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Velira glaubt, ein ganz normales Mädchen zu sein, bis sie im Krankenhaus eine unheimliche Erfahrung macht. Plötzlich verlässt sie ihren Körper und entdeckt eine Welt aus Schatten, Spiegeln und Geheimnissen, die nur sie sehen kann. Mit jedem Schritt wird deutlicher. Veliras Gabe ist kein Zufall. Ein Symbol, das auf ihrer Haut aufleuchtet, verbindet sie mit einer Macht, die älter ist, als sie ahnt. Doch je mehr sie erfährt, desto größer wird die Gefahr. Schattenwesen lauern, ein verborgenes Direktorium beobachtet jeden ihrer Schritte und bald muss Velira entscheiden, wem sie vertrauen kann. Gemeinsam mit neuen Freunden stellt sie sich der ersten Prüfung. Doch das ist nur der Anfang. Denn hinter den Spiegeln wartet eine Wahrheit, die alles verändern wird. Veliras Geheimnis ist der Auftakt einer spannenden Jugend-Fantasy-Trilogie voller Magie, Geheimnisse und Mut.
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Seitenzahl: 212
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Velira ist vierzehn, als sie nach einer Operation eine unheimliche Gabe entdeckt:
Sie sieht Dinge, die niemand sehen soll – Stimmen in Spiegeln, Schatten in Glasflächen, Erinnerungen, die nicht ihre eigenen sind.
Was wie ein Fluch beginnt, führt sie zu einem Blatt Papier, das seit Jahren verschwunden ist – und zur erschütternden Wahrheit über ihre Herkunft: Sie ist Teil des Projekts Spiegelkind.
Während die Spiegel sie prüfen und jagen, tritt ein mächtiger Feind in den Schatten hervor: das geheimnisvolle Direktorium.
Sie wollen Velira zurück – koste es, was es wolle.
Doch Velira weigert sich, Objekt ihrer Pläne zu sein.
Sie schwört, ihre eigene Wahrheit zu schreiben – und zum ersten Mal zurückzuschlagen.
Ein fesselnder Auftakt einer neuen Fantasy-Trilogie voller Geheimnisse, Schatten und der Suche nach der eigenen Identität.
Prolog
Kapitel 1 – Das letzte Piepen
Kapitel 2 – Weißes Licht
Kapitel 3 – Der erste Flug
Kapitel 4 – Stimmen hinter Glas
Kapitel 5 – Zurück im Körper
Kapitel 6 – Faden aus Licht
Kapitel 7 – Zwischen zwei Atemzügen
Kapitel 8 – Stimmen im Schatten
Kapitel 9 – Die Begegnung
Kapitel 10 – Der Park bei den Kastanien
Kapitel 11 – Heimkehr im Morgengrauen
Kapitel 12 – Fragen ohne Antworten
Kapitel 13 – Unter den Kastanien
Kapitel 14 – Das Geheimnis im Archiv
Kapitel 15 – Spuren im Staub
Kapitel 16 – Das Zeichen
Kapitel 17 – Verborgene Wahrheiten
Kapitel 18 – Das Flüstern im Regen
Kapitel 19 – Schatten und Spiegel
Kapitel 20 – Treffen bei den Kastanien
Kapitel 21 – Der nächste Schritt
Kapitel 22 – Der Steinspiegel
Kapitel 23 – Die Warnung
Kapitel 24 – Die erste Prüfung
Kapitel 25 – Kians Offenbarung
Kapitel 26 – Die zweite Nacht
Kapitel 27 – Die dritte Nacht
Kapitel 28 – Nach dem Echo
Kapitel 29 – Das Flüstern im Klassenzimmer
Kapitel 30 – Die Botschaft im Heft
Kapitel 31 – Stimmen im Nebel
Kapitel 32 – Der Schlüssel
Kapitel 33 – Raum 3
Kapitel 34 – Die verschlossene Tür
Kapitel 35 – Das fehlende Blatt
Kapitel 36 – Die Botschaft im Spiegel
Kapitel 37 – Die Spur des Blattes
Kapitel 38 – Raum der Rätsel
Kapitel 39 – Raum 9
Kapitel 40 – Das Ultimatum
Kapitel 41 – Der Wettlauf beginnt
Kapitel 42 – Das Nebelblatt
Kapitel 43 – Spiegel der Erinnerungen
Kapitel 44 – Die Erinnerungslücke
Kapitel 45 – Die Nacht des Erinnerns
Kapitel 46 – Die letzte Nacht
Kapitel 47 – Das Erwachen danach
Kapitel 48 – Der Name Harlan Wilde
Kapitel 49 – Der Weg der Zeugen
Kapitel 50 – Schleusenstraße 7
Kapitel 51 – Nebel über dem Fluss
Kapitel 52 – Die doppelte Wahrheit
Kapitel 53 – Die Spiegel schlagen zurück
Kapitel 54 – Das ganze Blatt
Kapitel 55 – Projekt Spiegelkind
Kapitel 56 – Die Entscheidung
Kapitel 57 – Der erste Gegenschlag
Kapitel 58 – Der Preis der Wahrheit
Kapitel 59 – Die Spur der Stiftung
Kapitel 60 – Die Schatten der Stiftung
Kapitel 61 – Das Spiegel-Ich
Kapitel 62 – Der wahre Feind
Kapitel 63 – Das Direktorium
Kapitel 64 – Das Haus der Stille
Kapitel 65 – Der Rat im Schatten
Kapitel 66 – Die Flucht aus dem Kloster
Kapitel 67 – Die Verfolgten
Kapitel 68 – Die Jagd im Nebel
Kapitel 69 – Das Labyrinth aus Nebel
Kapitel 70 – Das goldene Tor
Kapitel 71 – Die Offenbarung im Licht
Kapitel 72 – Der Verrat
Kapitel 73 – Die Wahl
Kapitel 74 – Der Gegenschlag
Kapitel 75 – Der offene Ausblick
Nachwort
Danksagung
Das Piepen der Geräte war das Letzte, was Velira hörte, bevor die Welt im gleißenden Licht zerbrach.
Ein metallischer Rhythmus, gleichmäßig, unbarmherzig – piep … piep … piep – dann Stille.
Doch die Stille war nicht leer. Sie war dicht, schwer, so voll von Nichts, dass es sich wie ein eigener Raum anfühlte.
Velira spürte ihren Körper nicht mehr. Keine Schwere, keinen Schmerz. Nicht das Ziehen der Lungen, nicht das Pochen im Kopf. Nur Leichtigkeit – als hätte jemand die unsichtbaren Fäden zerschnitten, die sie bisher an die Erde banden.
Langsam öffnete sie die Augen – oder das, was jetzt ihre Augen waren. Unter ihr lag sie selbst, blass, reglos, von Schläuchen und Kabeln umklammert. Ärzte beugten sich über sie, Stimmen überschneiden sich, Hände griffen nach Instrumenten. Alles klang dumpf, wie durch Glas.
„Das … bin ich?“ Der Gedanke war lautlos, und doch hallte er in ihr nach, als spräche sie in einen endlosen Raum hinein.
Ein unsichtbarer Strom packte sie. Erst wie ein sanftes Ziehen, dann immer schneller, bis die Wände des Operationssaals bedeutungslos wurden. Türen, Mauern – all das hielt sie nicht zurück. Sie glitt hindurch, getragen von einer Kraft, die sie nicht verstand.
Und plötzlich stand sie in ihrem Zimmer zu Hause.
Alles wirkte vertraut: das Poster an der Wand, die zerknitterten Vorhänge, ihr Bett mit der Decke, die sie am liebsten mochte. Doch etwas stimmte nicht.
Licht flackerte. Stimmen. Lachen. Das Klingen von Gläsern.
Velira drehte sich – und ihr Herz, so körperlos es auch war, zog sich zusammen, als wollte es zerreißen.
Dort, auf ihrem Bett.
Ihr Freund.
Ihre beste Freundin.
Zu nah. Zu vertraut. Verrat, mitten in ihrem Heiligtum.
Kleidung lag achtlos auf dem Boden. Teller mit Essensresten, halb volle Gläser, die Spuren eines Abends, der nicht ihr gehörte. Jedes Flüstern, jedes Kichern, jede Berührung schnitt tiefer als jedes Messer.
Sie wollte schreien, wollte sie voneinander reißen, wollte diese Bilder verbrennen. Doch sie hatte keine Hände, keinen Mund. Nur Augen. Nur Ohren. Nur dieses Wissen, das unausweichlich war.
Für einen Augenblick dachte sie an Noel. Ihren kleinen Bruder. Sein Blick, wenn er Angst hatte. Sein stilles Vertrauen.
Ich will zu ihm zurück. Ich muss zurück.
Und irgendwo, weit entfernt, klang die Stimme ihres Vaters wie ein Echo, durch Nebel getragen:
„Die Wahrheit ist das Wichtigste, Velira. Hab nie Angst vor ihr.“
Ein unsichtbarer Haken riss sie zurück. Dunkelheit. Kälte. Ein Schlag, der alles in ihr erschütterte.
Als Velira die Augen wieder öffnete, lag sie im Krankenhausbett. Schweiß rann über ihre Stirn, ihre Finger zitterten.
Doch das Schlimmste war: Sie wusste.
Es war kein Traum.
Sie hatte gesehen, was niemand hätte sehen dürfen.
Noch Stunden nach dem Aufwachen hörte sie es: dieses monotone, sture piep … piep … piep der Maschinen. Es schob sich in jede Stille, schob sich sogar zwischen ihre Gedanken, bis sie nicht mehr sagen konnte, ob es von draußen kam – oder von irgendwo tief in ihr.
Die Decke über Velira war zu weiß, das Licht zu grell. Alles tat ein bisschen weh, als hätte jemand die Welt lauter gedreht. Die Lippen fühlten sich rissig an. Ein Schlauch in der Nase kratzte bei jedem Atemzug, und das gleichmäßige Tropfen der Infusion klang wie Regen an einem Fenster, das man nicht öffnen kann.
„Du bist wach.“
Die Stimme ihrer Mutter war warm und müde zugleich. Sie saß dicht am Bett, trug Weiß – Schwesternkleidung – und roch nach Desinfektionsmittel und Pfefferminztee. Unter ihren Augen lagen Schatten, so weich wie Fingerabdrücke.
„Mama …?“ Veliras Stimme war trocken wie Papier.
Die Mutter legte die Hand auf ihre Stirn. „Alles gut, mein Schatz. Die Operation ist vorbei. Es gab …“ Sie suchte ein Wort, das nicht weh tut. „… Komplikationen. Aber du bist stark. Du hast das geschafft.“
Komplikationen. Das Wort machte einen kleinen Riss in ihrem Kopf auf, und aus dem Riss fiel ein Bild: Licht, gleißend. Ein Raum, der keiner war. Ein Ziehen, das sie mitnahm. Und dann—
Nicht jetzt, dachte sie. Nicht hier.
Sie versuchte, den Hals zu befeuchten. „Wie … wie lange?“
„Genug, um uns zu erschrecken.“ Ihre Mutter lächelte – dieses schmale Lächeln, das nur für Velira war. „Aber jetzt bist du da.“
Am Türrahmen scharrte es leise. „Darf ich…?“ Noels Stimme war kaum mehr als Luft. Er stand halb versteckt, zu groß geratenes Hoodie, zu lange Ärmel. Seine dunklen Augen blieben an Velira hängen, als hätte er Angst, sie könnte wieder verschwinden, wenn er blinzelt.
„Hey,“ flüsterte Velira.
Er kam näher. Schritt, noch ein Schritt. Er setzte sich nicht, blieb stehen, als müsste er zum Losrennen bereit sein. „Du warst so still,“ murmelte er. „Als wärst du gar nicht da.“
Ein kalter Schauer fuhr ihr über den Rücken. Ich war nicht da. Zumindest nicht hier. Und doch lag sie hier, mit Kabeln an der Haut und einem Herz, das nach den Regeln des Monitors schlug.
Die Mutter strich ihr die Haare hinter das Ohr. „Ihr könnt später reden. Jetzt braucht sie Ruhe.“ Ihre Hand blieb einen Moment zu lange auf Veliras Stirn, als wollte sie das Fieber aus ihren Gedanken streichen. Dann stand sie auf. „Ich hole frisches Wasser.“
Die Tür schloss sich. Es wurde stiller. Nur das Piepen blieb. Und Noel.
Er rückte so nah ans Bett, dass sie seine Socken sah – unterschiedlich. Eine mit kleinen Blitzen, eine mit Punkten. „Du warst woanders, oder?“ Sein Flüstern war eine Brücke, die genau bis zu ihr reichte.
Velira spürte, wie alles in ihr stehen blieb, selbst das piep. „Wieso … wieso sagst du das?“
„Weil ich’s …“ Er kaute an seiner Unterlippe. „… gespürt hab.“ Er hob die Schultern, als wolle er sich gegen seine eigenen Worte schützen. „Es war, als wärst du weg. Nicht weg-wie-weg, sondern weg-wie… wie wenn du durchs Fenster guckst und denkst, der Himmel ist näher als die Decke.“
Sie sah ihn an, lange. Noel war noch ein Kind. Aber manchmal hatte er Worte, die älter waren als sie beide. „Wenn ich dir sage, dass ich …“ Sie stockte, suchte unter all den Sätzen einen, der leicht genug war, um nicht zu zerbrechen. „… dass ich was gesehen habe. Glaubst du mir?“
„Ja.“ Keine Sekunde zögerte er. „Ich glaube dir immer.“
Das piep setzte wieder ein, leiser, als hätte es Respekt bekommen. Velira schloss die Augen, nur kurz, und sofort war das Licht wieder da, das gleißende, grenzenlose. Darunter ein anderes Bild, scharf wie Kälte: ihr Zimmer, flackerndes Licht, Gläser, Lachen — und der Stich, der durch sie gefahren war, obwohl sie keinen Körper hatte, in dem man stechen konnte.
„Sag Mama nichts.“ Ihre Stimme war nur noch ein Hauch. „Versprich’s mir.“
Noel nickte ernst. „Versprochen.“ Er legte seine Hand auf die Bettdecke, vorsichtig, als könnte er sie mit einer falschen Bewegung aus dem Bett rollen lassen. Seine Finger waren warm. Richtige Wärme, nicht die vom Fieberthermometer.
Die Mutter kam zurück, stellte das Wasser auf den Nachttisch, klopfte sanft an die Infusion, als würde man einem Pferd beruhigend über den Hals streichen. „Nur kleine Schlucke,“ sagte sie und half Velira, den Kopf anzuheben. Das Wasser schmeckte nach Null und trotzdem nach Leben.
„Geht’s?“ fragte die Mutter.
Velira nickte. Ihre Kehle fühlte sich wie neu geboren an – dünn, empfindlich, aber hier. „Ein bisschen.“
Im Flur rollte ein Wagen vorbei, metallische Räder auf Kunststoffboden. Irgendwo zählte jemand bis drei. Jemand lachte. Das Krankenhaus hatte seinen eigenen Rhythmus, eine Musik, mit der man leben musste, wenn man nicht tanzen konnte.
„Die Ärztin schaut später noch rein,“ sagte die Mutter leiser. „Wegen … der Träume. Das kommt vor nach Narkosen, hat sie gesagt.“ Sie suchte ihren Blick. „Es sind nur Träume, Velira.“
Nur Träume. Wenn es Träume sind, warum kann ich die Etiketten auf den Gläsern in meinem Zimmer lesen? Warum weiß ich, dass eine Gabel auf den Teppich gefallen ist? Warum hat das Lachen so sehr wehgetan, dass ich jetzt immer noch zittere?
Sie zwang sich zu einem Nicken. „Hm.“
Noel trat einen halben Schritt zurück, nur damit die Mutter denken konnte, er würde gehen. Aber seine Augen sagten: Ich bleibe. Und Veliras Blick antwortete: Bleib.
Die Mutter setzte sich wieder, nahm Veliras Hand zwischen ihre. Ihre Finger waren kühler als Noels. „Ich bleibe heute bei dir. Wenn es zu viel ist, weckst du mich, ja?“
„Ja.“
Es verging eine Weile, in der niemand redete. Das Licht wanderte ein Stück an der Wand weiter. Velira zählte die Tropfen in der Infusion, nur bis fünf, dann fing sie wieder bei eins an. Bei vier dachte sie: Ich bin zurück. Bei eins dachte sie: Aber ich war fort. Und dazwischen war dieses Wissen, das nicht verschwand, egal, wie sehr sie die Augen kneifte.
„Velira?“ Die Mutter tippte ihr vorsichtig gegen die Hand. „Wenn du etwas auf dem Herzen hast …“
„Hab ich.“ Sie dachte an den Vater – an seine Stimme im Echo: Die Wahrheit ist das Wichtigste, Velira. Hab nie Angst vor ihr. Angst hatte sie nicht. Aber sie hatte Respekt vor dem, was man sagt, wenn Worte zu Scherben werden können. „Später,“ flüsterte sie. „Wenn ich es besser verstehe.“
Die Mutter nickte. „Später.“
Noel stand jetzt doch ganz nah am Fenster. Er zog ein wenig den Vorhang beiseite, nur so viel, dass ein heller Streifen über den Boden kroch, bis an den Rand des Betts. „Guck.“ Er zeigte auf den Lichtstreifen, als wäre er eine Entdeckung. „Wenn die Sonne weiterwandert, liegt sie auf deiner Hand.“
„Dann warte ich darauf,“ sagte Velira, und das war die erste Wahrheit, die heute nicht wehtat.
Draußen wurde es ein bisschen heller. Drinnen blieb alles gleich: das Bett, die Kabel, die Tropfen, das piep. Nur in ihr veränderte sich etwas. Nicht groß. Eher wie ein winziger Magnet in der Tasche, von dem man weiß, dass er eine Nadel herumdrehen kann, wenn man nur nah genug kommt.
Die Ärztin kam, hörte ab, stellte Fragen, sprach über Erholung und Schmerzskala und Narkosenachwirkungen. Velira nickte, sagte, was man sagt, wenn man nicht sagen kann, was man gesehen hat. Als die Ärztin ging, ließ sie den Geruch von Kaugummi und Papier zurück.
„Alles gut,“ entschied die Mutter, mehr für sich als für irgendwen sonst. „Alles wird gut.“
Noel sah auf den Lichtstreifen. Er hatte Recht behalten: Er lag jetzt auf Veliras Hand. Warm. Genau so warm, wie Noels Finger auf der Decke gewesen waren.
Velira hob die Hand nicht weg. Ich bin hier, dachte sie. Und ich war dort. Beides war wahr. Beides musste in einen Tag passen, der erst angefangen hatte.
Das piep machte eine kleine Pause, als würde es Luft holen, und setzte dann wieder ein. Gleichmäßig. Verlässlich. Fast tröstlich.
„Noel?“ flüsterte sie, ohne zur Mutter rüberzusehen.
„Hm?“
„Heute Nacht …“ Sie fühlte den Satz in sich, wie etwas, das wachsen wollte. „Wenn ich kann … ich will wissen, ob das Licht wiederkommt.“
Noel nickte nur. Seine Augen sagten Ich hab’s gehört, seine Schultern Ich sag’s niemandem, sein Mund Ich bleibe. Und im selben Moment, als sie das dachte, fuhr ein kaum merklicher, kühler Hauch am Fenster entlang. Nichts, worüber man reden würde. Aber genug, damit die feinen Haare an ihrem Arm sich hoben.
Velira drehte den Kopf einen Zentimeter zur Seite, bis sie ihr Spiegelbild in der dunklen Fläche des ausgeschalteten TV erahnen konnte. Für den Bruchteil eines Herzschlags schien dort etwas heller zu werden – als hätte das Glas kurz geatmet.
Das piep wurde schneller.
„Alles gut,“ sagte ihre Mutter, sprang auf, drückte den Knopf am Monitor, strich über Veliras Stirn. „Nur ruhig atmen.“
Velira atmete. Ein. Aus. Sie hielt den Blick auf dem schwarzen Glas, bis es wieder nur Glas war.
„Nur Träume,“ sagte die Mutter noch einmal, fester.
„Nur Träume,“ wiederholte Velira – und wusste, dass das nächste Kapitel in Weiß geschrieben sein würde.
Die Nächte im Krankenhaus hatten keine richtige Uhrzeit. Es war nie ganz dunkel, nie ganz hell. Nur das Summen der Neonröhren draußen auf dem Flur, das rhythmische Klacken der Schritte der Nachtschwestern und das leise Surren von Maschinen, die niemand schlafen ließen.
Velira lag wach. Jede Bewegung fühlte sich an, als würde sie durch Watte gehen. Ihre Lider brannten, wenn sie sie länger schloss – und doch wagte sie kaum, sie geöffnet zu lassen. Denn hinter den Lidern wartete es schon: dieses Weiß.
Es war kein normales Licht. Keine Lampe, keine Sonne, keine Glühbirne. Es war heller, klarer, ohne Grenze. Ein Raum aus Strahlen, in dem es keine Schatten gab. Wenn sie daran dachte, spannte sich ihr Bauch an, als würde er ein Geheimnis kennen, das er nicht verraten will.
„Alles nur Narkose,“ hatte die Ärztin vorhin erklärt. „Manche Patienten träumen eigenartige Dinge.“
Aber Träume fühlten sich nicht so an. Träume rochen nicht. Träume ließen dich nicht schwören, dass du den Atem eines anderen spürtest, obwohl kein Körper da war.
Velira drehte den Kopf. Neben dem Bett hockte Noel, zusammengesunken im Besucherstuhl. Seine Kapuze war schief verrutscht, der Mund leicht geöffnet. Er hatte darauf bestanden zu bleiben – so wie jemand bleibt, der ahnt, dass Aufpassen wichtiger ist als Schlaf.
Sie beobachtete, wie seine Brust sich hob und senkte. Das war ein kleines, stilles Pflaster auf ihren Gedanken: Noel war hier. Und er hatte gespürt, dass etwas nicht gestimmt hatte.
Ein Rascheln. Die Tür öffnete sich. Ihre Mutter trat ein, die Haare zu einem lockeren Zopf gebunden, eine Kaffeetasse in der Hand. Unter den Augen tiefe Schatten, die kein Make-up der Welt hätte wegmalen können.
„Du bist noch wach?“ fragte sie sanft.
Velira nickte. „Ich kann nicht schlafen.“
Ihre Mutter setzte sich ans Bett, stellte den Becher neben der Infusion ab. „Das ist normal. Nach einer Narkose dauert es manchmal, bis der Körper wieder vertraut ist.“
Sie nahm ihre Hand. „Du hast uns Sorgen gemacht. Dein Puls … war kurz weg.“ Ein Flüstern, fast so, als wollte sie die Worte nicht ins Zimmer lassen. „Die Ärzte haben alles gegeben. Ich weiß nicht, ob du das gespürt hast.“
Velira schluckte. Ich habe es gespürt. Aber nicht so, wie du denkst.
Sie wollte alles sagen. Dass sie sich selbst gesehen hatte. Dass sie Dinge gesehen hatte, die unmöglich waren. Dass es kein Traum war. Doch die Worte blieben stecken. Sie wusste: Wenn sie es aussprach, würde es in eine Schublade mit Halluzinationen und Medikamente gesteckt werden.
„Mama …“ Sie zögerte. „Hast du jemals das Gefühl gehabt, nicht … im Körper zu sein? Als würdest du … schweben?“
Die Mutter runzelte die Stirn, drückte sanft ihre Hand. „Das sind die Medikamente, Schatz. Dein Körper erholt sich. Du hast bestimmt nur geträumt.“
Das Lächeln war müde. Ein Pflaster, das nicht hielt.
Velira nickte, aber innerlich rebellierte alles. Es war kein Traum. Ich weiß es.
Die Mutter stand irgendwann auf, strich ihr über die Haare. „Versuch, loszulassen. Schlaf ein wenig.“ Dann verschwand sie wieder.
Velira schloss die Augen. Aber Schlaf kam nicht. Nur das Weiß. Immer wieder dieses Weiß.
Neben ihr bewegte sich Noel im Schlaf. Er murmelte etwas, unverständlich, ein Wort, das aus seinem Traum zu ihr herüberflog: „Schwester.“
Velira erstarrte. Er konnte unmöglich wissen, wo sie gewesen war. Doch für einen Atemzug war sie sicher: Noel hatte etwas gespürt. Vielleicht nicht dasselbe, aber er hatte es gespürt.
Sie legte den Kopf zurück ins Kissen. Atmete tief.
Und die Frage, die in ihr wuchs, war zu groß, um sie zu verdrängen:
Warum gerade ich?
Der Morgen kam grau und flach ins Krankenzimmer. Die weißen Vorhänge bewegten sich kaum, als hätte selbst der Wind Respekt vor der Stille hier drinnen.
Velira lag auf der Seite und beobachtete Noel. Er saß wieder im Besucherstuhl, diesmal wach, ein Apfelstück zwischen den Zähnen, das er so langsam kaute, als könne er damit Zeit verlängern.
„Du guckst so komisch,“ murmelte er.
„Ich … denke nur nach,“ sagte Velira leise.
Noel nickte ernst, als wüsste er genau, worüber. Er war erst neun, doch manchmal sprach er, als wäre er viel älter. „Gestern … da warst du weg.“ Seine Stimme war kaum hörbar. „Aber ich hab dich gespürt. Als wärst du hier gewesen – und nicht hier.“
Ein Zittern lief durch sie. Wie kann er das wissen?
„Vielleicht hast du geträumt,“ versuchte sie.
„Nein.“ Seine Augen wurden dunkel und fest. „Es war echt.“
Sie wandte den Blick ab. Die Worte hingen trotzdem im Raum wie ein Geheimnis, das sich nicht vertreiben ließ. Noel glaubte ihr, ohne dass sie etwas gesagt hatte.
Später, als eine Krankenschwester ihn aus dem Zimmer holte, blieb sie allein zurück. Die Infusion tropfte, der Monitor piepte, ihr Herz schlug im Rhythmus dazu. Doch ihr Kopf war nur bei einer Frage: War es Zufall? Oder kann ich es wieder?
Sie legte die Hände auf die Decke, schloss die Augen. Stellte sich vor, wie ihr Körper schwer wurde – und sie selbst leicht. Wie gestern. Als hätte man sie von der Schwerkraft losgebunden.
Zuerst war da nur Dunkelheit. Dann ein Aufleuchten. Weiß. Gleißend.
Ihr Herz raste. Ich will fliegen.
Ein Ruck – und sie löste sich.
Sie sah sich selbst. Ihr Körper lag reglos im Bett, die Decke bis zum Bauch hochgezogen, eine schlafende Hülle.
Ein lautloser Schrei stieg in ihr auf, doch er hatte keinen Klang.
Velira schwebte höher, bis fast zur Neonröhre. Von hier oben wirkte ihr Körper fremd, fast wie eine Puppe, die jemand vergessen hatte.
Sie drehte sich zur Tür – und glitt einfach hindurch. Kein Griff, kein Widerstand. Nur ein kurzes Flimmern, als würde Luft zu Wasser.
Der Flur lag vor ihr. Endlos, kalt beleuchtet, riechend nach Desinfektion und Metall. Zwei Pfleger unterhielten sich am Stationszimmer. Sie hörte jedes Wort, ohne Ohren zu haben:
„Die Medikamente für drei-oh-sieben sind doppelt gebucht.“
„Schon wieder? Ich sag’s morgen der Verwaltung.“
Ihre Gedanken stolperten. Ich höre sie wirklich.
Ein Schwindel überfiel sie. Ich bin draußen. Ich fliege.
Doch noch ehe sie die Freiheit genießen konnte, riss etwas an ihr. Ein scharfes Ziehen, wie ein Gummiband, das zurückschnappt. Ihr Geist taumelte, wirbelte – und wurde mit Gewalt in den Körper geschleudert.
Sie riss die Augen auf. Schweiß stand ihr auf der Stirn, der Monitor piepte schneller, ihr Herz raste.
Eine Schwester kam hereingestürzt. „Alles in Ordnung? Du bist ganz blass!“
Velira nickte hastig. „Ja … alles gut.“
Aber innerlich wusste sie:
Es war kein Traum.
Sie hatte es wirklich geschafft.
Sie war geflogen.
Zum ersten Mal bewusst.
Die Tage im Krankenhaus flossen ineinander wie ein einziger, langer Traum. Ärzte kamen, machten Notizen, Schwestern prüften Kabel und Tropfenstände, dann verschwanden sie wieder. Alles folgte einem gleichförmigen Rhythmus – und doch war für Velira nichts mehr normal.
Seit dem ersten Flug konnte sie an nichts anderes denken.
Das Gefühl, schwerelos zu sein. Die Freiheit, durch Türen zu gleiten, als wären sie aus Wasser. Das Wispern von Stimmen, die eigentlich nicht für sie bestimmt waren.
Sie lag im Bett, lauschte dem Summen der Geräte, und in ihrem Kopf vibrierte immer wieder dieser Gedanke: Wenn ich es einmal konnte, kann ich es wieder.
Doch mit der Sehnsucht kam auch die Angst. Beim letzten Mal hatte der Monitor Alarm geschlagen, ihr Herz war durchgedreht. Noch einmal durfte das niemand merken. Noch einmal durfte sie sich nicht verraten.
Aber die Versuchung war stärker als jedes Verbot.
In der Nacht, als die Schritte auf dem Flur seltener wurden, schloss Velira die Augen. Sie konzentrierte sich auf das Gewicht ihrer Glieder – und darauf, wie sie es abstreifte. Stück für Stück.
Ein Kribbeln begann in den Fingerspitzen, zog durch den ganzen Körper, bis es sie ruckartig löste.
Das Zimmer blieb hinter ihr zurück. Wände wurden durchscheinend, die Tür unwichtig. Sie glitt hinaus in den Korridor.
Das Neonlicht flackerte. Schatten dehnten sich in die Länge. Und dann waren sie da.
Worte.
Aber nicht die der Pfleger. Nicht die der Schwestern.
Ein Wispern, tief und kratzend, als spräche jemand von einem Ort, den es gar nicht geben durfte.
Die Stimme schien hinter Glas gefangen – und doch konnte Velira sie hören.
„… sie ist nicht bereit …“
Velira hielt inne. Ihre Gedanken wurden kalt.
„… zu früh … sie darf nicht …“
Das Wispern kam aus einer Richtung, in der gar kein Gang war. Ein Flur aus Schemen, der sich durch die Realität schnitt, nur für ihre Augen sichtbar.
„… sie sieht … sie hört …“
Veliras Herz zog sich zusammen. Ein unsichtbarer Schauer lief über sie, obwohl sie keinen Körper hatte, der hätte frieren können.
Wer spricht da? Wer weiß von mir?
Sie wollte zurück, wollte sofort zurück, doch das Wispern folgte ihr. Stimmen, die sich überlappten, als würden mehrere gleichzeitig reden – und doch immer von ihr.
„… sie wird gerufen …“
Sie presste die Augen zusammen. Aber selbst im Dunkel hinter den Lidern war noch dieses Weiß.
Plötzlich ein heftiger Ruck. Ein Reißen, das sie in den Körper zurückschleuderte.
Sie schnappte nach Luft, Schweiß auf der Stirn, Herz im galoppierenden Takt.
Der Monitor piepte alarmiert. Eine Schwester stürmte herein. „Alles in Ordnung?“ Ihre Stimme war streng, aber die Augen waren besorgt.
„Ja …“ Velira rang nach Fassung. „Ich hab nur schlecht geträumt.“
Die Schwester sah sie noch einen Moment prüfend an, dann stellte sie den Alarm ab und ging.
Zurück blieb Velira – zitternd.
Sie wusste: Das waren keine Träume.
Da draußen, in dem Zwischenraum aus Glas und Schatten, hatte jemand von ihr gesprochen.
Und sie hatten recht:
Sie war noch nicht bereit.
Das Erste, was sie spürte, war die Schwere.
Ihr Körper lag wie aus Stein auf der Matratze, jeder Muskel angespannt, jeder Atemzug ein Gewicht. Es war, als hätte man sie nach einer langen Reise in eine Hülle zurückgestopft, die nicht mehr so recht zu ihr passte.
Velira öffnete die Augen. Das Zimmer war halbdunkel, der Vorhang nur ein Stück zur Seite gezogen. Von draußen fiel ein schwacher Lichtstreifen ins Innere, der sich auf den Boden legte wie ein geheimer Zeiger.
