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Beschreibung

Dieser Band greift das Desiderat einer germanistischen Variationspragmatik auf. Dazu versammelt er Beiträge, die sich pragmatischer Variation im Deutschen insbesondere aus diatopischer und diaphasischer Perspektive widmen. Berücksichtigung nden sowohl klassische Bereiche der Pragmatik (z. B. Deixis, Sprechakte, pragmatische Marker) wie auch Ansätze einer weit gefassten Pragmatik (z. B. Schreibregister, Text- und Wissensorganisation, Metapragmatik). Hierbei kommen vielfältige Methoden zum Einsatz. Insgesamt gibt der Band einen Einblick in das breite Spektrum an Objektbereichen und Anwendungsfeldern der (germanistischen) Variationspragmatik. Er leistet somit einen fundierten Beitrag zur empirischen Untersuchung pragmatischer Variation sowie zur Methodologie- und Theoriebildung der Variationspragmatik.

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Seitenzahl: 489

Veröffentlichungsjahr: 2025

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[1]Variationspragmatik

[2]

Herausgegeben von

Prof. Dr. Eva Eckkrammer (Trier)

Prof. Dr. Claus Ehrhardt (Urbino/Italien)

Prof. Dr. Anita Fetzer (Augsburg)

Prof. Dr. Rita Finkbeiner (Mainz)

Prof. Dr. Frank Liedtke (Leipzig)

Prof. Dr. Konstanze Marx (Greifswald)

Prof. Dr. Sven Staffeldt (Halle)

Prof. Dr. Verena Thaler (Innsbruck)

Die Bände der Reihe werden einem single-blind Peer-Review-Verfahren unterzogen.

Bd. 8

Sören Stumpf / Marie-Luis Merten / Susanne Kabatnik / Sebastian Zollner (Hrsg.)

[3]Variationspragmatik

Regionale Vielfalt und situative Unterschiede im Sprachgebrauch

[4]Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

PD Dr. Sören Stumpf (München)https://orcid.org/0000-0001-7883-8653

Prof. Dr. Marie-Luis Merten (Mannheim)https://orcid.org/0000-0002-1367-0746

Prof. Dr. Susanne Kabatnik (Trier)https://orcid.org/0000-0002-9022-9559

Sebastian Zollner (Greifswald)https://orcid.org/0009-0005-9855-9017

DOI: https://doi.org/10.24053/9783381135127

© 2025 · Sören Stumpf, Marie-Luis Merten, Susanne Kabatnik & Sebastian Zollner

Das Werk ist eine Open Access-Publikation. Es wird unter der Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen | CC BY-SA 4.0 (https://creativ ecommons.org/licenses/by-sa/4.0/) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, solange Sie die ursprünglichen Autor:innen und die Quelle ordentlich nennen, einen Link zur Creative Commons-Lizenz anfügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Die in diesem Werk enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der am Material vermerkten Legende nichts anderes ergibt. In diesen Fällen ist für die oben genannten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG · Dischingerweg 5 · D-72070 TübingenInternet: www.narr.deeMail: [email protected]

ISSN 2628-4308ISBN 978-3-381-13511-0 (Print)ISBN 978-3-381-13512-7 (ePDF)ISBN 978-3-381-13513-4 (ePub)

[5]Inhalt

Sören Stumpf, Marie-Luis Merten, Susanne Kabatnik & Sebastian Zollner

Variationspragmatik

Begriffsverständnis, Forschungsstand und Anliegen des Bandes

Tanja Ackermann, Christa Dürscheid, Stephan Elspaß & Horst J. Simon

Variantenpragmatik des Deutschen

Ziele, methodologische Herausforderungen und Fallanalysen

Philip C. Vergeiner & Lars Bülow

Zur funktionalen Variation von

eh

in Österreich und darüber hinaus

Sonja Quehenberger & Lars Bülow

Zur Perspektivierung der Bewegungsrichtung bei Richtungsadverbien in den bairischen Dialekten

Ein variationspragmatischer Zugang

Julie Täge

Ability Questions in der digitalen Kommunikation

Eine variationspragmatische Studie zur deutschen Sprache in Deutschland und in der Schweiz

Florian Busch & Karina Frick

Dialektale Schreibregister

Verschriftungsvariation im digitalen Schweizerdeutschen

Georg Oberdorfer & Matthias Hahn

Der schreibt ez, der Hurens…

Semantisch-pragmatische Variation und Aggressionsrichtungen sprachlicher Äußerungen in Computerspielen

Nadine Proske & Arne Zeschel

Ebenen der Variation bei pragmatischen Markern im gesprochenen Deutsch

Cordula Meißner

Gebrauchsbasierte Indizierungspotenziale und diasituative Variation

Die Nutzung von Kommunikationsverben im Spektrum des gesprochenen Deutsch

Pavla Schäfer & Mirjam Weiß

Text- und Wissensorganisation als Ebene der Variation in Lehrbüchern zur Inneren Medizin und klassischen Homöopathie

Verzeichnis der Herausgebenden und Autor:innen

[7]Variationspragmatik

Begriffsverständnis, Forschungsstand und Anliegen des Bandes

Sören Stumpf, Marie-Luis Merten, Susanne Kabatnik & Sebastian Zollner

Abstract: This introduction provides an overview of the research field of variational pragmatics. We outline the understanding of the term, the object of investigation, analytical approaches and the current state of research. Furthermore, the aims and contributions of the volume are presented, with a focus on how the included studies address central questions and fill existing gaps in the field. By examining communicative patterns in different varieties of German, this volume offers new insights into pragmatic variation, particularly regarding the macro-social factor of region and the micro-social factor of situation. The results also emphasize perspectives for future research in variational pragmatics.

Keywords: variational pragmatics, sociolinguistics, dialectology, macro- and micro-social factors, methodology

1Ausgangspunkt

Sprache ist kein homogenes und statisches Gebilde, sondern lebt vielmehr von ihrer Heterogenität und Flexibilität. Auf allen sprachlichen Ebenen existieren verschiedene (mitunter konkurrierende) Gebrauchsformen, deren Verwendung von außersprachlichen Parametern wie Raum, Zeit, soziale Gruppe oder Kommunikationssituation beeinflusst ist. Während die Ebenen der Phonologie, Graphematik, Lexik, Morphologie und Syntax aus variationslinguistischer Perspektive bereits intensiv erforscht wurden und weiterhin werden, ist die pragmatische Variation besonders innerhalb der germanistischen Linguistik „als Gegenstand zur Charakterisierung von Varietäten bisher nicht genügend berücksichtigt worden“ (Staffeldt 2013: 88). Und auch die Teildisziplin der Pragmatik (im weitesten Sinne) konzentriert sich in der Regel entweder auf [8]sprachliche Universalien oder auf Phänomene, die einer bestimmten Varietät innerhalb einer Einzelsprache (i.d.R. der Standardsprache) angehören. Werden pragmatische Phänomene miteinander verglichen, so stehen weniger Unterschiede innerhalb einer Sprache bzw. Sprachgemeinschaft als vielmehr solche zwischen Einzelsprachen im Mittelpunkt (zur kontrastiven Pragmatik vgl. Aijmer 2011). Blicken wir über den germanistischen Tellerrand, so zeigt sich allerdings, dass bereits seit geraumer Zeit eine Vielzahl an anglistischen und romanistischen Studien zur pragmatischen Variation vorliegt. Diese Untersuchungen legen eindrücklich dar, mit welchem Mehrwert eine variationslinguistische Erforschung pragmatischer Phänomenbereiche einhergeht (vgl. Schneider 2005; Schneider/Barron [Hrsg.] 2008; Barron/Schneider [Hrsg.] 2009; Barron 2015, 2021a; Félix-Brasdefer 2009; Félix-Brasdefer/Dale 2012; Lázaro Ruiz/Ramajo Cuesta 2015; Schweinberger/Ronan 2024).1 Daher überrascht es auch nicht, dass sich derzeit die länderübergreifende Forschungsgruppe „Variantenpragmatik des Deutschen – Kommunikative Muster im Vergleich“ darum bemüht, diese variationspragmatische Forschungslücke im deutschsprachigen Raum zu schließen (Ackermann/Dürscheid/Elspaß/Simon)2.

Pragmatische Variation ist kein Sonderfall innerhalb einer Sprache. Täglich kommt sie etwa im Bereich des (Be-)Grüßens zum Vorschein (vgl. Abbildung 1). Bei dieser Sprechhandlung sind Differenzen auf lexikalischer Ebene durch eine breite Palette an Ausdrucksformen, die auf außersprachliche Faktoren zurückzuführen sind, unmittelbar ersichtlich; die angeführten Begrüßungen unterscheiden sich aber auch in ihrem Kontextualisierungspotenzial. Ihr Gebrauch ruft verschiedene Situationen etwa der Nähe oder Distanz hervor und kontextualisiert die Art der Beziehung zwischen Interagierenden (Guten Tag, Hi). Zudem können die verschiedenen Grußformeln Zugehörigkeit anzeigen, so etwa regionale Zugehörigkeit (Grüß Gott, Moin, Gruezi), ebenso aber auch Zugehörigkeit zu bestimmten Sprecher:innengruppen und Peer Groups, bei denen nicht zuletzt der Aspekt des Alters eine wesentliche Rolle spielt (Hey Bro).

[9]Abb. 1: Gruß am Nachmittag (Atlas zur deutschen Alltagssprache)3

Dass pragmatisch fundierte Ausdrucksmittel ein instruktiver Untersuchungsgegenstand für die Variationslinguistik sind, zeigt sich auch an (höflichen) Aufforderungen zum Tragen einer Maske im öffentlichen Verkehr, wie sie während der Corona-Pandemie in Bussen und Bahnen zu hören waren. Hier begegnen verschiedene lexikogrammatische Möglichkeiten, die – zumindest unserem Eindruck nach – regional variieren und die sich auf die Direktheit der Ansprache bzw. der Aufforderung beziehen (Wir danken Ihnen für das Tragen einer FFP2-Maske!, Vielen Dank, dass Sie sich und andere schützen, indem Sie eine FFP2-Maske tragen!, Bitte tragen Sie in den Verkehrsmitteln der X eine FFP2-Maske!). Allem Anschein nach begegnet uns demnach ein divergierendes Verständnis, was den angemessenen Grad an Höflichkeit (im öffentlichen Raum) anbelangt.

[10]2Begriffsverständnis, Analysezugänge und Forschungsstand

2.1Makro- und mikro-soziale Variationsfaktoren im Fokus

Grundsätzlich kann die Variationspragmatik als ein (noch junger) pragmatischer Forschungsbereich definiert werden, der sich der „macro-social variation in language use conventions across social groups sharing the same language“ (Schneider 2021a: 664) widmet und angesichts dieses Forschungsschwerpunkts an der Schnittstelle von Pragmatik, Variationslinguistik und Soziolinguistik zu verorten ist:4

Variational pragmatics can be conceptualized as the intersection of pragmatics with sociolinguistics, or, more specifically, with dialectology as the study of language variation. It is assumed that the social factors analyzed in sociolinguistics have a systematic impact not only on pronunciation, vocabulary and grammar, but also on language use in interaction. (Barron/Schneider 2009: 426)

Ein variationspragmatisches Erkenntnisinteresse verfolgen demnach Arbeiten, denen (a) ein (typisches) pragmatisches Phänomen als Untersuchungsobjekt (abhängige Variable) zugrunde liegt und die dieses (b) auf der Basis von mindestens zwei Datensätzen, die unterschiedliche Varietäten einer Einzelsprache darstellen (unabhängige Variablen), (c) mit empirischen Methoden kontrastiv in den Blick nehmen. Bezüglich der Frage des Vergleichs lassen sich verschiedene Parameter voneinander unterscheiden, die auch in lexikalisch und grammatisch orientierten variationslinguistischen Untersuchungen gängig sind. Beispielsweise differenzieren Schneider/Barron (2008: 16–19) auf einer Makroebene fünf Variationsfaktoren voneinander: 1. Region/Raum, 2. soziale Schicht/sozio-ökonomischer Status, 3. ethnische Zugehörigkeit, 4. Gender/soziales Geschlecht sowie 5. Alter, die sich selbstverständlich um weitere soziale Faktoren ergänzen lassen (wie etwa Bildung und Religionszugehörigkeit) und die sich angelehnt an Coseriu (1988: 49) in die (Über-)Kategorien Diatopik und Diastratik einordnen lassen (Kabatek 2024: Kapitel 5).5

Zu fragen ist grundsätzlich nach dem Einfluss, den die genannten Faktoren tatsächlich auf den Sprachgebrauch ausüben. So hält Schneider (2021a: 667) in [11]Bezug auf das Spannungsverhältnis von Essentialismus und Konstruktivismus fest:

Regarding the status of the macro-social factors, it has been assumed from the start that these factors have a systematic influence on language use, but that they do not determine language use. This means that researchers in variational pragmatics do not adopt the deterministic view of essentialism. Nor do they, however, subscribe to constructionism. They reject the idea that identities are entirely fluid and can be constructed and negotiated anew in each interaction.

Haugh/Schneider (2012) schlagen daher einen Zugang vor, der weder essentialistisch noch konstruktivistisch vorgeht und der als „emic first-order approach to the status of macro-social factors“ (Schneider 2021a: 668) gefasst werden kann. Die fraglichen Faktoren werden demzufolge behandelt als „identities as they are displayed and perceived by participants (in the emic sense) in an interaction“ (Haugh/Schneider 2012: 1017). Daraus ergibt sich, dass auch Wahrnehmungsstudien sowie Untersuchungen zur Metapragmatik (z.B. Diskussionen in Online-Foren) als sinnvolle Instrumente zur Analyse pragmatischer Variation herangezogen werden können (vgl. Schneider 2021b; Schröder/Schneider 2021).

Schneider/Barron (2008: 18) zufolge sind neben den genannten makro-sozialen Faktoren („macro-social factors“) auch mikro-soziale Faktoren („micro-social factors“) zu beachten, worunter sie in erster Linie (a) den (relativen) sozialen Status (d.h. das [hierarchische] Verhältnis zwischen den Interaktant:innen), (b) die soziale Distanz (d.h. die Vertrautheit der Kommunikationsteilnehmer:innen) und (c) den Stil bzw. das Register (d.h. den Grad der durch die Sprecher:innen gewählten Formalität in einem bestimmten Kontext) fassen.6 Schneider (2021a: 673) nennt darüber hinaus die Aspekte „discourse genre“ und „circumstances“. Es handelt sich hierbei also um kommunikativ-situative, registerbezogene sowie (text-)stilistische Unterschiede und somit um Phänomene der diaphasischen Variation (vgl. Coseriu 1988: 50): „Micro-social factors may change from situation to situation. Hence, micro-social variation is sometimes referred to as ,situational variation‘. Macro-social factors, on the other hand, remain relatively stable across situations and contexts“ (Schneider/Barron 2008: 18).

2.2Ebenen der Analyse

Hinsichtlich der konkreten Untersuchungsgegenstände lassen sich mikro-, meso- und makrostrukturelle Ansätze heranziehen, die für variationspragma[12]tische Fragestellungen instruktiv sein können (vgl. Schneider/Barron 2008: 19–21; Barron/Schneider 2009: 427–428; Barron 2017: 92–94; Schneider 2021a: 665–667). Die verschiedenen Ebenen basieren nach Schneider/Barron (2008: 19) auf einem integrativen Modell „of spoken discourse which incorporates approaches to pragmatics from different disciplines, including speech act theory, discourse analysis and conversation analysis“. Differenzieren lässt sich in analytischer Hinsicht (mindestens) zwischen den folgenden (aus phänomenologischer Sicht letztlich miteinander verschränkten) Ebenen:

Formale Ebene („formal level“): Auf der untersten Ebene sind Wörter und Phrasen anzusiedeln, die einen pragmatischen Zweck erfüllen. In den Blick geraten hierbei beispielsweise Heckenausdrücke (vgl. Clancy 2011), Hörersignale (vgl. Murphy 2012) und Question Tags (vgl. Barron et al. 2015). Ziel solcher formal fundierter, allerdings funktional orientierter Analysen „is to establish the communicative functions of such markers in interaction (form-to-function mapping)“ (Barron/Schneider 2009: 428).

Handlungsebene („actional level“): Wenn man sich vom konkreten lexikalischen Material löst, lassen sich auf einer nächst höheren Ebene Sprechakte variationspragmatisch erforschen. In erster Linie werden hierbei für bestimmte Alltagsroutinen typische Sprachhandlungen wie Entschuldigungen (vgl. Wagner/Roebuck 2010), Komplimente (vgl. Lin 2015) und Einladungen (vgl. García 2008) relevant gesetzt. Solchen Studien ist es zum einen ein Anliegen, die Realisierungsformen zu ermitteln, mit denen die entsprechenden Sprechakte vollzogen werden („function-to-form mapping“, Barron/Schneider 2009: 428). Zum anderen wird ermittelt, wie sich die Realisierungen in Bezug auf Parameter wie (In-)Direktheit, (Un-)Höflichkeit und (In-)Formalität voneinander unterscheiden (vgl. Schneider 2021a: 666).

Interaktionale Ebene („interactional level“): Richtet sich der Fokus auf die Kombination von Sprechakten, liegt ein interaktionaler Ansatz zugrunde. Adressiert werden hierbei in erster Linie Adjazenzpaare, (komplexere) Sprechaktsequenzen und umfassendere Sprechereignisse (vgl. Schneider/Barron 2008: 20). So untersucht Barron (2005) beispielsweise Angebotsverhandlungen in Irland und England, Schneider (2008) kontrastiert Small Talks in England, Irland sowie den USA und Haugh/Carbaugh (2015) konzentrieren sich auf Selbstauskünfte in ersten Interaktionen zwischen Sprecher:innen des amerikanischen und australischen Englisch.

Thematische Ebene („topic level“): Auch Diskursinhalte können aus variationspragmatischer Perspektive analysiert werden. Berücksichtigung finden auf dieser Makroebene der „propositional content of indivi[13]dual speech acts and macro-propositions as larger discourse-structuring content units negotiated across a number of turns and exchanges“ (Schneider 2021a: 666). Es geht also unter anderem um Fragen der Themenauswahl und Themenentwicklung in komplexeren Kommunikationsformen auf Text(sorten)- und Gesprächs(sorten)ebene (z.B. Schneider 1987, 1988 am Beispiel von britischen Small Talks).

Organisatorische Ebene („organizational level“): Schließlich kann die Gesprächsführung in Gänze behandelt werden. Hierunter fallen beispielsweise Mechanismen des Turn-Takings (simultanes Sprechen, Überschneidungen, Unterbrechungen usw.) und Arten des Schweigens in der Interaktion (Lücken, Aussetzer, Pausen usw.) (vgl. McCarthy 2002; OʼKeeffe/Adolphs 2008; Placencia et al. 2015; Nilsson et al. 2018).7

Fasst man den variationspragmatischen Forschungsstand in Bezug auf die genannten Variationsfaktoren und die beleuchteten Beschreibungsebenen zusammen, so adressieren frühere sowie gegenwärtige Studien makro-soziale Faktoren (hierbei insbesondere die diatopische Variation, z.B. Schneider/Barron [eds.] 2008; Dürscheid/Simon 2019), formale und handlungsbezogene Einheiten (hierbei vor allem pragmatische Marker, z.B. Farr/Murphy 2009; Aijmer 2013; Ackermann 2023, und Sprechakte, z.B. Félix-Brasdefer 2008; Jautz 2013; Bieswanger 2015; Staley 2018; Ackermann 2021; Barron 2022) sowie Varietäten des Englischen und Spanischen (vgl. Schneider 2021a: 674–678), wobei der Fokus größtenteils auf mündlicher Kommunikation liegt. Anzumerken ist ferner, dass in variationspragmatischen Studien (a) die angeführten Analyseebenen auch miteinander kombiniert werden (können) und (b) mitunter erforscht wird, wie makro-soziale mit mikro-sozialen Faktoren interagieren (vgl. Barron 2021b: 188).8 Phänomenbereiche, zu denen es Barron (2017: 100–101) und Schneider (2021a: 678–680) zufolge bislang kaum For[14]schung gibt, die in diesem Band jedoch näher beleuchtet werden, sind unter anderem (a) Variation jenseits des Parameters Region/Raum (z.B. Proske/Zeschel), (b) Analysegegenstände auf interaktionaler, thematischer und organisatorischer Ebene (z.B. Schäfer/Weiß), (c) der geschriebene Sprachgebrauch (z.B. Busch/Frick) sowie (d) metapragmatische Zugänge (z.B. Meißner). Hier unterbreitet der vorliegende Sammelband mithin fundierte Erkenntnisse, was grundlegende variationspragmatische Forschungsdesiderata betrifft.

2.3Methodologie und Methodik

Die Methodologie betreffend werden in der Literatur wiederkehrend drei Prinzipien postuliert, die variationspragmatischen Untersuchungen zugrunde liegen (müssen) (vgl. Schneider/Barron 2009: 429–431; Schneider 2021a: 672–673). Gemäß dem (a) empirischen Prinzip lässt sich Variation nur mittels authentischer Daten beispielsweise experimentell oder korpusbasiert erforschen; introspektive Urteile werden abgelehnt. Das (b) kontrastive Prinzip steckt bereits im Namen des Forschungsstrangs und besagt, dass mindestens zwei Varietäten vergleichend betrachtet werden; dabei reicht es nicht aus, eine bestimmte Varietät (z.B. eine Fachsprache) mit einer abstrakten Norm (z.B. Standardsprache) zu vergleichen. Schließlich ist dem (c) Prinzip der Vergleichbarkeit zufolge darauf zu achten, dass die Daten, die gegenübergestellt werden, sinnvoll miteinander kontrastiert werden können; bei der Untersuchung des Einflusses einer bestimmten unabhängigen Variable (z.B. Region) auf die abhängige Variable (z.B. Sprechakt der Bitte) ist demnach zu beachten, dass die anderen Variablen (z.B. Alter, soziale Schicht) weitgehend konstant gehalten werden.

Die Variationspragmatik profitiert von einem breiten Spektrum an Methoden, das sich auch in den Beiträgen dieses Bandes widerspiegelt. So basieren einige Studien auf Daten aus (experimentellen) Online-Befragungen, die quantitativ-statistisch ausgewertet werden (Ackermann/Dürscheid/Elspaß/Simon; Quehenberger/Bülow). Andere Beiträge erforschen Korpusdaten (WhatsApp-Chats, Face-to-Face-Interaktionen, In-Game-Aufnahmen, medizinische Lehrbücher) aus quantitativer und qualitativer Perspektive (Täge; Busch/Frick; Oberdorfer/Hahn; Proske/Zeschel; Meißner; Schäfer/Weiß) oder kombinieren die beiden Zugänge (Vergeiner/Bülow). Zurückgegriffen wird dabei auf verschiedene Ansätze, mit denen sich pragmatische Phänomene im engeren und weiteren Sinne untersuchen lassen, wie Sprechakttheorie (Ackermann/Dürscheid/Elspaß/Simon; Täge), Gesprächsanalyse/Interaktionale Linguistik (Vergeiner/Bülow; Proske/Zeschel), Textlinguistik (Schäfer/Weiß), Schriftlinguistik (Busch/Frick) sowie Korpuspragmatik (Meißner) – um nur eine Auswahl zu nennen.

[15]3Anliegen und Beiträge des Bandes

Wie bereits herausgestellt, greift der vorliegende Band das Desiderat einer germanistischen Variationspragmatik auf. Ergänzt werden damit die zahlreichen Arbeiten zu englischen und spanischen Varietäten um eine Fokussierung der pragmatischen Variation im deutschsprachigen Raum. Vor diesem Hintergrund versammelt der Band sowohl empirische Studien zu ausgewählten pragmatischen Phänomenen und Varietäten als auch stärker theoretisch und methodologisch ausgerichtete Beiträge (Ziele, Herausforderungen und Methoden, Ackermann/Dürscheid/Elspaß/Simon). Die in den Blick genommenen pragmatischen Phänomene sind vielfältig und reichen von der stärker formalen (mikrostrukturellen) Ebene bis hin zur abstrakteren (makrostrukturellen) Dimension der Sprachpraxis. Berücksichtigung finden sowohl klassische Bereiche der Pragmatik, so z.B. Deixis (Quehenberger/Bülow), Sprechakte (Täge), pragmatische Marker (Proske/Zeschel; Vergeiner/Bülow) wie auch Ansätze einer weit gefassten Pragmatik, z.B. Schreibregister (Busch/Frick), Invektivität (Oberdorfer/Hahn), die Text- und Wissensorganisation (Schäfer/Weiß) und metapragmatische Phänomene (Meißner). Dass der geschriebene Sprachgebrauch im Fokus einzelner Studien steht, ist angesichts des entsprechenden Forschungsbedarfs eine große Stärke des Bandes.

Die Beiträge umfassen schwerpunktmäßig diatopische und diaphasische Zugänge zur pragmatischen Variation des Deutschen; insbesondere Letzteres stellt einen weiteren wesentlichen Mehrwert des vorliegenden Sammelbandes dar, wird doch die diaphasische Variation auch mit Blick auf andere Sprachen bisher seltener in den Blick genommen. Ausgewählte Beiträge widmen sich (mitunter auch) diastratischen Faktoren wie der Zugehörigkeit zu divergierenden Denkkollektiven. Insgesamt gibt der Band einen Einblick in die vielfältigen Objektbereiche und Anwendungsfelder der (germanistischen) Variationspragmatik. Er leistet einen fundierten Beitrag zur empirischen Untersuchung pragmatischer Variation sowie zur Methodologie- und Theoriebildung der Variationspragmatik. Besonders hervorzuheben ist dabei der sich abzeichnende Methodenpluralismus, der in der Zusammenschau der einzelnen empirischen Studien sichtbar wird. Die nachfolgende Tabelle 1 gibt einen solchen Überblick über die Beiträge des Bandes mit ihren vielfältigen Analysegegenständen, Datentypen und methodischen Herangehensweisen.

[16]Primäre Variationsdimension

Beitrag

Analysegegenstand

Daten und Methodik

Diatopik

Ackermann, Dürscheid, Elspaß & Simon

Höflichkeitssensitive Sprechakte (z.B. Bitten), Vokative

Online-Befragung und quantitative Analyse (u.a. Discourse Completion Tasks)

Vergeiner & Bülow

Partikel eh

Gesprächsanalyse (Ulrichsberg-Korpus), Online-Befragung und quantitative Analyse

Quehenberger & Bülow

Richtungsadverbien

Online-Befragung und quantitative Analyse

Täge

Ability Questions

Quantitative Korpusanalyse (WhatsApp-Daten)

Diaphasik

Busch & Frick

Schreibregister

Quantitative und qualitative Korpusanalyse (WhatsApp-Daten)

Oberdorfer & Hahn

Aggressive Äußerungen

Quantitative und qualitative Korpusanalyse (In-Game-Aufnahmen)

Proske & Zeschel

Pragmatische Marker

Gesprächsanalyse; quantitative Korpusanalyse (Datenbank für Gesprochenes Deutsch)

Meißner

Kommunikationsverben

Quantitative Korpusanalyse (Datenbank für Gesprochenes Deutsch)

Diastratik

Schäfer & Weiß

Text- und Wissensorganisation

Quantitative und qualitative Korpusanalyse (medizinische Lehrbücher)

Tab. 1: Übersicht über die Beiträge des Bandes

In dieser Konzeption treibt der Band die (traditionellere) variationspragmatische Forschung voran, indem dringende Desiderata angegangen und neue Perspektiven für die zukünftige pragmatisch fokussierte Erforschung sprachlicher Variation aufgezeigt werden.

[17]4Zukünftige Perspektiven

Auch wenn der vorliegende Band grundsätzlich für eine stärkere Sichtbarkeit von pragmatischen Fragestellungen in der eher strukturell ausgerichteten Variationslinguistik wirbt und sich als einen bedeutsamen Beitrag zum Ausbau einer germanistischen Variationspragmatik versteht, legt er in der Gesamtschau der Beiträge ebenso offen, welchen Gesichtspunkten in zukünftigen Arbeiten eingehendere Aufmerksamkeit zukommen sollte. Es zeichnen sich verschiedene Phänomenbereiche, Variationsdimensionen wie auch Analyseperspektiven ab, die in den Mittelpunkt sich anschließender Studien zu rücken sind (ähnlich auch Barron 2017: 100–101 und Schneider 2021a: 678–680).

Was in pragmatischer Hinsicht bislang untererforschte Faktoren von Variation betrifft, so sind hier vor allem die Diastratik sowie diachrone und diamediale Differenzierungen zu nennen. Gruppenspezifische Variationsphänomene, die auf Aspekte wie Alter, sozio-ökonomische Milieus, ethnische Zugehörigkeit, Interessen usw. zurückzuführen sind, scheinen aus pragmatischer Sicht mehr als naheliegend, sie sind allerdings bisher nicht eingehender untersucht worden. Dabei sind diese Aspekte deutlich vielschichtiger, als es auf den ersten Blick erscheinen und mitunter manche variationslinguistische Studie suggerieren mag. Ein naheliegendes Beispiel stellt die Kategorie Gender dar: Die bisherige Betrachtung von Variation im Hinblick auf Gender beschränkte sich weitgehend auf eine binäre Geschlechterdifferenzierung. Angesichts der intensiven genderlinguistischen Forschung der letzten Jahrzehnte sollte dieser eingeschränkte Ansatz jedoch überdacht werden. Die Fortschritte in der Genderforschung haben gezeigt, dass geschlechtliche Identität ein vielschichtiges und komplexes Konstrukt darstellt, das über die binäre Unterscheidung von männlich und weiblich hinausgeht. Eine differenzierte Auseinandersetzung mit Gender in linguistischen Untersuchungen ist daher dringend erforderlich, um der sprachlichen Vielfalt und den vielfältigen Ausdrucksformen geschlechtlicher Identität gerecht zu werden. Während darüber hinaus pragmatische Wandelphänomene ebenso in der Historischen Pragmatik zum Thema gemacht werden, bieten – nicht zuletzt den Überlegungen von Koch/Oesterreicher (1985) folgend – erwartbare Unterschiede von gesprochen- und geschriebensprachlichen Settings auch einen instruktiven Gegenstand variationspragmatischer Forschung (beispielsweise zu Komplimenten und Kompliment-Erwiderungen in Offline- und Online-Kontexten, vgl. Merten 2022).

Mit Blick auf die Analyseebenen zeichnet sich ein (größerer) Forschungsbedarf insbesondere für die interaktionale, thematische sowie organisatorische Dimension ab; vor allem variationspragmatische Studien, die sich auf die Text- [18]und Gesprächs(sorten)ebene beziehen (vgl. Barron 2017: 101), können in sich anschließenden Projekten zur Bearbeitung eines bislang nur wenig erforschten Feldes beitragen. Ähnliches gilt für metapragmatisch fokussierte Forschungsvorhaben; bis dato liegen nur wenige Einblicke in diese Ebene der Vorstellungen von und Einstellungen zu pragmatischer Variation vor. Hierbei könnten sich digitale Interaktionsräume als aufschlussreiche Kommunikationsbereiche erweisen: Beispielsweise thematisieren zahlreiche Posts auf Plattformen wie Instagram, TikTok oder X Phänomene der sprachlichen Variation, die dazugehörigen Kommentarspalten vermitteln ein vielfältiges Bild der User:innen-Positionierungen zu diesen Variationsposts.

Größerer Erkenntnisgewinn könnte in zukünftigen variationspragmatischen Studien schließlich durch stärker multifaktoriell angelegte Forschungsdesigns erzielt werden. Indem verschiedene Variationsfaktoren sowie Analyseebenen systematisch berücksichtigt und aufeinander bezogen werden, lassen sich die komplexen Wechselwirkungen innerhalb und zwischen diesen Dimensionen aufdecken. Dies ermöglicht nicht nur ein tieferes Verständnis der reziproken Beeinflussung der Faktoren, wie etwa diatopischer, diaphasischer und diastratischer Variablen, sondern auch der Verflechtungen zwischen unterschiedlichen Untersuchungsgegenständen, etwa auf formaler, handlungsbezogener oder interaktionaler Ebene. Solche differenzierten Ansätze versprechen wertvolle Einsichten in die Dynamik pragmatischer Variation. In diesem Zusammenhang sollte die germanistische variationspragmatische Forschung auch verstärkt experimentelle Methoden heranziehen. Eine solche methodische Erweiterung würde es ermöglichen, korpusbasierte Erkenntnisse durch gezielte Hypothesen zu spezifischen pragmatischen Phänomenen systematisch zu überprüfen und kausale Zusammenhänge zwischen Variationsfaktoren und einzelnen Analyseebenen präziser zu erfassen.

Insgesamt versteht sich der Band als ein erster grundlegender Schritt, der zukünftige Forschungen zur Variationspragmatik im Deutschen anregen soll. Dabei eröffnet er nicht nur neue Perspektiven, was die Untersuchung konkreter Analysegegenstände pragmatischer Variation anbelangt, sondern er liefert auch methodische und theoretische Impulse, die für eine weiterführende Auseinandersetzung mit diesem Forschungsfeld an der Schnittstelle von Pragmatik, Variations- und Soziolinguistik von zentraler Bedeutung sein können.

[19]Literatur

Ackermann, Tanja (2021). Bitte könnte ich vielleicht? Eine kontrastive Untersuchung zu Aufforderungen in Deutschland und der deutschsprachigen Schweiz. Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 88, 265–301.

Ackermann, Tanja (2023). Die formale und funktionale Entwicklung von bitte. Eine diachrone Korpusstudie zur Entstehung eines höflichkeitsrelevanten Markers. Zeitschrift für germanistische Linguistik 51, 152–195.

Aijmer, Karin (2013). Understanding Pragmatic Markers: A Variational Pragmatic Approach. Edinburgh: Edinburgh University Press.

Aijmer, Karin (Hrsg.) (2011). Contrastive Pragmatics. Amsterdam/Philadelphia: Benjamins.

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1

Dass es sich hierbei um einen bereits gut etablierten Ansatz der Pragmatik handelt, zeigt sich auch an der Vielzahl an Überblicksartikeln (in Handbüchern) (vgl. Schneider 2010, 2021a, 2022; Barron 2017, 2024).

2

Die in diesem Band enthaltenen Beiträge werden in der Einleitung kursiv hervorgehoben.

3

www.atlas-alltagssprache.de/runde-2/f01/ (Stand 30.09.2024).

4

Barron/Schneider (2009: 425) verstehen Variationspragmatik zudem als „subdiscipline of intercultural pragmatics“ sowie als „a twin discipline of historical pragmatics“ (Schneider/Barron 2008: 1).

5

Coseriu (1988: 49–50; Herv.i.O.) schreibt hierzu: „In einer historischen Sprache stellt man aber nicht nur die Verschiedenheit fest, die man normalerweise ,dialektal‘ oder ‚mundartlich‘ nennt. Es gibt nämlich in einer historischen Sprache zumindest drei Arten der inneren Verschiedenheit, und zwar: diatopische Unterschiede (d.h. Unterschiede im Raume), diastratische Unterschiede (Unterschiede zwischen den sozial-kulturellen Schichten) und diaphasische Unterschiede, d.h. Unterschiede zwischen den Modalitäten des Sprechens je nach Situation desselben (einschließlich der Teilnehmer am Gespräch).“

6

Schneider/Barron (2008: 18) gebrauchen hierbei die folgenden englischen Termini: „power“/„(relative) social status“, „social distance“ und „style“/„register“.

7

Die fünf Ebenen erweitert Félix-Brasdefer (2015: 43–48) um stilistische, prosodische und non-verbale Perspektiven (vgl. hierzu auch Barron 2021b: 187–188). Es lässt sich jedoch fragen, ob diese Analysegegenstände nicht eher als spezifische Unterkategorien der genannten fünf Ebenen angesehen werden können. Beispielsweise finden sich non-verbale Aspekte der Kommunikation mindestens auf formaler, handlungsbezogener, interaktionaler und organisatorischer Ebene wieder (z.B. in Form der multimodalen Realisierung bestimmter pragmatischer Marker oder Sprachhandlung[ssequenz]en im Rahmen des Turn-Takings [Blickrichtungen, Kopf- und Handbewegungen usw.]).

8

So betont Schneider (2021a: 669): „The presentation of the levels of analysis seems to suggest an additive bottom-up approach, yet this is misleading. What is advocated instead is an integrative top-down approach. It must always be borne in mind that all levels are interdependent, although they can be distinguished analytically and treated separately to reduce the complexities of interactions to a manageable degree in a given study.“

[23]Variantenpragmatik des Deutschen

Ziele, methodologische Herausforderungen und Fallanalysen

Tanja Ackermann, Christa Dürscheid, Stephan Elspaß & Horst J. Simon

Abstract: While there is an ever-growing amount of literature on variation in pronunciation, lexis and grammar of (Standard) German, the pragmatic dimension of German as a pluriareal language has so far been studied to a much lesser extent. In our trinational project Variational Pragmatics of German. Comparing communicative patterns (VariPrag) we aim to investigate this pragmatic variation in oral and written communication in Germany, Austria and German-speaking Switzerland from a synchronic as well as from a diachronic perspective. In this article, we first provide an overview of the aims of the VariPrag-project and then discuss the methodological challenges involved in analysing pragmatic variation within the contiguous German-speaking area. We also present two case studies based on data from pilot studies, showing that such an endeavour can lead to interesting results.

Keywords: variational pragmatics, methodology, pluriareal German, metapragmatics, requests, vocatives

1Variantenpragmatik und Variationspragmatik

„In dem trinationalen Projekt Variantenpragmatik des Deutschen – kommunikative Muster im Vergleich (Projektstandorte FU Berlin, Universität Bielefeld, PLUS Salzburg und Universität Zürich) werden regionale Unterschiede im Gebrauch kommunikativer Muster untersucht“ (www.variprag.net).1 So steht es auf der Website zu dem Forschungsprojekt, das wir seit 2022 gemeinsam leiten und das Thema des vorliegenden Beitrags ist. Im Folgenden wird es aber [24]nicht nur um kommunikativ-regionale Unterschiede gehen, der Schwerpunkt liegt auch auf der Frage, welche theoretischen und methodischen Herausforderungen sich stellen, wenn man kommunikative Phänomene wie das Anredeverhalten, den Gebrauch von Höflichkeitspartikeln (wie z.B. bitte), Routineformeln (wie z.B. Guten Tag) und höflichkeitssensitive Sprechakte (wie z.B. Beschwerden oder Bitten) variationspragmatisch untersuchen möchte. Das führt uns zu einer ersten, zu einer terminologischen Frage: Der vorliegende Sammelband trägt den Titel Variationspragmatik, auf der Website unseres Projekts und in den dazu bereits erschienenen Publikationen ist entweder von Variantenpragmatik oder von variationeller Pragmatik die Rede (vgl. Dürscheid/Simon 2019; Ackermann 2021, 2023a; Dürscheid 2023). Gibt es hier einen Bedeutungsunterschied? Auf diese Frage kommen wir weiter unten zurück, zunächst ist noch ein Hinweis zum Terminus Varietät erforderlich. Wir verstehen diesen Ausdruck nicht systembezogen, sondern beziehen ihn auf die Gebrauchssituation (vgl. Berruto 1987: 264): Die Kommunikationsbeteiligten sind es, deren sprachliche Handlungen einerseits von externen Parametern bestimmt sind und die andererseits in der Verwendung sprachlicher Mittel soziale Bedeutung herstellen (vgl. Eckert 2018). In der Variationspragmatik wird dieser Ansatz aufgenommen. So schreibt Barron (2021), dass der Sprachgebrauch in Korrelation zu Faktoren wie z.B. Alter, Geschlecht und Region steht und dass sich diese Faktoren verschiedenen Kontexten auf mikro- und makrosozialer Ebene zuordnen lassen (vgl. Barron 2021: 192–194). Auf der mikrosozialen Ebene ist einer dieser Faktoren die Beziehung zwischen den Interaktionsbeteiligten (weshalb sie sich z.B. duzen und nicht siezen), auf der makrosozialen Ebene ist es beispielsweise die regionale Herkunft bzw. der Ort, an dem die Personen leben (weshalb sie z.B. Grüezi und nicht Moin sagen). Was den Herkunfts- oder Lebensraum betrifft, so können damit Staaten gemeint sein (z.B. Österreich oder Deutschland), aber auch Großareale wie die deutschsprachige Schweiz, Norddeutschland oder Süddeutschland, Bundesländer wie Bayern oder Vorarlberg oder auch Dialektgebiete wie ,das Bairische‘ oder ,das Alemannische‘, die allesamt nicht durch Staatsgrenzen definiert sind. Im Folgenden verwenden wir den Terminus Region bzw. Areal in diesem weiten Sinne. Das entspricht auch der Auffassung von Schneider und Barron, die in ihrem programmatischen Aufsatz zur Variationspragmatik schreiben: „Regional variation is an umbrella term for different types of language variation in geographical space, including not only the national and the sub-national levels, but also the local and sub-local levels“ (Schneider/Barron 2008b: 17).2

[25]Kommen wir zurück zu der Frage nach dem Bedeutungsunterschied von Variationspragmatik und Variantenpragmatik. Dabei handelt es sich um Synonyme, einen Unterschied sehen wir nur in wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht: Den Ausdruck Variantenpragmatik haben wir für unser Projekt gewählt, um anzudeuten, dass die Forschungsarbeiten in einer Reihe zum Variantenwörterbuch (vgl. Ammon et al. 2016) und zur Variantengrammatik (vgl. Dürscheid et al. 2018) stehen. Diese Arbeiten wiederum basieren konzeptionell auf dem Grundlagenwerk von Clyne (1984), der die variationslinguistische Perspektivierung des Standards und damit eine Abkehr von einer monozentrischen Sichtweise in der Germanistik begründet hat (vgl. dazu auch Ammon 1995). Im Jahr 2004 erschien die erste Auflage des Variantenwörterbuchs, in dem über 12.000 Varianten des Standarddeutschen in Deutschland, der Schweiz, Österreich, Liechtenstein, Südtirol, Luxemburg und Ostbelgien auf lexikalischer Ebene erfasst sind; die zweite, überarbeitete Auflage stammt von 2016 (vgl. Ammon et al. 2016). Daran anschließend wurde im Rahmen eines grenzüberschreitenden Projekts mit dem Titel „Variantengrammatik des Standarddeutschen“ der Schwerpunkt auf die Analyse von arealen Unterschieden in der Grammatik der deutschen Standardsprache gelegt. Diese Arbeiten starteten zu Beginn der 2010er Jahre, 2018 erschien das gleichnamige Online-Nachschlagewerk im Open Access (siehe unter <www.variantengrammatik.net>). Auch das dritte Projekt in der Reihe, das Variantenpragmatik-Projekt (kurz: VariPrag), untersucht im Rahmen eines grenzübergreifenden germanistischen Forschungsvorhabens die areale Variation im deutschsprachigen Raum, im Zentrum stehen nun aber solche Aspekte, die das Kommunikationsverhalten betreffen. Dieses Projekt hat seine Arbeit im Herbst 2022 aufgenommen; in der Projektleitung sind neben Tanja Ackermann und Horst Simon auch Christa Dürscheid und Stephan Elspaß, d.h. zwei Personen aus dem Vorgängerprojekt. Sowohl auf konzeptioneller als auch auf personeller Ebene besteht also eine Kontinuität in der Forschungsarbeit. Dennoch wäre es falsch anzunehmen, dass das aktuelle Projekt lediglich eine Fortsetzung der beiden vorangehenden germanistischen Projekte ist. Denn es gibt zwei zentrale Unterschiede, die im Folgenden erläutert werden.

Zum einen werden im VariPrag-Projekt aus logistischen Gründen primär Daten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz erhoben (d.h. im Ammon’schen Sinne aus den ,Vollzentren‘ der deutschen Sprache); es ist also nicht der gesamte deutschsprachige Raum, auf den die empirische Arbeit ausgerichtet ist. Zum anderen geht es nicht darum, nur solche Variationsphänomene zu erfassen, die die Standardsprache konstituieren. Im Zentrum steht vielmehr die Frage, wie sich Menschen in Alltagssituationen kommunikativ verhalten – sei dies im Dialekt oder in der jeweiligen Ausprägung der Standardsprache. Ein [26]wichtiger Faktor ist dabei die Wahl eines eher formellen bzw. informellen Registers, wobei formelle Register tendenziell eine größere Schnittmenge mit den Standardvarietäten des Deutschen aufweisen, informelle Register eher mit den Varietäten der Alltagssprache (und die Alltagssprache wiederum je nach Land und Region zwischen Dialekten und standardnahen Varietäten oszillieren kann, vgl. Möller/Elspaß 2019: 758). Die Frage nach dem Gebrauch der Standardsprache im deutschsprachigen Raum spielt dennoch eine nachgeordnete Rolle; die pragmatische Dimension liegt gewissermaßen quer zur Varietätenwahl. Es kommt uns primär darauf an, welche konkreten Varianten (bzw. Variantentypen) in einer Kommunikationssituation verwendet werden.

Zu den oben diskutierten terminologischen Fragen sei abschließend noch angemerkt, dass im Deutschen weder der Ausdruck Variationspragmatik noch der Ausdruck Variantenpragmatik geläufig sind. Man erhält beispielsweise nur ca. 600 Treffer, wenn man in der Suchmaschine Google das Stichwort Variantenpragmatik eingibt (Stand Dezember 2023), bei Variationspragmatik sind es 550.3 Verglichen mit dem englischen Variational Pragmatics sind dies sehr niedrige Zahlen. Das hängt womöglich damit zusammen, dass es im Englischen einen Sammelband gibt, der diese Bezeichnung schon im Jahr 2008 im Titel verwendet hat: „Variational Pragmatics: A focus on regional varieties in pluricentric languages“ (Schneider/Barron 2008a). Schneider und Barron haben damals den Anspruch erhoben, mit ihrem Buch eine neue Disziplin, eben die Variationspragmatik, zu etablieren. In der Einleitung beschreiben sie die Zielsetzung wie folgt: „[…] in examining pragmatic variation across geographical and social varieties of a language, variational pragmatics aims at determining the impact of such factors as region, social class, gender, age and ethnicity on communicative language use“ (Schneider/Baron 2008: 1). Natürlich hat es zu diesem Themenfeld auch schon früher Forschung gegeben, doch mit dem Sammelband wurde die Bezeichnung eingeführt, unter der solche Arbeiten fortan subsumiert werden konnten, und es wurden die theoretischen Grundlagen formuliert sowie die Forschungsfragen von anderen Arbeitsfeldern in der Pragmatik (wie Historical Pragmatics oder Intercultural Pragmatics) abgegrenzt. Vielleicht gelingt es mit dem vorliegenden Sammelband, die Bezeichnung Variationspragmatik im Deutschen ebenfalls zu verbreiten – das Forschungsfeld gibt es ja schon.

Nun noch ein Wort zum Aufbau des Beitrags: Im nächsten Abschnitt stellen wir die fünf Teilprojekte des VariPrag-Projekts kurz vor und stecken den [27]theoretischen Rahmen ab, in dem sich unsere Forschungsarbeit und damit auch der vorliegende Beitrag situiert. Der dritte Abschnitt präsentiert Überlegungen zur Methodologie, genauer zu der Frage, wie man vorgehen kann, wenn man den (vermuteten) Zusammenhang von regionaler Herkunft und Kommunikationsverhalten empirisch untersuchen möchte. Wie wichtig eine solide empirische Herangehensweise ist, erkennt man u.a. daran, dass viele Aussagen zur areal-pragmatischen Variation im Laiendiskurs auf Stereotypen basieren und vorwiegend anekdotischen Charakter haben. Als Beispiel sei nur die Plakataktion der Stadt Zürich aus dem Jahr 2010 genannt, während der im Rahmen einer Integrationskampagne neben anderen Ratschlägen zu lesen war: „Sag doch statt ‚Ich krieg dann mal!‘ lieber ‚Bitte könnte ich vielleicht?‘“ Das Plakat musste zurückgezogen werden, nachdem es von verschiedenen Seiten Beschwerden gegeben hatte (vgl. dazu dos Santos Pinto 2014). Inzwischen taucht der Verweis auf dieses Plakat – vermutlich zum Leidwesen der damaligen Initiator*innen – in der variationslinguistischen Forschung wieder auf (vgl. Locher/Luginbühl 2019: 250; Ackermann 2021: 266). Tatsächlich macht die Aktion ja auch sehr anschaulich, welche Zuschreibungen im öffentlichen Diskurs (hier in Bezug auf das Verhalten von Deutschen in der Schweiz) vorgenommen werden. Doch nicht nur in der Öffentlichkeit, auch auf fachwissenschaftlicher Seite finden sich solche Stereotype (siehe dazu Abschnitt 3.1). Nach den Ausführungen zur Methodologie werden wir im vierten Abschnitt im Rahmen unseres Werkstattberichts erste empirische Ergebnisse zur pragmatischen Variation im deutschsprachigen Raum diskutieren. Den Abschluss bildet ein Abschnitt, in dem ein Ausblick auf unsere weitere Arbeit präsentiert wird.

2Das VariPrag-Projekt

2.1Theoretischer Rahmen

Das VariPrag-Projekt besteht aus fünf Teilprojekten, die auf der Projekt-Website im Detail vorgestellt werden (siehe unter www.variprag.net/teilprojekte). Deshalb fassen wir uns an dieser Stelle kurz: Ein Projekt untersucht das Anrede- und Grußverhalten von Sprecher*innen, ein zweites den Gebrauch höflichkeitssensitiver Sprechakte in der mündlichen Kommunikation. Das dritte Teilprojekt befasst sich mit geschriebenen Online-Rezensionen, das vierte beschreibt kommunikative Muster in Briefen vom Anfang des 19. bis ins 20. Jahrhundert. Alle vier Teilprojekte nehmen die Variation auf formal-pragmatischer und aktional-pragmatischer Ebene in den Blick, untersuchen also den Gebrauch gewisser Formen, d.h. einzelner Wörter (wie z.B. bitte) oder Phrasen (wie z.B. Guten Tag), bzw. Realisierungsoptionen individueller Sprech[28]akte, nicht aber längere Gesprächssequenzen. Das fünfte Teilprojekt liegt auf einer anderen Ebene: In diesem geht es um die Frage, wie sich der öffentliche, mediale Diskurs zum Thema gestaltet und in welcher Relation die hier vorzufindenden Annahmen (z.B. zur Höflichkeit) zu den empirisch-gegenwartsbezogenen Analysen aus anderen Teilprojekten stehen.

Mit Blick auf den theoretischen Rahmen wurde weiter oben dargelegt, dass es uns nicht um eine strukturbezogene Beschreibung des Deutschen geht; im Zentrum stehen vielmehr die sprachlichen Handlungen der Kommunikationsbeteiligten (bzw. die Annahmen, die dazu in der öffentlichen Wahrnehmung vorherrschen). Folglich spielt das Coseriu’sche Diasystem, wonach drei Dimensionen – die diatopische, die diaphasische und die diastratische – die innere Architektur einer Sprache darstellen (vgl. Coseriu 1988: 139), für unsere Arbeit keine entscheidende Rolle. Vielmehr interessiert uns, eingedenk der oben skizzierten Auffassung von Schneider/Barron (2008b), das Zusammenspiel verschiedener sozialer Faktoren bei der Konstituierung pragmatischer Variation. Dahinter steht die Überlegung, dass sprachliche Variation nicht systematisch mit einzelnen außersprachlichen Parametern korreliert (und diese Parameter nicht je eigene, klar voneinander abgrenzbare Varietäten hervorbringen), sondern dass Variation erst im sozialen Kontext im Zusammenspiel der verschiedenen Faktoren entsteht (vgl. Barron 2021) bzw. diese abbildet. Wir situieren unser Projekt also an der Schnittstelle von Pragmatik und Variationslinguistik, indem wir systematisch die variationelle Komponente pragmatischer Phänomene betrachten, also pragmatische Muster in ihrer (i.w.S.) soziolinguistischen Verteilung, ohne dabei aber spezifische Vorannahmen in Bezug auf die Existenz und allfällige Abgrenzung von Varietäten zu machen. Was die variationelle Komponente betrifft, so umfasst diese verschiedene makrosoziale Faktoren, auf die wir schon im vorangehenden Abschnitt eingegangen sind. Etwas ausführlicher kommentieren wir daher im Folgenden die pragmatische Komponente. Diese besteht ursprünglich aus fünf Analyseebenen („the formal, actional, interactional, topic and organizational level“, vgl. Schneider 2021: 664 f.), in neueren Arbeiten kommen noch weitere hinzu (vgl. Schneider 2021: 668 f.).

Zwei der fünf Analyseebenen, die von Schneider/Barron (2008b) eingeführt wurden, sind auch für unser Projekt relevant. Sie werden von Schneider (2021: 665 f.) mit den folgenden Worten charakterisiert:

On the formal level, the analysis is focused on individual words or short phrases that serve specific communicative functions and can be summarized as pragmatic markers. […]. The actional level of analysis is the level of speech acts. Work on this level is aimed at establishing how speech acts are realized and how realizations differ in terms of (in)directness, (im)politeness, (in)formality etc.

[29]Eine weitere Ebene, die zunächst nicht vorgesehen war, ist die metapragmatische. Schneider (2021: 669) erläutert diese wie folgt: „Finally, a metapragmatic level can be added to the analysis. On this level, researchers examine how ordinary language users think and talk about pragmatic phenomena, e.g. speech acts.“ Es ist – im Unterschied zu den anderen vier Teilprojekten, in denen der Sprachgebrauch selbst untersucht wird – diese Ebene, auf der sich das fünfte Teilprojekt situiert; Zeitungsartikel, Online-Kommentare und Auszüge aus der Ratgeberliteratur (wie z.B. Küng 2023) bilden hier die Datengrundlage.4 Die im öffentlichen Diskurs vorherrschenden Annahmen über typische kommunikative Muster werden auf Basis dieser Daten ermittelt und im Rahmen einer Online-Einstellungserhebung überprüft. Phänomene, die aus dem Material herausgearbeitet wurden, sollen in dieser Umfrage als Stimuli vorgegeben werden, um so zu klären, ob es sich dabei tatsächlich um gängige Vorannahmen in verschiedenen Bevölkerungsgruppen handelt.5

Unsere Hinweise zur disziplinären Einordnung des VariPrag-Projekts schließen wir damit ab. Kommen wir nun noch dazu, wie die Variable Region im Projekt operationalisiert wird. Damit verbunden ist die Frage nach dem Status des Deutschen als plurizentrische oder pluriareale Sprache (vgl. dazu Ammon 1995; Auer 2014, 2021; Elspaß 2025). In der Variationspragmatik sind mehrere Arbeiten erschienen, die das Deutsche (und andere Sprachen) grobmaschig im plurizentrischen Kontext verorten, damit in erster Linie auf nationale Unterschiede zielen und entsprechend nationale Varietäten miteinander vergleichen (z.B. Warga 2008; Elter 2009). Daneben gibt es Studien, in denen die pragmatische Variation kleinräumiger untersucht wird (wie z.B. die Variation im deutschen Deutsch oder im brasilianischen Portugiesisch). Kann aber nicht auch davon ausgegangen werden, dass es in zusammenhängenden Sprachgebieten mehr Gemeinsamkeiten auf beiden Seiten der Landesgrenze geben könnte als im Norden und im Süden desselben Landes? Dazu schreiben Schneider/Félix-Brasdefer (2021: 665): „Varieties, like languages, are not homogenous wholes, least of all national varieties. There is, needless to say, intra-varietal pragmatic variation, e.g., across regions within the same country“. [30]Trotz solch programmatischer Aussagen gewinnt man den Eindruck, dass es dazu in der Variantenpragmatik bislang nur wenige Untersuchungen gibt. Zumindest die Arbeit von Culpeper/Gillings (2018) zur „Politeness variation in England“ sei hier aber genannt. Darin wird auf der Basis eines Korpus mit Daten aus der gesprochenen Sprache die Frage überprüft, ob Personen im Norden Englands andere Höflichkeitsformeln verwenden als im Süden.6 In der Regel aber fokussieren variationspragmatische Arbeiten auf den plurizentrischen Vergleich kommunikativer Phänomene. Meist geht oft schon aus dem Titel hervor, welche Länder im Text im Fokus stehen. Eine Studie von Schneider trägt z.B. den Titel „Small talk in England, Ireland, and the USA“ (vgl. Schneider 2008). Darin geht es um die Frage, wie Sprecher*innen des englischen, irischen und US-amerikanischen Englisch bei einer Party ein Gespräch eröffnen.7 Ein Grund für eine solche Vorgehensweise mag in forschungspraktischen Erwägungen liegen, denn je gröber gliedernd die avisierte Differenzierung ist, desto weniger Datenpunkte sind für valide Aussagen nötig. Oder anders gewendet: Feinere Granularität setzt eine deutlich komplexere Empirie voraus (vgl. dazu den nächsten Abschnitt).

Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen überrascht es nicht, dass sich der Ausdruck pluriareal in den Studien zur Variantenpragmatik noch nicht etabliert hat, meist ist die Rede von pluricentric. In einer Arbeit wird das pluriareale Konzept aber namentlich erwähnt und in einem separaten Abschnitt unter der Überschrift „Pluricentricity or pluriareality“ vorgestellt (vgl. Norrby et al. 2020). Hier ist zu lesen: „Research on pluricentricity has largely – as the name suggests – focused on varieties of languages that have the status as principal or official languages in at least two countries. However, there has also been considerable work from a pluriareal perspective, where regional variation is the primary concern“ (Norrby et al. 2020: 221). Und an anderer Stelle heißt es: „The latter has been applied particularly to the German-speaking area, which, for example, shows variation in use which follows north-south as well [31]as east-west borders that cross the national borders of Austria, Germany and Switzerland“ (Norrby et al. 2020: 204). Die Autor*innen nennen in dem Zusammenhang auch Dollinger, der sich aber in Bezug auf das Deutsche dezidiert gegen den pluriarealen Ansatz ausspricht und vor allem normativ argumentiert (z.B. Dollinger 2019). Doch im Grunde ist die Frage nach der Basis regional differenzierter Variation – und zwar auf allen in Betracht kommenden Ebenen – eine wesentlich empirische. Wichtig ist deshalb eine empirisch möglichst sauber aufbereitete Analyse der Regionalfaktoren, die bei der Variation im Deutschen zu konstatieren sind. Solange keine auf das Gegenteil weisenden Fakten vorliegen, wird man vorsichtigerweise gut daran tun, eher mit Pluriarealität zu rechnen, da hier weniger Annahmen nötig sind. Die wichtigsten Argumente für diese Position sind im Detail nachzulesen bei Elspaß et al. (2017), Dürscheid/Simon (2019) und Elspaß (2025), sie sollen hier nicht wiederholt werden (vgl. dazu auch Auer 2014 und 2021).8 Deshalb nur kurz: Wir gehen davon aus, dass der pluriareale Ansatz unter sprachgebrauchsbasierten Aspekten den sprachlichen Gegebenheiten eher gerecht wird als der plurizentrische. Übrigens weisen Norrby et al. (2020: 221) abschließend noch einmal darauf hin, dass die Pluriareal-Plurizentrisch-Diskussion bisher vor allem unter Linguist*innen aus den deutschsprachigen Ländern geführt wird: „Whatever the future holds with respect to this debate, it is probably fair to conclude that the argument to date mostly has been a concern of linguists from the German-speaking countries.“ Das trifft zu. Dass dies aber nicht mit eventuell nur für die deutschsprachigen Länder spezifischen Begebenheiten zu erklären ist, zeigt etwa schon die oben erwähnte Studie von Culpeper/Gillings (2018) zu England. Wünschenswert wäre aus unserer Sicht also, dass ein für mögliche Pluriarealität offener Ansatz in Zukunft auch mit Blick auf andere Sprachen – empirisch fundiert und theoretisch offen – diskutiert würde.

2.2Methodische Herausforderungen

Im vorangegangenen Abschnitt ist es bereits angeklungen: Wer regionale Variation, gleich welcher sprachlichen Systemebene, in den Blick nimmt, steht immer vor methodischen Herausforderungen. Bei Forschungen im Bereich der [32]Pragmatik gelten aber besonders schwierige Bedingungen: Zum einen ist eine Vielzahl von potenziellen Einflussfaktoren, die zudem komplex miteinander interagieren, zu kontrollieren (siehe auch Abschnitt 2.1), zum anderen ist die Forschungstradition im Vergleich zu lexikalischer oder grammatischer Variation bislang noch wenig ausgeprägt; methodische Standards bei empirischen Erhebungen sind also noch nicht etabliert. Das VariPrag-Projekt macht es sich zum Ziel, an dieser Stelle dezidiert datenorientiert anzusetzen und mit einer Mischung avancierter Datenerhebungsmethoden zu arbeiten.

Für die Analyse schriftlicher Kommunikation wird im ersten der beiden Salzburger Teilprojekte, in dem es um die Analyse kommunikativer Muster in historischen Briefquellen geht, eine bewährte korpuslinguistische Herangehensweise angewendet: Schriftlich vorliegendes Material wird gesammelt, klassifiziert und im Hinblick auf die Projektfragestellung ausgewertet; die Korpusbelege werden im Hinblick auf formale und funktionale Eigenschaften pragmatisch relevanter Ausdrücke (insbesondere formelhafte Sprache, Partikeln, direktive Sprechakte) annotiert und mit den Sozialdaten der Schreiber*innen – soweit vorhanden bzw. erschließbar – korreliert. Für dieses Salzburger Teilprojekt stellt sich – wie bei allen historisch-linguistischen Projekten – die Abhängigkeit von dem zur Verfügung stehenden überlieferten Quellenmaterial. Dafür kann jedoch an die vorhandenen Untersuchungen zur ‚Sprachgeschichte von unten‘ anhand von Briefen Ausgewanderter, Soldaten sowie Patient*innen/Insass*innen von psychiatrischen Pflegeeinrichtungen angeknüpft werden; sie zeigen, dass gerade für die jüngere Sprachgeschichte immer wieder neue Funde geeigneter Quellen möglich sind, nach denen vormals nicht einmal gesucht wurde (vgl. zum Quellenmaterial Neumann 2019; Elspaß 2020; Schiegg 2022). Eine völlig gleichmäßige Abdeckung des gesamten Untersuchungsgebiets wird auf diese Weise zwar nicht zustande kommen. Dennoch ist inzwischen eine so breite regionale Streuung von Quellen privater Schriftlichkeit möglich, dass diese fundierte Analysen zur regionalen Variation sprachlicher, auch pragmatischer Phänomene zulassen. Das zweite Salzburger Teilprojekt befasst sich mit aktuellen Online-Rezensionen. Angesichts der nicht verlässlich zu eruierenden Sozialdaten von Internet-Schreiber*innen besteht hier das grundsätzliche Problem in der Lokalisierung von Internet-Nutzer*innen, denn für die Untersuchung ist es wichtig, dass im Wesentlichen Daten von Schreiber*innen eingehen, deren Wohnort recht genau bestimmbar ist. Dieses ist dadurch minimiert, dass ein Korpus aus über 10.000 negativen Rezensionen von Fitnessstudios auf Google Reviews (2021–2023) erstellt wurde. Bei solchen Rezensionen kann eine Nähe zwischen den Wohnorten der Kund*innen, die diese verfassten, und den rezensierten Einrichtungen angenommen werden. Sowohl diese Online-Rezensionen als [33]auch historische Privatbriefe können nach fokussierten Phänomenen (Anrede- und Schlussformeln, Partikelgebrauch, Sprechaktrealisierungen) systematisch analysiert werden. Ein unbestreitbarer Vorteil dieses korpusbasierten Ansatzes gegenüber den weiter unten beschriebenen Methoden ist die Tatsache, dass das analysierte Sprachmaterial eine höhere Authentizität aufweist als experimentell elizitierte Daten.

Vergleichbares trifft aus methodischer Sicht auf das Zürcher Teilprojekt zu, das mediale Diskurse untersucht. Hier gilt es, einschlägige Äußerungen (z.B. aus der Ratgeberliteratur und aus Zeitungen) zu identifizieren und diese diskurslinguistisch zu interpretieren. Dazu werden Bücher und Textauszüge zusammengestellt, die „anweisenden Charakter“ haben (vgl. dazu Ott/Kiesendahl 2019) und sich auf kommunikative Unterschiede im deutschsprachigen Raum beziehen. Das daraus resultierende schriftliche Korpus wird sodann unter Verwendung der Software MAXQDA einer qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen, um rekurrente Themen und Argumentationsmuster bestimmen und einen Kodierungsleitfaden entwickeln zu können, der es ermöglicht, die Daten systematisch zu erfassen. An dieser Stelle ist aber eine grundsätzliche Asymmetrie in Rechnung zu stellen: Wie auch in anderen Situationen von Plurizentrik/Pluriarealität ist damit zu rechnen, dass Variationsphänomene von Sprecher*innen bzw. Schreiber*innen dominanter Varietäten weniger deutlich wahrgenommen werden als von denen nicht-dominanter Varietäten (vgl. Clyne 1995; Kretzenbacher 2011).9 Relevante Äußerungen sind deshalb in schweizerischen und österreichischen Medien deutlich häufiger zu finden als in deutschen. Dementsprechend ist auch das Vorkommen von medial wirksamen Stereotypen nicht gleichmäßig verteilt, was bei der Einordnung der Befunde zu bedenken ist. Eine solche Asymmetrie lässt sich bereits bei der Datenerhebung erkennen: Die Mehrheit der Ratgeberliteratur konzentriert sich auf kommunikative Unterschiede zwischen Sprecher*innen aus der Schweiz und Deutschland, und das aus einer schweizerischen Perspektive.

Bei den in Berlin bzw. Bielefeld angesiedelten Teilprojekten stellt sich das Methodenproblem wiederum in anderer Weise, da es hier um die Herausarbeitung pragmatischer Muster in der mündlichen Kommunikation geht. Eine großflächige Erhebung authentischer Alltagssprache ist bei begrenzten Res[34]sourcen schlechterdings unmöglich, zumal eine Vielzahl von Sozial- und Kommunikationsparametern als Variablen einfließen und den Gegenstand potentiell verändern. Deshalb ist ein methodisch kontrollierter Umweg zu nehmen, indem nämlich in einem ersten Schritt auf simulierte Kommunikation zugegriffen wird. Dazu bietet sich das in pragmatischen Studien gut etablierte Instrument der Discourse Completion Tasks (DCT) an.10 Hierbei werden konkrete kommunikative Situationen in wenigen Sätzen umrissen und die Versuchspersonen müssen schriftlich bzw. mündlich angeben, was sie jeweils sagen würden, um die gestellte kommunikative Aufgabe zu erfüllen (wie sie also einen gewissen Sprechakt realisieren würden). Der Vorteil dieser Methode liegt auf der Hand: Im Gegensatz zu Korpusstudien, bei denen man mit dem arbeiten muss, was die mehr oder weniger zufällig erfassten Diskursteilnehmer*innen mehr oder weniger zufällig ausdrücken wollten, kann man die relevanten Variablen hier kontrollieren. Durch eine gezielte Konstruktion der Stimuli können so in Minimalpaaren (bzw. Triplets) gefasste Differenzierungen vorgenommen werden. Zudem können bei einer Befragung detaillierte Informationen über die Versuchspersonen erfasst werden.11 Im Kontext unseres Projekts sind dabei insbesondere Fakten zur regionalen Verortung der Teilnehmenden (und gegebenenfalls zu ihrer Mobilitätsgeschichte) von Interesse. Daneben werden etwa Alter, Geschlechtszugehörigkeit, Bildungsstand erfragt. Aus rein forschungspraktischen Gründen sind hier aber Einschränkungen notwendig: Nicht alle Variablen(kombinationen) können detailgenau in den Blick genommen werden. Ein offenkundiger Nachteil von DCTs – noch verstärkt, wenn sie schriftlich bearbeitet werden – liegt in einer gewissen Künstlichkeit des Versuchsaufbaus. Die Versuchspersonen (re)agieren bei einer Fragebogenstudie sicherlich nicht exakt so, wie sie es in einer natürlichen Alltagssituation tun würden. Da diese Einschränkung aber für alle Antworten gleichermaßen gilt, sind die somit erhobenen Daten dennoch im Hinblick auf geographische Variabilität interpretierbar. Man muss sich lediglich darüber im Klaren sein, dass eben nicht authentisches Sprachmaterial analysiert wird, sondern eines, bei dem ein Faktor wie ‚soziale Erwünschtheit‘ mit hineinspielt.12

[35]Die durch die DCTs erzeugten Pseudoproduktionsdaten liefern einen Hinweis darauf, welche Formulierungsvariante die jeweilige Versuchsperson in einer gewissen Situation jeweils verwenden würde (bzw. für erwünscht hielte). Was aber nicht sichtbar wird, ist, ob auch alternative Formulierungen möglich gewesen wären. Zudem wird dadurch nicht erhoben, ob und in welchem Ausmaß solche möglichen Alternativen als mehr oder weniger ‚möglich‘ hätten eingestuft werden können. Um nun genau diese Problematik in den Blick zu nehmen, besteht die Möglichkeit, die Proband*innen nach ihren Einschätzungen im Hinblick auf verschiedene kommunikative Äußerungen zu befragen. Im Berlin-Bielefelder Teilprojekt sollen die Teilnehmenden dazu kurze Dialoge auf einer Skala bewerten, was Rückschlüsse darauf erlaubt, für wie angemessen sie das Präsentierte halten. Mit solchermaßen skalierten Angemessenheitsratings lassen sich – parallel zu dem, was einige Zeit in der empirisch gestützten formalen Grammatikforschung mit ausgefeilten ‚Grammatikalitätsurteilen‘ untersucht wurde (vgl. dazu beispielsweise Fanselow et al. 2006), – differenzierte Aussagen über unterschiedliche Formulierungsvarianten fällen: Während diese allesamt als grammatisch wohlgeformt gelten können, kommt ihnen ein je spezifischer pragmatischer Wert zu, der sie mehr oder weniger geeignet macht, in einer konkreten Kommunikationssituation mit konkreten Kommunikationspartner*innen mit einem konkreten Kommunikationsziel verwendet zu werden. Es steht anzunehmen, dass unterschiedliche Proband*innen, vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen sprachlichen Erfahrungen und Gewohnheiten, hier unterschiedliche Einschätzungen abgeben werden. Die Auswahl der in den Dialogen zur Beurteilung vorgelegten Varianten setzt voraus, diese bereits als potentiell interessant (weil mutmaßlich variabel bewertet) erkannt zu haben. Aus diesem Grunde kann ihre Erstellung erst nach einer zumindest vorläufigen Auswertung der DCTs erfolgen.

Die beiden bislang beschriebenen Methoden zur Datenelizitation ermöglichen passgenaue pragmatische und soziolinguistische Feindifferenzierungen, weshalb sie im VariPrag-Projekt den Kern der in Berlin und Bielefeld verwendeten Tools bilden. Dennoch ist der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, dass mit diesen indirekten Methoden der ‚echte‘, ‚authentische‘ Sprachgebrauch allenfalls annähernd erfasst werden kann. Deshalb werden wir in einem dritten Schritt an ausgewählten Orten, die für eine raumbezogene Interpretation der Befunde als besonders aufschlussreich erscheinen (also beispielsweise grenznahe Regionen) und die hinsichtlich ihrer Sozialstruktur relativ ähnlich sind und beispielsweise keine sehr großen Bevölkerungsanteile mit hoher Mobilität aufweisen, spezielle Untersuchungen der Alltagskommunikation vornehmen. In solchen ethnographischen Beobachtungsstudien werden von jeweils zwei ortskundigen Forschenden über einen festgelegten, [36]typischerweise mehrstündigen Zeitraum hinweg alle einschlägigen kommunikativen Akte an Orten mit häufig wiederkehrenden ähnlichen Alltagsdialogen schematisch erfasst, also z.B. Einkaufsgespräche/Bestellungen in Läden mit hoher Publikumsfrequenz. Dabei kommt es keineswegs auf eine exakte (wörtliche) Wiedergabe des Gesagten an; vielmehr sind die jeweils vorhandenen Ausprägungen der zuvor festgelegten Variablen relevant. Aus diesem Grunde ist auch eine vereinfachte Datenerfassung, gewissermaßen eine simple Pen-and-Paper-Description, ausreichend; datenrechtlich problematische audiovisuelle Aufzeichnungen können entfallen. Bereits eine solch vergleichsweise unaufwändige Vorgehensweise kann bemerkenswerte Ergebnisse dazu erbringen, wie bestimmte Formulierungsmuster regional verteilt sind.13

Keine der vorgestellten Methoden allein ermöglicht eine umfassende Dokumentation des mündlichen Sprachgebrauchs. In ihrer Kombination sollten sie jedoch durch das Zusammenspiel direkter und indirekter, offener und geschlossener Formate dazu geeignet sein, einen adäquaten Eindruck von der soziolinguistisch fundierten pragmatischen Variation des Deutschen zu liefern. Wie bei vielen Forschungen kommt es auch hier auf die richtige Mischung der Methoden an, um Triangulationen zu ermöglichen.

3Erste Ergebnisse

3.1Online-Befragung zu Ich kriege …

Unser erstes Fallbeispiel betrifft den Gebrauch höflichkeitssensitiver Sprechakte und greift dabei das in Abschnitt 1 gegebene Beispiel aus einer Plakataktion der Stadt Zürich auf: „Sag doch statt ‚Ich krieg dann mal!‘ lieber ‚Bitte könnte ich vielleicht?‘“, die dos Santos Pinto (2014: 13) zufolge den Topos der schweizerischen Höflichkeit aufruft, den sich die Schweizer*innen selbst zuschreiben. Ähnlich verhält es sich mit einer Karikatur aus der Neuen Zürcher Zeitung (Abbildung 1). Darin versucht ein Gast in einem Lokal, eine Bestellung mit den Worten „Ich kriege …“ einzuleiten, wird aber sogleich von der Kellnerin mit den Worten „Hier bitte nicht!“ unterbrochen.

[37]Abb. 1: Karikatur aus der Neuen Zürcher Zeitung (11.06.2022)14

In beiden Fällen lebt der Topos (und dessen Identifikation) davon, dass die direktive Formel „Ich krieg(e)…“ nicht nur als unschweizerisch (siehe Glaser 2005), sondern auch als unhöflich identifiziert wird (siehe hierzu auch Locher/Luginbühl 2019: 265, die von einem „shibboleth for the impolite German as perceived by the Swiss“ sprechen). Im Fall der Variante „Ich krieg dann mal!“ ist zudem davon auszugehen, dass diese auch aufgrund der Verwendung der Partikel mal mit einem ,typisch deutschen‘ Verhalten assoziiert wird (vgl. deren areale Verbreitung in der Alltagssprache nach https://www.atlas-alltagssprache.de/runde-3/f05a/, letzter Abruf am 1.12.2023). Das Stereotyp findet seinen Niederschlag auch in der zweiten Auflage des Variantenwörterbuchs. Es bildet in dem nur eine Seite umfassenden Kapitel „Sprachanwendung in Situationen (Pragmatik). Verschiedenes“ eines von nur fünf Beispielen für (vermeintlich) nationale Unterschiede. Zur Formel „Ich krieg(e)…“ heißt es dort: