz zwischen ihren Fingern. Der Widerschein des Feuers fing sich in den goldenen Verzierungen, wurde davon aufgefangen und zurückgeworfen. Ehe sie es sich anders überlegen konnte, warf sie es ins Feuer. Als die Flammen knisternd daran leckten, trat Alexandra einen Schritt zurück. Sie hätte schockiert sein müssen angesichts ihrer Bereitschaft, ein Relikt von unschätzbarem Wert zu vernichten, um einen Vampyr zu schützen. Aber sie empfand nichts. Reglos stand sie da und beobachtete, wie die Lohen emporschlugen. Dabei wirkten sie, als könnten sie das Kreuz nicht erreichen. Sie griff nach einem Schürhaken und stocherte in der Glut, um die Flammen weiter anzufachen. Dann stieß sie das Relikt tiefer ins Herz des Feuers. Doch selbst hier schien ihm die Hitze nichts anzuhaben. Das Ebenholz entzündete sich nicht, ebenso wenig färbten sich die goldenen Beschläge dunkel oder begannen in der glühenden Hitze zu schmelzen. Sie schürte den Kamin weiter an und beobachtete, wie das Feuer über das Brennholz leckte und es langsam verzehrte.

Als es schließlich heruntergebrannt war und die letzten Feuerzungen erloschen, lag das Kreuz noch immer in der Glut.

Alexandra angelte es mit dem Schürhaken aus der Feuerstelle. Vor dem Kamin fiel es auf die Dielen. Hastig schlug sie die Flammen aus, die aus vereinzelten Holzsplittern emporzüngelten, die mit dem Kreuz zu Boden gefallen waren. Das Schwarze Kreuz war unversehrt. Weder Flammen noch Rauch stiegen von seiner Oberfläche auf. Der Ruß hatte es nicht einmal geschwärzt. Vorsichtig streckte Alexandra die Hand danach aus. Immer näher kamen ihre Finger dem Artefakt, während sie darauf wartete, die Hitze zu spüren, die es ausstrahlen musste. Ihre Hand war nicht einmal mehr einen Zoll entfernt, und noch immer spürte sie nicht das Geringste. Als sie es berührte, fühlte es sich kühl an.

Einige Zeit starrte sie darauf, ehe sie aufstand und die Kammer verließ. Mit schnellen Schritten eilte sie die Holztreppe hinab und folgte dem schmalen Gang an der Schankstube vorbei zur Hintertür. Auf der Schwelle hielt sie inne und ließ ihren Blick über den schattigen Innenhof gleiten. Zu ihrer Linken, im Schutze eines Vordaches, waren Holzvorräte aufgeschichtet. Davor stand ein Holzblock, auf dem das Feuerholz geschlagen wurde. Eine große Axt steckte im Holz, daneben lag eine Handaxt, die zum Entfernen kleinerer Äste genutzt wurde. Alexandra nahm sie und kehrte damit in ihre Kammer zurück.

Sie kniete sich vor das Kreuz, holte aus und trieb die Axt hinein. Das Werkzeug prallte so heftig von der Oberfläche zurück, dass ein scharfer Schmerz durch ihr Handgelenk fuhr. Ungläubig legte sie die Axt beiseite und hob das Kreuz hoch, um es sich genauer zu besehen. Es hatte nicht einmal einen Kratzer!

Sie legte es auf den Boden zurück und griff erneut nach dem Beil. Mit aller Kraft schlug sie wieder und wieder auf das Kreuz ein, ohne dass ihre Bemühungen auch nur die geringste Spur hinterließen.

Die Schneide hätte selbst in den hartnäckigsten Materialien zumindest eine Kerbe hinterlassen müssen – doch da war nichts. Ratlos legte sie die Axt weg und nahm ihren Dolch zur Hand. Vorsichtig schob sie die Spitze unter die Fassung, in der der Splitter befestigt war. Im ersten Moment dachte sie schon, auch hier würde nichts geschehen, dann jedoch gab die Fassung unter dem Druck nach. Nun wusste sie, was sie tun würde.

2

Nachdem sie das Kreuz wieder in seinem Versteck verstaut hatte, verließ Alexandra die Pension und machte sich auf den Weg die Royal Mile hinunter und durch das Stadttor am Netherbow ins angrenzende Canongate. Ihr Ziel war Mr Somervils Schmiede, wo die Postkutschen abfuhren. Zu ihrem Leidwesen musste sie erfahren, dass sie die Kutsche nach London um eine Woche verpasst hatte und die nächste erst in drei Wochen fahren würde. Der Schmied empfahl ihr, es beim White Horse Inn zu versuchen, dessen Besitzer ebenfalls Fahrten nach London anbot. Tatsächlich hatte sie dort Glück. Morgen bei Sonnenaufgang würde sie Edinburgh den Rücken kehren.

Als sie Canongate wieder verließ und in die erdrückende Enge der Gassen Edinburghs zurückkehrte, war es beinahe Abend. Froh darüber, dass ihre Untätigkeit endlich ein Ende fand, folgte sie der steil ansteigenden Royal Mile hinauf in Richtung Castle Hill. Womöglich würde sie sich in London endlich darüber klar werden, was sie künftig mit ihrem Leben anfangen wollte.

Sie war erleichtert, Edinburgh endlich hinter sich lassen zu können, denn abgesehen von der Royal Mile und ein paar angrenzenden Straßen war die Stadt kein angenehmer Ort. Erdrückende Häuserschluchten wuchsen überall aus dem Boden und lehnten sich windschief gegen die Hänge, an denen sie erbaut worden waren. Die Gassen waren eng, die Straßen – zumindest während des Tages – überfüllt, und über all dem hing ein ekelerregender Gestank, abgestanden und faulig, den selbst der stärkste Wind nicht zu vertreiben vermochte.

Heute lagen viele der Häuser hinter bleichen Nebelschlieren verborgen, die durch die Gassen zogen und mit kühlen Fingern über Alexandra hinwegstrichen. Als es zu regnen begann, schlug sie ihren Mantelkragen hoch und zog den Kopf ein. Mit großen Schritten eilte sie weiter, vorbei an den Durchgängen, die unter den Häusern in die engen Closes und Wynds führten.

Der Netherbow lag noch nicht lange hinter ihr, als sie sich einmal mehr beobachtet fühlte. Ohne den Kopf zu drehen, ließ Alexandra ihren Blick über die Umgebung wandern, auf der Suche nach jemandem, der nicht hierher gehörte. Unzählige Menschen waren auf der Royal Mile unterwegs, verwandelten die Straße in ein Gewirr aus Stimmen, Gerüchen und Geräuschen. Männer zogen Karren hinter sich her, beladen mit Feuerholz und Vorräten, Frauen schleppten Körbe voller Gemüse. Immer wieder rumpelten Fuhrwerke über das unebene Pflaster, bahnten sich rücksichtslos ihren Weg zwischen den Leuten hindurch. Von irgendwoher durchdrang eine Stimme den Dunst: „Heißer Eintopf – vertreibt die Kälte und füllt den Magen!“ Anderswo pries jemand lautstark Tongeschirr an. Die meisten Stände entlang der Straße waren jedoch bereits geschlossen. Kräftige Männer und Frauen wuchteten die nicht verkauften Waren auf ihre Karren und machten sich damit auf den Heimweg. Morgen früh würden sie zurückkehren, um sie erneut feilzubieten. Jetzt jedoch wollte ein jeder von ihnen nach Hause, ehe die Dunkelheit Einzug hielt.

Der Nebel machte es schwer, viel zu erkennen, doch wer immer Alexandra beobachtete, musste nah genug an ihr dran sein. Sie hielt vor einem Stand inne, der Fisch anbot. Auch hier wurde bereits zusammengeräumt, trotzdem ließ sie ihre Augen über die wenigen verbliebenen Waren wandern, während sie ihre Sinne auf die Umgebung richtete. Sie war von unzähligen Menschen umgeben. Manche sahen sie an, andere gingen an ihr vorüber, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Das Gefühl, beobachtet zu werden, blieb.

„Wollen Sie Schellfisch?“, fragte eine alte Frau und hielt ihr mit zahnlosem Grinsen ein schleimig aussehendes Exemplar entgegen. Ein Geruch, der alles andere als frisch zu nennen war, stieg Alexandra in die Nase und ließ sie zurückweichen.

„Danke“, sagte sie hastig und machte kehrt, um der Zahnlosen zu entgehen. Ohne noch einmal innezuhalten, passierte sie die letzten Buden. Kaum lag der Markt ein Stück hinter ihr, war die Straße nahezu verlassen – und noch immer glaubte sie Blicke in ihrem Nacken zu spüren. Das Gefühl war ein anderes als während der letzten Tage, es fehlten die Wärme und das Prickeln. Trotzdem zweifelte sie nicht daran, dass ihr jemand folgte.

Ohne sich umzusehen, beschleunigte sie ihre Schritte. Als sie den kronenförmigen Turm von St. Giles sah, der wie ein gewaltiges Schattengespinst aus dem Nebel ragte, wanderte ihr Blick nach rechts. Ihre Augen streiften über die schmutziggrauen Fassaden, bis sie fand, wonach sie suchte: den Zugang zum Mary King’s Close. Wie ein aufgerissener Schlund starrte ihr der Durchgang entgegen, bereit, jeden zu verschlingen, der sich in seinen Rachen wagte.

Ohne innezuhalten, bog Alexandra in die Passage ein. Ein widerwärtiger Gestank, eine Mischung aus menschlichen Ausdünstungen und Tod, nahm ihr den Atem. Nach zwei Schritten schwand das trübe Licht und wich einer zähen Dunkelheit, die mit jedem Herzschlag undurchdringlicher wurde. Alexandra streckte die Hand nach der Wand aus und tastete sich am feuchten Mauerwerk entlang. Jeder ihrer Schritte wurde von den Wänden aufgefangen und in zahllosen Echos zurückgeworfen. Immer wieder lauschte sie, versuchte unter ihren eigenen Schritten die eines Verfolgers auszumachen. Doch da war nichts. Sie spielte mit dem Gedanken, stehen zu bleiben. Womöglich würde er dann im Dunkeln an ihr vorübergehen, ohne sie zu bemerken. Oder er stolpert geradewegs über mich. Abgesehen davon – was, wenn es ein Vampyr war? Er könnte jetzt neben ihr stehen, ohne dass sie ihn hörte oder seine Nähe spürte. Es gibt nur noch einen Vampyr!, schalt sie sich, doch die Vorsicht und das Wissen, das sie sich über die Jahre zu eigen gemacht hatte, ließen sich nicht so leicht abschütteln. Obwohl sie versucht war, innezuhalten und sich davon zu überzeugen, dass wirklich niemand die Dunkelheit mit ihr teilte, ging sie weiter.

Am Ende des Durchgangs wich die Schwärze. Nebelfinger tasteten zwischen den Häusern hindurch, schwebten wabernd über dem Boden und verdichteten sich zunehmend. Vor Alexandra wand sich der Weg einen steilen Abhang hinab, flankiert von schmutzig grauen Häusern, die – zwölf Stockwerke in die Höhe ragend – den Himmel verdunkelten. Die verkommenen Steinbauten stemmten sich gegen den Hang, windschief und baufällig. Die Gasse war so schmal, dass das Tageslicht selbst bei schönem Wetter kaum das Pflaster erreichte. Jetzt war der Weg in tiefe Schatten gehüllt, die nur hin und wieder vom spärlichen Schein einer Laterne durchbrochen wurden. Hier lebten die Ärmsten der Armen, hausten dicht gedrängt in heruntergekommenen Ruinen, deren Fenster größtenteils zugemauert waren, teilten sich Keller und Hinterhöfe mit Ratten und Ungeziefer. Der Gestank von verrottendem Unrat und Kloake, der sich zwischen den Gebäuden und in den schmalen Durchgängen eingenistet hatte, hing wie eine Dunstglocke über dem Close.

Die Nacht war noch nicht vollends hereingebrochen, trotzdem war niemand mehr unterwegs. Zu groß war die Furcht der Menschen davor, dass der Wahnsinnige Schlächter, dessen Morde während der vergangenen Wochen die Titelseiten der Gazetten gefüllt hatten, noch immer sein Unwesen trieb. In Wahrheit war es die Ushana gewesen, eine der Kreaturen des Unendlichen, die sich in den engen Wynds und Closes ihre Opfer geholt hatte. Jetzt, da es keine Vampyre mehr gab, die den Menschen nachts das Leben nahmen, würden sie sich bald wieder gegenseitig die Kehlen durchschneiden oder von den Krankheiten dahingerafft werden, die ihnen das Ungeziefer brachte.

Mit raschen Schritten ging sie tiefer in den nebligen Close hinein. Sie brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass ihr Verfolger noch da war. Er lauerte in den Schatten des Durchgangs und würde erst heraustreten, wenn sie außer Sichtweite war. Wer, zum Teufel, bist du? Konnte es Lucian sein? Nein. Im Halbdunkel des Close mochte er sich selbst bei Tag ohne Schwierigkeiten bewegen können, doch ihr Verfolger war bereits auf der Royal Mile hinter ihr gewesen. Dort war es zu hell für einen Vampyr, selbst für einen mit Lucians Fähigkeiten. Womöglich war es einer der Jäger? Nach Gavrils Besuch durchaus denkbar. Wenn Vladimir erfuhr, dass sie weder bereit war, sie bei der Jagd auf Lucian zu unterstützen, noch ihnen das Kreuz zu geben, würde er das als Kriegserklärung auffassen.

Ohne sich umzusehen, ging sie zügig voran und hielt sich an der ersten Abzweigung nach links. Kaum war sie um die Ecke, rannte sie los. Der Regen wurde stärker, schlug ihr ins Gesicht und durchnässte sie binnen weniger Augenblicke bis auf die Haut. Das Pflaster war nass und rutschig, sodass sie aufpassen musste, wohin sie trat. In einem wilden Zickzackkurs folgte sie immer weiteren Abzweigungen, von denen sie hoffte, sie würden sie nicht in eine Sackgasse führen. Einmal fand sie sich in einem winzigen Hinterhof wieder, der von allen Seiten von hohen Häuserfassaden umgeben war. Hastig machte sie kehrt und folgte dem Mary King’s Close tiefer in sein labyrinthartiges Inneres aus verwinkelten Gassen und kleinen, finsteren Höfen. Inzwischen war es dunkel geworden. Der Nebel wurde immer dichter und hüllte den Close in gespenstische Stille. Lediglich die vereinzelten Laternen trachteten danach, die zähe Suppe zu durchdringen, helle Lichtpunkte, die, sobald sie sich einige Schritte entfernte, rasch von dem grauen Schleier aufgesogen wurden.

Wann immer sie kurz innehielt, um sich zu orientieren oder die Richtung zu wechseln, glaubte sie, das leise Echo von Schritten zu vernehmen. Nicht zu nah, aber auch nicht allzu weit entfernt. Alexandra folgte der Gasse um einen Knick und hielt abrupt inne, als sich vor ihr eine Gestalt aus dem Nebel schälte. Ein riesiger Kerl, dessen Schatten über die Gasse fiel und auf der anderen Seite an der Hauswand empor kroch. Der Riese kam ihr entgegen! Sie fürchtete schon, sie wäre im Kreis gelaufen und stehe nun vor ihrem Jäger, doch sie hörte die raschen Schritte ihres Verfolgers noch immer durch die Dunkelheit hallen.

„Mädel“, sagte der Riese mit schwerer Zunge, als er an ihr vorbeitaumelte, „sieh zu, dass du nach Hause kommst, bevor der Schlächter dich holt!“

Sie hätte ihm sagen können, dass es keinen Wahnsinnigen Schlächter mehr gab, ihn nie gegeben hatte, doch das hätte ihr der Mann ohnehin nicht geglaubt. Deshalb nickte sie nur und ließ ihn passieren. Sie wollte schon weiter, als sie sah, wie er nach einer Tür tastete und, als diese mit einem Knarren aufschwang, im Inneren eines Hauses verschwand. Zwei schnelle Schritte, dann war Alexandra an der Tür und fing sie auf, ehe sie ins Schloss fallen konnte. Sie hielt sie fest und wartete, bis drinnen die schlurfenden Schritte des betrunkenen Riesen verhallten. Dann schlüpfte sie ins Haus. Hinter der Tür blieb sie stehen, schob ihre Fußspitze in den Türspalt und sah durch die schmale Öffnung auf die Straße. Ihr Blick fiel auf eine Laterne an der gegenüberliegenden Hauswand, die ihr gedämpftes Licht zu ihr sandte. Alexandra unterdrückte einen Fluch. Es war jedoch zu spät, sich nach einem anderen Versteck umzusehen, denn in diesem Augenblick tauchte ihr Verfolger auf. Noch konnte sie ihn nicht sehen, doch sie vernahm seine Schritte, die für einen Moment verklangen, ehe sie erneut zu hören waren. Er kam in ihre Richtung. Wenn sie die Tür schloss, wäre sie außer Gefahr. Er konnte sie nicht sehen – sie ihn allerdings auch nicht. Sie musste herausfinden, wer ihr folgte! Langsam zog sie ihren Fuß ein Stück zurück und verkleinerte den Türspalt, bis sie nur noch einen winzigen Straßenausschnitt einsehen konnte. Das musste genügen. Die Schritte näherten sich. Ein Schatten schob sich über das Straßenpflaster, dann kam er in Sichtweite. Sie hätte schwören können, dass es einer der Jäger war, der ihr folgte. Den schlanken Mann, den sie stattdessen erblickte, hatte sie jedoch nie zuvor gesehen. Seine Züge strahlten eine Gelassenheit aus, die Alexandra überraschte. Regen tropfte von seinem Dreispitz, das blonde Haar darunter war im Nacken zu einem Zopf gebunden. Trotz des Regens hatte er seinen Mantel nicht zur Gänze zugeknöpft. Darunter offenbarte sich ihr der Anblick eines Gehrocks aus grünem Samt. Seine Hose und die Stiefel waren nass, aber sauber und muteten ebenso teuer an wie der Rest seiner Gewänder. Die Augen auf die Gasse gerichtet, schritt er flink und entschlossen voran. Ungeachtet seiner edlen Gewänder bewegte er sich, als gehöre er hierher. Dieser Mann wusste, wie man sich unauffällig verhielt. Eine gefährliche Sorte! Wieder und wieder ließ Alexandra ihren Blick über seine Gewänder wandern, suchte nach verborgenen Waffen, doch sosehr sie sich auch bemühte, wollte es ihr nicht gelingen, verdächtige Ausbuchtungen auszumachen. Wer war dieser Kerl?

Sie wartete, bis er ihr Versteck passiert hatte, dann zählte sie bis zwanzig, ehe sie die Tür aufzog und in die Gasse spähte. Der Nebel hüllte ihn ein wie ein Mantel, ließ seine Umrisse verblassen und verschlang ihn bald ganz. Alexandra trat aus dem Hauseingang und folgte ihm mit einigem Abstand. Er bewegte sich mit derartiger Zielstrebigkeit voran, dass sie sich zu fragen begann, ob er tatsächlich hinter ihr her war oder sie sich alles nur einbildete. Vielleicht haben mich die Jahre übervorsichtig werden lassen und ich sehe Gespenster. Sie dachte schon daran, sich zurückzuziehen, als ihr bewusst wurde, dass sie sich nicht mehr beobachtet fühlte. Beinahe im selben Augenblick verhallten seine Schritte. Lauerte er ihr im Nebel auf?

Alexandra hielt inne, wartete und lauschte. Nicht der geringste Laut drang an ihr Ohr. Sie griff unter ihren Mantel und legte die Hand an ihre Pistole. Langsam und beinahe lautlos schob sie sich voran, tauchte in den fahlen Dunst ein und hielt Ausschau nach dem Blonden. Er stand an einer Wegkreuzung, keine zwanzig Fuß vor ihr. Alexandra wich in den Schatten eines Hauseingangs zurück und tastete nach der Klinke in ihrem Rücken. Die Tür war verschlossen, sodass ihr keine andere Wahl blieb, als sich eng an die Wand zu drängen und zu hoffen, dass er sich nicht allzu genau umsah.

Einen Moment noch stand er an der Einmündung und sah erst in die eine, dann in die andere Richtung, ehe er sich umwandte und zurück in die Gasse blickte, aus der er gekommen war. Alexandra hielt den Atem an. Der Blonde zögerte. Warum drehte er sich nicht wieder um und folgte einer der Gassen? Hatte er sie gesehen? Erst als er sich erneut dem Weg vor ihm zuwandte, wagte Alexandra wieder zu atmen. Er trat mitten auf die Kreuzung hinaus und ließ seinen Blick noch einmal in alle Richtungen schweifen, ehe er im Laufschritt der linken Abzweigung folgte.

Alexandra löste sich von der Wand und näherte sich der Kreuzung, als sie Schritte vernahm – aus der Richtung, in die der Blonde gerade verschwunden war. Sie glitt in die Finsternis eines schmalen Durchgangs, der zwischen zwei Häusern in einen Hinterhof führte und spähte um die Ecke, als der Blonde erneut auf die Kreuzung trat. Er blickte die Gasse entlang an Alexandras Versteck vorbei, ehe er sich der anderen Abzweigung zuwandte. Vorsichtiger geworden, verharrte Alexandra selbst dann noch in ihrem Versteck, als er längst außer Sicht war. Tatsächlich kehrte er kurz darauf zurück. Die Gelassenheit in seinen Zügen war einem missmutigen Ausdruck gewichen. Eine Weile stand er unentschlossen da, ehe er fluchend in die Gasse bog, aus der er ursprünglich gekommen war. Zufrieden darüber, dass er seine Jagd aufgab und nun endgültig selbst zum Gejagten wurde, heftete Alexandra sich ihm an die Fersen. In einigem Abstand folgte sie ihm zurück zur Royal Mile, huschte von Schatten zu Schatten und hielt immer wieder im Schutze einer Mauer oder eines Hauseingangs inne. Ihre Vorsicht war unnötig, denn der Blonde sah sich kein einziges Mal um. Du fühlst dich wohl sehr sicher. Umso besser. Mit ein wenig Glück würde er sie geradewegs zu seinem Auftraggeber führen.

Noch immer fragte sie sich, wer dieser Kerl war – und wer ihn geschickt haben mochte. Abgesehen von den Jägern gab es niemanden in der Stadt, der es auf sie abgesehen haben könnte. Doch Vladimir würde niemals einen Fremden auf sie ansetzen. Noch drängender als die Frage, wer etwas von ihr wollen könnte, war die Frage nach dem Warum.

Alexandra war kein ängstlicher Mensch. Sie war weder klein noch hilflos. In den letzten Wochen jedoch, seit sie wusste, dass es, abgesehen von Lucian, keine Vampyre mehr gab, hatte sie angenommen, dass das Leben voller Kampf und Gefahren nun endlich hinter ihr lag. Sie hatte gerade begonnen, sich mit dem Gedanken anzufreunden, nicht mehr ständig um ihr Leben fürchten und andauernd auf der Hut sein zu müssen. Festzustellen, dass es doch noch eine Gefahr zu geben schien, ohne zu wissen, worin diese genau bestand, erfüllte sie mit einer Mischung aus Wut und Sorge.

Als der Blonde den Mary King’s Close verließ und auf die Royal Mile zurückkehrte, verharrte Alexandra im Durchgang und beobachtete aus den Schatten heraus, wie er eine Droschke heranwinkte. Er rief dem Kutscher ein Kommando zu, das sie über dem Rauschen des Regens nicht verstehen konnte, und stieg ein. Kaum war die Tür hinter ihm zu, schwang der Kutscher die Peitsche und trieb sein Ross an.

Alexandra trat aus dem Durchgang und sah sich um. Die Royal Mile war nahezu verlassen. Nur wenige Fußgänger, die mit schnellen Schritten ihrem Heim oder einem Pub entgegenstrebten, waren noch unterwegs. Sie brauchte ein Gefährt! Da hier keines zu sehen war, rannte sie los. Sie hetzte die Royal Mile hinunter, der Droschke hinterher. Als die Karosse nach rechts in die Blair Street bog, lief Alexandra geradeaus weiter. Der Wind trieb ihr den Regen ins Gesicht. Wasser spritzte aus Pfützen auf und tränkte Stiefel, Hose und Mantelsaum. Wenn sie schnell genug war und an der St. Mary’s Street eine Droschke fand, konnte sie ihn noch einholen. Mit einem Sprung setzte sie über einen Haufen Unrat hinweg, den jemand auf die Straße gekippt hatte. Auf der anderen Seite kam sie mit dem Absatz auf und geriet auf dem nassen Pflaster ins Rutschen. Sie schlitterte ein Stück, ehe sie ihr Gleichgewicht zurückerlangte und weiterrannte.

Als sie endlich die St. Mary’s Street erreichte, war auch dort keine Droschke zu sehen. Triefend vor Nässe und außer Atem, gab sie die Verfolgung auf.

3

Alexandra betrat die Pension durch den Seiteneingang. Ihr Mantel war nass und schwer vom Regen, ebenso wie der Rest ihrer Gewänder, doch erst jetzt, zurück in der stickigen Enge des Gasthauses, wurde ihr bewusst, wie sehr sie fror. Die Kälte würde rasch verfliegen, sobald sie erst in ihrer Kammer war und den Kamin geschürt hatte. Die Unruhe, die sie im Augenblick verspürte, würde wohl noch eine Weile ihr Begleiter bleiben.

Sie blieb vor der Treppe stehen und streifte sich das Regenwasser von den Gewändern, während sie sich zum wohl hundertsten Mal fragte, wer der Blonde gewesen sein mochte. Obwohl sie gesehen hatte, wie seine Droschke außer Sicht verschwand, war sie auf Umwegen zur Pension zurückgekehrt und hatte darauf geachtet, dass ihr niemand mehr folgte.

In ein paar Stunden sitze ich in der Kutsche in Richtung London. Aber was, wenn der Blonde wusste, was sie vorhatte? War er bereits beim White Horse Inn in der Nähe gewesen? Sie versuchte sich zu erinnern, wann sie sich zum ersten Mal beobachtet gefühlt hatte, und glaubte, dass es erst auf der Royal Mile gewesen war, ein ganzes Stück, nachdem sie den Netherbow durchschritten hatte. Was, wenn ich davor zu abgelenkt war, um es zu bemerken? Vor ihrem geistigen Auge formte sich ein Bild, in dem ihr der Blonde in der Kutsche gegenübersaß. Sie schob den Gedanken beiseite. Ganz bestimmt würde sie wegen eines vagen Verdachts nicht auf die Reise verzichten und wochenlang auf die nächste Kutsche warten, ehe sie der Stadt – und den Jägern – endlich den Rücken kehrte. Hätte der Blonde den Auftrag gehabt, sie umzubringen, wäre es für ihn ein Leichtes gewesen, ihr im Gedränge des Marktes einen Dolch zwischen die Rippen zu stoßen. Er hat nicht einmal eine sichtbare Waffe getragen. Dass er ihr nachgestellt hatte, gefiel ihr nicht, doch falls er ihr wirklich nach London folgte, sollte es ihr in der riesigen Stadt nicht schwerfallen, ihn abzuhängen.

Alexandra stieg die Treppe nach oben und folgte dem Gang zu ihrem Zimmer. Ein Nachtlicht verbreitete seinen trüben Schein. Ihre Hand lag schon auf dem Türgriff, als sie von drinnen das Knarren einer Bodendiele vernahm, das sie innehalten ließ. Sie legte das Ohr ans Holz und lauschte, doch es war nichts mehr zu hören. Dennoch verharrte sie. Hatte sie den Blonden unterschätzt? Oder überschätzte sie ihn, wenn sie annahm, dass er in ihrer Kammer auf sie wartete? Woher soll er wissen, wo ich wohne, wenn er mir nicht hierher gefolgt ist? Aber hatte sie sich nicht sogar in ihrer Kammer beobachtet gefühlt? Das Empfinden dabei war ein anderes gewesen als heute Nachmittag, und doch … Sie griff unter ihren Mantel und zog die Pistole. Dann drückte sie die Klinke und stieß die Tür auf. Der Lauf ihrer Waffe zielte in die Dunkelheit. Langsam fand der Schein des Nachtlichts seinen Weg in den Raum und offenbarte die Umrisse der kargen Einrichtung. Lediglich in den Ecken hielten sich die Schatten, als hätten sie sich vor dem Licht dorthin zurückgezogen. Auf den ersten Blick wirkte alles normal. Trotzdem blieb sie auf der Schwelle stehen. Ihre Augen glitten durch die Kammer. Wenn wirklich jemand im Raum war, würde er sich hinter oder neben der Tür verbergen – der einzige Ort, den sie nicht einsehen konnte.

Die Pistole im Anschlag, ließ sie ihren Blick durch das Halbdunkel wandern und folgte den Schatten bis in die Ecken. Aufmerksam lauschte sie in die Dunkelheit, suchte nach dem verdächtigen Rascheln von Stoff oder einem leisen Atmen. Doch da war nichts. Nur Stille. Sie wagte sich einen Schritt vor. Auf der Schwelle schwenkte sie die Waffe nach links, in Richtung der Wand neben der Tür. Da sprang eine schemenhafte Gestalt vor und entriss ihr die Pistole mit einem Ruck. Alexandra wollte auf den Gang zurück, als sich eine weitere Gestalt aus den Schatten löste, sie packte und in den Raum zerrte. Hinter ihr flog die Tür zu. Die Kammer versank in Dunkelheit. Finger gruben sich schmerzhaft in ihren Oberarm und hielten sie mit einem Klammergriff umfangen, aus dem sie sich trotz aller Gegenwehr nicht befreien konnte.

„Licht!“, zischte Vladimir unmittelbar neben ihr.

Sofort wurde eine Laterne aufgeblendet. Blinzelnd sah sich Alexandra um. Vladimir hielt sie noch immer fest, neben ihm stand Mihail mit ihrer Pistole in der Hand. Gavril trat hinter der Tür hervor und stellte die Laterne auf den Waschtisch. Seine Miene war ernst, was ihr jedoch mehr Sorgen bereitete, war, dass er ihrem Blick auswich, als wolle er mit dem, was hier geschah, nichts zu tun haben.

„Wo ist er?“, knurrte Vladimir.

Etwas an seiner Frage war erschreckend falsch. Es dauerte jedoch einen Moment, ehe Alexandra begriff, was es war. Er! Warum fragte er nach Lucian? Müsste er nicht zuerst das Kreuz …? Noch ehe sie die aufgehebelten Dielenbretter sah, fiel ihr Blick auf das Kästchen, das neben dem Bett auf dem Boden stand. Der Deckel war zurückgeklappt und offenbarte die gähnende Leere darin.

„Ich habe nur wenig Geduld!“ Vladimir schüttelte sie. „Los! Rede!“

Alexandra versuchte noch einmal, sich seinem Griff zu entwinden, da verstärkte er den Druck auf ihren Arm so sehr, dass sie glaubte, er würde ihr den Knochen brechen.

„Lass mich los!“, fuhr sie ihn an.

Er zog sie näher heran. Alexandra mochte ihn um einen halben Kopf überragen, doch an Kraft war sie dem bulligen Mann nicht einmal annähernd ebenbürtig. Kälte stand in seinen moosgrünen Augen und seine Züge waren verzerrt. Der buschige Vollbart bebte unter seinen zornigen Atemzügen. „Ich frage dich jetzt noch einmal im Guten: Wo ist er?“

„Ich weiß es nicht.“

„Lüg mich nicht an!“, herrschte er und verstärkte seinen Griff, bis Alexandra vor Schmerz aufkeuchte. „Ich werde die Wahrheit aus dir herausbekommen. Wie unangenehm das wird, liegt bei dir.“

„Ich weiß nicht, wo er ist.“ Und wenn ich es wüsste, wärst du der Letzte, dem ich es sagen würde!

Mit einem Ruck packte er sie unterhalb des Ellbogens und drehte ihr den Arm auf den Rücken, bis er ihr beinahe die Schulter aus dem Gelenk kugelte.

„Was soll das werden?“, presste sie hervor, bemüht, ihm in die Augen zu sehen. „Wann wirst du mir glauben, dass ich es nicht weiß? Wenn ich tot vor dir liege?“

„Das wäre zumindest überzeugend“, sagte er kalt. „Hast du mir etwas zu sagen?“

Alexandra schüttelte den Kopf.

„Wie du meinst.“ Er riss sie herum und ließ sie los. Von seinem Schwung getragen, prallte sie gegen die Wand und fiel auf die Knie. Ein wenig benommen hob sie den Kopf und sah, wie Vladimir auf sie zukam.

„Hör mich an, Vladimir“, sagte sie beschwörend. Wenn er begriff, wie sehr Lucian ihnen geholfen hatte, würde er sich vielleicht davon abbringen lassen, ihn zu jagen. „Er hat den Unendlichen vernichtet. Er allein! Ihm verdanken wir –“

Vladimir blieb stehen und blickte auf sie herab. „Es interessiert mich nicht, was dieses Monster getan hat!“